Ein ganz normaler Tag?
In der gigantischen Kirche hallte eine epische Melodie, gespielt von unsichtbaren Musikern. Die Sonne strahlte hell durch das große Tor, das den Eingang darstellte.
Ein kleiner Junge stand in ihrer Mitte, einsam, mochte man meinen, mit Schwert und Schild in der Hand.
Von hinten sah man kaum den ausdruckslosen Gesichtsausdruck, mit dem er das im Gegensatz zu ihm so riesige Gebäude begutachtete, so hoch, dass seine Blicke nicht bis zur Decke reichten. Ein dunkler Schatten bedeckte sie und ließ die genaue Höhe der Zitadelle nur vermuten. Oben links in der Ecke blinkte ein halbes Herz. „Aktion“, stand auf dem blauen Knopf auf der gegenüberliegenden Seite.
Der Bildschirm war wieder einmal angeblieben. Die Wii rauschte laut, während in ihr die Disk heiß lief, sie war die ganze Nacht lang an gewesen.
Seit dem vorigen Abend rotierte „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ in dem Gerät, während die Figur im Fernsehen seit Stunden nichts anderes getan hatte als den Kopf von einer Seite zur anderen zu bewegen und ab und zu mal zu gähnen.
Hinter dem Gerät begann sich langsam ein deutlicher Schatten auf der grauen Tapete abzuzeichnen. Es wurde Morgen.
Als ich aufwachte, lugte bereits die Sonne über die Dächer in der Nachbarschaft und schien durch das Giebelfenster genau in mein Gesicht. Wie jede Nacht hatte ich es offen gelassen, sodass mir eine frische Morgenbrise um die Nase wehte und meine Haare mich kitzelten. Verschlafen rieb ich mir die Augen und stand auf, bevor ich mit wankenden Schritten ins Badezimmer schlürfte.
Gestern Abend hatte ich wieder einmal zu lange gespielt - aber ich wusste, selbst, wenn ich mir vornahm, heute nicht wieder die halbe Nacht durchzumachen, würde es nichts bringen. Ich knipste das Licht an, das schmerzhaft in meinen Augen brannte, und wäre um ein Haar gegen die Tür gerannt. Im Spiegel sah ich ein schlafgetrunkenes Mädchen mit ziemlich zerzausten, etwas weniger als schulterlangen, schwarzen Haaren, die wie elektrisiert von ihrem Kopf abstanden. Ihre blauen Ränder unter den hellgrauen Augen waren nur ein eins von vielen Anzeichen dafür, dass ihr etwas kleinerer, aber leicht vom Sport geformter Körper unter Schlafmangel litt. Warum müssen wir auch unbedingt einen Spiegel ins Bad hängen, der die halbe Wand einnimmt, dachte ich verbittert, während ich mir das kalte Wasser ins Gesicht klatschte, das aus dem quietschendem Wasserhahn drang, bevor ich meinem äußerst ästhetischem Zwilling die Zunge herausstreckte. Ich nahm meine Zahnbürste aus der Halterung, in der ebenfalls die Zahnbürste meiner Mutter, meiner Schwester und meines Stiefvaters steckte. Als ich fertig war, zog ich mich an und vergaß auch nicht, die Wii noch auszuschalten, bevor ich im Hinausgehen meine Tasche griff und mich mit der Musik von Linkin Park im Ohr auf den Weg zur Bushaltestelle machte. Kurzum: Es war einfach wieder ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben.