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Vergeltung

Version II
von

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Fremde Welt

Nachdem Eve und ihre Begleiter den Kerker verlassen hatten, war es ungewöhnlich still geworden.

Normalerweise hatte Alec gegen ein bisschen Ruhe nichts einzuwenden – besonders in den letzten Jahrzehnten war die Welt immer lauter geworden –, doch gerade im Moment konnte er dies kaum ertragen. Seine Gedanken, seine Gefühle – all das vermochte ihn ohne jedwede Art von Ablenkung zu bestürmen und zu quälen.

Immer wieder tauchte Calvio vor seinem inneren Auge auf, sosehr er dies auch gerne verhindert hätte. Er dachte nicht gerne an diese Zeit, hasste es sogar aus tiefsten Herzen, aber angesichts des zurzeit bestehenden Problems gab es kaum einen Weg daran vorbei. Immerhin war es gewiss kein Zufall, dass der angeblich beste Freund desjenigen Menschen, der er einst gewesen war, nach fast dreitausend Jahren plötzlich wieder auftauchte.

Auch wenn Alec absolut keine Ahnung hatte, wie das Ganze zusammenhing.

 

Er erinnerte sich an die Geschichten, die Calvio damals so gerne erzählt und die der unwissende Neyo bloß für Fantasie gehalten hatte. Alec jedoch hatte im Laufe seines Lebens gemerkt, dass vieles, was dieser Mann berichtet hatte, nicht nur Hirngespinste gewesen waren. Die Krieger aus dem Norden mit dem hellen Haar, die Städte und Tempel in einem Ozean aus Sand, die Menschen mit den schlitzförmigen Augen – all dies hatte sich früher oder später als wahr erwiesen. Aber Alec hatte dies alles erst erkannt, nachdem er Calvio nach vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten schon völlig aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte.

Nun aber kam alles wieder hoch, ebenso mit der Gewissheit, dass Calvio auch schon damals so viel älter und mächtiger gewesen war, als es den Anschein erweckt hatte. Er hatte zumindest offenbar Zeit genug gehabt, die Welt zu erkunden, und Neyo mehr als nur einmal versprochen, sie ihm irgendwann einmal in ihrer vollen Pracht und Schönheit zu zeigen.

 

Hatte Shadyn schon damals gewusst, was aus Alec einst werden würde? Immerhin war er offenbar auch in der Nähe gewesen, als Sharif sein Leben als Vampir begonnen hatte.

Aber wieso hatte er sich dann zurückgezogen? Warum hatte er sein Versprechen, Neyo die Wunder der Erde zu zeigen, nicht eingehalten?

Waren es nur hohle Worte gewesen?

Oder trug vielleicht Asrim eine Schuld daran, dass Calvio sich einst ferngehalten hatte?

Alec verzog sein Gesicht. Von diesen ganzen ungeklärten Fragen bekam er bloß unangenehme Kopfschmerzen. So vieles erschien plötzlich miteinander verwoben und Alec hatte nicht den leisesten Schimmer, wie sich dies alles verknüpfen ließ.

 

„Hier, trink noch was“, vernahm er plötzlich eine Stimme neben sich. Oscar hatte auf dem Rand der Pritsche Platz genommen und hielt ihm einen Blutbeutel hin. „Du brauchst deine Kraft.“

Alec wollte zunächst ablehnen. Er hatte kaum Energie, um sich um so etwas Banales wie Nahrung zu kümmern, doch er musste nur in Oscars Augen schauen, um zu wissen, dass dieser nicht lockerlassen würde. Schon immer hatte er dafür Sorge getragen, dass seine Familie gut versorgt blieb, mochte er manchmal auch noch so grimmig und herzlos erscheinen.

Und somit tat Alec ihm den Gefallen. Das Blut schmeckte zwar kalt und nicht gerade besonders appetitlich – eher wie Kaffee, den man zu lange hatte stehen lassen –, dennoch würgte er es irgendwie herunter.

 

„Aber tu mir bitte einen Gefallen und behalte es in deinem Magen, okay?“, meinte Oscar daraufhin, Alecs missmutige Miene betrachtend. „Das wäre nach all dem wirklich das Letzte, was ich gebrauchen könnte!“

Alec kam nicht umhin, zu grinsen. „In fast dreitausend Jahren hast du jedoch noch nie zuvor meinen Mageninhalt zu sehen bekommen. Das wäre demnach echt ein erstes Mal.“

Oscar schüttelte energisch den Kopf. „Ich verzichte.“

Alec schmunzelte und betrachtete seinen alten Freund. Er war zwar gewiss nicht glücklich darüber, dass Oscar in solch einer Kerkerzelle sitzen musste, aber trotzdem ertappte Alec sich dabei, wie erleichtert er war, den Vampir an seiner Seite zu wissen. Ohne ihn wären die letzten Stunden noch sehr viel nervenaufreibender und düsterer gewesen.

 

„Du denkst an ihn, nicht wahr?“, hakte Oscar unvermittelt nach. „An ... wie er hat sich damals genannt?“

„Calvio“, erklärte Alec. „Und ja, leider Gottes kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich habe ihn gekannt, verdammt! Ich habe mit ihm geredet, mit ihm getrunken und sogar –“ Alec hielt daraufhin inne und seufzte. „Ich meine, nicht ich habe all dies getan, sondern ...“

Alec vollführte eine unkoordinierte Handbewegung und hoffte, dass Oscar begriff, dass er von Neyo sprach.

Der andere nickte daraufhin glücklicherweise verstehend. Er selbst hatte zwar nie Probleme gehabt, seine menschliche Vergangenheit als Teil seines Selbst zu sehen, doch er hatte stets respektiert, dass Alec dazu nicht imstande war und stattdessen lieber einen Trennstrich zwischen diesen zwei Leben zog.

 

„Und nun auch noch Yasmine!“ Er stöhnte schwer. „Und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob sich Seth nicht irgendwie in unser aller Leben eingemischt hat.“

Oscar runzelte seine Stirn. „Was meinst du?“

„Er war jahrelang an meiner Seite“, rief ihn Alec ins Gedächtnis. „Und das mit Yasmine ... na ja, das klingt nicht nur nach einer einzigen Nacht, verstehst du? Ich zeige zumindest keinem One Night Stand irgendwelche verborgenen, magischen Eingänge. Da muss einfach was mehr gewesen sein.“ Er holte tief Luft. „Und offenbar war Seth auch damals in Ägypten bei Sharif und ich frage mich einfach ... vielleicht bist du ihm irgendwann auch einmal begegnet. Oder die Zwillinge. Necroma.“

 

Oscar legte seinen Kopf schief. „Das denkst du?“

„Es wäre immerhin möglich, meinst du nicht?“, wollte Alec wissen. „Vielleicht habt ihr mal zusammen Poker gespielt, eine Bank ausgeraubt oder irgendwelche Kriegergeschichten austauscht. Verflucht, vielleicht habt ihr es mal miteinander getrieben und du weißt es nicht mehr!“

Oscars Blick verfinsterte sich daraufhin. „Im Gegensatz zu dir habe ich in dieser Beziehung kein schlechtes Gedächtnis“, erwiderte er bissig. „Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Und auch wenn mir Seth nicht einmal ansatzweise bekannt vorkam, würde ich es nicht unbedingt ausschließen.“

 

Alec lehnte sich an die Wand hinter sich und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.

„Aber warum das Ganze?“, fragte er. „Aus Neugierde? Langeweile? Wegen Asrim?“

Asrim ...

Sobald Alec sich wieder auf seinen zwei Beinen zu halten vermochte, ohne umzukippen, würde er ohne Umwege seinen Schöpfer aufsuchen und nicht nur um Antworten bitten, sondern mit allen möglichen Mitteln danach verlangen. Inzwischen war er einem Punkt angekommen, an dem ihm alles gleichgültig war.

 

Doch noch bevor er sich vorstellen konnte, wie er Asrim an die Kehle sprang, spürte er plötzlich, wie Oscar sein Oberteil vorsichtig ein Stück nach oben zog.

Alec grinste daraufhin breit. „Also wenn du mich ausziehen möchtest, brauchst du einfach nur zu fragen. Ich würde auf keinen Fall ablehnen.“

Oscar bedachte ihn daraufhin mit einem düsteren Blick. „Deine Wunde blutet wieder“, meinte er vollkommen unbeeindruckt.

Alec schaute an sich selbst hinab und bemerkte sofort, dass der Verband sich an einigen Stellen rot verfärbt hatte. „Hm ... tatsächlich“, sagte er bloß. Er wollte mit den Schultern zucken und das Ganze irgendwie herunterspielen, aber er wusste gleich, dass diese Bewegung viel zu sehr schmerzen würde und dass er Oscar so oder so nichts vorzumachen vermochte.

 

„Du brauchst gar nicht den Tapferen zu spielen“, zischte dieser. „Du weißt, wie sehr ich das hasse.“

„Na fein“, erwiderte Alec seufzend. „Ich wurde halb zerfetzt und es tut immer noch weh. Zufrieden?“

Oscar verzog angesichts seiner Wortwahl erneut sein Gesicht. Diesmal war es jedoch nicht Missmut, den man in seinen Zügen erkennen konnte.

„Oh nein, nein, nein, nein!“, meinte Alec daraufhin sofort. „Du alter Trottel gibst dir nicht selbst die Schuld an dem Ganzen, verstanden? Es war Seth!“

Oscar wich seinem Blick aus und dies war ein derart seltenes Phänomen, das Alec es glatt rot im Kalender angestrichen hätte, wäre die Situation eine andere gewesen.

 

„Wenn ich stärker gewesen wäre ...“

„Oh nein, damit kommst du mir jetzt nicht!“, fiel ihm Alec harsch ins Wort. „Dieser Kerl ... was auch immer er ist, er hat es geschafft, beinahe Sharif und mich ohne größere Anstrengung umzubringen. Glaube also bitte nicht, dass du schwach wärst, nur weil du ihm nicht widerstehen konntest. Das ist Unsinn!“ Er holte einmal tief Luft. „Ich bin einfach nur froh, dass es dir gutgeht, okay?“

Oscar musterte ihn, als wäre es absolut lächerlich, sich um sein Wohlbefinden Sorgen zu machen.

„Als Seth dich in seiner Gewalt hatte ...“ Alec hielt kurz inne und erinnerte sich wieder an den leeren Gesichtsausdruck seines Freundes, spürte wieder diese Angst, ihn vielleicht für immer verloren zu haben. „Ich habe wirklich befürchtet, er hätte irgendetwas in dir zerstört. Er hätte dich zerstört! Und wie hätte ich ohne dein sonniges Gemüt und dein warmes Lächeln je weiterleben können?“

Und auch wenn die letzte Bemerkung eher scherzhaft gemeint war, schaffte Alec es einfach nicht, zu lächeln. Es war trotz alledem viel zu nahe an der schrecklichen Wahrheit.

 

„Er hat mich alles miterleben lassen“, sagte Oscar nach einer Weile des Schweigens. „Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper, aber ich habe alles mitbekommen. Und das war wahrscheinlich genau das, was Seth beabsichtigt hat. Er wollte mich leiden sehen.“

Seine Miene wurde finster, während Alec den Drang, ihn in den Arm zu nehmen und sich nicht darum zu scheren, ob dem anderen dies gefallen könnte oder nicht, bloß unterdrücken konnte, weil die Schmerzen viel zu heftig gewesen wären.

„Was haben wir ihm nur getan?“, wollte Oscar wissen. „Es kann doch nicht lediglich um diese Emily gehen. Er war bei Sharif in Ägypten, bei dir in Rashitar, vielleicht sogar bei mir ... Das alles reicht sehr viel weiter zurück und es macht irgendwie keinen Sinn.“

 

Alec vermochte nicht zu widersprechen.

Selbst wenn er wirklich vordergründig um Emily ging, ihr Tod ein Tropfen auf dem heißen Stein war, erklärte dies alles nicht, warum er erst gut zwanzig Jahre nach ihrem Ableben auf Rache sann. Es klang eher wie eine Ausrede, eine fadenscheinige Entschuldigung, um den wahren Grund für dies alles zu verschleiern.

Was auch immer dieser sein mochte.

 

 

 

*  *  *  *  *  *  *  *

 

 

Die Dunkelheit ließ allmählich nach. Sharif blinzelte einige Male und versuchte, sich an den Helligkeitswechsel anzupassen. Seine Umgebung nahm wieder langsam Konturen an und der Vampir bemerkte auf Anhieb, dass er sich nicht mehr in dem kurz vor dem Einsturz stehenden Parkhaus befand. Das Stadtpanorama und der Sternenhimmel waren verschwunden und hatten einem ausgesprochen seltsamen Ort Platz gemacht.

Bevor er jedoch dazu kam, die neue Örtlichkeit näher zu begutachten, spürte er einen stechenden Schmerz am Arm. Sharif drehte seinen Kopf zur Seite und erblickte Necroma, die noch immer auf die Knie gesunken war und seinen Ärmel gepackt hatte.

Der Ägypter seufzte schwer. Eigentlich hatte er gehofft, dass sie sich dieses Mal zurückhalten würde.

 

„Ach, Necroma“, meinte er tadelnd. „Du bist so ein dummes Mädchen.“

Er half ihr, sich auf die Beine zu richten, während sie weiterhin ihre Umgebung mit großen Augen musterte. Sharifs Arm ließ sie dabei nicht los, sondern krallte sich im Gegenteil nur noch fester daran.

„Du bist eine Närrin“, sagte Sharif vorwurfsvoll. „Ich habe alles getan, um euch zu beschützen. Keiner von euch sollte in Gefahr geraten.“

Necroma unterbrach ihre Untersuchung und wandte ihre Aufmerksamkeit Sharif zu. Ihre Miene war finster, als sie entgegnete: „Du brauchst nun wirklich nicht den heiligen Samariter zu spielen! Und du nennst mich tatsächlich eine Närrin, obwohl du der größere Dummkopf von uns beiden bist?“ Sie schnaubte. „Seit wann spielst du dich zum edlen Ritter auf? Und wie kannst du erwarten, dass du dein Leben riskierst, während wir anderen tatenlos zusehen?“ Sie verstärkte ihren Griff um seinen Arm. „Du wolltest uns also beschützen? Von mir aus. Dann bin ich eben hier, um dich zu beschützen, ist das klar?“

 

Sharif wollte zu Widerworten ansetzen, aber beim Anblick von Necromas hartem Gesichtsausdruck blieb ihm jeglicher Protest im Halse stecken. Bei solch einer halsstarrigen Person hätte Widerspruch sowieso nichts genützt. Somit lächelte er bloß knapp und sagte: „Danke.“

Necroma schnaubte. „Versuch bloß nicht, dich einzuschmeicheln, du Idiot!“, zischte sie. „Dein dummer Dackelblick mag vielleicht bei allen anderen wirken, aber ich bin immun dagegen. Du bist noch längst nicht aus dem Schneider! Wie kann man nur so dämlich sein, sich selbst zu opfern?“

 

Sharif schmunzelte, während sich Necroma, weiterhin vor sich hinfluchend, von seinem Arm löste. Einen Moment lang stand sie einfach kerzengerade da und verzog ihr hübsches Gesicht, ehe ihre Beine nachgaben und sie wieder auf den Boden zu sacken drohte. Sharif fing sie jedoch noch in letzter Sekunde auf und drückte sie an sich.

„Du bist immer noch geschwächt von deinem Kampf mit Seth“, stellte er fest. „Überanstreng dich lieber nicht.“

Zunächst wirkte sie wie betäubt, geschockt von der Schwäche ihres Körpers, aber schließlich schüttelte sie ihren Kopf und sagte seufzend: „Ich fühle mich wirklich, als hätte ich keinen Funken Energie mehr im Leib. Das letzte Mal, als ich mich so gefühlt habe, war …“ Sie verstummte und legte nachdenklich ihre Stirn in Falten. „Ich glaube, ich hab mich noch nie so gefühlt.“

 

Während sie diesen Umstand offenbar in einer gewissen Art und Weise faszinierend fand, strich Sharif ihr bloß durchs Haar und ließ seinen Blick schweifen. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung wirklich wahr … und keuchte bei deren Anblick überrascht auf.

Er bemerkte sofort, dass er keinerlei Ahnung hatte, wo er sich überhaupt befand. Er war schon an vielen Orten und Städten in den unterschiedlichsten Epochen gewesen, aber etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen.

Es war eine Stadt, soweit Sharif das zu erkennen vermochte. Zumindest ließ die Ansammlung von Gebäuden, durchzogen von langen Straßen, dies vermuten. Und dennoch war dieser Ort anders als alle Städte, die er jemals gesehen hatte.

Ihm kam es fast so vor, als hätte man an diesem Platz alle Kulturen der Welt versammelt, angefangen von der frühsten Bronzezeit bis in die Moderne. Auf einem Hügel erblickte Sharif einen Tempel, der stark an ein antikes, griechisches Heiligtum erinnerte, wie es sie vor Tausenden von Jahren zu Dutzenden gegeben hatte. Direkt daneben befand sich ein gigantischer und prachtvoller Bau, den Sharif ohne Zögern als den Petersdom bezeichnet hätte. Und in weiter Ferne glaubte er sogar, eine Pyramide zu sehen, die bis in den Himmel hinauf ragte.

 

Auch die Straßen schienen nicht so recht zusammenzupassen. Necroma und er befanden sich zurzeit auf einem Bürgersteig, der mit der dazugehörigen Straße absolut modern erschien. Überall in London waren ähnliche zu finden gewesen. An der nächsten Kreuzung aber führte ein primitiver Schotterweg ab, der Sharif an die Vorläufer der modernen Straßen aus der Antike erinnerte. Gerade gut genug, dass ein Ochsenkarren nicht im Schlamm versank.

Der Anblick dieses bizarren Ortes war überaus beeindruckend und gleichzeitig auch irreal. Alles erschien grau, fast neblig. Selbst der Himmel unterschied sich darin nicht, sodass Sharif nicht hätte sagen können, ob nun Tag oder Nacht war. Wenn das an diesem Ort überhaupt eine Rolle spielte …

Sicher das Bemerkenswerteste an dieser merkwürdigen Stadt war hingegen das Fehlen jeglichen Lebens. Alles wirkte ausgestorben, nirgends war etwas Lebendiges zu entdecken. Nicht mal die kleinste Fliege. Und die wenigen Bäume, die Sharif ausmachte, waren tot und kahl. Auch so etwas wie Autos und Mülltonnen – einfach Hinweise darauf, dass Leben existierte – fehlten völlig.

Aber gleichzeitig fühlte sich Sharif irgendwie beobachtet. Von wem oder was auch immer …

 

„Wo sind wir hier nur?“, fragte er, über alle Maßen fasziniert von den Eindrücken dieser seltsamen Welt.

Necroma, die sich noch immer an ihn gedrückt hatte, um eine nähere Bekanntschaft mit dem Boden zu vermeiden, zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, sagte sie in einem unbekümmerten Tonfall. Aber bereits im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen, offenbar erschrocken von ihren eigenen Worten. Sie krallte ihre Fingernägel vor Schock tief in Sharifs Arm, der bei dieser Tortur vor Schmerzen aufstöhnte. Seine Arme waren immer noch schwer von Seths Feuer gezeichnet und extrem empfindlich.

„Bei allen Göttern, ich weiß es nicht!“, wiederholte Necroma geradezu hysterisch. „Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht!“ Sie schüttelte energisch ihren Kopf, als wollte sie das Ganze nicht wahrhaben. „Ich kann nichts mehr sehen! Ich bin blind! Absolut blind!“

Sharif, der viel zu sehr mit seinem schmerzenden Arm beschäftigt war, konnte nicht genügend Konzentration aufbringen, um ihre Worte richtig zu deuten. Stattdessen musterte er bloß ihre wachen Augen und entgegnete ächzend: „Du wirkst  … aber nicht besonders blind.“

 

„Doch nicht diese Art von Blindheit, du ägyptischer Dorftrottel!“, zischte sie aggressiv. Sie hätte ihn wahrscheinlich vor lauter Zorn am liebsten gegen die nächste Wand geschmettert, hätte sie die Kraft dazu gehabt. „Ich kann einfach nichts mehr sehen. Die Zukunft, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Geister und Stimmen … alles weg. Nichts ist mehr da.“ Sie hielt inne und starrte mit schockgeweiteten Augen auf ihre Hände. „Meine Magie … weg.“

Sharif runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Weg ist weg!“, meinte Necroma aufgebracht. Woher sie überhaupt die Kraft nahm, sich dermaßen aufzuregen, war Sharif schleierhaft. „Ich spüre einfach gar nichts mehr! Blind und taub bin ich, genauso wie du und all die anderen beschränkten Wesen. Verkrüppelt, missgebildet und schwach.“

 

Sharif strich ihr über die Hand und versuchte damit, ihren Griff um seinen geschundenen Arm zu lockern. Ihre eingegrabenen Fingernägel brannten wie die leibhaftige Hölle und trieben ihm sogar einige Tränen in die Augen.

„Necroma, bitte“, meinte er keuchend.

Nun endlich schien sie seine Qual zu bemerken. Sie löste ihren Griff und streichelte ihm stattdessen sanft über die schmerzende Stelle, als wäre er ein gepeinigter Hund. „Tut mir leid, Sharif“, sagte sie kleinlaut. „Ich wollte dir nicht wehtun. Es ist nur …“

Sharif nickte verstehend. Ihm war bewusst, dass ein Wesen wie Necroma, das Zeit seines Lebens mit der Magie verbunden gewesen war, selbstverständlich in Panik geriet, wenn man plötzlich davon abgeschnitten war. Wahrscheinlich war es für sie, als hätte sie beide Arme gleichzeitig verloren. Als wäre ein ungemein wichtiger Teil ihres Lebens unvermittelt fort.

 

„Du brauchst nicht auszurasten“, besänftigte Sharif sie. „Vermutlich hat dich das Kräftemessen mit Seth dermaßen geschwächt, dass du gerade keinen Kontakt mehr zur Magie aufnehmen kannst. Das renkt sich sicher wieder ein.“

Necroma legte ihren Kopf gegen seine Brust und strich ihm weiterhin vorsichtig über den Arm. Ihre Berührung tat zwar immer noch ein wenig weh, aber Sharif brachte es nicht über sich, sie zu bitten, es zu unterlassen.

„Das hat nichts mit dem Kampf mit Seth zu tun“, erwiderte Necroma schließlich. „Es ist … dieser seltsame, unwirkliche Ort. Die Gesetze der Magie sind hier völlig anders. Alles ist anders.“

 

Und mit diesen Worten hielt sie ihm ihre Handinnenfläche entgegen, auf der eine tiefe Wunde prangte. Langsam sickerte Blut daraus hervor.

„Ich habe mich eben, kurz bevor Seth uns hierhergebracht hat, an irgendwas geschnitten. Keine Ahnung, woran. Vielleicht eine rostige Stange, die dort auf dem Boden des Parkhauses herumlag. Bei der ganzen Anstrengung habe ich dem einfach keine große Beachtung geschenkt.“ Sie schwieg kurz und betrachtete fasziniert das Blut, das bereits ihre Finger benetzt hatte und nun ihr Handgelenk hinunterlief. „Und es heilt einfach nicht.“

Sharif wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Solch einen Satz hatte er von einem Vampir noch nie gehört. Und er hätte auch nie vermutet, dass es jemals geschehen würde.

„Und das steht ebenfalls nicht in Verbindung mit dem Kampf“, fuhr Necroma fort. „Es ist dieser Ort. Diese Welt.“

Sharif seufzte schwer, während er erneut seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ. Wo waren sie hier nur gelandet?


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, was "Leichtes" zwischendurch ;p

Ich versuche, zumindest noch das nächste Kapitel vor meinen nächsten Krankenhausbesuch hochzuladen, damit die Wartezeit nicht zu lang ist. Versprechen kann ich leider nichts, aber ich gebe mir alle Mühe ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2015-09-01T19:21:14+00:00 01.09.2015 21:21
Oh man, oh man... ich hab so lange nicht kommentiert und zu meiner Schande auch nicht weitergelesen. Schande über mich, ich geh freiwillig in die Hölle, um da zu schmoren. >o<
Und es ist sooo viel passiert. Ich hab zwar jezze alles hintereinander gelesen, aber ich glaube, um das alles zu erfassen, brauch ich noch ein wenig Zeit. |D
Jedenfalls finde ich es klasse, dass ich nun auch Yasmine kennenlernen durfte. <3
Ich kenn ja die Vorgeschichte nicht. Da bin ich scheinbar klar im Nachteil. Oder Vorteil, je nachdem, wie man es betrachtet. Ich mag es jedenfalls immer, wenn neue Charaktere auftauchen. Aber natürlich liebe ich auch die Alteingesessenen.
In dem Fall wohl am meisten Alec und Oscar. *moar*
Fanservice trifft es da ganz gut.
Ich meld mich auch mal an und will mehr davon. Da sind es schon zwei, also... hopp! Los gehts. XD

Das mit Calvio... meine Güte. Der arme Alec. Dass ihm das so zusetzt, kann ich verdammt gut nachvollziehen. Meine Güte... da hat man den 'Feind' im Grunde die ganze Zeit um sich herum gehabt und hat es nicht mal gemerkt. Gut... wie auch. Damals war Alec ja noch grün hinter den Ohren. In dem Fall... war er eben einfach noch nen Mensch, was ja das Gleiche ist. Im Gegensatz zu Asrim und Co sind ja alle Menschen noch ganz grün hinter den Lauschern.
Gruselig...
Genauso gruselig wie es war, Necroma an ihren Grenzen zu sehen und dann in absoluter Panik. Das ist wirklich was, das ich ihr mal gar nicht zugetraut hätte. Die hat es ja völlig aus der Bahn geworfen, dass mal etwas nicht so war, wie sie es sich gedacht hat. Tut ihr vielleicht mal gut, aber für die, die sie umgeben, wird das sehr hart. Der arme Sharif. Aber der kriegt das schon hin. Muss er! >_<
Ich bin echt gespannt drauf, wo das alles noch hinführt.
Ach... und Glückwunsch zum YUAL. ;D
Wohl verdient! Und echt mal ne FF, mit der ich da auch was anfangen kann. *_*
Antwort von:  Nochnoi
05.09.2015 11:51
Hey!

Ja aber bitte, Hölle ist echt das mindeste!!!
Ach Quatsch, brauchst dich doch wirklich nicht zu entschuldigen ;) Ich komm gerade im Moment auch ungefähr zu nur 1/10 zu dem, was ich eigentlich gerne machen möchte. Ich hab auch das Gefühl, ich müsste bei unzähligen Fanfic-Autoren um Verzeihung betteln, weil ich so gut wie gar nicht dazu komme, ihre Sachen weiterzulesen, zu kommentieren oder überhaupt erst anzufangen <.<

Es freut mich auf jeden Fall sehr, wieder von dir zu hören ^^
Und ist notiert, dass du dir ebenfalls was Fanservice wünschst *lol* Ich kann dich und SamAzo gerne darin ertränken, wenn ihr wollt :D Hab ich echt nichts gegen, ganz im Gegenteil!

Nach meinem Frühstück gleich (hey, es ist Wochenende, da darf man um 12 Uhr frühstücken, nicht wahr? ;p) werd ich auch das neuste Kapitel hochladen. Asrim und Te-Ken haben diesmal sogar zum ersten Mal eine Szene zusammen ;)

Und ja, danke, mit YUAL hatte ich echt gar nicht gerechnet ^^ Das macht diesen regnerischen Tag grade ein bisschen schöner!

Man liest sich!
Von:  Divinity
2015-09-01T06:56:24+00:00 01.09.2015 08:56
Hi ich wollte dir nur kurz für das tolle Kapitel danken und hoffe bei deiner OP ist alles gut verlaufen. Ich wünsche dir weiterhin gute Besserung und hoffentlich liest man sich ganz bald wieder.
LG
Antwort von:  Nochnoi
05.09.2015 11:54
Vielen Dank, das ist echt lieb von dir <3

Joah, OP selbst ist im Großen und Ganzen gut gelaufen, hatte nur leider nicht den gewünschten Effekt (sprich: mein rechter Arm ist immer noch ziemlich nutzlos), weswegen ich in anderthalb Wochen nochmal operiert werden muss. Na ja, bin da inzwischen schon ein alter Hause *seufz*

Aber wie gesagt, nochmal vielen Dank!
Und das nächste Kapitel stell ich übrigens gleich in die Warteschlange, das wird hoffentlich nicht allzu lange dauern ^^
Von:  SamAzo
2015-06-20T22:37:24+00:00 21.06.2015 00:37
Rieche ich da Fanservice? xD
Egal ob es als solches gemeint ist oder nicht, ich liebe Alec und Oscar zusammen. Meinetwegen kann es noch viel mehr mit den beiden geben... Sehr, sehr viel mehr...

Und dann sind wir auch endlich wieder bei einem Teil an den ich mich komischerweise wirklich gut erinnere. Wie die Zwei da durch die Gegend wandern... werden... Zumindest falls sie das da jetzt auch so machen, wie in der letzten Version. *Gedanklich aufzähl was noch passieren müsste*
Aber wenn dann Eves Vater vorbeikommt, dann muss sich ja auf jedenfall noch etwas ändern. Nachher kommt der noch mit...
Antwort von:  Nochnoi
22.06.2015 19:48
Fanservice?
Nö, das ist bloß ein Geburtstagsgeschenk an mich selbst xDD

Aber gut, ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen ;)

Oh ja, ein Familienausflug in irgendwelche unbekannten Dimensionen - klingt nach jeder Menge Spaß! *lol*


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