Heart From A Killer
Kapitel 6:
HEART FROM A KILLER
Das Herz einer Killerin
Fast bewegungslos saß Vermouth in ihrem Arbeitszimmer und fixierte einen bestimmten Punkt auf dem Boden. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie das schon tat. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Im Moment sogar jeglichen Bezug zur Gegenwart.
Der äußere Schein ließ nicht vermuten, wie durcheinander es in ihrem Inneren aussah. Sie war schon immer gut darin gewesen, ihre wahren Absichten und Gefühle nicht durchscheinen zu lassen. Nicht ohne Grund war sie eine groß gefeierte Schauspielerin gewesen. Diese Gabe war im Laufe der Jahre, und Jahrzehnte, für sie lebensnotwendig geworden. Sie konnte und durfte nicht auffliegen – es wäre ihr sicheres Todesurteil.
Lethargisch holte sie eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie sich in den Mund und zündete sie geistesabwesend an, während sie das eine Bein über das andere schlug und ihre freie Hand vor der Brust verschränkte.
Ein Ablauf, der für sie schon so zur Routine geworden war, dass sie dabei gar nicht bewusst handeln oder nachdenken musste.
Trotz ihrer weltbekannten Schauspielkunst hatte sie ziemlich in der Klemme gesteckt. Sie war auffällig geworden. Letzten Endes hatte sogar der Boss an ihrer Loyalität gezweifelt und hatte den gefährlichen Verdacht gehabt, dass ihr die Organisation im Grunde genommen ziemlich egal war. Hatte die berechtigte Vermutung, dass sie hoffte, dass eines Tages jemand die Organisation zerschlagen würde. Die Silberkugel.
Es wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden.
Er hatte ihr wortwörtlich die Pistole auf die Brust gesetzt. Um ihm ihre Treue zu beweisen, musste sie Ran entführen und sie ihm ausliefern. Ran – diejenige, bei der ihre werten Kollegen anscheinend wussten, dass sie ihr alles andere als egal war. Genauso wie Shinichi Kudo. Und damit hatten sie ja auch recht. Doch sie hätten es niemals erfahren, nicht einmal auf diesen Gedanken kommen dürfen.
Hätte sie sich geweigert, diesen Auftrag auszuführen – sie hätte sich genauso gut eine Kugel in die Schläfe jagen können. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Nur der Verlauf würde anders ablaufen, jedoch immer mit dem gleichen Resultat: Sie wäre am Ende tot.
Sie warf ihren Kopf zurück und atmete langsam den Rauch aus ihren Lungen heraus, während sie ihre Augen schloss.
Auch, wenn man es ihr nicht ansah: Sie wollte unter keinen Umständen sterben. Ausgerechnet sie, die so viele Menschen in den Tod geschickt hatte. Obwohl sie den Tod mehr verdient hätte als jeder andere, den sie auf dem Gewissen hatte. Welch eine Ironie.
Und doch hatte sie ihre Gründe.
Sie hatte schon immer nur an sich selbst gedacht.
Fast immer.
Es gab früher einen einzigen Menschen, für den sie alles getan hätte. An den sie immer als Allererstes gedacht hatte.
Ihr Mann, den sie mehr als jeden anderen abgöttisch geliebt hatte. Ihr geliebter Mann, der vor 25 Jahren gestorben war. Der kaltblütig ermordet worden war.
Sie hatte ihn gerächt. Es war jedoch keine Kurzschlussreaktion. Sie hatte diesen Mord sauber und akribisch bis ins letzte Detail durchgeplant und war bis heute dafür nicht gefasst worden.
Anschließend war sie völlig in die schiefe Bahn geraten nach der verzweifelten Suche nach einem neuen Lebenssinn und war schließlich auf diese dunkle Organisation gestoßen. Hier hatte sie wenigstens … ein Ziel vor Augen gehabt trotz der Tatsache, dass sie nach wie vor allem gegenüber gleichgültig war. Wo hätte sie denn auch sonst hin gekonnt? Sie hatte doch schließlich mehrere Menschenleben ausgelöscht – ein normales Leben war für sie unmöglich geworden.
Damals hatte sie die gesamte Welt von ihrer pessimistischsten Seite gesehen, denn auf sie … hatte nie ein Engel hinabgelächelt seit dem Tod ihres Ehemannes.
Bis sie Ran und Shinichi in New York begegnet war. An diesem Tag hatte sich alles schlagartig verändert. Zwei damals fünfzehnjährige Teenager hatten es tatsächlich geschafft, etwas ganz Entscheidendes in ihr zu wecken. Etwas längst verloren Geglaubtes: Den Glauben an das Gute auf dieser Welt.
Fast schon melancholisch starrte sie die ihr gegenüberstehende Wand an.
Erst ab diesem Zeitpunkt hatte sie gemerkt, dass das der falsche Weg gewesen war, den sie jahrelang beschritten hatte. Dass es doch noch Gutes auf dieser Welt gab, sie diese Dinge nur nicht sehen wollte. Dass es auf dieser Welt doch noch so etwas wie … Hoffnung gab.
Trotz ihres schlimmen Schicksalsschlags, denn solche Dinge gehörten einfach zum Leben dazu.
Doch da war es schon viel zu spät gewesen. Diese Erkenntnis war leider viel zu spät gekommen.
Sie steckte schon bis zum Hals drin und würde hier nie wieder rauskommen. Zumindest nicht lebend.
Wäre sie den beiden doch nur früher begegnet … Oder wäre doch die ganze Tragödie um ihren Mann niemals geschehen.
»Christian …«, hauchte sie wehmütig, während eine kleine Träne ihr linkes Auge verließ.
Über den Tod ihres Ehemannes war sie nie hinweggekommen. Bis heute nicht. Sie wäre ihm schon längst gefolgt … wenn sie nicht gewusst hätte, was er für eine negative Stellung gegenüber Selbstmördern gehabt hatte.
Seine Eltern hatten sich beide nacheinander das Leben genommen. Er hatte sie für ihre Schwäche abgrundtief gehasst. Gehasst, dass sie ihn einfach im Stich gelassen hatten und vor ihren Problemen des Lebens davongelaufen waren.
Das war eine der Gründe, warum sie sich bisher noch nicht für den Freitod entschieden hatte.
Und hinzu kam, dass er ihr zu seinen Lebzeiten hatte ein Versprechen abgenommen hatte. Sie konnte sich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.
»Sharon?« Sanft streichelte er durch ihr langes, blondes Haar. Er liebte ihre wunderschönen Haare, die gerade unter dem Licht des Vollmondes silbern glänzten und ihr etwas Engelhaftes verliehen. Dass sie jedoch lange nicht mehr so unschuldig war wie ein Engel, wusste er besser als jeder andere.
»Ja, Darling?«, fragte sie mit lasziver Stimme, legte sich auf den Bauch und sah ihn mit einem schiefen Lächeln an.
Christian konnte bei dem Anblick seiner bildschönen Ehefrau nur schmunzeln. »Bitte versprich mir: Was auch immer mit mir geschehen sollte: Versprich mir, dass du am Leben bleibst. Solange es in deiner Macht steht, dann sorg bitte dafür, dass du lebst. Okay?«
Verwundert sah sie dem schwarzhaarigen, durchtrainierten Mann in seine unergründlichen, grauen Augen. Warum verlangte er ausgerechnet jetzt so ein Versprechen von ihr? »Aber warum …?«
»Versprich es mir einfach!«, fiel er ihr ins Wort, legte seinen Arm sanft um ihren Nacken und drückte sie gegen seine nackte Brust. »Wir können schließlich nie wissen, was kommen wird. Es ist mir einfach nur wichtig, zu wissen, dass du weiterleben wirst«, wisperte er. Es war ihm offensichtlich sehr ernst, wenn er so sehr darauf beharrte.
Zaghaft nickte die Blondine nach einer Weile stumm. Wenn auch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend.
Dieses mulmige Gefühl war bestätigt worden, denn vier Tage später hatte ihn der Tod ereilt.
Im Nachhinein hatte sie nun auch erfahren, dass er es schon damals wusste. Er hatte gewusst, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete. Durch seine Arbeit als Geheimagent hatte er sich viele Feinde gemacht.
Auch seine werten Kollegen vom FBI hatten Bescheid gewusst, aber sie hatten nichts zu seinem Schutz unternommen. Rein gar nichts.
Das war der ausschlaggebende Grund, warum sie das FBI, die Polizei und sämtliche andere Organisationen, die angeblich für Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden sorgten, über alles hasste. Sie waren alle bloß erbärmliche Heuchler, die nichts auf die Reihe brachten. Deswegen hatte sie letzten Endes die Seite gewechselt.
Und doch … hatte sie sich verirrt. Ohne Hoffnung auf einen Ausweg.
Leise holte sie tief Luft.
Was tat sie hier eigentlich?
Eine Frage, die sie sich die letzten 25 Jahre mehr als nur einmal gestellt hatte.
Es war einfach falsch. Es war alles falsch. Und doch hatte sie keine andere Wahl, wenn sie nicht ihr eigenes Todesurteil unterschreiben wollte. Denn solange es in ihrer Macht stand, durfte sie nicht zulassen, zu sterben. Das hätte ihr Mann nicht gewollt.
Doch auf der anderen Seite war er ein herzensguter Mensch gewesen. Wenn er sehen könnte, was aus ihr nun geworden war … Sicher wäre er maßlos enttäuscht von ihr.
Über dieses unendliche Chaos konnte sie nur den Kopf schütteln. Es war viel zu spät, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Sie hatte schon viel zu viel verbrochen. Das Blut von unzähligen Menschen klebten seit Jahren an ihren Fingern. Sie konnte sich nicht mehr reinwaschen.
Sie war eben einfach kein Engel. Definitiv nicht. Sie hatte einen unschuldigen Engel entführt, um selbst mit dem Leben davonzukommen. Was war denn daran bitte ehrenhaft? Gedanklich gab sie sich selbst eine Antwort auf diese rhetorische Frage.
Ob er … Ob Anokata nun trotzdem der Überzeugung war, dass sie ihm nicht treu ergeben war? Hatte sie mit dieser Aktion wirklich all seine Skepsis zerstreuen können?
Doch musste sie sich darüber überhaupt noch Gedanken machen? Es lag eh nicht mehr in ihrer Hand.
Und merkwürdigerweise kümmerte es sie eigentlich auch gar nicht weiter. Vielmehr beschäftigte es sie, was sie nun mit Angel machen würden. Angel, die nun nur ein paar Zimmer weiter saß und wahrscheinlich die schlimmsten Stunden ihres Lebens dort verbringen würde. Womöglich sogar … ihre letzten. Und das alles nur ihretwegen.