Zum Inhalt der Seite

Die Legende von Shikon No Yosei

Das Schicksal einer Elementarmagierin
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte basiert auf dem RPG „Wenn dein Herz plötzlich menschlich wird ...“, welches von Ami Diana Saphira Mercury teilweise mit einem ihr bekannten Autoren geschrieben wurde.
Vor Jahrhunderten wandelten die Elben auf dieser Erde und lebten friedlich mit den Menschen zusammen. Doch irgendwann entbrannte ein Streit zwischen den beiden Völkern – die Elben flohen in die vergesse Welt Avalon. Seit diesem Tag warten sie auf die Chance zurückzukehren ...
Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Buch 12: Die Legende vom Wandel des Herzens

Die Rückkehr der Elben

Avalon – ein vergessener Inselkontinent im Meer von Raum und Zeit, verschleiert von Nebeln, umringt von einem undurchdringlichen Wald, beherrscht von einem gewaltigen Berg inmitten des Herzlandes. Über dieses Reich herrscht Torarien, König der Elben und Vater von drei Söhnen namens Kamekle, Ryuohtah und Hoorgo.

Und für sie hatte Torarien nun einen Auftrag von aller höchster Wichtigkeit: „Ihr wisst, warum wir ein Leben in dieser tristen Einöde fristen müssen … Wir wurden gejagt und vertrieben von den widerlichsten Abscheulichkeiten, die jemals auf Erden wandelten – den Menschen! Wir haben damals aus Respekt vor der Natur den Kampf gescheut und sind hierher geflohen; doch diese Welt lässt uns immer weiter ausbluten … Ihr seid die begabtesten Krieger unseres Volkes, darum entsende ich euch auf die Erde, um sie für uns zurückzuerobern! Kamekle, Hoorgo … Ryuohtah, enttäuscht mich nicht!“

„Jawohl, Vater … Eure Majestät!“, kam es im Gleichklang zurück und die Brüder salutierten.

Der Erstgeborene und damit nächster Anwärter auf den Thron, Kamekle war mit seiner schlaksigen Gestalt der geborene Gelehrte und Stratege. Die Kampfausbildung hatte er nur auf Torarien´s Verlangen hin über sich ergehen lassen – dennoch gehörte er durch Alfirin, seine Immerweiße Blume zu den besten Rapier-Meistern. Sein jüngster Bruder Hoorgo war das genaue Gegenteil von ihm – er liebte das Kämpfen und stürmte mit seinem mächtigen Zweihänder am liebsten mitten in die gegnerische Gruppe, die er mit seinem flammend roten Haar meist schon von Weitem ziemlich einschüchterte. Und Ryuohtah? In den Augen seines Vaters besaß er keinerlei herausragende Fähigkeiten. Zwar konnte im Duell kaum jemand gegen seine beiden Langdolche ankommen, aber das genügte Torarien nicht – von dem äußeren Makel seines Sohnes einmal ganz abgesehen. Die Elben liebten und verehrten Perfektion, danach zu streben war ein großer Teil ihrer Kultur; da passte die Heterochromie von Ryuohtah´s Augen nicht hinein – rechts schwarz, links rot. Seinen Brüdern dagegen war dieser Unterschied herzlich egal, sie respektierten und liebten ihn.

Aus diesem Grund durchschritten sie auch gemeinsam das Portal, Seite an Seite. Eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, fremde Sternbilder leuchteten über ihren Köpfen – die Nacht hatte hier eine ganz andere Gestalt als in Avalon. Und was war bloß mit dem Boden los? Der dunkelgraue, harte Asphalt war den Elben vollkommen unbekannt. Sie kannten nicht einmal Elektrizität oder sonstige moderne Technik. Wenigstens die menschliche Sprache beherrschten sie fließend – wobei die Magie ihnen half, sich an die jeweilige Region anzupassen.

„Wo sind denn jetzt diese Würmer?“, keifte Hoorgo schlecht gelaunt, „Meiner Klinge dürstet es nach Blut!“
 

Währenddessen wurde Shiko Yosogawa an einem anderen Ort jener Stadt von einem Alptraum nach dem nächsten geplagt – mathematische Formeln, Vokabeln, Grammatikregeln, der ganze Schulstoff wirbelte durch ihren Geist. Es war, als liefe sie durch einen nie endenden Tunnel des Lernens. Doch dann veränderte sich etwas.

Jemand rief ihren Namen … ihren waren Namen: „Shikon … Shikon, erwache!“

Shiko konnte die männliche Stimme nicht zuordnen, dabei kam sie ihr irgendwie bekannt vor … was allerdings noch viel wichtiger war – woher kannte er ihre richtige Identität? Mit einem markerschütternden Schrei fuhr Shiko aus dem Schlaf hoch; sie saß kerzengerade im Bett und presste die Arme an die Brust. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie keuchte erschöpft. Es war Magie, alte Magie. Und diese Energie pumpte durch ihren Körper, verwandelte ihn. Das Erbe ihres Vater´s ruhte nicht länger …

Von einer Sekunde zur anderen verschwand der Schmerz wieder. Hastig sprang Shiko aus dem Bett auf und stürzte zum Wandspiegel. Das Mädchen ihr gegenüber hatte rotbraunes Haar, das ihr über den gesamten Rücken fiel. Ein Edelstein – möglicherweise ein Rubin – prangte auf ihrer Stirn und sie trug ein Kleid, das nicht von Menschenhand gemacht sein konnte. Und obwohl sie wusste, was sie erwarten würde, erschrak Shiko beim Anblick ihrer spitz zulaufenden Ohren – sie war tatsächlich zur Elbe geworden!
 

Shikon folgte der magischen Spur. In ihrer Hand ruhte ein Bogen, der sich allein durch ihre Gedanken materialisiert hatte … nur indem ihr sein Name durch den Kopf gegangen war – »Feuerblume«. Trotz des Zwielichts entdeckte sie drei Krieger auf offener Straße; alle trugen unterschiedliche Arten von Schwertern, hatten andere Staturen und gehörten ebenfalls eindeutig zum Volk der Elben. Mit Schrecken registrierte Shikon, wie die Fremden auf die herannahenden Menschen reagierten … Bevor sie etwas dagegen tun konnte, erlebte sie ein Szenario geboren aus schlimmster Grausamkeit, ein wahrhaftiges Massaker. Der Mann, welcher den Zweihänder führte, schlachtete zwei Menschen gleichzeitig regelrecht ab. Die Blutlache auf der Straße schimmerte im Mondlicht. Shikon stieg die Galle hoch. Ein Pfeil schnellte von Shikon´s Sehne – der erste überhaupt –, während sie ihr ganzes Vertrauen in die magische Kraft ihrer Waffe legte. Genau in diesem Moment trat jedoch der Elb mit den beiden Langdolchen in den Weg, sodass das Geschoss seine rechte Wange streifte und einen langen blutigen Striemen hinterließ. Für den Bruchteil einer Sekunde, der ihren elbischen Sinnen vollkommen genügte, begegneten sich ihre Blicke. Zwei verschiedenfarbige Iriden brannten sich in ihre schokoladenbraune Iris …

Im ersten Moment war sie von einem merkwürdigen Glühen erfüllt, dann kam die Angst – Flucht wäre ihre einzige Hoffnung! Die Energie, welche sie verändert hatte, verschwand und mit ihr auch Feuerblume, die sich in ihre Seele zurückzog. Einem Mensch könnten sie sicher schwerlicher folgen, wenn überhaupt – doch der Elb war ohnehin viel zu verwundert gewesen, um der Rothaarigen hätte folgen zu können.

Hätte Shikon jedoch geahnt, was ihr in der kommenden Zeit bevorstand, hätte sie vielleicht lieber jetzt dem Tod ins Auge geblickt … Ein Zitat, das sie irgendwann einmal aufgeschnappt hatte, besagte »heute leben, morgen kämpfen«. Aber wäre sterben wirklich so schrecklich gewesen, im Vergleich zu den bevorstehenden Ereignissen?
 

Ryuohtah berührte die blutende Stelle. Eine Woge der Wut schwappte über ihn hinweg … bis ihm der Blick der Elbe wieder vor die Augen trat. Diese Tiefe hatte ihn gepackt, gefesselt, ergriffen – etwas schien nicht mit ihm zu stimmen.

„Was ist denn auf einmal mit dir los?“, schnauzte Hoorgo ihn an.

Doch Kamekle hielt seinen jüngsten Bruder zurück und meinte: „Es ist erstaunlich, dass ihre Aura so plötzlich verschwunden ist.“

Der Braunhaarige nickte beklemmt. Hoorgo stürzte sich derweil auf sein Schwert Dúath, was in Sindarin so viel wie »Dunkelheit« bedeutete, und verstand absolut kein Wort; er war zu beschäftigt gewesen, um das kurze Aufflackern von fremder Magie zu bemerken.

„Wir müssen zurück nach Avalon und Vater Bericht erstatten – unser Auftrag sah keine elbische Gegengewehr vor.“, entschied der Älteste.

Bevor Hoorgo selbst den geringsten Widerstand leisten konnte, öffnete Kamekle bereits das Portal und stieß ihn hinein. Ryuohtah dagegen musste er nicht bitten. Die Brüder hatten den größten Teil ihres Lebens nur zu dritt verbracht und kannten daher jedes Verhaltensmuster der anderen.

Kein Wunder also, dass der Kronprinz wie selbstverständlich nach ihrer Rückkehr das Wort an den Herrscher richtete: „Vater … Eure Majestät, es gab Komplikationen. Wir sind auf der Erde nicht nur auf Menschen gestoßen … Eine Frau elbischen Blutes hat uns angegriffen.“

„Das kann nicht sein!“, donnerte Torarien, „Es gibt keine Elben mehr in jener Welt! Wie könnt ihr euch da so sicher sein?“

Entgegen des Protokolls erhob sich nun Ryuohtah und sprach: „Ihre Aura … die Ausstrahlung dieser Magie war eindeutig die unseres Volkes. Ich bitte Euch, Vater … ich bin es, der von ihrem Pfeil verwundet wurde – erlaubt mir auf die Erde zurückzukehren und sie persönlich hierher zu schleifen, um diese Schmach zu tilgen und Euch den Beweis zu erbringen.“

Torarien´s Gesichtsausdruck wurde hart, als er entgegnete: „Natürlich … Wer außer dir könnte derart scheitern?! Aber gut, dein Vorschlag soll mir recht sein – so muss ich deine Visage wenigstens nicht in meiner Nähe ertragen. Bring´ dieses Miststück zu mir … Und wehe, du wagst es, dich ohne sie wieder in meinem Reich blicken zu lassen!“

Seine Worte verletzten Ryuohtah mehr, als es jede Klinge vermocht hätte. Wäre er nicht auch der Sohn seiner Mutter Chunryu – die einzige Person, die Torarien in seinem Leben wohl wirklich geliebt hatte –, hätte der König ihn sicher bereits vor Jahrzehnten getötet. So musste er lediglich mit dessen Groll leben …
 

Noch mehr Probleme ...

In den folgenden Tagen war Shiko wie ausgewechselt – anstatt wie sonst dem Unterricht zu folgen, war sie ständig in Gedanken versunken und kritzelte ohne darauf zu achten etwas in ihren Block hinein.

Nach der Schule wurde sie von ihrer besten Freundin Seiketsu Aokawa abgefangen, die sie durch die Innenstadt schleppte, um sie gebührend auszuquetschen: „Was ist in letzter Zeit eigentlich mit dir los, Shiko-chan? Sag´ bloß, du hast irgendeinen Kerl kennengelernt und mir nichts von ihm erzählt?!“

Als ob sie ihr die Wahrheit hätte sagen können … Innerhalb einer Nacht hatte sich Shiko´s Leben komplett auf den Kopf gestellt. Nicht nur, dass das Blut ihres Vaters in ihren Adern erwacht war und sie sich dadurch in eine Elbe verwandelt hatte … Es waren auch noch andere Elben auf der Erde erschienen, die – nebenbei gesagt – zwei Menschen ermordet hatten! Nicht gerade leicht all diese Erlebnisse auf die Reihe zu bekommen … Einerseits wünschte sich Shiko nichts sehnlicher, als nur ein ganz normales Mädchen zu sein; auf der anderen Seite war es ein unbeschreibliches Gefühl gewesen, sich so frei und beinahe schwerelos zu bewegen … Wie sie es drehte und wendete, die Ausgangssituation blieb dieselbe – das Blut der Elben floss durch ihren Körper, ob sie es wollte oder nicht, und diese Fremden stellten eine Bedrohung für die Bewohner der Stadt dar, die sie ignorieren … oder aber bekämpfen konnte. Wobei dies eine rein rhetorische Frage blieb – niemals könnte sie einfach nur zu- geschweige denn wegsehen; eher erschien es ihr, ihre Verantwortung zu sein.

Seiketsu wedelte ihr mit der Hand vor dem Gesicht herum, während sie fragte: „Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“

„Natürlich nicht!“, entfuhr es Shiko, „Ich meine – klar, höre ich dir zu, Sei-chan. Und nein, da gibt es niemanden …“

Sie wollte unter keinen Umständen länger an den braunhaarigen Krieger mit den zwei Klingen denken. Nur warum ging ihr dieser Typ dann nicht endlich aus dem Sinn? Selbst im Traum verfolgten sie seine Augen … schwarz und rot.

„Trotzdem … Irgendetwas stimmt nicht mit dir.“, beharrte Seiketsu, dann schlug sie die Hände vor den Mund, „Oh nein, ist … ist es wegen deiner Mutter?“

Shiko schwieg. Noch so ein schwieriges Thema … ihre Mutter Kaira. Was vor gut einem Jahr als harmlose Erkältung begonnen hatte, war zu einer tödlichen Lungenentzündung geworden. Seitdem lebte die junge Schülerin allein in der Wohnung, da sie keine anderen Verwandten hatte … beziehungsweise nichts über sie wusste, beispielsweise über ihren Vater Tetogo – von der Sache mit der elbischen Abstammung einmal abgesehen. Sollte Seiketsu ruhig glauben, sie wäre wegen dem baldigen Todestag so seltsam drauf.

Da drang plötzlich die Melodie eines Liedes aus dem Geschäft, vor dem sie zum Stehen gekommen waren. Der Sänger erzählte von einem Liebespaar, welches sich nach tausend Jahren endlich wiedersehen konnte, nachdem ihr Feind endlich besiegt war, der ihr Glück überschattet hatte … an jeder Stelle, an der sie sich einst trennten. Tief im Wald begegneten sie sich im Licht des Vollmondes und gemeinsam erfüllten sie so ihr Schicksal.

Shiko wurde melancholisch zumute. Sie liebte die Vorstellung des Elbenvolkes über das silberne Mondlicht … Wenn Sterbende den Sinn ihres Lebens erfüllt hatten, wurden sie nicht mehr in ein neues Leben wiedergeboren, sondern gingen ins Mondlicht ein, um dort auf ewig mit ihren Liebsten vereint zu sein. Irgendwie hoffte Shiko, auf diese Art eines Tages ihre Mutter wiederzusehen …

„>Dein Herz kommt nicht zur Ruh´<.“, wiederholte die Rothaarige kaum hörbar, „Wie wahr …“

Seiketsu lächelte mitfühlend und sagte: „Es wird besser. Du bist doch sonst so optimistisch!“

Das sanfte Lied endete. Doch erst jetzt realisierte Shiko, dass seine Worte in Sindarin gesprochen waren … der Sprache der Elben!
 

Zu Hause warf Shiko ihre Schultasche mit voller Wucht gegen eine Wand, sodass sich der gesamte Inhalt auf dem Boden verteilte. War sie nicht schon freaky genug gewesen – auch ohne diese ganze Elben-Nummer? Nicht nur dass sie sich in eine andere Rasse verhandelt hatte; jetzt konnte sie auch noch eine Sprache sprechen, die sie niemals jemand gelehrt hatte! Langsam sprach sie ein paar einfache Worte aus, die ihr durch den Sinn gingen. Bis es in ein freudloses Lachen überging …

Plötzlich kam ihr eine Idee – Hausaufgaben! Nichts konnte sie mehr ablenken, als sich auf Mathematik konzentrieren zu müssen. Dafür würde sie alle ihre Gehirnwindungen brauchen. Shiko nahm also ihren Block vom Boden, schlug eine unbestimmte Seite auf und erschrak. Eine Bleistiftzeichnung starrte ihr entgegen – wild abstehendes Haar, spitze Ohren und unterschiedlich dunkel schraffierte Augen … sogar die blutende Schramme hatte sie in das Bild eingefügt und damit ein genaues Abbild jenes Kriegers geschaffen, den sie verwundet hatte. Wie konnte man nur so blöd sein, den ganzen Tag nicht zu kapieren, was man da eigentlich vor sich hinkritzelte?!

Wie vom Blitz getroffen sprang Shiko auf und schnappte sich erneut ihre Tasche. Keine drei Sekunden später war sie bereits wieder zur Tür hinaus geeilt, zurück in Richtung Stadt. Ihre Füße trugen sie ohne großes Zutun zurück zu jenem Geschäft, aus dem zuvor die elbische Musik gedrungen war … Ein goldener Sonnenstrahl leuchtete ihr vom Cover einer der CDs entgegen – Shiko wusste sofort, dass der Interpret irgendwie mit dem Volk ihres Vaters in Verbindung stehen musste … nur auf welche Weise vermochte sie noch nicht zu sagen. Denn ihre Mutter hatte ihr einst erzählt, es gäbe keine Elben mehr auf der Erde. Alle waren sie in die andere Welt gegangen …

Sie kaufte die CD und betrachtete die Titelliste beim Hinauslaufen, dabei sprach die Rothaarige eines der Worte aus, um seinen Klang vernehmen zu können: „Avalon …“

Da knallte sie plötzlich mit voller Wut gegen einen jungen Mann. Mit einer hastigen Entschuldigen auf den Lippen schaute Shiko zu ihm auf. Er war einen ganzen Kopf größer, das braune Haar stand in alle Richtungen ab und seine schwarzen Augen musterten sie, während sich ihre Augenlider mehrmals perplex hoben sowie senken.

„Was. Hast. Du. Da. Gerade. Gesagt?“, fragte er betont langsam, sodass mir jede einzelne Silbe einen Schauer über den Rücken jagte.

Als sie nicht reagierte, packte der Fremde sie am Arm und zog sie ein Stück hinter sich her.

„Du kommst mit mir!“, knurrte er, ohne sie freizugeben.

Hatte sie sich gerade verhört? Endlich erwachte Shiko´s Kampfgeist! Sie riss sich mit einem Ruck von ihm los und holte ihre Wasserflasche aus der Tasche – bevor er irgendwelche Anstalten machen konnte, etwas zu erwidern oder auszuweichen, hatte Shiko ihm bereits den gesamten Inhalt übergeschüttet.

„Vielleicht hilft dir diese kleine Abkühlung ja wieder zur Vernunft zu kommen!“, entgegnete Shiko wütend, „Fanatisch, pervers oder was auch immer du bist, ist mir vollkommen egal! Ich habe nicht vor auch nur ansatzweise irgendwo mit dir hinzugehen.“

So hochmütig wie möglich schritt Shiko an ihm vorbei. Doch innerlich brodelte es in ihr!
 

„Das ist ja spannend!", rief ihre beste Freundin Seiketsu vom anderen Ende der Leitung aus, nachdem Shiko ihr alles erzählt hatte.

Sie verdrehte die Augen und erwiderte ärgerlich: „Von wegen! Der Typ hat sie nicht mehr alle! Warum muss so was ausgerechnet mir passieren, Sei-chan? Was, wenn er mir jetzt auflauert, um sich zu rächen?!“

„Daran hättest du auch früher denken können.“, bemerkte die Braunhaarige nüchtern, was nun wirklich nicht gerade aufbauend wirkte, „Aber mal im Ernst – vielleicht hast du ihn ja auch mit deiner Schlagfertigkeit beeindruckt und jetzt einen neuen Verehrer?“

Der Halbelbe fiel beinahe das Telefon aus der Hand, sodass ihre Antwort etwas auf sich warten ließ: „Bitte, nicht! Mein Traumprinz müsste ganz anders sein … höflich, charmant, zärtlich, stark, leidenschaftlich und vor allem super romantisch!“

Ein kleines Lachen entfuhr Seiketsu, als sie scherzte: „Du weißt aber schon, dass wir nicht in einer Romanwelt leben, Shiko-chan?“

„Haha, danke für die Blumen, Sei-chan.“, gab ich zurück und rollte mit den Augen, „Und trotzdem – wenn ich mich jemals verliebe, dann in einen echten Ritter, der mich beschützt und … sich nicht für mich schämt, mich niemals aufgibt.“
 

Ryuohtah war starr wie Stein. Sein Blick klebte weiterhin an der Stelle, an der das Mädchen in der Menge verschwunden war. Was nur stimmte mit dieser Welt nicht? Erst traf ihn dieser verfluchte Pfeil und nun wurde er von einem einfachen Menschen gedemütigt! Hinzu kam das Getuschel der Leute und die herannahende Nacht – zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich einsam. Trotz aller Qualen in Avalon hatte er sich dort stets auf seine Brüder verlassen können … oder Trost im Schwertkampf gefunden. Seine Brüder waren auf der anderen Seite des Portals … und seine Langdolche musste er in einer Zwischendimension verbergen.

„Du scheinst in ziemlichen Schwierigkeiten zu stecken, Junge.“, sprach ihn ein glatzköpfiger Mann an, „Na los, komm´ mit.“

Er ging weiter ohne nachzusehen, ob Ryuohtah ihm wirklich folgte. Für gewöhnlich wäre er niemals auf die Hilfe eines Menschen eingegangen … Doch in diesem Moment war er zu schwach, um der Versuchung zu widerstehen. Er folgte dem Mann zu dessen Haus, wo ihn trockene Kleidung, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett für die Nacht erwarteten. Ryuohtah war zu erschöpft, als dass er hätte nach dem Grund für seine Gastfreundlichkeit fragen können oder sich Gedanken darüber machte, sich bei seinem Todfeind einzunisten – er nutzte ihn nur aus, nichts weiter … morgen könnte er ihn schließlich immer noch umbringen. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, fiel er in einen so tiefen Schlaf wie seit Jahrzehnten nicht mehr, in dessen Träume eine gewisse Rothaarige vorkam …
 

„Shikon …“, flüsterte eine männliche Stimme.

Shiko kannte sie. Dieselbe Stimme hatte das elbische Blut in ihr erweckt … Sollte sie diesmal antworten? Diesem jemanden, der das größte Geheimnis ihres Lebens kannte.

„Fürchte dich nicht! Ich will dir nichts Böses … Ich besuche dich in deinen Träumen, um dir zu helfen. Du hast deine Verwandlung noch nicht unter Kontrolle, nicht wahr? Du wirst es nicht ohne weiteres schaffen, deine Elbengestalt anzunehmen …“, erklärte der Unbekannte, der ihr so vertraut erschien, „Nichts ist mehr, wie es war … und Veränderung geschehen nicht mehr Stück für Stück. Es sind Äonen vergangen, seit Elben diese Welt mit Absicht betreten haben. Du bist ihnen bereits begegnet … Doch weder du noch ich wissen, was sie auf der Erde suchen. Sei vorsichtig, Shikon, dein Leben ist zu wertvoll!“

„Wer bist du?“, platzte es aus ihr heraus.

Eine Spur Traurigkeit lag in der Luft, als er antwortete: „Das kann ich dir noch nicht offenbaren … Es wäre zu gefährlich für dich, wenn du meine Identität kennen würdest.“

Damit löste sich der Traum auf und Shiko erwachte. Ihr Kopf schmerzte von den unzähligen Fragen, die auf sie einstürzten – wer war er, warum konnte er zu ihr sprechen, woher kannte er ihren wahren Namen, was bedeutete die Ankunft der Elben und … wenn Elben die Erde so lange Zeit gemieden hatten, wie waren sich dann ihr Vater und ihre Mutter begegnet? Sie war der leibhaftige Beweis, dass Elben in dieser Welt gelebt hatten – zumindest einer von ihnen … Außerdem wer oder was gab diesem Typen eigentlich das Recht, sie belehren zu wollen? Wenn es nach Shiko ginge, würde sie diese Menschen abschlachtenden … Wesen am liebsten sofort vergessen! Jedenfalls sobald es ihr irgendwie gelungen wäre, sie endgültig zu vertreiben – seit jenem Abend waren keine weiteren Leichen mehr gefunden worden.

Gleichzeitig musste sie einen Weg finden, zu sich selbst zurückzukehren. Ihr ganzes Sein war wie gespalten … nicht menschlich, aber auch keine ganze Elbe. Beides zu gleichem Teil. Dann musste es ihr auch gelingen beide Erscheinungsformen zu kontrollieren!

„Feuerblume, hilf´ mir …“, hauchte Shiko kaum hörbar und begann sich zu konzentrieren.

Vor ihrem inneren Auge erschien ihr elbisches Spiegelbild – die typischen Ohren und der flammende Rubin blitzten zwischen dem längeren Haar hindurch, das locker herunterhing; der blaue Stoff umschmeichelte ihre Gestalt; den Bogen trug sie über einer Schulter, der Köcher hing an ihrer Hüfte. Es wirkte wunderschön und dennoch sprach die Gefahr eines drohenden Kampfes überdeutlich aus diesem Anblick. Der Schmerz war wesentlich leichter zu ertragen, als beim ersten Mal. Shikon schlug die Augen auf und konnte trotz der Dunkelheit in ihrem Zimmer gut sehen – Nachtsicht. Sie fragte sich, ob dies nicht etwas zu Vampir-stylisch für Elben war … Aber was wusste sie schon über ihr Volk? Sie nahm sich fest vor, bei Gelegenheit die Bibliothek zu durchsuchen.

Die Nachtluft begrüßte die Rothaarige mit einem kühlen Wind. Bislang hatte sie nicht wirklich darauf geachtet, aber das Empfinden als Elbe war völlig anders. Alles nahm man bewusster war … deutlicher. Kein Wunder also, dass sie so etwas wie einen sechsten Sinn besaß, und dieser traute dem undurchsichtigen Frieden ganz und gar nicht. Dass sie von den Taten der Elben nichts mehr gehört hatte, bedeutete im Grunde gar nichts … Vielleicht waren sie nur weniger auffällig vorgegangen oder machten Pläne für ihr eigentliches Ziel – was das auch sein mochte.

Mit einem einzigen Sprung landete Shikon auf dem Dach des Nachbargebäudes – dabei kam sie sich fast wie eine Kamikaze-Diebin vor … »Die Nacht ist mein Freund. Ich verwandle mich, um den Menschen zu helfen … Egal wie sehr ich darauf hoffe, es geschehen keine Wunder. Ich muss mir selbst helfen!«
 

Die Sonne stand hoch im Zenit. Ryuohtah blickte an die weiße Decke. Wie in Zeitlupe liefen die gestrigen Ereignisse noch einmal vor ihm ab … Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.

„Ich komme rein.“, sagte der Mann lächelnd, der ihn aufgenommen hatte, „Ich verstehe … deshalb wirkst du wie nicht von dieser Welt.“

Ein kalter Schauer überlief Ryuohtah, während seine Hand langsam zu seinen Ohren wanderte und das spitze Ende berührten. Die Magie, die ihm das Aussehen eines Menschen verliehen hatte, war im Schlaf verblasst. Hitze der Scham stieg dem Elben ins Gesicht. Lautlos formte er die Worte der Macht. Erstaunen legte sich auf das Gesicht seines Gegenübers.

„Was hast du nun vor, da du weißt … was ich bin?“, wollte der Braunhaarige wissen.

Der freundliche Ausdruck kehrte zurück und er antwortete: „Zunächst möchte ich mich vorstellen – Mein Name ist Mhenlo … Taiyo Mhenlo und wenn ich ehrlich bin, gibt es für mich keinen Unterschied zwischen gestern und heute.“

„Du … hast keine Angst vor mir?“, gab Ryuohtah ungläubig zurück.

Jetzt lachte Mhenlo: „Wieso sollte ich? Buddha lernt uns, dass jedes Leben kostbar ist … Dein Äußeres ist nicht entscheidend – was zählt, ist dein Herz.“

Jedes seiner Worte schockte Ryuohtah auf das Neue und es dauerte eine ganze Weile, bis er leise erwiderte: „Nenn´ mich Ohtah.“

Hatte sein Vater ihn nicht sein ganzes Leben lang gelehrt, was für blutrünstige Bestien die Menschen waren, neben denen sogar Hoorgo harmlos erschien? Natürlich, er musste auf der Hut sein, möglicherweise war dies nur eine List … doch daran glaubte er nicht wirklich – Mhenlo schien keinerlei böse Absichten in sich zu tragen. Und wenn er so darüber nachdachte, wäre es nicht allzu verwunderlich, wenn Torarien sie angelogen hätte; vielleicht war dies seine Gelegenheit, sich ein eigenes Bild von der Erde zu machen.
 

In dieser Nacht schlich sich Ryuohtah hinaus, um nach der Elbe auf die Suche zu gehen. Er folgte einer magischen Spur durch die Stadt, über Dächer und durch kleine Gassen. In dem dicht besiedelten Gebiet hörte sie plötzlich auf – ohne schwächer zu werden, einfach weg. Wütend schlug er gegen eine Mauer, sodass ein Abdruck seiner Faust zurückblieb. Weder magische noch materielle Spuren konnten einfach so im Nichts verschwinden! Erneut wunderte sich Ryuohtah über die Merkwürdigkeit der Erde und seiner Regeln … Wütend wandte er sich ab. Doch ein Betonbau erregte seine Aufmerksamkeit – ein riesiges Plakat wehte über dem Eingang zu dessen Gelände, auf dem ein junges Paar zu sehen war und das für den Ball eines Schulfestes warb. Die plötzliche Erkenntnis traf Ryuohtah wie ein Schlag ins Gesicht. Die Elbe nutzte denselben Zauber wie er … sie war ebenso eine Gestaltwandlerin!
 

Ein Unglück kommt selten allein

Die Nächte waren ruhig geblieben, die Nachrichten brachten keine Horrormeldungen. Und trotzdem blieb ihr schlechtes Gefühl. Ein weiterer Grund dafür, warum Shiko alle – und zwar wirklich alle – Bücher zum Thema Elben aus der Stadtbibliothek zusammengesammelt hatte; es gab sogar ein Sindarin-Wörterbuch, obwohl sie das gar nicht gebraucht hätte, war es durchaus interessant.

Sie war gerade beim Anfertigen einer Mitschrift der letzten Stunde, weil Seiketsu erkrankt war, da trat bereits ihr Klassenlehrer Togo Morisaki ein, der sie in Japanisch unterrichtete.

„Guten Morgen.“, begrüßte er die Schüler und wartete auf deren Verbeugung, „Ich stelle euch heute einen neuen Schüler vor – Tritt ein, Taiyo.“

Shiko´s Finger hielten den Bleistift nicht länger. Der Junge, der vorne an der Tafel stand, war jener, der sie vergangene Woche in der Stadt belästigt hatte. Woher kam nur diese Ungerechtigkeit? Sie rammte sich regelrecht die Zähne in die Unterlippe, während er sich mit seinen schwarzen Augen vollkommen perplex anstarrte.

Aber es kam noch schlimmer: „Setz´ den leeren Stuhl neben Yosogawa – ich habe Neue gerne im Blick. Aokawa soll sich einen anderen Platz suchen, wenn sie wieder gesund ist.“

Er tat wie ihm geheißen und sagte an Shiko gewandt: „Freut mich, dich wiederzusehen … Ich heiße Ohtah.“

Es war ihr furchtbar egal, wie der Name von diesem Kerl lautete! Sie hasste es, dass er nicht nur neben saß, sondern Seiketsu musste ihm auch noch weichen! Shiko knirschte mit den Zähnen und starrte ihr Papier beinahe zu Tode; alles damit sie nicht zufällig in seine Richtung sah.

Ohtah beeindruckte das nicht im Geringsten … Er spürte, dass er sie beschäftigte und das gab ihm zu denken. Er verstand zu wenig von den Menschen, um ihr Verhalten deuten zu können – ein Grund mehr jede Beobachtungsgelegenheit zu nutzen.

Während diese seltsame Anspannung in der Luft lag, ging der Unterricht seinem gewohnten Gang weiter. Togo rezitierte ein uraltes Gedicht und setzte dessen Interpretation zum Thema für die nächsten Stunden an.

Doch kurz vor der Pause meldete sich die Klassensprecherin zu Wort: „Entschuldigung, Morisaki-sensei, wir müssen noch das Ergebnis über die Abstimmung der Klassenfahrt bekanntgeben.“

Auf einen Wink Togo´s hin kam sie nach vorne und schrieb die Daten an die Tafel – mit einigem Abstand machte eine Reise nach Hakone, in ein dortiges Onsen die Runde. Shiko freute sich darüber, sie selbst hatte für dieses Ziel gestimmt – dabei wäre Seiketsu lieber nach Kyoto gefahren.

Allerdings trübte sich ihre Euphorie in Anbetracht der Tatsache, dass Ohtah nun ebenfalls an dieser Exkursion teilnehmen würde … und tatsächlich ließ ein Fauxpas seinerseits nicht lange auf sich warten: „Tja, diesmal können wir wohl eher heißes Wasser zusammen genießen.“

Ob sie das Klingeln überhaupt gehört hatte, konnte Shiko im Nachhinein nicht mehr sagen – sie stand auf und stürmte aus dem Klassenzimmer … geradewegs in die Mädchentoilette. Sie verschanzte sich, versuchte ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Leben war ein einziger, riesengroßer Alptraum! Was wollte dieser Perversling nur ständig von ihr? Reichte es nicht, dass sie es mit blutrünstigen Elben zu tun hatte?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken: „Ich glaube, wir sollten reden.“

Zorn ergriff Shiko, als sie die Kabinentür aufriss – Ohtah hatte es allen Ernstes gewagt, ihr hierher zu folgen!

„Was ist dein Problem?“, wollte er in seltsam ruhigem Tonfall wissen.

Die Rothaarige wollte ihm am liebsten gehörig die Meinung sagen, doch dazu kam es nicht – denn da wurde die Tür zur Toilette geöffnet und eine ziemlich schockiert wirkende Lehrerin stand darin und aufgerechnet Lee.

„Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, dass Sie beide gerade gegen mindestens drei Schulregeln auf einmal verstoßen?“, schnaubte sie entsetzt, „Zum Direktor! Sofort!“

Shiko konnte es nicht fassen – wie viel Ärger brockte dieser Kerl ihr bloß noch ein? Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sich mit ihm anzulegen … Wer wusste schon, was ihm einfallen würde, um ihr das Leben erst recht zur Hölle zu machen.

Nach der Schimpfparade des Schulleiters war Shiko an der Reihe: „Bitte, das alles ist nur ein Missverständnis. Taiyo-kun ist doch neu an unserer Schule und hat einfach die falsche Tür genommen – ich nehme an, im Eifer der Dringlichkeit hat er nicht auf das entsprechende Kanji geachtet.“

Er mustertet beide eine Zeit lang, dann sagte er: „Natürlich. Unsere Schule ist noch sehr ungewohnt für Sie, Taiyo. Belassen wir es dabei, dass Sie mir versprechen, in Zukunft besser Acht zu geben. Sicher kann Yosogawa Ihnen ja dabei helfen, sich hier einzufinden.“

Ohtah nickte beiläufig, sein Blick klebte an Shiko. Er hatte geglaubt, sie könne ihn nicht ausstehen – warum nahm sie ihn jetzt nur in Schutz? Die Rotharrige dagegen schlug sich innerlich gegen die Stirn; das auch noch!
 

An diesem Abend konnte Shiko nicht einschlafen. Wann immer sie ihre Augen schloss, sah sie das Gesicht von Ohtah vor sich. Dabei würde sie ihn nur zu gern auf der Stelle aus ihrem Kopf streichen, um nie wieder an ihn denken müssen. Doch es ging nicht …

Zehn Minuten später gab sie es auf und ging zum Fenster, ließ sich die kalte Brise durch das Haar wehen. Langsam legte sich der Sturm in ihrem Kopf, ihre Gedanken wurden klarer. Dafür trat es etwas anderes in den Vordergrund – ein leichtes Ziehen ihrer Ohren. Und als sie an sich herabsah, bemerkte sie erstaunt, dass sie zur Elbe geworden war … Die alte Magie hatte ihre Kräfte heraus gelockt. Ohne zu zögern machte sich Shikon an die Verfolgung der magischen Spur. Mit jeden Schritt wurde sie stärker …

Es war dieselbe Straße wie beim ersten Mal. Nur standen diesmal lediglich zwei Gestalten im Lichtpegel der Laterne. Alles in ihr schrie eine Warnung; Schmerz hastete durch ihren Körper und schon war sie wieder ein Mensch – wofür sie sehr dankbar war; denn sicher konnten sie ihre Gegenwart genauso fühlen.

„Bruder.“, grüßte der Größere von beiden – es war derjenige, der von ihrem Pfeil getroffen worden war, „Was machst du hier?“

Trotz Anstrengung konnte Shiko auf diese Entfernung nicht jedes Wort verstehen. Ihr Vater war wohl wegen irgendetwas wütend auf den Schwarzhaarigen …

„Glaubst du, ich bin zum Vergnügen hier? Ich bin ihr doch schon auf der Spur!“, antwortete er gereizt, viel lauter als sein Gegenüber.

Shiko schluckte hart. Sie konnte sich sehr genau vorstellen, nach wem er suchte … Vom Rest des Gesprächs bekam sie allerdings nichts mehr mit. Zu stark zitterte ihr Körper, als dass sie sich darauf hätte konzentrieren können.

Erst der schrille Schrei eines Mädchen ließ sie auffahren. Der Krieger hielt seine Schwerter auf eine Passantin gerichtet, die unglücklicherweise seinen Weg gekreuzt hatte – wohin der zweite Elb verschwunden war, konnte sie allerdings nicht ausmachen. Shiko verwandelte sich schneller als jemals zuvor und materialisierte Feuerblume in ihrer Hand. Den Schuss konnte sie sich diesmal allerdings sparen – sein Kopf wirbelte augenblicklich in ihre Richtung herum. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich; erst noch ganz ungläubig, dann schmerzverzerrt und schließlich wütend, durchwachsen mit Rachegelüsten. Ein stolzer Schwertkämpfer in seiner Vollendung … doch Shikon sah nur in seine Augen, das Rot und Schwarz nahm sie wieder gefangen.

„Da bist du endlich!“, meinte er überraschenderweise sehr sachlich, „Sieht aus, als sollte mein Bruder recht behalten – du tauchst wirklich auf, sobald wir einen Menschen auch nur bedrohen.“

„Die Erde ist mein zu Hause …“, gab sie ruhig zurück.

Eigentlich ging es ihm nur um sie … da konnte sie doch nicht länger andere in Gefahr bringen!

Im Nu stand der Krieger vor ihr auf der Brüstung. Shikon wollte den Bogen hochreißen, doch er versetzte ihr einen Tritt gegen den Arm. Klirrend fiel die Waffe zu Boden. Ihr Widerstand kam zum erliegen – seine übermächtige Kraft lähmte sie fast … Es hätte nicht mehr viel gefehlt und sie wäre vollkommen im Wirbel seiner Aura verloren gewesen, da hielt er ihr eines seiner Schwerter an die Kehle. Der kalte Stahl, der in der Nacht schon fast wie aus Eis wirkte, holte Shikon zurück in die Realität. Ein silberner Blitz zuckte auf, als sie ihm einen Pfeil in den Handrücken stach. Diesmal machte seine Waffe Bekanntschaft mit dem Boden.

Bevor er seine zweite Klinge auf Shikon richten konnte, warf sie sich zur Seite, um nach Feuerblume zu greifen. Ein Gefühl der Vollständigkeit durchströmte sie … Eilig stand sie auf und nahm die einzige Fluchtmöglichkeit – ein Sprung vom Dach! Der winzige Funke menschlichen Denkens in ihr hatte Todesangst. Doch überraschenderweise landete sie ganz sanft auf dem Asphalt und rannte die Straße entlang Richtung Stadtpark. Er war nachts geschlossen – das bedeutete, dort konnte sie keine Passanten in Gefahr bringen. Es war wohl die verrückteste, dümmste, wahnwitzigste Idee, die sie jemals gehabt hatte, und zugleich das einzig richtige … Auf einer freien Fläche, die nur vom Mond erhellt wurde, blieb sie stehen. Der Bogen ruhte in ihrer linken Hand, rechts hielt sie einen Pfeil. Der Krieger blieb in einigen Schritt Entfernung stehen. Während sie sich bemühte, nicht allzu schnell zu atmen, schien ihm der Sprint überhaupt nichts ausgemacht zu haben.

„Ich werde dich nicht noch einmal entkommen lassen.“, wollte er ihr seine Entschlossenheit klar machen.

Damit hätte Shikon auch nicht gerechnet … Es war reines Glück gewesen, dass er sie bislang nicht gefunden hatte. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Angst zurück – sterben war nicht unbedingt das schlechteste; vielleicht sah sie dann ihre Mutter wieder … oder sie würde endlich als etwas ganzes wiedergeboren werden. Aber wer hielt ihn und seine Brüder in Zukunft davon ab, weiter Menschen zu ermorden?

„Was willst du überhaupt hier?“, sprach sie ihren Gedanken aus.

Es dauerte etwas, bis er antwortete: „Ich … Wir haben eine wichtige Mission.“

„Und dafür müssen unschuldige Menschen sterben?!“, fuhr ich ihn wütend an.

Er senkte den Blick. Allerdings nur für einen Moment – dann stürmte er auf sie zu. Feuerblume blockte den ersten Schlag, dem folgenden Hieb konnte sie ausweichen. Sie wehrte nur ab, kam aber nicht zum Schuss. Mit dem ersten, elbischen Wort auf den Lippen, das ihr in den Sinn kam, gehorchte ihr der Wind – er frischte auf, braute sich zu einem Sturm zusammen. Der Krieger wurde leicht zurückgedrängt, hielt dem brausendem Getöse jedoch stand. In einer wirbelnden Bewegung schlug er Shikon erneut den Bogen aus der Hand. Und damit brach auch der Zauber in sich zusammen. Den Unterarm gegen ihre Kehle gepresst, lag er nur einen Wimpernschlag später auf ihr und sein Gesicht schwebte nur Zentimeter über ihrem … Noch nie war ihr ein Fremder so nahe gekommen. Shikon´s Lippen öffneten sich leicht, als ich seinen Geruch einatmete. Die Geschwindigkeit ihres Herzschlages verdoppelte sich, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie war vollkommen bewegungsunfähig und konnte nicht aufhören, ihm in die Augen zu sehen. So völlig nicht-menschlich, magisch … und doch unglaublich anziehend.

Da fing er wieder an zu sprechen: „Warum setzt du dich so für die Bewohner dieses Planeten ein?“

„Weil ich zu ihnen gehöre …“, entgegnete Shikon schwach, „Ich wurde in diese Welt hineingeboren, obwohl das Blut deines Volkes in mir fließt.“

Der Druck von ihrem Hals verschwand, Shikon schnappte regelrecht nach Luft. Ein unverständlicher Ausdruck lag in seinen Zügen – er war wohl davon ausgegangen, dass es auf der Erde keine Elben gab.

„Wa-warum … hast du mich … nicht … getötet?“, stammelte ich zwischen dem Husten.

Ein abfälliger Laut folgte: „Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges schlauer!“

Er machte ein paar Schritte von ihr weg, in Richtung Ausgang.

„Warte!“, rief Shikon ihm nach, wobei sie erneut zusammenbrach, „Wie … wie heißt du? Ich will deinen Namen wissen.“

Der Krieger drehte sich halb zu ihr herum. Das nachtschwarze Haar glänzte. Ein spöttisches Grinsen zierte sein Gesicht.

„Ryuohtah.“, erwiderte er und verschwand.

Tonlos bewegten sich ihre Lippen: „Und ich bin Shikon …“
 

Wechselspiel

Ryuohtah lag wieder auf ihr. Nur ohne Schwerter – überhaupt wirkte seine Pose diesmal nicht bedrohlich. Wie jedes Mal erlag Shikon dem Zauber seiner Augen … Sie konnte nichts dagegen tun, selbst sie es gewollt hätte.

„Woran denkst du?“, wollte der Krieger mit rauchiger Stimme wissen, während er ihr über das Gesicht streichelte.

Ihr Kopf schaltete sich endgültig aus. Es interessierte sie im Augenblick nichts anderes, als seine Hände auf ihrer Haut. Es waren Hände, wie Shikon sie noch nie zuvor gefühlt hatte – Schwielen von den Kämpfen mit den beiden Klingen.

„An dich …“, hauchte Shikon zurück, „Die ganze Zeit über denke ich immer nur an dich.“

Er schenkte ihr ein schelmisches, aufreizendes Lächeln. Seine Lippen nur einen Fingerbreit von ihrem Mund entfernt. Shikon hielt die Luft an, bereit es zuzulassen …

Ein ohrenbetäubendes Klingel riss Shiko aus dem Schlaf. In einem Anfall von Wut schlug sie auf den Wecker ein, bis er endlich verstummte. Mehr erschöpft als ausgeruht sank sie noch einmal zurück in die Kissen. Was sollte dieser verdammte Traum? Shiko schluchzte, eine Träne stahl sich aus ihren Augenwinkeln. Es war vollkommen verrückt, das wusste sie …

Bevor Shiko der Versuchung, zu Hause zu bleiben, vollständig erlag, zwang sie sich aufzustehen und machte sich für die Schule fertig.
 

„Aokawa – Yosogawa – Taiyo, entschuldigt.“, hakte Togo die Anwesenheitsliste ab.

Shiko war zuvor bereits aufgefallen, dass ihr Lieblingsmitschüler an diesem Tag fehlte – ein Glück, wenigstens vor ihr hätte sie heute also ihre Ruhe, was ihr die Gelegenheit gab, ihren Tagträumen nachzuhängen – oder vielleicht besser doch nicht. Denn sofort kehrte Ryuohtah´s Gegenwart darin auf und sie fragte sich unwillkürlich, ob er auch an sie dachte. Heftig schüttelte Shiko den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Sie musste sich von ihm distanzieren! Diese … Gefühle durften nicht sein. Er war ihr Gegner, ein Feind der Menschen und sein Ziel war es, sie tot zu sehen. Auch wenn er sie beim letzten Mal verschont hatte … das machte alles nur schlimmer.

Während der ganzen Zeit wanderte ihr Bleistift wieder unaufhörlich über das Papier – ohne dass Shiko es recht mitbekam. Das war schon immer eine ihrer Eigenheiten gewesen; ihr Unterbewusstsein versuchte so wahrscheinlich, etwas Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bekommen.

„Yosogawa!“, sprach Togo sie zum wiederholten Male an, inzwischen stand er schon vor ihrem Pult, sodass sie zusammenzuckte, „Ich gehe davon aus, dass Sie an die Mitschriften für Taiyo denken.“

Die Rothaarige schluckte betroffen. Ihr Blick suchte sofort den von Seiketsu, die sich auf Anweisung ihres Klassenlehrers einen anderen Platz hatte suchen – dafür war Ohtah ihr Sitznachbar geworden. Und in ihrer Klasse herrschte die Regel, dass die Mitschüler ihrem fehlenden Tischnachbarn die Hausaufgaben nach Schulschluss vorbeibrachten … und jetzt musste es ausrechnet er sein!
 

In Ohtah´s Kopf ging es ähnlich katastrophal zu, wie bei Shiko. Alle seine Grundsätze, seine Einstellung zu den Elben und Menschen, die Übernahme der Erde – alles war durcheinander geraten. Sein … Leben in dieser Welt hatte alles verändert. Mhenlo, der ihn, ein wildfremdes … Wesen vollkommen selbstlos bei sich aufgenommen hatte. Der Umgang miteinander, den er in der Schule und in der Stadt erlebte – so voller Höflichkeit, Respekt, Wertschätzung. Es war so anders, als in Avalon, wo Eitelkeit und schon beinahe Furcht vor seinem Vater herrschten … von der gespenstischen Atmosphäre des Nebelsmeeres und des dunklen Waldes ganz abgesehen. Doch hier fühlte er sich wohl, zum ersten Mal seit seine Mutter Chunryu kurz nach der Geburt von Hoorgo ins Mondlicht gegangen war. Und dann gab es ja auch noch sie … dieses Mädchen, das er am allerwenigsten verstand und ihn dennoch so faszinierte, gar regelrecht anzog. Aber nicht nur sie beschäftigte ihn unaufhörlich – die Elbe spuckte ebenfalls in seinem Kopf herum … Während ihres Kampfes hatte es einen Moment gegeben, der in ihm ein fast animalisches Verlangen in ihm ausgelöst hatte. Beinahe hätte er sich vergessen und sie vollkommen besitzen wollen …

Da half nur noch eine eiskalte Dusche! Was ihn wieder an seine erste Begegnung mit Shiko erinnerte … Nie zuvor hatte er eine Auseinandersetzung verloren. Und heute? Er konnte nicht sagen, ob der Kampf im Park ein Sieg, eine Niederlage … oder milde ausgedrückt vielleicht ein Unentschieden gewesen war.

Kraftlos fiel er auf das Bett und rührte sich nicht mehr. Er war schon immer mehr Krieger als Magier gewesen … Es kostete ihn deutlich Kraft, die menschliche Gestalt die ganze Zeit über aufrechtzuerhalten. Noch dazu, dass die Wunde an seiner Hand nicht richtig heilen wollte. Es war, als hätte die Elbe ihr unauslöschliches Zeichen auf ihm hinterlassen … wobei so weit gefehlt wäre diese Überlegung nicht einmal gewesen.

Langsam glitten seine Gedanken in eine traumlose Schwärze über. Später bekam Ohtah am Rande noch mit, wie Mhenlo bei ihm vorbeischaute und irgendetwas wegen der Schule wissen wollte, doch nur wenige Sekunden später befand sich der Braunhaarige wieder im Tiefschlaf.

Erst als sich die Sonne bereits Richtung Abendwinkel neigte, erwachte er gestärkt. Überrascht bemerkte er, dass Mhenlo seine Hand versorgt hatte – ein leichter Mullverband lag darum und er spürte die Salbe darunter. Ein dankbares Lächeln erschien auf seinen Zügen.

In diesem Moment läutete es. Ohtah öffnete die Zimmertür und rannte die Treppen hinunter.

„Ich mach´ schon auf.“, meinte er – er wollte etwas von der Freundlichkeit zurückgeben, die Mhenlo ihm entgegen brachte, und sei es nur durch eine Kleinigkeit.

Ohtah staunte nicht schlecht, wer auf der anderen Seite der Haustür auf ihn wartete – Shiko!

„I-Ich …“, stotterte sie und räusperte sich – die geschlagenen zehn Minuten, die sie bereits vor dem Klingeln ausgeharrt hatte, hatten offenbar nicht gereicht, um sich genügend zu sammeln –, „Gu-Guten Abend, Taiyo-kun, Ich bin hier wegen der Hausaufgaben … und Morisaki-sensei hat mich gebeten, dir das neue Mathematikthema zu erklären. Wir schreiben nächste Woche einen Test darüber.“

„Willst du nicht erst mal reinkommen?“, fragte er etwas verwirrt.

Sie nickte leicht und folgte seinem Wink. Ihre Haltung sprach buchstäblich von Nervosität.

Mhenlo kam mit einem Lächeln aus der Küche und sagte: „Willkommen! Bist du eine Mitschülerin von Ohtah-kun, nicht wahr? Da hat mein Neffe ja ein Glück. Apropos hast du eigentlich dein Zimmer aufgeräumt, bevor du Damenbesuch empfängst?“

Sein Mund klappte auf. Ohtah schaute Mhenlo an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Er scherzte, als wären sie wirklich miteinander verwandt … Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, traf ihn allerdings der nächste Schock – aufräumen? Die Spuren seiner eigentlichen Identität lagen überall in seinem Zimmer verstreut – die ledernen Rüstungsteile, seine beiden Langdolche Daeadae, der »Schatten und Schatten«, und Amlugfae, die »Drachenseele«! Schnell blickte er an sich herunter und bekam einen hochroten Kopf. Er, ein Elben-Prinz stand gerade nur in Unterhemd und Boxershorts vor einer Dame … So schnell er konnte stürzte er zurück nach oben.

Wenige Minuten später rief Ohtah: „Kannst kommen, Shiko!“

Shiko blinzelte ein paar Mal. Hatte dieser Kerl auch nur die geringste Ahnung von japanischer Etikette?!

Ohne Mhenlo direkt anzusehen, verbeugte sie sich leicht und antwortete: „Danke für die Gastfreundschaft … Ja, Taiyo-kun, ich komme.“

Etwas unbeholfen musterte Shiko das Zimmer ihres Mitschülers. Sie hatte ja zuvor noch nie das Zimmer eines Jungen betreten, aber es wirkte überraschend ordentlich. Wie es gerade eben hier noch ausgesehen mochte? Vielleicht hatte er bloß irgendwelche Pornoartikel wegräumen müssen …

Ohtah kratzte sich verlegen an der Wange. Der Umgang mit Frauen war bislang ein Thema gewesen, welches er vorrangig gemieden hatte – Hoorgo war der Frauenheld bei ihnen in der Familie und Kamekle´s einzige Leidenschaft waren ohnehin seine Bücher.

„Sollen wir anfangen? Dann bist du mich schneller wieder los.“, schlug Ohtah vor und brachte Shiko damit noch mehr aus dem Konzept, „Also, mich stört deine Gesellschaft nicht … ich mein´ ja nur. Vergiss´ es einfach!“

Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und er erwiderte es. Hastig stellte er ihr einen Stuhl bereit und bat sie, Platz zu nehmen. Als er sich neben sie setzte, streiften sich ihre Arme. Shiko und Ohtah sahen sich mit großen Augen an. Um die Situation aufzulösen, kramte Shiko ihren Schulblock aus der Tasche hervor und schlug ihn an einer willkürlichen Stelle auf.

Beiden entfuhr ein überraschter Laut. Ein chinesischer Drache mit ausgebreiteten Flügeln war auf das Papier gezeichnet … und daneben stand in verschlungen, lateinischen Buchstaben »O-H-T-A-H«! Shiko konnten ihren Blick nicht davon lösen … Sie hätte nicht gewusst, welche Kanji für seinen Namen richtig gewesen wären, stattdessen war hier ein Spiel entstanden. Drache … »Ryu« und »Ohtah« … der Name ihres Mitschülers, der das Bild gerade genauso fassungslos betrachtete.

„Hast … du das gezeichnet? Für … mich?“, fragte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte – zu gerührt, getroffen war er von dieser Geste.

Wie lange war es her, dass er etwas geschenkt bekommen hatte, außer den Strafen seines Vater?

Was sollte Shiko ihm allerdings darauf antworten? Nein, weil es eigentlich für einen feindlichen Elbenkrieger gedacht wäre, der Menschen angreift und zufällig einen ähnlichen Namen hat?

Innerlich sammelte Shiko genügend Kraft zum Sprachen, doch ihre Stimme blieb trotzdem ziemlich schwach: „Wenn … wenn es dir gefällt.“

Ohtah spürte, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Konnte aber wieder einmal nicht sagen, woran es lag – wollte sie es möglicherweise geheim halten? Oder war es für einen Hexenzauber gemacht worden? Unwahrscheinlich … dafür hatte sie sich zu sehr bemüht, es zu sehr verziert.

Um sie aus der Reserve zu locken, zog er sie in eine kurz Umarmung und sagte strahlend: „Vielen Dank, Shiko-chan!“

Die erneute Nähe ließ beide einen Moment erstarren. Doch wieder war es Shiko, welche die Szene abbrach und sich dem eigentlichen Grund ihres Besuchs zuwandte – den Hausaufgaben. Sie arbeiteten den Stoff so schnell herunter, dass Ohtah kaum mitbekam, wovon sie eigentlich sprach.

Als sie endlich fertig waren, klappte die Rothaarige das Buch demonstrativ zu und meinte: „Es ist spät. Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Äh, Hausaufgaben – ja, Hausaufgaben machen.“

Wollte sie ihn veräppeln?! Was hatten sie denn die vergangen zwei Stunden getan? Eine Welle schlechter Laune schwappte über ihn hinweg und er wusste nicht, was passiert wäre, hätte Mhenlo nicht genau in diesem Augenblick den Kopf zur Tür herein gestreckt.

„Möchtest du mit uns zu Abendessen?“, fragte er höflich.

Bevor Shiko selbst antworten konnte, knirschte Ohtah mit den Zähnen: „Nein, sie will gerade gehen. Sie hat noch was zu tun.“

„Dann bring´ sie wenigstens nach Hause, Ohtah-kun. Ein junges Mädchen sollte zu dieser späten Stunde nicht mehr allein durch die Straßen laufen.“, entgegnete er, wobei sein Unterton keinen Widerspruch duldete.
 

Schweigend gingen Ohtah und Shiko nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Seine Wut war verflogen, doch die Ereignisse beschäftigten ihn dennoch. Er kannte sich ja schon nicht mit den Frauen seines Volkes aus … woher sollte er also wissen, wie er mit einem Menschenmädchen umgehen sollte?

„Kommst du morgen wieder zur Schule, Taiyo-kun?“, wollte Shiko irgendwann wissen.

Er hob seine bandagierte Hand und versuchte so wenig wie möglich zu lügen: „Ja … ich bin eigentlich nur wegen meiner Verletzung zu Hause geblieben. Hat mich irgendwie ziemlich umgehauen.“

Die Rothaarige betrachtete den Verband. Es war dieselbe Stelle, wo sie auch Ryuohtah mit dem Pfeil getroffen hatte … Ob sie ihn sehr verletzt hatte? So völlig in Gedanken versunken achtete Shiko nicht auf den Weg und stolperte an einem der Bordsteine. Ohtah´s Arm schoss vor, packte sie am Handgelenk. Er zog sie zurück, dabei verloren beide das Gleichgewicht und Shiko landete auf seiner Brust auf dem Boden. Ihre Nasenspitzen nur wenige Millimeter voneinander entfernt … Viel zu nahe, um noch klar denken zu können – ihre Blicke klebten aneinander. Plötzlich jedoch, wie aus einem Instinkt heraus, rollte Ohtah mit Shiko auf die Seite, sodass sie unter ihm lag – was sie viel zu sehr an die Situation im Stadtpark und ihren Traum mit Ryuohtah erinnerte. Nur eine Sekunde später spürte Ohtah dagegen einen stechenden Schmerz in der Schulter – ein Pfeil hatte ihn gestreift; schon wieder. Schnell machte er sich von ihr los und sprang auf die Füße.

„Was ist los mit dir?“, fragte Shiko verletzt.

Sein Körper spannte sich an, während er knurrte: „Lauf weg! Bring´ dich in Sicherheit!“

„A-Aber-“, begann sie, verstummte jedoch sofort wieder, als sie den Grund für sein Verhalten entdeckte.

Ohtah sondierte die Umgebung und brüllte: „Geh´ endlich!“

Shiko schluckte, dann nickte sie. In ihrer jetzigen Gestalt konnte sie ihm ohnehin nicht helfen – denn dieses Geschoss war von Elbenhand gefertigt worden. Anders als ihre Pfeile war er allerdings nicht mit den Federn von Schneeeulen besetzt, sondern sie stammten von einem Waldkauz oder Uhu … dennoch erfüllte es denselben Effekt – geräuschloser Flug.

Erleichtert, dass Shiko wortwörtlich »aus der Schussbahn« war, nahm Ohtah seine elbische Gestalt an und beschwor seine beiden Langdolche. Er dankte Kamekle im Stillen dafür, dass er ihn regelrecht genötigt hatte, diesen Zauber zu erlernen und beinahe im Schlaf zu beherrschen – Hoorgo hatte sich strickt geweigert, Dúath kam auch nie außerhalb seiner Reichweite … nicht einmal wenn er bei einer Frau lag.

Von dem Angreifer fehlte allerdings jede Spur, der Pfeil auf dem Asphalt war das einzige Überbleibsel. Eine schwache, magische Präsenz war zwar noch zu spüren … aber nichts, dem man hätte folgen können. Ryuohtah beschloss dennoch die Gegend etwas abzusuchen. Er konnte und wollte nicht glauben, dass die Elbin plötzlich selbst Menschen angriff, wo sie sich bislang als deren Beschützer aufgespielt hatte. Oder … war etwa seine Tarnung aufgeflogen? Spekulationen brachten ihn nicht weiter, er brauchte Gewissheit!

Als Shikon, die sich hinter der nächsten Häuserecke verwandelt hatte, zum Schauplatz des Angriffs zurückkehrte, entdeckte sie Ryuohtah, wie dieser in der Ferne verschwand. Kein Ohtah, kein fremder Bogenschütze … Doch seit wann benutzte der Krieger Pfeil und Bogen? Und … warum hatte er ihren Mitschüler verschwinden lassen? Lag es an ihr – hatte er sie enttarnt? Wenn sie es gewesen war, die Ohtah in diese Gefahr gebracht hätte – das würde sie sich niemals verzeihen!

In ihr kämpften ihre Elbeninstinkte gegen ihr menschliches Herz – die eine Seite von ihr wollte Ryuohtah folgen und solange auf ihn einprügeln, bis er Ohtah herausgegeben hätte; die andere Hälfte von ihr konnte sich kaum rühren, schrie vor Schmerz und wusste, dass sie zu ihm nach Hause gehen musste, um seinem Onkel irgendwie beizubringen, warum er nicht auf dessen Neffen zu warten brauchte … So oder so, ihre beiden Herzen schienen gebrochen. Erst begann sie für einen Elben zu schwärmen, der die Menschheit angriff … und anschließend brachte sie ihren Mitschüler, dem sie sich gerade annäherte, durch eben genau diesen Elben in Gefahr. Als ob sie nicht schon genug Probleme durch die Abstammung gehabt hätte! Jetzt stürzte sie sich auch noch in ein regelrechtes Gefühlschaos …

Wie ferngesteuert kehrte sie in menschlicher Gestalt zu Ohtah´s Haus zurück. Mit Tränen überströmten Gesicht betätigte Shiko die Klingel, die in der nächtlichen Stille unnatürlich laut durch die Straße hallte. Es dauerte mehrere Minuten bis sich die Tür öffnete. Beinahe wäre Shiko in Ohnmacht gefallen – vor ihr stand Ohtah! Mit nacktem Oberkörper und verbundener Schulter.

Er war mindestens genauso verwirrt und fragte: „Shiko-chan? Was machst du denn noch hier?“

Das war das Tröpfchen, welches ihr Fass für diese Nacht zum Überlaufen brachte, dem ein donnernder Knall folgte – Shiko hatte Ohtah eine so saftige Ohrfeige verpasst, dass ihr die Hand brannte und sich ein roter Abdruck aus fünf Fingern sich auf seiner Wange bildete!

„Was glaubst du, was ich hier mache? Ich wollte zu deinem Onkel! Weil ich überall nach dir gesucht habe, du verdammter Mistkerl, und du nirgends aufzufinden warst! Warum hab´ ich mir eigentlich Sorgen um dich gemacht? Du … du bist so ein … Idiot!“, ließ sie ihre Schimpftirade auf ihn nieder prasseln, „Ich will nicht mehr von dir wissen, ist das klar?! Lass´ mich einfach in Ruhe!“

Damit drehte sie ihm den Rücken zu und rauschte davon.
 

Die Klassenfahrt

Seit einer geschlagenen Woche ging Shiko Ohtah aus dem Weg, ignorierte alle seine Versuche zur Kontaktaufnahme und stritt Seiketsu´s Theorie, sie würde etwas für ihn empfinden, vehement ab – allerdings konnte sie ihrer besten Freundin auch nicht wirklich erzählen, was genau vorgefallen war und dies war für beide ziemlich unbefriedigend.

Wenn Ohtah wenigstens ihr einziges Problem gewesen wäre, wäre das ja noch halbwegs erträglich gewesen – wobei er ihr vollkommen gereicht hätte, wie er immer wieder durch meine Gedanken spukte. Nein, da war zudem noch Ryuohtah, der wie vom Erdbogen verschwunden zu sein schien – und nicht zu vergessen der mysteriöse Bogenschütze. Jede Nacht wanderte sie durch die Stadt, teils als Elb, manchmal menschlich. Doch es kam zu keiner weiteren Konfrontation. Wie nur sollte sie mit all dem klarkommen? Und nebenbei noch das normale Leben einer Oberschülerin führen mit Unterricht, Hausaufgaben und Tests …

Apropos Test … in der letzten halben Stunde hatte Shiko es nicht geschafft auch nur eine der Aufgaben zu bearbeiten – geschweige denn zu lösen. Es war eben jene Arbeit, für die sie gemeinsam mit Ohtah gelernt hatte. Und so kam es, dass sie zum ersten Mal in ihrer kompletten Schulzeit ein leeres Blatt abgab. Natürlich blieb Togo diese Tatsache nicht verborgen … und er bat sie nach der Stunde zu einem Gespräch.

„Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Yosogawa …“, warf er ihr vor, „Sie waren zwar schon häufig im Unterricht abwesend, aber das? Seit wann interessieren Sie Ihre Noten nicht mehr? Sie hatten schließlich trotz Ihrer Träumerei stets gute Zensuren. Was würde … Ihre Mutter dazu sagen?“

Shiko antwortete nicht, konnte es nicht. An Kaira hatte sie seit Tagen nicht mehr gedacht.

„Um genügend Zeit für die Aufbesserung Ihrer Leistung zu haben, verhänge ich hiermit eine Ausgangssperre für die Abende der Klassenfahrt. Vielleicht verschafft Ihnen das ja die Möglichkeit, gründlich darüber nachzudenken, was gerade alles in Ihrem Kopf vor sich geht … und Prioritäten zu setzen.“, entschied Togo radikal.

Da kam Ohtah plötzlich zur Tür herein, der von der anderen Seite alles mitangehört hatte – eigentlich hatte er Shiko abfangen wollen. Shiko wandte sofort den Blick ab, kam aber nicht umhin ihn dabei zu beobachten, wie er den Papierstapel durchsuchte – sehr zu Togo´s Missfallen, der jedoch ebenfalls viel zu perplex für eine zeitnahe Reaktion war. Bei einem leeren Blatt angekommen, stoppte Ohtah.

„Wie Sie sehen, habe ich ebenfalls keine der Aufgaben gelöst.“, erklärte Ohtah mit einem arroganten Grinsen, „Wenn Sie Shiko bestrafen, Morisaki-sensei, werde ich mich ihr anschließen!“

Togo nickte grimmig und entließ beide damit.

Ohtah schlenderte gemütlich nach draußen, doch kaum außer Hörweite stellte Shiko ihn bissig zur Rede: „Bist du jetzt vollkommen durchgeknallt? Warum tust du das?“

„Du redest wieder mit mir.“, gab der Braunhaarige schief grinsend zurück, „Entschuldige … Aber ich musste dich nun einmal beschützen!“

Ihr klappte der Mund. Es fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass ihr erster Eindruck von Ohtah wohl komplett daneben gelegen hatte … Was er getan hatte, war unglaublich mutig gewesen, kühn – na gut, wahrscheinlich eher tollkühn –, selbstlos und vor allem absolut süß!

„Wie … wie geht es deiner Schulter?“, fragte sie leise.

Er winkte ab: „Laut Mhenlo wird sie in ein paar Tagen wieder verheilt sein – ein lächerlicher Streifschuss eben. Allerdings gäbe es da etwas, das mich natürlich schneller kurieren könnte …“

Ohtah hob ihr Kinn mit den Fingerspitzen an, sodass sie unmöglich seinem Blick ausweichen konnte … wie an jenem Abend kurz vor dem Angriff. Seine Augen erinnerten sie an Ryuohtah … sie waren sich unglaublich ähnlich, ebenso atemberaubend, doch im Gegensatz zu denen des Elben zeigte sich in Ohtah´s Schwärze eine unbekannte Wärme. Wenn sie nur wüsste, was er wirklich von ihr wollte … Und warum Ryuohtah auf einmal so nachsichtig mit ihr gewesen war. Mit einem Mal kam Shiko sich schäbig vor. Sie befreite sich von ihm und ging ohne ein weiteres Wort. Zum wiederholten Male, seit sie ihn kannte, kamen ihr die Tränen.

Auch wenn sie beiden Völkern angehörte und zwei verschiedene Namen trug, war sie immer noch eine einzige Person, ihr Herz blieb dasselbe – wenn sie Shiko war und auch als Shikon. Dennoch musste sie sich gleichzeitig mit zwei so vollkommen verschiedenen Typen herumschlagen … Ryuohtah war geheimnisvoll – eben ein Elb. Seine Kampftechnik machte ihn zu einem gefährlichen Gegner, bei dem sie dennoch eine gewisse Verbundenheit spürte. Dabei war Ohtah derjenige gewesen, der sie vor dem Pfeil bewahrt hatte – wofür sie sich wieder nicht bei ihm bedankt hatte!

Shiko wischte sich über die feuchten Augen und raufte die Haare. Am sinnvollsten wäre es wohl, wenn sie unter beide einen Schlussstrich ziehen würde! Sie war ohnehin weder eine vollwertige Elbin, noch ein normaler Mensch. Wie könnte sich da überhaupt etwas entwickeln? Irgendwann käme die Wahrheit heraus … Also konnte Shiko sie sich auch gleich aus dem Kopf – und falls sie sich dort bereits unbemerkt eingenistet hatten – sowie aus ihrem Herzen verbannen!
 

Am Montagmorgen versammelte sich die gesamte Klasse mit gepackten Koffern, umhängenden Fotoapparaten und einem kleinen Handgepäck auf dem Schulhof. Shiko und Seiketsu hatte sich extra früh verabredet, um noch gemeinsam ein Bento für die Fahrt zusammenzustellen. Zum Schluss fehlte nur noch ein Schüler. Könnten Blicke töten, hätte Togo´s Uhr schon längst den Geist aufgegeben. Denn natürlich handelte es sich um Ohtah, der zehn Minuten nach vereinbarter Zeit im Laufschritt angerannt kam.

„Taiyo – vorbildlich wie immer.“, kommentierte ihr Klassenlehrer sein Auftauchen sarkastisch.

Ohtah ignorierte ihn und hüpfte regelrecht in den Bus, nachdem er seine Reisetasche dem Fahrer übergeben hatte. Und obwohl er es bereits geahnt hatte, war er etwas enttäuscht, dass Shiko´s beste Freundin den Platz neben ihr eingenommen hatte. Als er an ihnen vorbeigehen wollte, hielt Shiko ihn am Arm fest. Überrascht schaute er auf sie herunter. Verlegen drückte sie ihm eine in einem Tuch gebundene Box in die Hand. Seiketsu kicherte. Sie hatte natürlich mitbekommen, wie Shiko am Morgen nicht nur eine Lunchbox gerichtet hatte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm Ohtah in der hintersten Reihe Platz und entdeckte den kleinen Zettel, der unter den Knoten gesteckt war: „Verzeih´ mir … und danke. S“

Der einzelne Buchstabe ihres Namens war in derselben verzierten Weise dargestellt, wie auf dem Bild, welches sie für ihn gemalt hatte. Als ihm zudem der köstliche Duft des Essens in die Nase stieg, machte sein Herz einen gewaltigen Satz – es war also noch nicht alles verloren!

„Eigentlich müsste ich dir ziemlich böse sein …“, meinte Seiketsu anklagend, woraufhin Shiko resigniert seufzte, „Ich hab´ aufgehört zu zählen, wie oft ich dich nach ihm gefragt habe – du hättest mir sagen können, dass du wirklich auf ihn stehst! Ich versteh´ nämlich absolut nicht, was daran so schlimm sein soll.“

Davon abgesehen, dass Shiko trotzdem ständig an Ryuohtah denken musste – und genau genommen zielgenau darauf zusteuerte, sich in zwei Jungs gleichzeitig zu verlieben?!

„I-Ich … Selbst wenn, ich will nicht, dass das … tiefer geht, mehr wird. Verstehst du das, Sei-chan?“, fiel ihre Antwort sehr kleinlaut aus.

Seiketsu schüttelte den Kopf: „Ehrlich gesagt, Shiko-chan, nein … Und ich glaube, Taiyo-kun sieht das ebenfalls anders.“

Danach verlief die mehrstündige Fahrt auffallend ruhig. Viele ihrer Mitschüler hörten Musik über Kopfhörer, lasen in einem Buch oder holten etwas Schlaf nach. Seiketsu lenkte Shiko mit unablässigem Gesprächsstoff über alle möglichen Themen ab. Und dann kam der ländliche Teil Japan´s. Alles war so weit, überall Farben und Pflanzen … Fasziniert sogen die zwei Mädchen in sich auf. Genauso wie Ohtah. Solch wunderschöne Natur war er nicht gewohnt … Wie eine Flamme im Wind wurde sein Neid auf die Menschen neu angefacht. Es war ungerecht! Sie lebten in dieser wundervollen Welt und trotzdem gab es genügend von ihnen, die all das Schöne zerstören wollten!

Am späten Nachmittag erreichten sie Hakone. Eine schmale, rote Brücke führte in das Innere der kleinen Stadt, in dessen Zentrum sich mehrere heiße Quellen befanden. Der geordnete Ausstieg, welchen Togo angeordnet hatte, endete in einem furchtbaren Gedränge und Geschubse. Shiko, Seiketsu und Ohtah warteten, bis sich der Bus geleert hatte. Und natürlich überließ er ihnen mit einem verschwörerischen Augenzwinkern den Vortritt. Die Rothaarige rollte gespielt mit den Augen, was ihr ein Grinsen seinerseits einbrachte. Draußen gab Togo die Zimmerverteilung bekannt – Shiko und Seiketsu konnten wie gewünscht zusammenbleiben, Ohtah hatte er mit Absicht das Einzelzimmer zugeteilt – in der Hoffnung, er könne so nicht auch noch andere auf dumme Gedanken bringen.

Nachdem alle ihre Zimmer bezogen und zu Abend gegessen hatten, stand die erste Unterrichtsstunde auf dem Plan. Der Besitzer der Herberge leitete nebenbei noch ein Kendo-Dojo und bot ihnen eine kleine Vorführung an. Anschließend durften die Schüler die Utensilien genauer bestaunen und sogar in die Hand nehmen. Interessiert griff Ohtah nach dem Bokken. Es sah nicht so aus, als hätte er noch nie zuvor ein Schwert in Händen gehalten … Doch er hielt es nicht auf Samurai-Art, was Shiko einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte diese Schwerthaltung nur allzu gut … der Winkel der Waffe stimmte genau überein – genauso hielt Ryuohtah seinen rechten Landdolch!
 

In dieser Nacht plagten Shiko Alpträume, in denen die Grenze zwischen Ohtah und Ryuohtah immer mehr verschwamm – einmal saß der Elb neben ihr in der Schule und fragte sie nach der Lösung für eine Aufgabe, dann bedrohte Ohtah sie mit zwei Bokken. Zum Schluss stand Shiko zwischen ihnen und jede Bewegung die der eine ausführte, vollführte der andere genauso. Derart mitgenommen schaffte sie es am nächsten Morgen nicht, ihn anzusehen.

Erst die erlösende Nachricht von Togo, dass sie nach dem Frühstück zum ersten Mal in den Genuss des Onsen kommen konnten, heiterte Shiko wieder auf. Obwohl das Becken mit ihnen allen ziemlich voll war, genossen die beiden Freundinnen das entspannende Bad. Und versuchten dabei so gut es ging, den Geräuschpegel von der anderen Seite der Trennwand zu ignorieren.

Ein Kichern entfuhr Shiko, als sie an die klischeehaften Szenen aus Büchern, Filmen oder Serien dachte, wenn die Jungs eine Räuberleiter bildeten oder Löcher in das Bambusholz bohrten, um die Mädchen begaffen zu können – allerdings musste sie nur zwei Minuten entsetzt feststellen, dass das echte Leben keine Ausnahme bildete!

„Lasst mich mal sehen!“, rief eine ihr äußerst bekannte Stimme, die Shiko schnaubten ließ – Ohtah.

Genau in dem Moment, als sein Gesicht über dem Rand der Trennwand erschien, traf ihn bereits das Seifenstück, welches sie mit voller Wucht nach ihm geworfen hatte, und er fiel nach hinten, punktgenau zurück ins Wasser.

Nach dieser Aktion war Shiko die Lust auf weitere Bäder vergangen, zumindest für heute. Daher beschloss sie die Gegend ein wenig zu erkunden – hatte sie sich doch extra einen Reiseführer aus der Bücherei ausgeliehen. Sie folgte einer leicht beleuchteten Straße, die ich durch den kleinen Ort schlängelte. In Hakone verschmolz der ländliche Charme mit der modernen Architektur. Es hätte chaotisch, durcheinandergewürfelt wirken können – Shiko allerdings gefiel es hier. Die Präfektur Kanagawa lag nur knapp hundert Kilometer von Tokyo entfernt und dennoch war es hier so anders, als in der Metropole. Die Häuser am Rand standen mit jedem weiteren Meter immer vereinzelter und der Asphaltboden wich einem steileren Trampelpfad, der auf einen bewaldeten Berg hinaufführte. Unterhalb des dichten Gehölz lag der Ashi-See dar wie ein glatter Spiegel, auf dem sich die Wolken abzeichneten. Shiko setzte sich auf eine freie Fläche zwischen den Bäumen, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und schloss die Augen. Der Wind fuhr durch die Äste, toste um sie herum. Für einen kurzen Herzschlag lang war sie versucht, ihre Elben-Gestalt anzunehmen und durch die Gegend zu streifen. Aber sie kannte die Gewohnheiten der hiesigen Menschen nicht, da wäre die Gefahr entdeckt zu werden einfach zu groß. Doch trotz ihrer menschlichen Form konnte Shiko die Präsenz der Elemente spüren. Es war wie eine sanfte Umarmung … und ihr fielen die Augen zu.
 

„Shikon! Du hast dich mir gegenüber verschlossen … Dabei hättest du schon längst eine Unterrichtsstunde in elbischer Geschichte gebraucht.“, hörte sie jenen Fremden aus ihren Träumen sagen und mit einem Mal tauchten verschiedene Bilder vor ihr auf, „Dies ist die Erde … vor über zweitausend Jahren, erkennst du sie? Damals wandelten Elben frei durch die Lande … und lebten mit der Macht dieser Welt in Einklang. Bis eine andere Lebensform die Herrschaft über die Erde an sich gerissen und sie vertrieben hat – die Menschen. Darum sind unsere Vorfahren nach Avalon geflüchtet. In die zerstörte Dimension … verloren im Nebelmeer von Raum und Zeit.“

A-Avalon?! Sofort schoss Shiko die erste Begegnung mit Ohtah durch den Kopf. Er hatte auf den Namen dieses Landes reagiert … oder nicht? Das konnte nicht sein! Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur über die fremde Sprache gewundert …

„Diese drei Elben-Krieger Kamekle, Ryuohtah und Hoorgo sind die Söhne des amtierenden Königs von Avalon. Sein Name ist Torarien …“, erklärte er weiter, „Und er-“

BUMM! Shiko zuckte zusammen, riss die Augen auf und schrie. Ihre Kleider waren schon vollkommen durchnässt. BUMM! Donner hallte durch den Himmel, begleitet von einem unglaublich hellen Blitz. Ihr Schrei wollte nicht abbrechen – sie hatte schon immer schreckliche Angst vor Gewittern gehabt. BUMM! Sie presste sich die Hände auf die Ohren. Es half nichts – hier draußen in der Natur konnte sie dem Schrecken nicht entgehen!
 

Ausnahmsweise hatte Togo sie mit einer weiteren Unterrichtsstunde verschont, sodass die Schüler ihrem ersten, freien Abend in vollen Zügen genießen konnten. Von Ohtah einmal abgesehen – er musste die Zeit ja in seinem Zimmer fristen. Er wollte es sich gerade auf seinem Futon gemütlich machen, da wurde seine Zimmertür aufgerissen und Shiko´s Freundin stürzte herein, dabei wirkte sie vollkommen verstört und war kreidebleich im Gesicht.

„Was ist passiert?“, schoss es aus seinem Mund, eine Spur zu besorgt.

Seiketsu brach in die Knie und schluchzte: „Shiko-chan! Sie ist noch nicht zurück. Aber sie würde bei diesem Wetter niemals freiwillig draußen bleiben! Sie hat panische Angst vor Gewittern, verstehst du, Taiyo-kun? Es muss ihr etwas zugestoßen sein! Lehrer – ich sollte sofort Morisaki-sensei informieren! Warum bin ich eigentlich zu dir gekommen?“

Sie wollte schon wieder zur Tür hinaus, doch Ohtah packte sie am Arm und meinte entschieden: „Du bleibst hier! Wenn du dieser Witzfigur jetzt Bescheid sagst, komme ich hier nicht mehr weg. Wohin wollte sie gehen?“

„Ich weiß es nicht genau. Sich die Umgebung anschauen, glaub´ ich …“, antwortete die Brünette schwach.

Ohtah atmete einmal tief durch, bevor er erklärte: „Du musst dafür sorgen, dass ihr Verschwinden unbemerkt bleibt. Ich werde sie suchen – und ich werde sie finden, das verspreche ich!“

Sie nickte zaghaft. Der Braunhaarige schnappte sich eine Jacke und kramte in seiner Tasche nach etwas, das er wie einen Schatz hütete – die Zeichnung mit seinem Namen. Einen simplen Suchzauber sollte sogar er hinbekommen. Mit einem letzten Augenzwinkern in Seiketsu´s Richtung kletterte er aus dem Fenster und sprang auf das kleine Vordach knapp darunter. Sofort peitschte ihm der Wind ins Gesicht und der Regen prasselte unaufhörlich auf ihn nieder. Auf der Straße nahm er den Weg, der von der Stadt wegführte – er vertraute einfach darauf, dass sein Gespür ihn etwa in die richtige Richtung führen würde. Noch konnte er seine Gestalt nicht wechseln und seine magischen Kräfte einsetzen …

Erst zwischen dem Schutz der dichten Bäume erlaubte er es sich, als Ryuohtah auf den Plan zu treten. Tonlos flüsterte er ein paar Worte der Macht über dem Blatt Papier und richtete all seine Gedanken auf Shiko. Langsam leuchtete eine Spur auf dem Waldboden auf – sie war tatsächlich hier lang gekommen! Erleichterung durchströmte Ryuohtah und er hastete den Fußabdrücken hinter, die bis tief in den Wald hineingingen. Und plötzlich war sie da, ihre Präsenz, ihr Geruch. Wenige Schritte weiter lag sie zwischen zwei Bäumen auf dem Boden. Ryuohtah musste sich mit aller Gewalt bremsen, um nicht sofort zu ihr zu rennen. Noch nie war ihm die Verwandlung so lange vorgekommen … Doch dann konnte ihn nichts mehr halten.

„Shiko! Kannst du mich hören?“, hörte sie jemanden durch den trüben Schleier rufen, sodass sie langsam wieder zu sich kam.

Jemand rüttelte sie an der Schulter, umfasste ihren Kopf mit zwei Händen und drehte ihn, sodass Shiko in dessen Gesicht sehen musste. Schwarze Augen … braune Haare … Es kam ihr bekannt vor.

„Komm´ schon – rede endlich mit mir, Shiko-chan!“, flehte der junge Mann fast atemlos.

Das Mädchen blinzelte ein paar Mal und schließlich fand sie ihre Stimme wieder: „Ohtah …“

Unglaublich erleichtert fiel sie ihm den Hals. Er drückte sie fest an sich, sodass sie seinen Herzschlag an ihrer Brust spüren konnte. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie ihn ansah, und er streichelte ihr sanft über die Wange.

„Ach, kein >Taiyo-kun< mehr?“, grinste er auf seine typische Art.

Shiko zuckte nur mit den Schultern und musste niesen. Ihr war ziemlich kalt. Schnell hängte Ohtah ihr seine Jacke um – ganz Gentleman-like. Die Röte stieg in ihr auf. Nun hatte er sie bereits zum zweiten Mal gerettet … Wer brauchte schon einen Elben-Prinzen? Da war ihr ein ritterlicher Mitschüler mit leicht perverser Ader doch wesentlich lieber.

Während er ihr beim Aufstehen half, fragte sie: „Woher wusstest du, wo ich bin? Nein, viel wichtiger – warum hast du überhaupt nach mir gesucht?“

„Soll das ein Scherz sein?!“, entgegnete Ohtah beinahe ärgerlich, „Deine Freundin kam völlig aufgelöst zu mir und hat mir erzählt, du seist von deiner Erkundungstour nicht zurückgekommen. Glaubst du wirklich, ich hätte auch nur eine Sekunde gezögert? Inzwischen frag´ ich mich ernsthaft, ob du meine Gefühle mit Absicht ignorierst …“

Shiko wusste nicht, was ihr mehr die Sprache verschlug – seine Geständnis oder die Tatsache, dass er nur wegen ihr gegen ihre Ausgangssperre verstoßen hatte.

Ohtah, dem allmählich ebenfalls dämmerte, was ihm da herausgerutscht war, räusperte sich: „Wie auch immer – so kommen wir nicht mehr zurück. Auf dem Weg hierher habe ich eine Höhle zwischen den Felsen gesehen, dort ruhen wir uns erst mal aus.“

Perplex folgte Shiko ihm. Ohtah bückte sich alle paar Schritt, um passende Äste und Zweige für ein kleines Lagerfeuer aufzusammeln. In dem relativ engen Unterschlupf war es zum Glück trocken und windgeschützt. Er schichtete das Holz aufeinander, schlug zwei geeignete Steine gegeneinander und schon brannte das kleine Lagerfeuer. Beeindruckt klatschte Shiko in die Hände. Er drehte mit einem schiefen Lächeln zu ihr um und deutete eine Verbeugung an. Dabei verlor Ohtah sich erneut in der Tiefe ihrer funkelnden, braunen Augen … Wie ferngesteuerte trat er ganz dicht an sie heran und wickelte seinen Finger um eine ihrer nassen Haarsträhnen. Seine Stirn senkte sich gegen ihre und er kämpfte gegen den fast übermenschlichen Drang in seinem Innern an. So hatte er in dieser Welt schon einmal empfunden … als er die Elbe zu Boden gerungen hatte.

Doch die bläuliche Färbung ihrer Lippen fachte seine Selbstbeherrschung an und er erklärte: „Wir müssen aus diesen Klamotten raus, sonst holen wir uns noch den Tod.“

„Das … das ist doch nicht dein Ernst?!“, gab Shiko mit brüchiger Stimme zurück.

Ohtah zog sich bereits das Shirt über den Kopf. Shiko bedeckte das Gesicht mit ihren Händen – die Situation war ihr zu peinlich. Da holte sie der Schwindel wieder ein und ihr klappten die Beine zusammen. In einer einzigen fließenden Bewegung fing Ohtah sie gerade noch auf.

„Wow …“, flüsterte sie und fühlte sich mit einem Mal so sicher, wie nie zuvor, „Du bist wohl wirklich mein Held.“

Vorsichtig ließ er sie auf dem Boden nieder und antwortete: „Dann vertrau´ mir … Selbst wenn du es mir nicht glaubst – ich weiß, wie sich ein Edelmann zu benehmen hat.“

Sie nickte. Wenn sie etwas in den letzten zwei Wochen gelernt hatte, war es, ihm ihr Vertrauen entgegen zu bringen … Er setzte sich mit abgewendeten Blick ans Feuer und wohl es ihn mehr als reizte, drehte er sich nicht um, bis Shiko – nur in Unterwäsche kleidet – neben ihm Platz nahm.

BUMM! Das Gewitter kehrte zurück. Shiko stieß einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an Ohtah fest. Ihr ganzer Körper zitterte, mehr vor Angst als aus Kälte. Behutsam zog er sie auf seinen Schoss und legte sie Arme schützend um ihn.

„Bitte … lass´ mich nicht allein.“, wimmerte die Rothaarige, die sonst so taff wirkte.

Ihre Stimme war so zerbrechlich und leise, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Er wagte es nicht, etwas zu sagen. Zu groß war seine Sorge, diesen Moment zu zerstören. Stattdessen fuhr er mit seiner Hand unablässig über ihren Rücken. Es war eine reine Impulshandlung – er wusste nicht, wie man jemanden tröstet, aber so hatte seine Mutter ihn als Kind oft im Arm gehalten.

Die Stunden flogen dahin, das Gewitter war längst vorbeigezogen. Aber keiner der beiden löste die Umarmung, sie schlossen einfach nur die Augen und schliefen nur dem Knistern des Feuers und dem Atem des anderen lauschend ein.
 

Der Haupteingang war verschlossen, genau wie von ihnen vermutet. Demnach blieb ihnen die Kletterpartie zurück über die Mauer leider nicht erspart. Ohtah nahm Anlauf und fand oben Halt – nachdem er sich selbst hochgezogen hatte, half er Shiko hinauf. Auf der anderen Seite wartete das Becken der heißen Quelle …

Er nahm ihre Hand und fragte: „Bereit?“

„Bereit … wenn du es bist.“, erwiderte sie, bevor ihr noch etwas einfiel, „Jetzt kommst du wohl doch in den Genuss, mit mir baden zu gehen.“

Bevor er etwas erwidern konnte, sprangen sie bereits. Das Wasser spritzte in alle Richtungen und sie kletterten schnell heraus. Anschließend schlichen sie zu den Schlaftrakts. Vor der Gabelung Richtung Mädchen- und Jungenabteil hielten sie inne. Und damit Shiko nicht mehr kneifen konnte, küsste sie Ohtah hastig auf die Wange – und rannte so schnell sie konnte in ihr Zimmer, wo Seiketsu ihr Bett mit irgendetwas als Alibi ausgestopft hatte. Ohtah stand einige Minuten vollkommen bewegungsunfähig im Flur. Seine Gedanken kreisten um Shiko – ihr rötliches Haar, die schokoladenbraunen Augen, der betörende Duft, ihre sinnlichen Lippen. Und schon wieder war seine Wange gebrandmarkt worden; doch den Kuss zog er dem Pfeil nicht nur wegen seiner verletzten Ehre vor …
 

Opfer der Liebe

Bislang hatte Shiko es ihrem Elbenblut zu verdanken gehabt, dass sie eigentlich nie krank geworden war. Doch die letzte Nacht war offenbar auch für ihre magischen Abwehrkräfte zu viel gewesen – noch dazu hatte es sie viel Mühe gekostet, Seiketsu davon abzuhalten, schon wieder zu Togo gehen zu wollen; das bisschen erhöhte Temperatur sollte sich nach einem Tag im Bett wieder verziehen.

Bevor ihre beste Freundin zum Unterricht ging, reichte Shiko ihr noch einen Umschlag. Sie musste ihr nicht sagen, für wen er bestimmt war … Unauffällig ließ Seiketsu ihn auf Ohtah´s Tisch fallen, als sie an ihm vorbei zu einem der letzten freien Plätze ging.

Ohtah, dem Shiko´s Fehlen natürlich sofort aufgefallen war, öffnete das Schreiben interessiert: „Ich bin nicht sehr gut darin, Leute näher an mich heranzulassen – du hast dich irgendwie an dieser Schutzmauer vorbei gedrückt. Und jetzt will ich, dass du die Wahrheit über mich kennst … sonst schaffe ich es nicht länger, dir offen in die Augen zu sehen. Wir treffen uns heute Abend an derselben Stelle wie letzte Nacht.“

Welche Wahrheit konnte sie nur meinen? Er war doch derjenige, der ihr etwas vorspielte … der vorgab, ein Mensch zu sein. Und das nicht mal nur wegen ihr. Er hatte die Elbe aufspüren und die Menschen studieren wollen. Wie konnte man nur so verlogen sein … Hatte er sie nicht gestern noch um ihr Vertrauen gebeten? Weil ihn seine Gefühle übermannt hatten … Durch sie vergaß er seine Pflicht, seinen Auftrag. Wo sollte das hinführen? Torarien würde seine Eroberungspläne sicher nicht wegen der Romanze seines verhassten Sohnes aufgeben … Ob er sich nun weigerte zu kämpfen oder nicht, es lief auf dasselbe hinaus.
 

Eine halbe Stunde vor Ende der letzten Unterrichtsstunde stahl Shiko sich davon. Sie wollte unbedingt vor Ohtah den ausgemachten Treffpunkt erreichen. Als sie in seinen Armen aufgewacht war, hatte sie gewusst, dass sie nicht länger so weitermachen konnte … Dafür waren ihre Gefühle für ihn zu stark. Shiko konnte sie nicht mehr ignorieren und sie konnte ihm nicht weiter ihr Geheimnis verschweigen. Er verdiente es, die Wahrheit zu erfahren …

Das Geräusch eines zerbrechenden Zweiges erregte Shiko´s Aufmerksamkeit. Aber anstelle ihres erwartenden Mitschülers, kamen die beiden Begleiter von Ryuohtah auf sie zu.

„Du bist also dieses widerliche Menschenmädchen, das unserem Bruder derart den Kopf verdreht hat … Da stellt sich mir doch ernsthaft die Frage, was er überhaupt an dir findet!“, meinte Hoorgo, der mit seinem hellroten Haar nicht zu verwechseln war, gespielt süffisant.

Sie machte einen halben Schritt rückwärts und stieß gegen die raue Rinde eines Baumes. Wovon sprach er bloß? Was hatte sie mit seinem Bruder zu schaffen? Wenn … wenn er von Ryuohtah und ihrem Zusammentreffen im Park sprach, bedeutete das unweigerlich, dass ihre Tarnung aufgeflogen war! Aber wie – was hatte sie verraten?

„Du hast dein Zeichen auf ihm hinterlassen.“, erklärte Kamekle nüchtern, „Zweimal – der Pfeil und dein Kuss haben ihn mit Magie gezeichnet. Gegen ein solches Indiz hilft nicht einmal mehr der stärkste Zauberglanz.“

Zauberglanz – eine Art magischer Schleier, der verhindern sollte, dass man jemanden oder etwas – zum Beispiel nach einem Gestaltwandlerzauber – erkennen konnte! Die Erkenntnis traf Shiko wie ein Faustschlag in die Magengegend. Jetzt begriff sie endlich …

„SHIKO!“, schrie eine ihr viel zu vertraute Stimme.

Keine Sekunde später stand Ohtah ebenfalls auf der kleinen Lichtung.

„Da bist du ja.“, meinte sein Bruder in arrogantem Ton, „Wir haben dich schon erwartet … Bruder.“

Ohtah ignorierte die beiden. Er suchte nach ihrem Blick, versuchte ihn festzuhalten, während das Wort »Bruder« durch ihren Geist tönte. Ohtah … Ryuohtah … Sie erinnerte sich an den Schriftzug seines Namens. War es ihr da zum ersten Mal aufgefallen? Nicht zu vergessen seine Reaktion auf Avalon, dem Königreich der Elben … und sein Umgang mit dem Bokken. Deshalb führte er auch diese altmodische Sprache. Die Verletzung an seiner Hand, sein schnelles Reaktionsvermögen, sein Mut und seine Augen … alles an ihm. Plötzlich ergab es Sinn … und irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein hatte Shiko es bereits geahnt. Sie konnte sich nicht zur selben Zeit in zwei Jungs verlieben. Ohtah und Ryuohtah waren ein und dieselbe Person – er war einfach nur ein Elb, der sich in einen Menschen verwandelt hatte!

„Shiko-chan, bitte, hör´ mir zu-“, sprach Ohtah sie an, doch sie hob abwehrend die Hand.

Ihre Stimme, erst zaghaft, wurde mit jedem Wort fester: „Ich wollte es nicht wahrhaben … Dabei hätte ausgerechnet ich diese Möglichkeit viel früher in Betracht ziehen müssen. Hast du dich denn nie gewundert? Habe ich dich nicht an sie erinnert … oder hast du mir einfach nicht misstraut, dich genauso vor der Wahrheit verschlossen?“

Ein Schatten glitt über seine Züge und Shiko nickte. Dann öffnete sie sich der Magie. Für einen Moment war es, als wären sie vollkommen allein … Doch der nackte Stahl an ihrer Kehle riss sie zurück in die Realität.

Kamekle, der bislang wie teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte, hatte sein Rapier gezückt und fuhr seinen Bruder sichtbar wütend an: „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich von dir enttäuscht! Hast du alles vergessen? Das Leid unseres Volkes, unsere Hoffnungen und Wünsche? Ich dachte … ich dachte, trotz allem wärst du Vater treu ergeben!“

„Von wegen! Egal wie sehr ich mich auch bemüht habe, Vater hat mich nie akzeptiert … Ich habe immer nur die Drecksarbeit für ihn erledigt!“, schnaufte Ohtah und kam einen Schritt näher.

Hoorgo packte den Knauf seines Zweihänders fester. Shiko kniff die Augen zusammen. Sie wusste, Ryuohtah war zwar ein talentierter Schwertkämpfer, aber ob er gegen zwei Elben gleichzeitig bestehen konnte – noch dazu gegen seine Bruder – war fragwürdig. Nein, diesmal war sie an der Reihe …

„Sofort aufhören!“, rief sie entschlossen und erntete dafür drei verwunderte Augenpaare, „Ich werde mich Torarien´s Befehl widerstandslos unterwerfen. Dafür verlange ich, dass er nichts von den Aktivitäten seines Sohnes als Mensch hier auf der Erde erfährt!“

Trotz der drohenden Klinge griff Ohtah nach ihrem Handgelenk, wollte sie aufhalten. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie den Kopf schüttelte.

„Es tut mir leid … Du hast mir mehr als einmal das Leben gerettet – in beiden Gestalten, nun bin ich an der Reihe.“, hauchte sie und sprach ein Wort der Macht, das ihn in einen tiefen Schlaf schicken sollte.

Obwohl er sich dagegen wehrte, hatte er in seiner menschlichen Gestalt keine Chance gegen ihre Magie. Zuletzt lösten sich seine Finger von ihr … Es war wie ein endgültiger Schlussstrich. Sie schritt durch das von Kamekle geöffnete Portal nach Avalon ohne zu wissen, ob sie den Jungen, den sie liebte, jemals wiedersehen würde … Nein, es müsste wahrscheinlich eher heißen »in der Hoffnung, den Jungen, den sie liebte, nie wiederzusehen«.
 

Nachdem Tod seiner Mutter hatte Ryuohtah sich gewünscht, er möge aus diesem Alptraum erwachen … Nun erging es ihm ähnlich. Ein kalter Schmerz erfüllte seine Brust, wie ihn keine Waffe dieser oder seiner Welt hätte zufügen können. Sie war fort … verschleppt von seinen eigenen Brüdern – freiwillig, um ihm eine Rückkehr in seine Heimat zu ermöglichen. Doch sie würde er dort nicht wiedersehen … denn für das Attentat auf ein Mitglied der königlichen Familie stand seit jeher die Todesstrafe. Und Torarien gewährte niemals Gnade! Er hatte sie verloren … nicht ausreichend beschützt. Sie, das erste Mädchen, welches ihm wirklich etwas bedeutete …

Er nahm seine wahre Gestalt an und sprach wie bei einem Mantra: „Ich bin Ryuohtah, zweiter Sohn des Torarien und der Chunryu, Prinz von Avalon. Meine Waffen sind die Langdolche Daeadae und Amlugfae. Zusammen mit meinen Brüdern Kamekle und Hoorgo wäre es meine Aufgabe gewesen, die Übernahme der Erde durch mein Volk vorzubereiten … Doch ich habe versagt. Durch die Elbe Shikon habe ich meine Ehre verloren … und mein Herz!“
 

Kamekle und Hoorgo führten Shikon durch einen dichten Nebel, der irgendwann in einen dunklen Wald überging. Kaum ein Lichtschein durchdrang die hohen Baumkronen. Von überall erklangen grässliche Laute, welche Shikon keinem ihr bekannten Tier zuordnen konnte. Bislang hatte sie geglaubt, das Land der Elben müsse förmlich vor Magie sprühen – in Wahrheit wirkte Avalon einfach nur kalt und öde. Ob diese Tatsache etwas mit ihrer Mission auf der Erde zu tun hatte?

Wie zur Ablenkung kam das Herrschaftsschloss in Sichtweite. Nach dieser Finsternis zwischen dem Gehölz, schien der weiße Steinbau beinahe zu leuchten. Elegante Spitzdächer schmückten die hohen Türme, kunstvolle Balustraden säumten den zweiten Ring, geschnitzte Fensterrahmen und Wachen. Überall, wohin Shikon schaute, entdeckte sie Elben in silberner Rüstung und Helmen, auf denen zwei verschlungene Bäume prangte. Es war das Wappen von Avalon – jene beiden Bäume Laurelin und Telperion aus denen die Licht- und Albenalben einst geboren worden waren, hoch oben auf dem Heiligen Berg der Göttin Gäa …

Ihr Weg führte durch ein hohes Portal, das den Blick auf einen langen Gang freigab, welcher schließlich in einen breiten Saal mündete. Auf einer Erhöhung mit mehreren Stufen standen zwei aus feinstem Silber gearbeitete Throne – einer leer, auf dem anderen Herschersitz saß der König der Elben. Sein Blick brannte sich regelrecht in Shikon … dies also war Torarien, der Vater von Ryuohtah! Hoorgo trat ihr die Füße weg, sodass sie unsanft auf den Knien landete.

„Das ist die Verräterin, von der ihr mir berichtet habt?“, fragte der König an Kamekle gewandt.

Der Kronprinz kniete vor ihm nieder und antwortete monoton: „Jawohl, Vater. Ryuohtah hat sie uns übergeben …“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Im Stillen dankte Shikon ihm für diese Lüge. Hoorgo hätte sie zugetraut, dass er seinen Bruder verraten würde … doch er schwieg.

„Dieser Schwächling …“, kommentierte Torarien die Antwort seines Erstgeborenen abfällig, „Dafür wird es mir eine außerordentliche Freude sein, dieses Weib sterben zu sehen! Morgen bei Sonnenaufgang werde ich das Urteil offiziell verkünden … Hoorgo, du weißt, was ich bis dahin von dir erwarte!“

Der Schwertkämpfer packte sie knapp unterhalb ihres Haaransatzes und zog Shikon daran auf die Füße. Wie ein Stück Vieh zerrte er sie so weiter in einen angrenzenden Raum und dort auf ein hölzernes Podest. Lüsterne Freude lag in seinem Blick, als er ihre Hand- und Fußknöchel mit den harten Lederriemen festband.

„Dann wollen doch mal sehen, was für einen Körper du da unter deinem Kleid versteckst … Irgendeinen Grund muss es ja geben, dass Ryuohtah so scharf auf dich ist, nicht wahr? Wobei ich ja nur zu gern herausfinden würde, wie weit du ihn schon rangelassen hast.“, hauchte er dich neben ihrem Ohr.

Shikon schluckte die Galle hinunter, welche ihr die Kehle aufstieg. Und sie hatte Ohtah anfangs für pervers gehalten?! Gegen seinen Bruder war er ja ein echtes Unschuldslamm! Mit einem einzigen Ruck riss Hoorgo ihr den Stoff vom Leib. Der erste Schlag seiner Faust traf sie unterhalb der rechten Brust. Shikon krümmte sich vor Schmerz. Schon als Torarien ihm den Befehl gegeben hatte, war ihr klar gewesen, dass er sie nicht einfach nur bewachen sollte …
 

Später konnte Shikon nicht mehr sagen, wie lange Hoorgo auf sie eingeprügelt hatte. Jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte und einzig die ledernen Riemen hielten sie noch auf den Beinen, aus eigener Kraft hätte sie es nicht mehr vermocht …

Doch es gab noch etwas, das Shikon ihrem Peiniger zu sagen hatte: „Eigentlich sollte die Magie meines Bogens verhindern, dass … ich mein Ziel … verfehle. Hätte er damals doch nur dich getroffen …“

Verwunderung zierte sein Gesicht – es war also gar nicht ihre Absicht gewesen, seinen Bruder zu verletzen? Vielleicht … war sie gar nicht die verräterische Hexe, für die er sie gehalten hatte. Doch was hätte er sonst von ihr halten sollen? In Hoorgo´s Augen war der Pfeil ein Mordversuch an Ryuohtah gewesen und weil dieser missglückt war, machte sie sich an ihn heran, um eine neue Chance zu bekommen. Solche Schlüsse zu ziehen, war er gelehrt worden, kaum dass er stehen konnte. Und noch nie hatte er die Denkweise seines Vaters in Frage gestellt. Gut, er behandelte Ryuohtah nicht gerade väterlich … aber bislang hatte Hoorgo dies eher als »Erziehungsmethode« betrachtet. Konnte Torarien denn wirklich sein eigen Fleisch und Blut hassen? Hoorgo ballte erneut die Faust, schlug diesmal jedoch gegen die Wand. Im Grunde hatte er wohl sein ganzes Leben lang die Augen verschlossen und die Grausamkeit seines Vaters nicht sehen wollen – nein, das war gelogen … vielmehr hatte er ihm in seiner Art nachgeeifert. Kamekle war der Thronfolger, doch war er mehr Gelehrter denn Regent. Und sein Vater ließ sich keine Vorschriften machen – warum also die Erbfolge beachten, wenn der Erstgeborene nicht über die notwendigen Fertigkeiten verfügte? Aufgrund seiner Abneigung Ryuohtah gegenüber, war dieser als gewählter Nachfolger sehr unwahrscheinlich. Blieb nur noch Hoorgo, der sich beweisen konnte!
 

Es war für Ryuohtah ein eigenartiges Gefühl nach Avalon zurückzukehren. Dies war eigentlich sein Zuhause … und gleichzeitig fühlte es sich nicht so an. Vielleicht sorgten aber auch seine Schulgefühle für dieses Unwohlsein. Er ging auf direktem Weg in den Thronsaal. Außer seinem Vater war nur noch Kamekle anwesend – beide hielten den Blick fest auf eine Stelle in der linken Wand gerichtet. Ryuohtah wusste nur zu gut, was sich dort befand … Übelkeit ergriff seinen Magen, als er mithilfe von Magie ebenfalls durch das Gestein blickte. Shikon hing schlaff am Pranger, einzig von den ledernen Fesseln gehalten. Ihr nackter Körper war übersät mit blauen Flecken, an manchen Stellen blutete sie sogar … die deutliche Handschrift von Hoorgo. Torarien hatte ihn schon sehr früh zu seinem liebsten Folterknecht bestimmt.

„Vater!“, machte sich Ryuohtah bemerkbar, nachdem er sich von dem grauenhaften Anblick losgerissen hatte, „Hört auf mit diesem Wahnsinn!“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?! Aber keine Sorge … ich werde es beenden. In wenigen Stunden wird sie hingerichtet werden, dann ist es vorbei!“, höhnte Torarien.

Ryuohtahs Hände ballten sich die Fäusten, dann sank er auf die Knie und sagte: „Ich bitte Euch, Eure Majestät … Ich, Ryuohtah von Avalon, schwöre zu tun, was immer Ihr von mir verlangt – nur lasst sie am Leben!“

„Interessant, höchst interessant … Es gäbe da natürlich eine Möglichkeit, wie sich das Urteil mildern ließe.“, meinte der König schmeichlerisch, „Wenn die Anklage nicht auf >Hochverrat< lauten würde … Doch sie hat ja leider ein Mitglied ein Mitglied der königlichen Familie hinterhältig attackiert, wie schade.“

Der Braunhaarige starrte seinen Vater entsetzt an. Er schlug tatsächlich vor, dass sein eigener Sohn ins Exil ging – in ihrem Volk hieß das, den Wald in die entgegengesetzte Richtung von Schloss Edhelharn, den Elbenstein zu verlassen und sich in einem immer währenden Kampf den Bestien des Abgrunds zu stellen. Torarien hasste ihn nicht nur, er wollte seinen Tod – sein Leben für das von Shikon …

„Wenn dies Euer Wunsch ist … werde ich mich beugen.“, sprach Ryuohtah entschlossen.

Torarien schüttelte bedauernd den Kopf und sagte an Kamekle gewandt: „Die Zeit auf der Erde hat seinen Geist vergiftet. Wer so spricht, ist nicht mein Sohn! Los, entferne ihn aus meinen Augen – und lass´ ihn an die Grenze unseres Reiches bringen!“

Sein Bruder konnte glauben, was er da hörte. Den eigen Sohn in den sicheren Tod zu schicken … das war selbst für die Verhältnisse seines Vaters grausam. Und das nur, weil Ryuohtah seinen Vorstellungen nicht entsprach. Würde Torarien dasselbe mit ihm tun? Wartete er womöglich nur auf einen passenden Vorwand? Kamekle hatte ihn stets für einen harten Herrscher gehalten, der durch den Verlust seiner großen Liebe verbittert geworden war, aber dennoch nur das beste für sein Volk wollte … Sein Bruder dagegen lachte freudlos – es überraschte ihn so gar nicht. Aber wenn er schon sterben sollte, dann wenigstens bei dem Versuch, Shikon zu retten! Aus dem Nichts zückte er seine Langdolche und rannte in den angrenzenden Raum. Hoorgo war nirgends zu entdecken. Ryuohtah verriegelte die Tür, eilte zu der bewusstlosen Shikon und rüttelte sie kräftig. Nur langsam öffnete sie ihre Augen.

„Ohtah …“, krächzte sie schwach.

Ihr Innerstes kreischte auf, denn sie konnte nicht mehr schreien. Warum nur war er gekommen? Das durfte einfach nicht wahr sein! Schon wieder brachte sie ihn in Schwierigkeiten. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Obwohl sie nur kurze Zeit getrennt gewesen waren, hatte es sich wie eine Ewigkeit angefühlt … Ihr Geliebter schnitt die Striemen durch und lud sie sich auf den Rücken. Nicht unbedingt die beste Haltung zum Kämpfen … Als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, brachen die Soldaten in diesem Moment durch. Fast gleichzeitig barst das Fensterglas – ein fremder, hochgewachsener Elb mit gezücktem Bogen hatte es mit seinem kraftvollen Sprung zerstört. Shikon war nur mäßig bei Bewusstsein, doch spürte sie eine vertraute Aura … nicht Ryuohtah oder seine Brüder. Nein, es war derjenige, der sie in seinen Träumen besucht hatte!

„Lauf´, Junge! Bring´ sie in Sicherheit!“, forderte er Ryuohtah drängend auf, während die Geschosse bereits von seiner Sehne schnellten.

Länger ließ sich der zweitgeborene Prinz nicht bitten – er hastete ins Freie und weiter über den Schlosshof. Die wenigen Wächter, die noch draußen postiert waren, machte er mit Hilfe einer Klinge kampfunfähig – sie hielten sich zurück, weil er immer noch ein Prinz war. Der Braunhaarige nahm denselben Weg zurück durch den Wald, der direkt zu einer Felsnadel führte – anders als in der Welt der Menschen konnte in Avalon nur hier das Portal geöffnet werden. Doch so leicht sollte ihnen die Flucht nicht gelingen … Hoorgo hatte damit gerechnet, dass sein Bruder nicht einfach so aufgeben würde. Bei seiner Ankunft hatte er ihn passieren lassen, nun stellte er sich ihm in den Weg.

Lässig auf Dúath gestützt meinte er: „Ich wollte schon lange gegen dich kämpfen.“

Ryuohtah nickte ernst. Es wurde wirklich höchste Zeit herauszufinden, wer von ihnen der Stärkere war … Sein Bruder trug nicht ohne Grund den Titel »Erster Kämpfer«. Vorsichtig legte er Shikon auf den Boden. Ihre Lider flatterten vor Erschöpfung.

„Keine Sorge, Shiko … es wird nicht lange dauern.“, flüsterte er ihr zu und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen.

Hoorgo´s glühender Blick bohrte sich in ihn, sein mächtiger Zweihänder reflektierte das magerer Licht. Mit einem tiefem Atemzug zog auch Ryuohtah blank – er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er seine Waffe in Auftrag gegeben hatte … sie sollte ihn selbst widerspiegeln. Und der Hofschmied hatte sich für seine Dualität in Form von zwei Langdolchen entschieden; perfekt geeignet für Angriff und Abwehr, wild und elegant zugleich. Genauso unterschiedlich wählte er auch ihre Namen … Von da an waren Daeadae und Amlugfae beinahe so etwas wie seine besten Freunde geworden. All sein Vertrauen legte er in sie, nie war er enttäuscht worden. Ohne Vorwarnung fegte eine Böe über die beiden Kämpfer hinweg. Nur einen Wimpernschlag später klirrte das Metall wie Donnerhallen über das Gebiet. Alle drei Schneiden flogen in einem silbrig blitzenden Bogen durch die Luft und blieben mit der Spitze voran im Boden des jeweils anderen stecken. Sie standen in zirka drei Meter entfernt mit dem Rücken zueinander, vollkommen regungslos.

„Du hast nicht deine volle Stärke eingesetzt.“, sprach Hoorgo schließlich als erster.

Ryuohtah konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken, als er entgegnete: „Genauso wie du, kleiner Bruder.“

Sie nahmen ihre Klingen wieder an sich und der Braunhaarige lud sich die vollständig ohnmächtige Shikon erneut auf den Rücken, ohne dass die Rothaarige ihn länger aufhielt.

„Du kannst Vater´s Zorn nicht entgehen.“, sagte Hoorgo.

Schon im Weben des Zaubers antwortete Ryuohtah: „Da magst du Recht behalten … du aber auch nicht, du hast mich nicht getötet. Es tut mir leid – hättest du nicht Hand an Shiko gelegt, hättest du uns begleiten können.“

Damit trat er durch das Portal – unwissend was in diesem Augenblick in Shikon´s Innerem vor sich ging.
 

Seelensplitter

Ihr Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen, die Zeit schien still zustehen und dann kam der Knall – es war, als würde Glas in Tausende von winzigen Stücken zerspringen. Shikon spürte den Ruck, ohne zu wissen, was er bedeutete … In einem grellen Licht explodierte die Magie in ihr und gleichzeitig zerbrach auch ihre Seele …

Ryuohtah bekam davon nichts mit – Shikon´s Körper lag weiterhin in tiefer Bewusstlosigkeit –, seine Gedanken kreisten um eine sichere Zuflucht. Wo nur könnten sie unterkommen? Mhenlo oder gar ihre Klassenkameraden aufzusuchen kam nicht in Frage; er durfte diese Menschen nicht länger in Gefahr bringen – vor allem da sie nun wahrlich Torarien´s Zorn auf sich gelenkt hatten und er ihnen sogar seine Truppen hinterher schicken könnte. Schlussendlich entschied sich Ryuohtah in die kleine Höhle zurückzukehren. Sie war zwar kaum zu verteidigen … doch hoffte er, man würde dort auch nicht nach ihnen suchen. Der Weg durch den Wald war beschwerlich – besonders da er, so gut es ging, versuchte seine magische Signatur zu unterdrücken; wenigstens hinterließ er als Elb keine verräterischen Fußspuren.

Die Höhle befand sich noch genau in demselben Zustand, wie die beiden sie vor kurzem verlassen hatten. Sogar ein wenig Holz war noch übrig, welches er diesmal wieder mit Hilfe der Feuersteine entzündete, nachdem er Shikon auf das Lager gebettet hatte. Je weniger Magie er benutzte, desto besser … diese Worte sprach er wie ein Mantra immer wieder.

„Halte durch, Shiko-chan.“, flüsterte er, „Und … verzeih´ mir.“

Bislang hatte er es nicht gewagt, ihren Körper genauer in Augenschein zu nehmen. Zum Glück bestätigte sich sein erster Verdacht, dass sämtliche äußeren Verletzungen nur oberflächlich waren – nicht einmal Knochenbrüche schien sie erlitten zu haben. Oder das Elbenblut tat bereits seinen Dienst. Eine ganz andere Sache waren allerdings ihre seelischen Wunden … Ryuohtah konnte nur erahnen, was sein Bruder ihr alles angetan hatte. Mit den Fingerspitzen fuhr er ihr zärtlich über die Wange. Ein Teil von ihm konnte es immer noch nicht fassen, wie blind er gewesen war – beziehungsweise wie er sich nur so vom Zauberglanz hatte täuschen lassen können.

„Komm´ zu mir zurück … ich bitte dich.“, sagte er leise, doch sie konnte ihn nicht hören.

Sie saß zusammen gekauert da. Die Arme um ihren bloßen Körper geschlungen. Das Zittern wollte einfach nicht aufhören. Sie hatte Angst … und es war so bitterkalt. Was war passiert? Sie konnte sich nicht erinnern, wie ich hierher gekommen war … in diese völlige Dunkelheit. Dunkel, dunkel, dunkel ... ein endloses Nichts, als wäre sie gefangen. Was war das nur für ein Ort?

„Dein Inneres …“, antwortete eine Stimme sanft, „Oder sollte ich besser sagen, unser Inneres?“

Die Rothaarige öffnete vorsichtig die Augen. Vor ihr stand ein Mädchen. Ebenso hochgewachsen, tiefbraunen Augen, aber mit längerem Haar. Auch sie trug keine Kleidung. Schon glaubte sie in einen Spiegel zu schauen – doch bei ihrer Gegenüber lugten zudem spitze Ohren hervor.

Langsam öffnete sie den Mund und fragte: „Wer … wer bist du? Warum bist du hier?“

„Ich bin immer da, wo du bist …“, gab sie mit einem kleinen, freundlichen Lächeln zurück, „Hast du mich denn noch nicht erkannt, Shiko?“

Shiko … Sie wiederholte das Wort einige Male stumm. Dieser … Name sagte mir etwas. Nur was?

„Wir haben zu schreckliches erlebt.“, stellte das andere Mädchen so leise fest, dass sie sie kaum verstehen konnte, „Sowohl für dich als Mensch … genauso wie ich als Elbe.“

Ein Stich fuhr durch ihren Kopf. Shiko presste die Hände dagegen, versuchte sich dagegen zu wehren. Gesichtslose Gestalten schwirrten vor ihrem Blick, zusammenhanglose Erinnerungen. Alles war so verworren und verdreht und durcheinander und grauenhaft.

Ihr Schrei hallte durch die finstere Weite: „Ich will das nicht wissen! Nein, nein, hör´ auf damit! Bitte, hilf mir! SHIKON!“

Sie riss die Augen auf, ihre Pupillen weiteten sich vor Schock und sie blieb schlaff liegen. Bereits im nächsten Moment streichelte ihre Besucherin ihr über den Rücken. Shikon … Natürlich! Auch das war ihr Name. Sie waren nicht zwei Seiten von etwas … sondern eines mit zwei Seiten. Zwei Formen, die verschiedener nicht hätten sein können, und dennoch gleich. Was die eine wollte, wollte die andere – was Shiko fühlte, das fühlte Shikon. Sofort begannen ihre Gedanken zur Ruhe zu kommen und sogar das Zittern erstarb vollends.

Shiko setzte sich auf, dann fragte sie: „Was ist mit mir … mit uns passiert?“

„Unsere Seele …“, begann mein Ebenbild und rang mit sich, „Unsere Seele ist … zerborsten. Wegen dem, was … was in Avalon geschehen ist und was wir für Ohtah … Ryuohtah empfinden.“

Plötzlich wirkte Shikon genauso gebrochen, wie Shiko. Ein Wrack … Erst jetzt begann Shiko zu begreifen … Und mit der anfänglichen Erkenntnis kehrte auch die Erinnerung auf äußerst schmerzhafte Weise zurück – was mich nach alle dem echt nicht wunderte!

Beginnend mit ihrer Abführung, bei der sie ihn zurückgelassen hatte … der Übertritt in die geschändete Welt Avalon … das Gegenüberstehen Torarien´s … die Folter durch Hoorgo … schließlich war er erschienen und hatte sie befreit, alles für sie riskiert, sich gegen seine Familie … sein Volk … seine Heimat gestellt – einzig wegen ihr.

Sie konnte nicht erahnen, wie viel Zeit vergangen war – geschweige denn, ob »Zeit« hier überhaupt existierte. Hier in der Dunkelheit ihrer geborsten Seele regte sich nichts. Es gab kein Ende, keinen Raum, keine Orientierung. Alles, was ihr wichtig war, hatte sie verloren …

„Was willst du tun?“, fragte die Elbe in die Stille hinein, „Wenn wir hier bleiben, werden die Splitter unserer Seele langsam verlöschen. Wir werden nicht wiedergeboren oder gar ins Mondlicht gehen … Wenn wir auf diese Weise verschwinden, wird jede Erinnerung an uns ausgelöscht – jeder, dem wir begegnet sind, wird uns vergessen.“

Ihr zweites Ich horchte auf: „Dann müsste niemand mehr wegen uns leiden. Sei-chan nicht und … er auch nicht. Ohne uns könnte er einfach wieder zu seinem Volk zurückkehren. Ich wünsche mir, dass er glücklich ist … Und wenn ich dafür ausgelöscht werden muss, soll es mir recht sein!“

Die Alternative dagegen würde sie nicht ertragen … ins Leben zurückkehren, sich der Realität stellen, die Wahrheit akzeptieren. Sie wollten nicht zurück … und sie wollten genauso wenig nicht hier bleiben. Was würde Shiko(n) dort erwarten? Es machte ihr Angst. Es stimmte, sie hatte genug Schaden verursacht – doch wenn Ryuohtah seine Erinnerungen verlor, würde die Invasion der Erde so nicht von neuem beginnen? Er war inzwischen nicht mehr der blutrünstige Elb – so fern er das überhaupt jemals wahrlich gewesen sein mochte –, der an seinem ersten Abend von meinem Pfeil getroffen worden war … Er besaß etwas menschliches. Ein Herz … ein menschliches Herz …

„Meine Shiko, bitte … komm´ zu mir zurück!“, sagte plötzlich eine Stimme, die nicht der Halbelbe gehörte … sondern Ryuohtah!

Tränen rannen über ihre Wangen. Er liebte sie als Shiko und Shikon gleichermaßen … Ohne es zu merken, fügte sich ihre Seele wieder zusammen. Unbewusst hatte sie ihre Entscheidung bereits getroffen … Selbst wenn Shiko verschwand, änderte das nichts an den Problemen der Realität … und sie in Wahrheit wollte auch nicht, dass Ohtah sie vergaß – nicht einmal, wenn sie nicht zusammen sein konnten.

„Es war von Anfang an egal, ob es Ryuohtah oder Ohtah gewesen ist … ob als Elb oder als Mensch, an meinen Gefühlen für ihn ändert das nichts.“, gestand sich Shiko endlich ein, „Trotzdem kann ich nicht weitermachen, wie bisher … gerade weil ich ihn liebe. Dass er sich für mich gegen Avalon und seine Familie gestellt hat … ich will so etwas nie mehr erleben! Es war das letzte Mal … Er wird nicht noch einmal sein Leben für mich riskieren! Lieber … lieber ziehe ich all seinen Hass auf mich, anstatt ihn sterben zu lassen. Als ich mich seinen Brüdern ausgeliefert habe, hatte ich sein menschliches Herz nicht bedacht. Dieser Fehler darf mir diesmal nicht passieren … Ich muss beide Seiten von ihm ausschalten!“

Entschlossen nahm sie ihre elbische Gestalt an, streckte den linken Arm aus und sprach: „Du bist genauso ein Teil von mir … Ich brauche deine Hilfe – Feuerblume!“

Unzählige Splitter sammelten sich um ihre Hand und formten ihren Bogen.

„Du weißt, was wir tun müssen …“, flüsterte Shikon schwach, „Wir dürfen ihn nicht noch mehr in Gefahr bringen – Torarien wird uns jagen. Selbst wenn er uns tötet … Ryuohtah ist nicht mehr derselbe. Er könnte keine Menschen mehr töten … und wahrscheinlich würde er nicht einmal zulassen, dass seine Brüder es tun. Unsere Welt ist so etwas, wie seine zweite Heimat geworden … Selbst wenn kein menschliches Blut durch seinen Körper fließt, er hat als Mensch gelebt! Und das verändert unweigerlich … Schließlich gibt es außer uns niemanden, der besser wusste, wie es ist, beiden Völkern anzugehören.“

Als Shikon diesmal die Augen aufschlug, starrte sie an eine steinerne Decke. Der Anblick wirkte auf gewisse Weise vertraut … die Höhle, in der sie mit Ohtah während des Gewitters übernachtet hatte! Das Gewicht ihres Bogens ruhte auf ihrer Brust, welche von ihrer üblichen Gewandung verhüllt war. Langsam setzte sie sich auf – da hörte sie mehrere, dumpfe Aufschläge. Ryuohtah stand gebückt im Eingang, vor ihm ein Haufen Äste. Sein Gesichtsausdruck wandelte von Verwunderung zu so etwas wie … Glückseligkeit. Einen winzigen Augenblick überdachte die Rothaarige ihr Vorhaben … dann spannte sie einen Pfeil in ihren Bogen und zielte auf sein Herz.

„Es ist alles in Ordnung, Shiko – wir konnten entkommen; weder Hoorgo noch Torarien werden dir jemals wieder weh tun.“, versuchte er sie zu beruhigen, wobei ihren römischen Sinne seine zahlreichen Verletzungen nicht entgingen.

Es kostete Shikon jedes Quäntchen Entschlossenheit zu fauchen: „Wage es nicht näherzutreten! Du kennst Feuerblume´s Macht – es wäre diesmal nicht deine Wange, die ich treffe!“

Ryuohtah hob abwehrend die Hände, während er perplex sagte: „Ich … ich verstehe nicht. Was ist los mit dir? Ich dachte, wir-“

„Wir waren vom ersten Moment an Feinde!“, unterbrach sie ihn scharf, „Ich schwöre, ich werde König Torarien von seinem Thron stoßen und jeden aus dem Weg räumen, der sich mir dabei entgegen stellt! Als wir das letzte Mal gegeneinander gekämpft haben, hast du mich verschont … heute bezahle ich meine Schuld. Sollten wir uns allerdings noch einmal wiedersehen, werde ich meinen Pfeil nicht wegstecken!“

Die Waffe gesenkt wandte sie sich von seinem Gesicht ab – Shikon konnte diesen seinen verletzten Blick nicht länger ertragen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn die eigene Seele zerbrach … und hatte soeben Ryuohtah´s Herz in winzige Teile zerschmettert. Dabei erahnte er nicht einmal im Entferntesten den Grund – geschweige denn, dass er überhaupt verstand, was gerade passierte. Kein Schlafzauber, kein k.O.-Schlag – dennoch rührte der Elb nicht einen einzigen Muskel, als Shikon an ihm vorbei nach draußen schritt. Sein ganzer Körper war wie erstarrt. Die Halbelbe begann zu rennen, bevor Trauer und Schmerz sie verraten hätten …
 

Vater und Tochter, Sohn und Mutter

Vielleicht war es unvernünftig, doch Shiko genügte es bei weitem einen geliebten Menschen zu verletzen – Seiketsu sollte nicht auch noch ihretwegen meiden müssen. Wenigstens verabschieden wollte sie sich … Also lief die Rothaarige den erdigen Pfad zurück in Richtung des Onsen. Dieser Ort machte ihr noch schmerzlicher bewusst, was sie soeben getan hatte … Obwohl es ihr bei jedem Atemzug mehr und mehr das Herz zerriss, fühlte sich Ryuohtah mit Sicherheit noch viel elender – er hatte sein Leben für sie riskiert und sie hatte ihn dafür zerstört. Um die Erde vor Torarien zu beschützen … Nur wie sollte ihr dies gelingen, noch dazu allein? Wo zwischen ihm und Shikon doch unzählige Wachen standen … Und als König von Avalon war er selbst sicher auch kein leichter Gegner.

Gerade, als sie die ersten Dampfschwaden erblicken konnte, fiel ihr eine Gestalt auf, die außerhalb des Scheins einer Laterne an der Außenverkleidung lehnte. Sofort schossen sämtliche Alarmsysteme in ihrem Kopf auf rot – Hoorgo konnte es aufgrund der Größe schon mal nicht sein, doch er hatte ja noch einen Bruder. Allerdings war es auch nicht Kamekle, der sie da erwartete … sondern ihr Lehrer!

Immer noch leicht angespannt, stammelte sie: „Oh, guten Abend, Morisaki-sensei. Sie fragen sich sicher, was ich hier draußen mache-“

„Du meinst, außer dich von deiner Flucht aus Avalon zu erholen?“, unterbrach er sie, worauf sich ihre Augen vor Schock weiteten, „Entschuldige … ich hätte es dir gern etwas schonender beigebracht – aber das geht nicht bei deinem Vorhaben, einen Putschversuch durchzuführen. Shikon, mein Name lautet Tetogo … ich bin dein Vater!“

Wie zur Unterstreichung seiner Worte nahm er die Gestalt eines Elben an. Er trug eine dunkle Lederrüstung, über der Schulter hing ein kurzer Jagdbogen und wie bei ihr selbst der Köcher an der Hüfte. Die spitz zulaufenden Ohren verursachten ihr eine Gänsehaut, während ihr Hirn versuchte, die Informationen zu verarbeiten.

Doch plötzlich trat ein neuer Aspekt in ihre Gedanken, der Shiko einen Schritt zurückweichen und ebenfalls die Verwandlung vollziehen ließ, wurde von kaum hörbaren Worten begleitet: „Du … du warst es … Du hast Ohtah auf der Straße angegriffen!“

Es stimmte, es waren haargenau dieselben Pfeile … Er hätte beinahe den Jungen umgebracht, den sie liebte! Ihr Vater … der, der sie und ihre Mutter als Kleinkind verlassen hatte!

„Ich wollte dich nur vor ihm retten … Ich habe seine Täuschungszauber fast von Anfang an durchschaut und … ja, ich habe dich benutzt, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber nur, weil ich mir sicher war, dass er deine wahre Identität nicht kannte! Ich dachte, er wäre eine gefühllose Tötungsmaschine geworden, wie Torarien es gewollt hatte. Dabei liebt er dich … das habe ich in Avalon begriffen.“, versuchte er sich zu erklären und sein Blick wurde melancholisch, „Bitte, Shikon … verzeih´ mir.“

Noch nie hatte jemand ihren Namen so ausgesprochen, voll unerfüllter Sehnsucht. Und mit einem Mal wusste sie, dass er nicht von dem Zwischenfall sprach, den sie ihm gerade noch vorgeworfen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen – ihr Leben lang hatte sie auf ihn, ihren Vater verzichten müssen … und Shikon warf sich ihm in die Arme. Mehrere Minuten hielt Tetogo sie ganz dicht an sich gedrückt. Die Halbelbe konnte nicht einschätzen, was merkwürdiger war – ihm plötzlich gegenüber zu stehen oder dass er ihr Lehrer war.

„Du hast mir einiges zu erklären.“, meinte sie leise.

Der Bogenschütze nickte. Er löste die Umarmung deutete auf das Dach des Onsen. Mit Leichtigkeit erklommen die beiden die Höhe und setzten sich, sodass man sie von der Straße aus nicht mehr erblicken konnte. Zur Sicherheit webte Tetogo einen schützenden Nebelschleier, der ihre Worte schlucken würde. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu. Natürlich wollte und musste sie zuerst erfahren, wie es zu dieser Situation gekommen war – vor vielen Jahren war Tetogo Kommandant der Königlichen Armee von Avalon gewesen. Entgegen Torarien´s Gesetz hatte er sich häufig heimlich als Gestaltwandler in die Welt der Menschen geschlichen, ihre Kulturen sowie Sprachen kennengelernt und erfahren, dass die herrschenden Vorurteile über die Erdlinge vollkommen haltlos waren. Sie waren weder alle gut noch alle böse – ebenso wie die Elben. Über die Jahre hinweg wuchs in ihm der Zorn über die Lügen des Königs, der ihre angeblichen Feinde auslöschen wollte. Bereits damals ahnte der Elb, dass er seinen Söhnen eines Tages jenen Befehl erteilen würde … Allerdings erlebte er diesen Tag nicht mehr in seiner alten Position – denn bei einer seiner Rückkehren nach Avalon wurde Tetogo erwischt und vor Gericht gestellt.

Shikon schnaubte an dieser Stelle der Geschichte verächtlich; sie kannte Torarien´s Art von einem Prozess. Daher überraschte sie wenig, dass er ihren Vater für seinen Vertrauensbruch zum Tode verurteilt hatte. Doch er war nicht der einzige, der dem König nicht die Treue hielt – eine Handvoll Soldaten verhalfen ihrem ehemaligen Anführer zur Flucht.

„Das war vor gut zwanzig Jahren …“, sagte er traurig lächelnd, „Da ich das Portal vollkommen planlos geöffnet habe, landete ich orientierungslos in einem Wald. Dort hat mich deine Mutter gefunden … Kaira ahnte, dass ich kein Mensch sein konnte und hat mich dennoch bei sich aufgenommen. So habe ich mich in ihr gütiges Herz verliebt …“

Shikon überkam ein Zittern – die Liebe ihrer Eltern war nicht gut ausgegangen – und sie brachte nur mühsam über die Lippen: „Was ist … passiert? Warum hast du … sie verlassen?“

Schmerz legte sich wie ein Schatten über sein Gesicht, während er antwortete: „Du hast inzwischen sicher gemerkt, dass ich es war, der des Nachts im Schlaf zu dir gesprochen hat – diese Fähigkeit nennt sich >Traumgänger<. Und kaum, dass Kaira schwanger von mir war, sprach auch jemand zu mir auf diese Weise. Es handelte sich dabei um die Mutter unserer Vorfahren, den Alben … die Göttin der Natur, Gäa. Sie bat mich darum, zu ihr zu kommen – auf den Gipfel des höchsten Berges von Avalon … Calbentaen. Auf dem Albenhaupt hat sie einst unsere Welt betreten … und wer den Weg zu ihr bewältigt, der darf ihr in ihrer Funktion als Orakel eine einzige Frage stellen. Ich habe Gäa also das gefragt, was mich seit meinem ersten Besuch auf der Erde beschäftigt hatte … >Warum hat Torarien den Kontakt zwischen Elben und Menschen verboten?< Ich konnte nicht glauben, dass es nur an der Vertreibung lag. Während der Befragung haben sie mich regelrecht drangsaliert, um herauszufinden, ob ich … etwas mit einer Menschenfrau hatte. Was Gäa mir anschließend offenbarte … nun ja, es hat mein ganzes Weltbild in Frage gestellt und ist der Grundstein für all meine weiteren Entscheidungen.“

Torarien hatte Gäa am Tag vor seiner Krönung ebenfalls aufgesucht, um von ihr eine Weissagung zu erbitten … Er wollte wissen, wie er sich seinen Thron für alle Ewigkeit sichern könne. Laut der Göttin wäre es eine Peredhil, die Tochter eines Elben und eines Menschen, die eines Tages seine Herrschaft beenden würde – denn nicht Torarien gebührte der Thron Avalons … Er vergiftete die Magie der Welt mit seinem Hass und verwandelte sie.

Eine düstere Ahnung erwachte in Shikon, welche die Übelkeit in ihr hochsteigen ließ und sich noch verstärkte, als Tetogo weitersprach: „Du hast Avalon gesehen … Als ich geboren wurde, war es noch ein herrliches Land in voller Blüte. Doch Torarien´s Vater interessierte sich nicht davor. Er wollte die Erde unter allen Umständen zurückerobern und pflanzte diesen Rachedurst in seinen Sohn. Damit begann sich alles zu verändern … Das Nebelmeer verschluckte mit jedem Jahr mehr Land; die Tiere mutierten zu Monstern und unser Volk musste sich in die Region des heiligen Berges zurückziehen – allein Gäa´s Macht hält die Vernichtung dort noch auf. Aber selbst unsere Göttin ist nicht allmächtig! Ich fürchte, das Herzland wird schon bald verschwinden, wenn wir Avalon nicht von Torarien´s negativem Einfluss befreien.“

„Das heißt, sobald Torarien erledigt ist, muss ein neuer König her, habe ich das richtig verstanden?“, hakte die Rothaarige tonlos nach.

Ihr Vater nickte ernst: „Genauso ist es … und du musst ihn erwählen! Diese Aufgabe hat Gäa dir zugedacht … um die Welt zu retten, welche sie für ihre Kinder erschaffen hat.“

Nun da er es so deutlich wiederholt hatte, gab es keinen Zweifel mehr – Damit machte Ryuohtah´s Mission überhaupt keinen Sinn mehr – kein Mensch müsste mehr sterben; seine Welt, ihre wahre Heimat Avalon musste schlichtweg wiederhergestellt werden … Es ging nicht einfach darum, Torarien zu stürzen. Natürlich, er musste trotzdem aufgehalten werden! Dieser Entschluss brannte stärker in ihr, als jemals zuvor; Tetogo würde sie dabei sicherlich unterstützen.

„Deshalb konnte ich nicht bei deiner Mutter … und dir bleiben. Im Gegensatz zu dir, brauche ich unentwegt Magie, um die Gestalt eines Menschen zu halten. Es wäre zu gefährlich gewesen, eine Spur von Energie in Kaira´s Nähe zu hinterlassen. Sie wusste, ich ging, um euch zu beschützen … Aber es ist nicht ein Tag vergangenen, an dem ich euch nicht vermisst hätte! Ich wollte dich als Lehrer im Auge behalten, denn weißt du, seine Söhne sind nicht die ersten Spione, die er ausgeschickt hat … und ich hatte gehofft, du würdest mein Vermächtnis finden.“, erklärte Tetogo mit gequälter Stimme, dann begann er zu singen, „>Schreite durch die Zeit, mein Holder, zu der Insel im Nebelmeer, wo die mystischen Wesen wohnten, schon von jeher. Zu dem heiligen Berge folg´ mir, der auf alles die Antwort gibt, durch die Wälder der Fabelwesen, komm´ mit mir mit … Nach Avalon, Avalon … wo uns´re Träume wohnen. Nach Avalon, Avalon … wenn der rechtmäßige Herrscher thront. Nach Avalon, Avalon … wo unzählige Blumen für uns blühen. Nach Avalon, Avalon … folge mir ins wahre Avalon! In der Nacht sollst du bei mir liegen, wo uns samtene Luft umweht, auf den Mythen der Macht gebettet, die nie vergeh´n. Mein Held, lass' uns die Banner setzen, in dem Schloss vom Meer umspült, zu unserem schönen Heim, komm´ mit mir mit … Nach Avalon, Avalon … wo uns´re Träume wohnen. Nach Avalon, Avalon … wenn der rechtmäßige Herrscher thront. Nach Avalon, Avalon ... wo unzählige Blumen für uns blühen. Nach Avalon, Avalon … folge mir ins wahre Avalon!<“

Ja, Shikon kannte das Lied. Es war einer der Songs auf der Sindarin-CD, nach deren Kauf sie Ohtah zum ersten Mal begegnet war … Zuvor war es ihr nicht aufgefallen, dass sie darauf seine Stimme vernommen hatte. Eine neue Woge Tränen drohte die Rothaarige zu überrollen – genau wie ihr Vater hatte sie ihre große Liebe für das höhere Wohl verlassen … nur dass Ryuohtah im Gegensatz zu ihrer Mutter den Grund nicht kannte.

„Wie soll ich eigentlich den würdigen König erkennen?“, wollte Shikon wissen, doch schon währenddessen dämmerte ihr die Antwort, „Ryuohtah … er ist es, von ihm spricht das Lied …“

Es gab nur ihn, den sie derart betitelt hätte … Teilweise hatte sie ihn sogar bereits so genannt; damals in der Höhle hatte Ohtah als ihren Helden bezeichnet. Es fühlte sich an, als stünde ihre Seele kurz davor, erneut zu bersten. Sie hatte sich von ihm entfernt, um ihn nicht länger in Gefahr zu bringen und weil sie versucht war, zur Mörderin seines Vaters zu werden … Nun sollte ihn Shikon zum Kampf, zur Herrschaft rekrutieren – nachdem sie gedroht hatte, ihn zu töten? Dies ging weit über einfache Ironie des Schicksals hinaus …
 

Währenddessen kauerte Besagter noch immer in der kleinen Höhle. Die Kälte des steinernen Bodens war ihm längst in die Glieder gezogen, aber er störte sich nicht daran … es lenkte ihn zumindest ein wenig von dem hallenden Schmerz in seiner Brust ab. Gleichzeitig echote unentwegt die Frage nach dem Warum durch seinen Geist – ihm fiel einfach keine, plausible Erklärung ein; sie konnte ihn doch nicht plötzlich grundlos hassen, oder? Was nur war während dieser Bewusstlosigkeit mit ihr geschehen? In Avalon war sie noch so erleichtert über sein Kommen gewesen … Waren es irgendwelche seelischen Folgen durch die Folter, welche Shikon durch seinen Vater beziehungsweise jüngeren Bruder erlitten hatte? Machte sie ihm zum Vorwurf, dass er erst so spät eingetroffen war?

Ohne es recht zu merken, schwand die Kraft aus ihm und Ryuohtah klappte zusammen. Er begann zu träumen … Es musste ein Traum sein! Denn ohne Vorwarnung lag er in den Armen einer Frau, kuschelte sich an sie … Die hochgewachsene Elbin mit flammend rotem Haar wiegte ihn aufrichtig lächelnd. Wie lange war es her, dass seine Mutter ihn derart gehalten hatte? Jahrzehnte waren seit Hoorgo´s Geburt vergangen …

Ihr Mund öffnete sich und daraus erklang das Lied, mit dem sie ihn einst in den Schlaf gesungen hatte: „Dein Zuhause war das Reich der Göttin, doch dein Herz, es verlangte mehr und die Flammen verzerrten dich in deinem Zorn. Deine Träume erschufen Welten und dein Leben erschien dir leer … In den Dimensionen hast du dich verlor´n! In dem Sturm deiner wilden Seele wart der heilige Ort zerstört, deinem Weg folgten viele auf die Welt. Deine Worte vor´m Thron der Göttin, deinen Wunsch hat die Nacht erhört … und dein Volk wird leiden für die Ewigkeit!“

Schweißgebadet und keuchend schreckte Ryuohtah hoch. Die Worte klangen weiter in seinen Ohren – als Kind hatte ich dieses Lied so oft vernommen … erst jetzt begriff er, was mir seine Mutter ihm damit hatte sagen wollen! Nein, es war nicht ihre mütterliche Seite gewesen, die da aus ihr gesprochen hatte – stattdessen hatte sie ihn als Königin von Avalon um etwas gebeten … Die Elben gehörten nicht auf die Erde, Avalon war ihnen als Heimat geschenkt worden! Nur warum ging ihre Welt dann unter, wenn sie vor ewigen Zeiten schon dorthin zurückgekehrt waren? Auf all die Fragen in seinem Kopf würde Ryuohtah ohne Hilfe keine Antwort finden … und er betete, dass die Geschichten seiner Mutter nicht nur die Langeweile vertreiben sollten. Sie, die in jedem von ihnen leben sollte und ihnen allen den Weg weisen würde … Einzig ihr Rat könnte ihm nun noch weiterhelfen.
 

Ein flaues Gefühl erfüllte Shikon bei der Rückkehr nach Avalon. Sie hatte ihrem Vater nicht glauben wollen, dass das Portal nicht bewacht wäre … doch genauso war es. Laut Tetogo hielten sich die Elben nie lange in dieser Gegend auf – zu nah lag der Abgrund in das endlose Nebelmeer, dessen Verlockung schon zu viele gefolgt waren. Seltsame Laute hallten durch die Nacht, die hier ein ganz anderes Gesicht hatte. Ganze drei Monde leuchteten rund am Himmel und mir unbekannte Sternbilder, wie Dryade, Phönix und Drache wiesen Kundigen – so beispielsweise Tetogo – den Weg. Zuvor war ihr nicht bewusst gewesen, wie nützlich seine Kenntnisse als ehemaliger Kommandant für ihr Unterfangen wären; er kannte sämtliche Wege in und aus dem avalonischen Schloss heraus, vorzugsweise ohne gesehen zu werden. Die Rothaarige dagegen hatte während ihrer Gefangenschaft kaum etwas vom Palast gesehen und die Erinnerungen daran waren durch Qual verschleiert …

Für einen winzigen Augenblick fragte sie sich, wie wohl Ryuohtah´s Quartier aussehen mochte – sicher vollkommen anders als sein menschliches Zimmer. Was Shikon unwillkürlich an Mhenlo erinnerte, bei dem er gewohnt hatte … War dieser Mann etwa auch ein verwandelter Elb? Oder hatte Ryuohtah womöglich sein Gedächtnis mit einem Zauber beeinflusst? Sollte sie nach ihrem Auftrag noch die Möglichkeit dazu haben würde, musste sie der Sache genauer auf den Grund gehen … Wobei die Peredhil bislang nicht davon ausging, Avalon diesmal lebend verlassen zu können. Immerhin plante sie den König zu ermorden … Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken runter. Würde sie wirklich zu derselben Art Monster werden können?

„Und du bist dir wirklich ganz sicher, dass wir unbemerkt in seinen Schlafsaal gelangen können? Ich meine nur, es sind mehrere Jahrzehnte seit deinem letzten Aufenthalt vergangenen.“, hakte Shikon noch einmal nach, mehr um sich wieder zu fokussieren.

Ein kleines Lachen entwich ihrem Vater: „Du denkst wie ein Mensch – Elben mögen keine Veränderung. Torarien ist weit über achthundert Jahre alt … und damit hat er vielleicht gerade einmal die Hälfte seiner normalen Lebensspanne erreicht. Aber so wie ich ihn kenne, wäre er selbst dann noch zu stur zum Sterben.“

Es hatte kein Vorwurf in seiner Stimme gelegen … trotzdem kam sie sich irgendwie etwas dämlich vor. Auf derartige Gedanken war Shikon während der letzten Wochen gar nicht gekommen … nächsten Monat wurde sie achtzehn Jahre alt – in manchen Ländern galt man damit bereits als erwachsen. Für Elben bedeutete das allerdings gar nichts … aber was war mit ihr als Halbelbe? Und wie alt konnte Ryuohtah bloß sein – jünger als Kamekle und älter als Hoorgo, genauer konnte ich es nicht einschätzen.

Die Rothaarige schüttelte den Kopf, um alle Gedanken an ihn zu verdrängen und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Vorhaben, denn schon zeichnete sich die Silhouette der Burg gegen das dunkelblaue Firmament ab. Tetogo mahnte sie zur Vorsicht, da die Wachen natürlich über dieselbe Nachtsicht verfügten. An der Ostseite befand sich ein verborgener Eingang zu dem geheimen Tunnelsystem. Von dort aus konnte man überallhin gelangen.

„Bist du bereit?“, fragte der Elb leise, den Bogen etwas fester.

Entschlossen beschwor Shikon Feuerblume herauf und legte einen Pfeil an die Sehne. Was dieser … Angriff auch mit ihr machen würde – schlimmer als eine geborstene Seele zu ertragen, konnte die Last der Schuld nicht sein!

Die Gänge waren mit Fackeln beleuchtet, denen die zahlreichen Jahrhunderte – oder Jahrtausende – anhafteten. Dieser Ort war alt … zu alt, um es nach menschlichem Maßstab zu begreifen. Lange, bevor die Geschichtsschreibung der Menschen begonnen hatte, hatte diese Dimension voller Magie bereits existiert … Tetogo wirkte im Gegensatz zu seiner Tochter kein bisschen beeindruckt; er war hier aufgewachsen und erklärte ihr bei jeder neuen Weggabelung, wohin sie führten. Shikon fühlte die Kraft, welche in den unzähligen Steinen lag – diese Festung hatten keine Arbeiter errichtet, alles war von Zauberkundigen geformt worden, für die Ewigkeit gedacht.

Plötzlich hielt Tetogo so abrupt an, dass sie gegen seinen Rücken knallte. Er legte einen Finger an den Mund, dann zeigte er auf eine Treppe, die nach oben führte. Bevor ihr Vater den Fuß auf die unterste Stufe setzte, berührte sie ihn am Arm und schüttelte den Kopf. Gäa hatte sie ausgewählt … darum musste Shikon diesen Teil des Weges allein hinter sich bringen. Beginnend bei den über einhundert Stufen, die sich spiralförmig in ein weit höher liegendes Stockwerk wanden, verborgen von den dicken Mauern. Irgendwann erschien über ihr eine massive Steinplatte, die unverkennbar nicht zur Decke – oder von der anderen Seite zum Boden – gehörte, der Ausgang. Unter einem großen Kraftaufwand hob sie die Platte an, was ihr gleichzeitig eine Dusche aus Staub und Dreck bescherte. Weit schlimmer war allerdings das laute Schleifen, als Shikon sie zur Seite schob – wahrscheinlich hatte sie gerade das gesamte Schloss auf den Plan gerufen … Doch stattdessen es blieb unnatürlich still. Während sie aus dem Loch kletterte, unterdrückte die Halbelbe das aufkommende Zittern.

„Ich wusste, du würdest mir einen Besuch abstatten.“, begrüßte sie die arrogante Stimme von König Torarien.

Durch ein einziges Fingerschnippen leuchteten alle Kerzen im Raum auf. Er saß auf einem fein gearbeiteten Stuhl und im Gegensatz zum letzten Mal betrachtete sie gebannt seine Gestalt. Sein Haar glänzte silbern wie das Mondlicht … aber seine Augen wirkten unglaublich vertraut – dasselbe Rot wie bei Ryuohtah´s linkem Auge blickte ihr entgegen; nein, ganz stimmte das nicht, ihnen fehlte das flammende Leuchten, welches an die Farbe des Sonnenuntergangs erinnerte …

„Wenn Ihr mich erwartet habt … wisst Ihr sicher, warum ich gekommen bin.“, meinte die Peredhil herausfordernd, bevor sie mit dem Pfeil genau auf sein Herz zielte, „Entweder Ihr ergebt Euch freiwillig oder ich zwinge Euch abzudanken!“

Torarien lachte nur schallend: „Pah! Und wer soll dann mein Königreich regieren? Meine Frau ist tot. Kamekle hat nicht genug Mumm – da würde Avalon noch schneller untergehen als ohne Herrscher! Und Hoorgo … dieser Berserker würde unser ganzes Volk abschlachten, sobald ihm irgendetwas nicht passt! Von dieser widerlichen Missgeburt Ryuohtah will ich gar nicht erst anfangen … Du siehst, der Thron gehört ganz allein mir!“

Innerhalb eines Sekundenbruchteils zog die Rothaarige Feuerblume zurück in ihr Inneres und sie verpasste dem Elb eine so heftige Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite flog und alle fünf Finger deutlich auf seiner Wange leuchteten.

„Ihr habt absolut keine Ahnung von Euren Kindern!“, brüllte Shikon ihn an, wobei es ihr vollkommen egal war, ob sie sonst noch jemand hören konnte, „Einer ist Euch zu schwach, der andere zu stark? Ihr wolltet Eure Söhne formen … dressieren. Ich kenne Kamekle und Hoorgo zu wenig, um über sie zu urteilen. Aber ich kenne Ryuohtah! Als Gegner und Beschützer, als Elb und Mensch … Er hat sich von Eurem finsteren Einfluss gelöst – er wird nie mehr Eure Marionette sein! Glaubt, was Ihr wollt … Ich weiß, sein Herz schlägt genauso für unsere beiden Völker, wie das meine. Und allein dafür werde ich ihn immer lieben! Für heute ziehe ich mich zurück … aber mein Schwur bleibt bestehen – Avalon wird nicht mehr allzu lange unter Eurer Herrschaft leiden.“

Vor ihrem geistigen Auge erschien das Gesicht von Ryuohtah. Er lächelte sie an. Beinahe hätte Shikon die Hände ausgestreckt, um ihn festzuhalten … Doch das Bild löste sich auf und es waren wieder Torarien´s kalte Seelenspiegel, in die sie blickte. Und trotzdem sah sie nur noch seinen Vater vor sich … nicht mehr den grausamen Herrscher. So sehr Shikon ihn auch hasste, sie konnte ihm nicht das Leben nehmen … und sei es nur wegen diesen Augen.
 

Der Heilige Berg

Unverrichteter Dinge und sichtlich niedergeschlagen suchten Tetogo und Shikon an dem einzig halbwegs sicheren Ort, der ihnen in Avalon einfiel – eine Höhle auf dem Albenhaupt. Sie hatte es nicht über das Herz gebracht, ihrem Vater die volle Wahrheit zu sagen – nur, dass die Mission ein Misserfolg gewesen war … Darum machte er sich alsbald auf den Weg, die Lage auszukundschaften. Nun da Torarien von ihrem Vorhaben wusste, könnte alles Mögliche geschehen.

Vertieft in ihre Gedanken bemerkte die Halbelbe erst, dass sich ihr jemand näherte, als derjenige sprach: „Ich wusste, ich würde dir hier begegnen … denn wie versprochen, werde ich dich immer finden!“

Ryuohtah war ja eigentlich in der Absicht, die Göttin Gäa zu finden, um ihre Weisheit zu erbitten, nach Avalon zurückgekehrt … doch bereits am Fuße des Heiligen Berges hatte er gespürt, dass sich Shikon ebenfalls dort aufhielt. Alles andere war von einer Sekunde zur Sekunde unwichtig geworden – er wollte sie einfach nur noch wiedersehen, egal zu welchem Preis!

„Ich habe deine Worte nicht vergessen … aber ich werde nicht mehr gegen dich kämpfen. Mein Herz gehört dir ohnehin bereits – dann nimm auch mein Leben!“, sagte Ryuohtah ohne die Spur von Angst und warf ihr seine beiden Langdolche die Füße.

Ihr Blick klebte jedoch weiterhin auf ihm, wie in Trance kam sie langsam auf ihn zu. Feuerblume verbarg sich in ihrer Seele und selbst Daeadae sowie Amlugfae passierte sie, bis sie direkt vor ihm stand. Nur noch wenige Zentimeter trennten die beiden, ihr Atem streifte sein Gesicht. Im nächsten Moment senkte Shikon die Augenlider und schon lag der Druck ihrer Lippen auf seinem Mund. Ein Ruck ging durch Ryuohtah´s Körper; kein einziger Muskel bewegte sich mehr, sogar mein Herz setzte diesen einen Schlag lang aus. Genau wie bei ihrem Abschied … jedoch schien er dieses Mal davon nicht zu sterben, sondern zum Leben zu erwachen.

„Ist es wahr … liebst du mich wirklich, mein Holder?“, wollte sie von ihm wissen, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte.

Die Augen des Elben weiteten sich vor Überraschung. Vorsichtig umfasste er ihr Gesicht, aus Angst dieses Etwas zwischen ihnen könnte wieder zerbrechen. Der nächste Kuss war das, was sich beide so lange gewünscht hatten und der sie all den Wahnsinn vergessen machte … Shikon drängte sich dichter an ihn heran, ihre Hände streichelten seinen Nacken, fuhren durch seine Haare. Ryuohtah umschlang ihren Körper mit seinen Armen, vertrieb jedes bisschen Luft zwischen ihnen. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie ihr Sinneswandel zustande gekommen war – niemals zuvor hatte er eine Frau derart begehrt! Die Nächte, die er bei einer Elbe gelegen hatte, konnte man an nicht einmal einer Hand abzählen, und keine einzige davon bedeutete ihm etwas, geschweige denn dass er sie wahrlich genossen hatte. Einhundertachtundsechzig Jahre hatten nicht ausgereicht, dass der Prinz jemanden traf, den er wirklich wollte … sogar etwas für denjenigen empfand. Nur bei Shiko(n) war von Beginn an alles anders gewesen. Und genau deshalb würde er um sie kämpfen – nicht für eine gemeinsame Nacht, sondern für jeden weiteren Tag! Ryuohtah leckte mit der Zunge über ihre Lippen. In einem überraschten Keuchen öffnete Shikon ebenfalls den Mund und er nutzte die Gelegenheit, um dort hineinzugleiten. Das Gewicht in seinen Armen wurde größer, Shikon´s Knie wurden weich. Hitze pumpte durch ihre Adern, die Welt schien sich schneller zu drehen.

„Komm´ …“, hauchte sie zwischen zwei Küssen und zog ihn in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen war.

Ein Grinsen breitete sich auf Ryuohtah´s Gesicht aus, als er entgegnete: „Oh … schon wieder eine Höhle.“

Ein Stich durchzuckte beide – einerseits erwärmte sie die Erinnerung an ihre Nacht im Wald, allerdings hatte sie ihn dort verlassen … Hastig schmiegte sich Shikon wieder an ihn und ihre Finger tasteten nach den Scharnieren, Schnallen sowie Schnürungen seiner ledernen Rüstung, die sie mit elbischer Geschicklichkeit löste. Ein leises Knurren entwich sich seiner Kehle – für gewöhnlich war das Lederrüstung das Lieblingsoutfit des Braunhaarigen; jetzt wünschte er sich nur eine einfache Hose und ein leichtes Oberteil zu tragen. Armschützer, Beinstulpen, Schulterpolster, Handschuhe, Stiefel fielen zuerst. Anschließend nahm er ihre Lippen begierig erneut in Beschlag und umfasste ihre Brüste. Ein zuckersüßes Stöhnen ihrerseits verstärkte den Druck um die Lendengegend in dem engen Leder. Länger hielt er es darin nun wirklich nicht aus, das Wams samt dem darunterliegenden Hemd folgten in hohem Bogen. Ryuohtah genoss es, wie Shikon ihn musterte … Ihre Wangen glühten förmlich, besonders als ihr Blick tiefer wanderte. Allerdings wollte er in denselben Genuss kommen … Seine Finger fuhren Zoll um Zoll ihre Seitenlinien nach, was sie erzittern ließ, bis der Elb schließlich die Knöpfe ihres Kleides erreichten. Er öffnete den ersten von ihnen, dann küsste er sie. So arbeitete sich Ryuohtah quälend langsam vorwärts – Knopf, Kuss, Knopf, Kuss. Unten angekommen schob er ihr den blauen Stoff von den Schultern, sodass dieser zu Boden fiel. Anders als beim letzten Mal nahm er sich nun Zeit, um sie zu betrachten. Den schmalen Körperbau der Elben gepaart mit dem ausgeprägten Busen, der selbst in dieser Gestalt von dem Menschenblut in ihren Adern sprach. Eine wilde Gier flammte in meiner Brust auf, über der der Schatten seines Zorns lag – er konnte nicht sagen, ob er seinem Bruder die Schändung an ihr jemals würde verzeihen können! Hart presste ich meine Lippen auf ihre, zwang sie hinab auf das Lager aus Decken und Moos. Innerlich schwor er sich, niemand außer ihm sollte sie jemals mehr so sehen … oder gar berühren. Shikon erwiderte seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die ihn aufstöhnen ließ.

Ihr Mund wanderte über seine Wange … zu seinem Hals … und drüben wieder hinauf, bis er über seinem Ohr verharrte: „Ich vertraue dir …“

In seinem Kopf legte sich ein Schalter; er war nicht der einzige, der das hier wollte. Seine Zähne krallten sich in den Stoff der Brustbinde und rissen sie entzwei. Sofort fiel Ryuohtah über ihre Brustwarzen her – eine bearbeitete er mit Daumen und Zeigefinger, an der zweiten machte sich sein Mund zu schaffen. Shikon´s Stimme ging keuchend, verlangte nach mehr. Seine Zunge fuhr auf die andere Seite ihrer Brust, während er die Hand über ihren Bauch gleiten ließ. Kurz sog die Peredhil scharf die Luft ein, als er sie zwischen ihren Schenkeln berührte und ihr in einem Ruck das Tuch von ihrer Hüfte herunterriss. Noch einmal legte er meine Finger an jene Stelle, diesmal ohne den störenden Stoff zwischen ihnen. Eine Gänsehaut breitete sich bei ihr aus. Und ihn verzückte die Vorstellung zutiefst, dass all ihre Reaktionen durch ihn hervorgerufen wurden …

„Bitte … lass´ es nicht aufhören …“, bettelte seine Liebste.

Ryuohtah führte seinen Zeigefinger in die schlüpfrige Enge ein, streichelte ihr Inneres. Ein lustvoller Schrei klang in seinen Ohren. Ermutigt drang er etwas tiefer und stieß plötzlich auf Widerstand – bei der Göttin, er musste sich auf die Zunge beißen. Währenddessen bemerkte Shikon sein Zögern; ihre Hand legte sich um seinen Nacken, zog ihn wieder zu sich herab. Ihr Becken hob sich ihm entgegen und sein Finger bewegte sich in ihr. Mit der anderen Hand zog er den Lendenschurz herab. Sein Atem ging noch eine Spur schneller, Schweiß sammelte sich unter dem Ansatz seiner Haare. Das Blut pulsierte beinahe schmerzhaft unterhalb seiner Körpermitte. Er suchte Shikon´s Blick … Sehnsucht und Verlangen lagen darin, trotzdem fürchtete sie sich davor … und schloss mit einem Nicken die Augen. Sie spürte, wie sich Ryuohtah erst in Position brachte, dann verschränkte er ihre Finger miteinander und stieß in sie. Die Rothaarige schrie mit einem ächtenden Laut auf. Der Schmerz spülte wie eine Welle über sie hinweg, die ebenso schnell abebbte – Ryuohtah´s Lippen ergriffen heiß von ihr Besitz. Sie lächelte, grinste sogar in den Kuss hinein. So stark und unerschrocken er im Kampf sein mochte, hier zeigte er Zärtlichkeit … Die Fülle, die ihr noch etwas ungewohnt vorkam, begann sich zu bewegen. Nachdem er sich fast vollständig aus ihr zurückzogen hatte, folgte ein weiterer Stoß folgte – doch es kam kein Schmerz mehr; stattdessen erwachte ein uralter Instinkt und ihr Körper begann einen ganz neuen Rhythmus, dem sich Ryuohtah nur zu gern anschloss. Der Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, Schweiß sammelte sich überall auf ihrer Haut, sie keuchte und stöhnte.

Vollkommen in seinen Empfindungen gefangen, flüsterte Ryuohtah immer wieder wie ein Mantra: „Shiko … Shiko … Shiko … Shiko …“

Die Muskeln unterhalb von Shikon´s Bauchnabels zuckten unkontrollierbar, als er sich stetig schneller in mir versenkte. Erneut sammelte sich ein Schrei in ihrer Kehle … und brach schließlich in seinem Namen heraus. Ryuohtah legte den Kopf auf ihre Brust, sein Geschlecht verschwand langsam aus ihr. Er rollte sich auf die Seite, Shikon fest in den Armen haltend. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie einfach nur seine Atmung beobachtete.

Irgendwann strich er ihr die angeklebten Haare aus dem Gesicht und sagte leise: „Shiko-chan … ich verstehe dich nicht. Erst verlässt du mich und jetzt … Es gibt keinen Feind, den ich fürchte – aber dass du mich hassen könntest … ja, davor hatte ich wirklich Angst.“

»Shiko-chan« … so nannte er sie nur selten. Als sie zum ersten Mal in sein Zimmer gewesen oder als er sie im Wald gefunden hatte. Nur wie sollte die Rothaarige ihm erklären, was über keinerlei Logik verfügte? Die Gründe, aus denen sie so gehandelt hatte … Die Tränen kamen ohne ihr Zutun. Sie stand auf, streifte das Kleid wieder über und schloss die Knöpfe mit Hilfe von Magie.

„Ich kann dich nicht hassen … niemals. Selbst, wenn ich es wollte.“, entgegnete die Halbelbe, nachdem sie das Schluchzen niedergerungen hatte, „Bevor ich zum Albenhaupt gekommen bin, wollte ich deinen Vater umbringen – doch dieses Reich kann mit Hass nicht gerettet werden … das Leid darf nicht noch mehr geschürt werden!“

Erst dachte sie, sie hätte Ryuohtah damit vollends verwirrt – zu ihrer Verblüffung fragte er allerdings: „Kennst du etwa den Grund für den Zerfall Avalon´s?“

Sie nickte, überrascht dass er tatsächlich die Wahrheit kannte, und erzählte ihm von den Prophezeiungen Gäa´s bezüglich Tetogo´s sowie Torarien´s Frage. Ein Teil von ihm erschrak, welchen Einfluss seine Familie auf diese Welt hatte. Ein anderer freute sich, dass Shikon ihren Vater gefunden hatte.

„Ich habe Torarien gehasst – vielleicht oder eher wahrscheinlich tue es sogar jetzt noch. Anderseits verstehe ich seinen Neid, seine Wut auf die Menschheit … Dein Großvater hat diese Gefühle wie ein Vermächtnis an ihn weitergegeben. Und es ist zu viel Wissen verloren gegangen.“, erklärte sie seufzend.

Der Schwertkämpfer hatte sich unterdessen ebenfalls angekleidet und meinte bitterlich: „Wir vergessen haben, dass Avalon unsere Heimat ist … das Land der Göttin Gäa.“

Mit einem Mal leuchtete ein heller Lichtstrahl in der Höhle auf, sodass beide die Augen zusammenkneifen mussten.

„Ihr habt mich gerufen, junger Prinz?“, sprach eine weibliche Stimme direkt in ihren Köpfen.

Erschrocken starrten sie die Gestalt an, die zwischen ihnen erschienen war. Das braune Haar, das ihr in sanften Wellen über den Rücken bis zum Boden fiel, wurde von einem Kranz aus bunten Blumen gekrönt. Die grünen Augen erinnerten mit den dunklen Einsprenkeln an einen tiefen Wald. An Hals, Hand- und Fußknöcheln trug sie zudem noch Bänder mit Türkisen. Ihr weißes Kleid war aus weichem Windleder gearbeitet. Bislang hatte Shikon nie versucht, sich die Göttin der Natur, die Mutter der Alben, das Orakel des Heiligen Berges vorzustellen … Und selbst wenn – es hätte nicht einmal annähernd herangereicht.

„Für gewöhnlich gehe ich jenen nicht entgegen, die auf der Suche nach mir sind …“, scherzte Gäa mit einem herzerwärmenden Lächeln, „Shikon, mein geliebtes Kind, ich bin so glücklich, dir zu begegnen – viele Jahre habe ich mich gesorgt, ob du den Weg zu mir finden würdest. Sage mir, konntest du mit der Prophezeiung über dich umgehen?“

Ryuohtah horchte überrascht auf – Shikon hatte ihm nicht gesagt, dass sie die auserwählte Peredhil wäre. Natürlich, es war naheliegend gewesen … gleichzeitig fragte er sich, warum sie darüber geschwiegen hatte.

„Dank meines Vaters … Ihr wisst sicher bereits, auf wen meine Wahl gefallen ist.“, antwortete Shikon und wandte sich besagtem Elben zu, „Ich erachte dich, Ryuohtah, Prinz von Avalon, zweiter Sohn des amtierenden Königs Torarien und der verstorbenen Königin Chunryu, als wahrhaftigen Regenten dieser Welt!“

Der Schock stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben, während er stammelte: „Du … Was? Ich … ich soll … Warum? Was ist mit Kamekle?“

„Weil ich in dein Herz geblickt habe – du bist mutig und stolz, gleichzeitig kennst du Leid und Verdruss … Ein wahrer Herrscher ist nicht nur ein Anführer, sondern ein Freund für sein Volk.“, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln, „Torarien hat Avalon vergiftet … Kamekle oder Hoorgo mögen ebenfalls einen guten Kern in sich tragen, das vermag ich nicht zu beurteilen. Du bist es, weil … ich die Wahl treffen musste und für mich gibt es nur dich.“

Die Göttin nickte, als würde sie die Entscheidung unterstützen, und meinte: „Avalon, die Welt, die ich erschaffen habe, und die Elben, ihr Kinder meiner Kinder, sind dabei zu sterben. Ich kann absolut nichts dagegen tun … nur zusehen … und hoffen! Einzig eine so tiefe Liebe, wie sie in dir lebt, kann meine Schöpfung noch retten und von dem Fluch des Hasses erlösen – der dichte Schleier grausamer Gedanken hat große Trauer verbreitet. Trotzdem bleibt es allein deine Entscheidung … du musst bestimmen, welchem Weg du folgen willst.“

Shikon erkannte Tränen in ihren Augen glitzern – ihnen machte der Zustand Avalon´s ja schon zu schaffen, wie musste sich da erst Gäa als Weltenschöpferin fühlen?

Nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte, erklärte Ryuohtah: „Ich kann Avalon nicht untergehen lassen … Es ist meine Pflicht als Krieger und Prinz.“

Shikon's Herz machte einen Satz – sie hatte sich nicht in ihm geirrt! Gäa lächelte dankbar und breitete die Arme aus, um ihn an sich zu drücken, ehe sie im selben gleißenden Licht verschwand.
 

Von Liebe und Zukunft

Diesmal schlichen sich Tetogo, Shikon und Ryuohtah nicht an – entschiedenen Schrittes marschierten sie auf das Haupttor von Burg Edhelharn zu. Die Wachen wirkten auf eine Art verdutzt und hoben die Speere, hielten die drei jedoch nicht auf. Innerlich kämpfte der Braunhaarige gegen seine Scham an – die Wächter hatten einfach nur ihre Befehle befolgt und dennoch waren seine Klingen beim letzten Mal durch ihr Fleisch geschnitten, dabei waren sie nicht sein Feind … geschweige denn die restlichen Bürgen; es gab auch in Avalon Leute, die ihm stets gewogen gewesen waren. Es gab nur einen, der seinen Zorn wahrhaft verdiente – sein Vater!

Ihr aller Blick richtete sich auf die zwei Elben, der vor dem Eingang Stellung bezogen hatten; einer hochgewachsen und so unbewegt wie eine Statue, der andere mit flammend rotem Haar stand gestützt auf seinen Zweihänder. Ein Zittern überkam die Peredhil. Ihr Körper hatte sich inzwischen von Hoorgo´s Behandlung erholt, ihre Seele nicht … Die Anwesenheit von Kamekle beunruhigte sie allerdings nicht minder – für einen kurzen Moment spürte die Rothaarige erneut den kühlen Stahl seines Rapiers an der Kehle.

„Willst du mich auch noch zum Zweikampf bitten?“, wollte Ryuohtah mit leicht herausforderndem Unterton in der Stimme von ihm wissen.

Der Ältere trat näher, der ernste Gesichtsausdruck verzog sich zu einem halben Lächeln und er antwortete: „Nein. Du kennst mich – ich gehe den Weg des Schwertes nur äußerst ungern. Ich habe es nur Vater zuliebe getan … Das haben wir alle drei, oder? Versucht Vaters Liebe zu gewinnen.“

„Stimmt. Aber zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich, wie ich ihm gegenüber treten muss.“, bestätigte der Dolchnutzer.

Die Brüder schienen ihr Gespräch auf mentaler Ebene fortzuführen. Kamekle hatte sein Vorhaben sofort durchschaut und machte keinerlei Anstalten, ihn daran zu hindern. Selbst er konnte die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen.

Nur Hoorgo wirkte nicht vollkommen überzeugt und fragte: „Wirst du mich anschließend ebenfalls töten?“

Ryuohtah schwieg zunächst, bevor er entgegnete: „Es gab eine Zeit, da wollte ich es. Vor allem nachdem, was du Shiko angetan hast … Heute ist das anders; das heißt allerdings nicht, dass ich dir vergebe – geschweige denn Torarien.“

Er fasste den Unterarm des Jüngeren zum Kriegergruß und umarmte seinen älteren Bruder zum Abschied.

Dabei flüsterte Ryuohtah ihm so leise ins Ohr, dass nur er es verstand: „Wenn es … schlecht für mich ausgeht, bring´ Shiko und Tetogo von hier weg.“

Ein unmerkliches Nicken war die Antwort. Anschließend wandte sich der Braunhaarige erneut seiner Liebsten zu. Ob er sich auch ohne sie eines Tages gegen seinen Vater aufgelehnt hätte? Es scherte ihn nicht, wie die Begegnung mit Torarien ausgehen würde – diese Gefühle, die sie in ihm geweckt hatte, wären es wert gewesen. Flüchtig küsste Ryuohtah sie, ehe er sich mit gezogenen Langdolchen auf den Weg machte, der über die Zukunft von Avalon entscheiden würde …

Das Schloss wirkte wie ausgestorben – kein Diener oder gar patrouillierende Soldaten kreuzten seinen Pfad. Wie viele unzählige Male war er durch den großen Saal geschritten, um seine Befehle entgegen zu nehmen oder von ihm gedemütigt zu werden? Jede einzelne der Abbildungen an den neun Säulen zu beiden Seiten hatten sie als Kinder auswendig lernen müssen – Helden ihres Volkes, ehemalige Könige, wunderschöne Orte des einstigen Avalons. Sogar das einzige Porträt ihrer Familie hing hier, wobei Chunryu noch mit Hoorgo schwanger gewesen war … Und auf dem Podest am anderen Ende des Saals stand der Thron des Elbenkönigs. Sein Vater saß dort in vollkommener Regungslosigkeit in einem dunkelblauen Gewand, ein Reif aus Sternensilber auf dem Haupt – die Herrscherinsignie Avalon´s.

„Seit dem verfluchten Tag deiner Geburt wusste ich, dieser Augenblick würde irgendwann kommen.“, sprach Torarien mit überdeutlicher Abscheu.

In einer fließenden Bewegung erhob er sich, schlug seinen Mantel zurück und entblößte damit seine Waffen – das schwarze Breitschwert Moredhel und den weißen Wappenschild Caledhel, welche die Dunkel- sowie Lichtalben repräsentierten, ihre Ahnen. Sofort hob Ryuohtah ebenfalls seine beiden Waffen zur Verteidigung – und wehrte damit den ersten Schwertstreich ab. Selbst seinen Schild verwendete er wie eine Art Rammbock. Nun machte sich das jahrzehntelange Training mit Hoorgo und dessen riesiger Klinge bezahlt. Er hielt eisern seine Position, verlagerte beständig den Druck der Klingen – durch eine plötzliche Drehung zur Seite verlor Torarien kurzzeitig den Halt, fing sich aber in Sekundenschnelle wieder. Von da an schlug Metall in einem stetigen Rhythmus gegeneinander.

In einem kämpferischen Aufschrei schlug Ryuohtah mit gekreuzten Klingen zu und als würde es in Zeitlupe ablaufen, sah er die abgebrochene Spitze von Moredhel zu Boden fallen. Geschlagen sank sein Vater in die Knie – so grausam er auch sein konnte; er erkannte, wann er verloren hatte.

„Sag´ mir, wie hast du das geschafft? Du bist doch nur … Du bist …“, murmelte der König verwirrt vor sich hin.

Der Prinz steckte seine Schneiden zurück in die Holster an den Hüften und erklärte: „Du weißt nicht, wer ich bin – vielleicht weißt du nicht einmal, was ich bin. In mir fließt zwar dein Blut … doch das bedeutet nicht, dass du mich auch nur ansatzweise kennst. Ich habe mich selbst nicht gekannt … bis ich Shiko getroffen habe – erst durch sie konnte ich den wahren Ryuohtah in mir erkennen! Denn sie hat mein Herz gewandelt …“

Ein freudloses Lachen kam von Torarien und seine Augen suchten auf dem Gemälde seine verstorbene Mutter.

„Kein Wunder, dass Chunryu dich so sehr geliebt hat … Sie glaubte fest daran, du mögest mich eines Tages übertreffen.“, philosophierte er mit melancholischem Gesichtsausdruck, „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, möchte ich dich im Mondlicht wiedersehen, meine Geliebte …“

Ein weißes Licht drang aus Torarien´s Körper, löste seine Gestalt auf und mit einem hellen Klirren fiel die silberne Krone zu Boden. Die Augen seines Sohnes weiteten sich vor Überraschung. Dies war also sein Schicksal gewesen – sich in all dem Hass wieder auf die Gefühle für die eine Person zu besinnen, die er wohl wahrhaftig geliebt hatte … Die Verbitterung über ihren Tod hatte Torarien so hart werden lassen. Nun da er selbst die Liebe erfahren hatte, konnte er seinem Vater zumindest stückweise zum ersten Mal nachempfinden … Eine einzelne Träne rann aus Ryuohtah´s linkem Auge, das für Torarien so verabscheuungswürdig gewesen war. So verharrte er, bis irgendwann Kamekle und Hoorgo in den Thronsaal gestürmt kamen und ihn aus seiner Starre rissen.

„Er ist in das Mondlicht gegangen … zu unserer Mutter.“, antwortete Ryuohtah noch immer etwas benommen, während ihm allmählich auffiel, dass jemand fehlte, „Aber das erkläre ich euch alles in Ruhe … Sagt, wo ist Shiko?“

Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Ältesten und auch der Jüngste brauchte eine Weile, ehe er endlich mit der Sprache herausrückte: „Sie ist verschwunden, mit ihrem Vater. Wir waren so auf eure Auren konzentriert gewesen, da … Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind. Es … tut mir leid.“

Genauso gut hätte er seinem Bruder mit der Faust ins Gesicht schlagen können.
 

Unterdessen war Shikon in Begleitung ihres Vaters bereits auf die Erde zurückgekehrt. Tetogo hatte sich über ihr Vorhaben gewundert, jedoch nicht widersprochen. Während Kamekle und Hoorgo zu dem großen Fenster hinaufgestarrt hatten, das zum Thronsaal gehörte, waren sie unbemerkt davon geschlüpft, erneut durch das Portal getreten und schafften es gerade noch rechtzeitig zur Abfahrt in ihre Heimatstadt – ein Zauber Tetogo´s hatte dafür gesorgt, dass weder er noch Shikon vermisst wurden. Und einen weiteren Zauber webten sie gemeinsam, um eine Ausrede für Ohtah Taiyo´s Verschwinden in die Köpfe der anderen zu pflanzen.

Seiketsu redete die ganze Fahrt darüber, wie schön die Klassenfahrt gewesen wäre, bis sie schließlich sagte: „Aber dass Taiyo-kun mittendrin von seinen Eltern abgeholt und auf eine andere Schule geschickt wird, verstehe ich nicht. Er war doch noch gar nicht so lange bei uns … Das ist wirklich schade. Findest du nicht, Shiko-chan? Ich meine, gerade als ihr … nun ja, angefangen habt, eine Verbindung zueinander aufzubauen, etwas für einander zu empfinden.“

Ihr Gesicht war zum Fenster hinaus gerichtet, sodass ihre Freundin nicht sehen konnte, wie ihr Tränen stumm über die Wangen rannen. Ihre Mission war erfüllt – Ryuohtah saß nun auf dem Thron von Avalon … da konnte er keine Halbelbe an seiner Seite gebrauchen, wodurch möglicherweise seine Position geschwächt werden würde. Sie fragte sich, ob er seinen Vater getötet oder Torarien sich ergeben hatte …

Ein paar Stunden später, die sie unablässig mit Grübelei verbracht hatte, kam der Bus ruckelnd zum Stehen. Sicherheitshalber wischte sich Shiko mit dem Arm über das Gesicht, aber die salzige Flüssigkeit war längst getrocknet. Beim Aussteigen tauschten sie und Togo einen raschen Blick – er ahnte, dass hinter ihrer Flucht kein Heimweh steckte … Draußen verabschiedeten sich die Schüler voneinander, die Rothaarige wartete etwas abseits auf ihren Vater.

Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie sich ihr von hinten jemand näherte und so ließ sie seine Stimme überrascht herumwirbeln: „Ich sagte doch, ich würde dich immer finden …“

Shiko hatte kaum Zeit zu reagieren, da lagen seine Lippen bereits auf ihren und er zog sie näher an sich heran. In ihrer Brust erwachte eine heimelige Wärme, welche die Trübsal vollkommen auslöschte.

„Ohtah, was … was machst du hier, warum bist du nicht in Avalon?“, fragte sie fassungslos, „Du bist der König, verdammt nochmal! Was ist mit deiner Verantwortung?“

Ein mildes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während Ohtah antwortete: „Ohne dich kann ich nicht der König sein, den Avalon braucht! All meine Liebe gehört allein dir …“

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie schluchzte: „A-aber ich … ich habe …“

„Gräme dich nicht, Shiko-chan – es ist nicht wichtig. Ich kann dich nicht verlassen, dich nicht gehen lassen … niemals. Verstehst du? Was du auch tust, nichts wird mich dauerhaft von dir fernhalten – weder eine geborstene Seele noch ein gebrochenes Herz. Ich liebe dich!“, erklärte der Braunhaarige bestimmt.

Shiko weinte und lachte gleichzeitig. Ihr Handeln war einfach nur dumm gewesen … Wie hatte sie auch nur eine Sekunde an ihrer gemeinsamen Liebe zweifeln können?

„Ich habe einen Krieger aus Avalon namens Ryuohtah kennengelernt … sowie den Jungen Ohtah Taiyo – und in beide habe ich mich verliebt! Von ersten Moment an habe ich mein Herz an dich verloren …“, gestand sie ihm und diesmal ging der Kuss von ihr aus.

Er konnte sein Glück kaum glauben – allerdings wollte er noch einen draufsetzen. Kaum hörbar schwebte ein Wort der Macht um sie herum; Zauberglanz, der sie vor den Blicken der Menschen schützte. Ohtah nahm die Gestalt seines elbischen Selbst an. Obwohl ihr die Verwunderung ins Gesicht geschrieben stand, folgte die Rothaarige seinem Beispiel. Während er ihre Hände in seine nahm, kniete er nieder und sprach: „Bleib´ bei mir … für immer – werde meine Frau … meine Königin!“

Shikon sank ebenfalls auf die Knie und nickte. Ryuohtah atmete auf. In einer einzigen Bewegung sprang er zurück auf die Füße, hob seine Liebste hoch und wirbelte sie lachend durch die Luft. Die Peredhil stimmte in seine Freudenbekundung ein.
 

Shikon hätte nicht sagen können, wer aufgeregter sein mochte – sie selbst oder Seiketsu. Es hatte einiger Gespräche mit dem neu gegründeten Beraterstab benötigt; natürlich waren Kamekle, Hoorgo und Tetogo die ersten, berufenen Mitglieder gewesen. Doch weder Shikon, welche den Wunsch hierfür geäußert hatte, noch Ryuohtah, der ihre Vorstellung ebenfalls teilte, ließen sich umstimmen. Zu lange war ihre einstige Verbindung negativ ausgelegt worden, zu sehr war das künftige Königspaar mit der Erde und den Menschen verbunden … Beide wussten natürlich, dass ihre Welten nicht von heute auf morgen würden zusammen leben können – doch irgendwie, irgendwo mussten sie beginnen. Und so waren Seiketsu, der Shiko die Wahrheit etwas schonender beigebracht hatte, und Mhenlo nach Avalon eingeladen worden. Noch vollkommen überwältigt wurden sie direkt in die Vorbereitungen für die große Festlichkeit einbezogen – die Hochzeit von Ryuohtah und Shikon, bei der beide gleichzeitig offiziell gekrönt werden sollten!

„Ich kann es immer noch nicht recht glauben … und damit meine ich nicht nur diese Welt – ihr heiratet!“, sagte Seiketsu zum wiederholten Male, was die Nervosität ihrer besten Freundin nur weiter anstachelte.

Der Schneider nahm gerade Maß und Shikon durfte sich nicht rühren, während er unablässig auf sie einredete: „Ihr werdet bezaubernd aussehen! Ich werde höchstpersönlich einige Edelsteine aussuchen, um dem Kleid den letzten Schliff zu gehen – Ihr mögt die Farbe Rot, nicht wahr? Ach, der Prinz wird begeistert sein!“

„Ich brauche auch ein Teil in blau.“, meinte die Rothaarige so unvermittelt, dass der Elb sich leicht in den Finger stach, „Also … auf der Erde trägt eine Braut traditionell etwas Altes, etwas Blaues, etwas Geliehenes und etwas Neues. Oh- … Ryuohtah sagte, die Krone wäre bereits von der ersten Königin getragen worden.“

Seiketsu merkte sofort, wie merkwürdig sie sich dabei vorkam, sich selbst als Königin zu betrachten. Die Freundinnen hatten sich lange darüber unterhalten – Shiko war zwar stets aufgefallen, doch nie mit Absicht; eher wollte sie in Ruhe vor sich hin träumen. Ohtah oder besser Ryuohtah hatte alles verändert; nun machte sich Shikon darüber Sorgen, ob sie den Vorstellungen des Volkes entsprach und der Aufgabe gewachsen wäre.

„Und als deine beste Freundin ist es an mir, dir etwas zu borgen.“, erklärte Seiketsu entschieden und Überraschung trat auf Shikon´s Gesicht, als sie ihr ein goldenes Armband überreichte, „Geborgt wie das Leben … Alt wie die Welt … Blau wie die Treu … Wie der Tag so neu … Eine Braut, die bei ihrer Hochzeit die zauberhaften Vier trägt, wird für alle Zeit glücklich sein – das wünsche ich dir von ganzem Herzen, Shiko-chan!“

Tränen benetzten die Wangen der Rothaarigen, als sie – die Proteste des Schneiders ignorierend – ihr um den Hals fiel.
 

Im Thronsaal waren eine Vielzahl von Bankreihen aufgestellt worden, wobei der Mittelgang mit dem samt roten direkt zum erhöhten Podest führte. Weiße Rosen, Tücher sowie Kerzen schmückten den Raum. Die Wachen trugen ihre besten Uniformen, die Gäste waren aus allen Himmelsrichtungen der neu ergrünten Welt angereist. Als sanfte Harfenklänge den Raum erfüllten, verstummten sämtliche Gespräche und alle Augen richteten sich zur großen Flügeltür. Zwei Gardisten hatten sie geöffnet, um Ryuohtah Einlass zu gewähren, der in ein mitternachtsblaues Seidengewand gehüllt und in Begleitung seiner Brüder war. Seitlich vor den Stufen blieb er stehen, Hoorgo an seiner Seite, während Kamekle den ersten Absatz erklomm.

„Man könnte meinen, du kippst gleich um.“, witzelte der Jüngste so leise, dass nur der Braunhaarige ihn hören konnte.

Das stimmte sogar – Ryuohtah hatte wirklich das Gefühl, beinahe den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Atem stockte ihm, da sich die Tür ein weiteres Mal öffnete … Zuerst kam Seiketsu, die weiße Blütenblätter über den Weg streute. Ihr folgte Mhenlo, der zwei Ringe aus Mondsilber auf einem Kissen hereintrug. Und hinter ihnen trat Tetogo ein, der ihm Shikon entgegenführte. Ihr weißes Kleid schien in Flammen zu stehen – eine dünne Schicht roten Stoffs, der sich nach oben hin verjüngte, zahlreiche Rubine und der Wasserfall-Blumenstrauß, aus roten Rosen, die sich auch in ihrem hochgesteckten Haar wiederfanden. Auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln, während Seiketsu und Mhenlo Hoorgo gegenüber Stellung bezog. Für einen Moment nahm Ryuohtah nur noch Shikon wahr, der es ganz ähnlich erging, ehe Tetogo nach seinem Arm griff und ihre Hand in seine bettete.

Da begann Kamekle mit klarer Stimme zu sprechen: „Seien wir heute Zeuge dieser Verbindung zweier Seele, die sich für die Liebe entschieden haben … Darf ich um die Zeichen ihres Schwurs bitten?“

Mhenlo kniete vor dem Paar nieder, hielt ihnen die Kleinods hin.

Ryuohtah nickte ihm dankbar zu, dann nahm das kleinere Stück und sprach: „Am heutigen Tag verspreche ich dir meine ewige Liebe … Mein Herz gehört allein dir – selbst durch Wiedergeburt oder Mondlicht!“

Damit streifte er ihn ihr über den rechten Mittelfinger.

Nun war es an Shikon das Wort zu ergreifen: „Du bist derjenige, zu dem ich gehöre, der mich vollständig werden lässt … Niemals wieder werde ich dich verlassen, denn du bist meine einzig wahre Liebe!“

Shikon zitterte, als sie ihm den Ring ansteckte. Noch bevor Kamekle etwas sagen konnte, küssten sie sich bereits unter tosendem Applaus. Glücklich sahen Ryuohtah und Shikon sich an. So lange hatten sie nicht mehr recht an einen derartigen Ausgang glauben können …

Kamekle räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder einzufangen: „Seid ihr bereit, ein weiteres Versprechen abzulegen? So nehmt jene Plätze ein, der euch zustehen …“

Hand in Hand stiegen beide die wenigen Stufen des Podestes empor und setzten sich auf die Throne.

„Im Namen unserer Göttin, Weltenschöpferin und Mutter frage ich dich, Ryuohtah, Sohn des Torarien und der Chunryu … und ich frage dich, Shikon, Tochter des Tetogo und der Kaira … wollt ihr feierlich geloben das Reich ohne Willkür gerecht zu regieren?“, wollte er von ihnen wissen.

Entschlossen antworteten sie wie aus einem Mund: „Wir schwören es!“

Diesmal trat Hoorgo zu ihnen heran, zwei fein gearbeitete Stirnreifen auf einem bestickten Kissen präsentierend.

„Durch Gäa´s Gnaden, Wahl, Verordnung und Sieg ernenne ich euch hiermit zu König und Königin von Avalon!“, sprach Kamekle, wobei er sie mit den Insignien ihrer Regentschaft schmückte.
 

Was ist ein Wunder? Diese Frage hätte sich Shiko früher niemals gestellt … Doch ein einziger Pfeil hatte ihr Leben für immer verändert; erst hatte Ryuohtah und kurz darauf auch Ohtah ihr Herz gestohlen – der mysteriöse Kämpfer mit den zwei Langdolchen und ihr frech-fröhlicher Mitschüler. Für diese beiden wollte sie entweder ganz Shikon oder Shiko sein … Aber anstatt sich entscheiden zu müssen, war ein Wunder geschehen!

Ein Wunder kann vieles und für jeden etwas anderes sein … Nichtsdestotrotz ist es etwas außergewöhnliches – vielleicht auch etwas, mit dem man schon gar nicht mehr gerechnet oder noch nie in Betracht gezogen hat. Die Liebe zwischen einem Elb und einem Menschen … das Kind, das aus einer solchen Verbindung entsteht … wenn in einem Elb ein menschliches Herz erwacht … wenn Liebe alle Hindernisse überwindet, eine Welt neu entstehen lässt … wenn neues Leben entsteht – wie jene beiden, die Shikon unter ihrem Herzen trägt!

Ach und ganz sicher galt es sogar als Wunder, dass Kamekle aus eigener Motivation zur Erde reiste, um dort die Menschen zu studieren, und auf diese Weise Seiketsu ebenfalls näher kam …



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück