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Nicht weinen sollst du, Hanako

Geschichten über Konoha
von

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Team 15, Teil vier – Es ist eine verrückte Welt.

„Guten Morgen!“

Shintaro sieht auf, als Nene auf den Tisch in der Kantine zukommt, übers ganze Gesicht strahlend, bunte Armbänder an den Handgelenken, genau wie gestern.

„Guten Morgen.“

„Morgen“, murmelt Mamoru, der über seinem Teller sitzt.

„Oh, ihr seid noch beim Frühstück?“, fragt Nene und lässt sich auf den Stuhl neben Mamoru fallen. „Sieht lecker aus!“

„Iss auf, Mamoru“, sagt Shintaro, der schon fast fertig ist. „Immer lässt du so viel liegen.“

„Genau die Hälfte!“, stellt Nene fest und späht auf Mamorus Teller. „Du hast sogar dieses Klößchen-Dings genau in der Mitte durchgeschnitten! Ist das irgendwie ein Tick von dir?“

Sie lacht, und Mamoru errötet.

„Ich habe dir gestern schon gesagt, nimm dir nicht so viel, wenn du es doch nicht schaffst“, sagt Shintaro ungeduldig. „Nie kannst du deinen Teller leer essen.“

„Ist doch nicht schlimm, Mo“, sagt Nene gutmütig und legt ihm den Arm um die Schultern. „Ich war auch nie eine große Esserin.“

„Im Gegensatz zu Mamoru siehst du aber nicht aus, als würdest du beim nächsten Windstoß fortgeweht, Nene.“

Mamoru pickt zwei letzte Reiskörner auf und legt die Stäbchen beiseite. „Mag nicht mehr.“

„Du machst mich wahnsinnig.“ Shintaro verdreht die Augen. „Was soll ich Ibiki sagen, wenn er fragt, ob du anständig gegessen hast?“

„Ibiki-san hat gesagt, ich soll so viel essen, wie ich will.“

„Allerdings, und er meinte damit, dass du dich nicht scheuen sollst, viel zu essen!“

„Hat er aber nicht so gesagt.“

„Kann ich den Rest haben?“, wirft Nene ein.

Mamoru und Shintaro starren sie an.

„Ich meine, nur, wenn du es wirklich nicht willst. Ich hab noch nicht gefrühstückt.“

„Also schön“, knurrt Shintaro. „Das ist immer noch besser, als wenn wir es wegwerfen. Gib es ihr, Mamoru.“

Mamoru schüttelt heftig den Kopf und greift nach dem Teller. „Das geht nicht, das ist für Papa! Für den muss ich doch die Hälfte übrig lassen. Weil, wenn ich aufesse, hat Papa wieder Hunger. Und ich will nicht, dass Papa Hunger hat.“

Shintaro starrt ihn an.

„Aber dein Papa ist tot, Mo“, stellt Nene das Offensichtliche fest.

Unsicher beißt Mamoru auf seiner Lippe herum. Shintaro will irgendetwas sagen, aber er weiß nicht, was.

„Also, mal eine ganz andere Frage“, fährt Nene fort. „Bist du satt, Mo?“

„Weiß nicht. Ich hab vergessen, wie sich das anfühlt, wenn man satt ist.“

„Wie sich das anfühlt?“ Nene blinzelt. „Also ... man fühlt sich, als ob man komplett ist. Wenn du Hunger hast, fehlt irgendwas in deinem Bauch. Und wenn du satt bist, dann nicht.“

Verständnislos sieht Mamoru sie an.

„Jedenfalls wird dein Papa sich riesig freuen, dass du etwas für ihn übrig lässt“, fährt Nene fort. „Ich würde das jedenfalls, wenn ich er wäre. Aber wie Shintaro-san gesagt hat, zum Wegwerfen ist das gute Essen doch zu schade. Also – isst du es, oder kann ich es haben?“

Mamoru überlegt, dann schiebt er den Teller zu Nene hinüber. „Aber nur, weil du es bist“, sagt er ernst. „Und weil Ibiki-san gesagt hat, dass ich dir vertrauen kann, und ich dich mag.“

„Das ehrt mich!“ Nene zieht den Teller zu sich heran und macht sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit über den Reis und den halben Kloß her. Shintaro beobachtet Mamoru.

„Warum erzählst du mir so etwas eigentlich nicht?“

„Was?“

„Mit ... deinem Vater.“

„Sie haben nicht gefragt“, sagt Mamoru.

Shintaro schüttelt den Kopf. „In Zukunft werde ich dafür sorgen, dass du doppelt so viel auf dem Teller hast, wie du eigentlich brauchen würdest.“

„Das ist die einfachste Lösung, Shintaro-san!“, stimmt Nene mit vollem Mund zu.

Er zögert kurz, dann gibt er sich einen Ruck. „Und wo wir gerade von einfachen Lösungen sprechen ...“

„Ja?“

„Ich habe beschlossen, mir ein künstliches Bein anzuschaffen.“

„Wirklich?“, fragt Nene begeistert.

„Ja. Ich bin heute morgen kurz beim Krankenhaus vorbeigegangen, und sie haben mir gesagt, es wäre möglich. Ich soll übermorgen noch einmal wiederkommen, für eine nähere Untersuchung.“

„Das finde ich gut!“ Über den Tisch hinweg zeigt Nene ihm den hochgereckten Daumen.

„Wie wird denn das aussehen?“, fragt Mamoru eifrig. „Kriegen Sie so ein Holzbein, wie ein Pirat?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Schade. Das hätte ich lustig gefunden.“

„Wir könnten Ihnen noch eine Hakenhand und eine Augenklappe besorgen“, fügt Nene hinzu. „Sie würden einen hervorragenden Piraten abgeben, Shintaro-san!“

Er lacht auf. „Das bezweifle ich.“

„Und einen Papagei auf der Schulter“, verlangt Mamoru.

„Ganz genau! Einen bunten, der sprechen kann!“

„Jetzt hört auf, so einen Unsinn zu erzählen. Es wird ein ganz langweiliges Ersatzbein.“

„Schade“, sagt Mamoru noch einmal, und sie müssen alle drei lachen.
 

„Was machen wir heute?“, fragt Nene, nachdem sie die Kantine verlassen haben.

„Ich habe ein wenig Papierkram zu erledigen“, antwortet Shintaro. „Das, was meine einzige Aufgabe war, bevor Mamoru gekommen ist.“

„Können wir wieder Mikiko von der Akademie abholen?“, fragt Mamoru eifrig.

„Nein, leider nicht. Sie ist heute krank.“

Mamorus Augen werden groß. „Krank? Warum?“

„Sie hat Bauchschmerzen und Übelkeit und so. Im Moment ist Mama bei ihr, aber sie muss ab halb elf im Laden arbeiten. Also werde ich bei Mikiko bleiben, ihr ein bisschen die Zeit vertreiben und so. Willst du mitkommen, Mamoru?“

„Ja!“, sagt Mamoru sofort.

„Gut! Das wird sie freuen.“

„Ihr solltet aber erst Ibiki fragen, ob das in Ordnung ist“, sagt Shintaro.

„Machen wir! Wo ist er?“

„Mamoru weiß es.“

Mamoru nickt eifrig und rennt los. „Ich hole meine Jacke!“

„Mach das!“
 

*
 

„Ibiki-san!“, ruft Nene. „Wir gehen zu mir nach Hause, Mamoru und ich.“

„Ach ja?“, sagt Ibiki und sieht Mamoru an. „Und was macht ihr dort Aufregendes?“

„Wir besuchen Mikiko. Sie ist krank.“

„Tatsächlich? Was hat sie denn?“

„Och, nur so ein bisschen Magen-Darm.“ Nene winkt ab. „Das geht gerade um.“

„Also ist es ansteckend.“

„Ja, ich glaube schon.“

„Ich will trotzdem zu Mikiko“, erklärt Mamoru. „Die ist jetzt nämlich meine Freundin. Hat sie gestern gesagt. Und ich bin ihr Freund.“

Ibikis Gesicht verdüstert sich. „Du wirst nicht gehen, Mamoru. Du bleibst hier.“

Mamorus Augen werden groß. „Warum?“

„Du bist körperlich geschwächt, dein Immunsystem ist praktisch nicht vorhanden. Wenn du dich bei dem Mädchen ansteckst, und das wirst du, könnte das dein Tod sein.“

„Aber ... wenn ich ganz vorsichtig bin? Wenn ich ...“

„Das hat mit vorsichtig nichts zu tun, in deiner Verfassung wirst du dich trotzdem anstecken. Willst du das?“

„Nein, aber ...“

„Nein, das willst du nicht. Also bleibst du hier.“

„Aber ...“

„Kein Aber!“, herrscht Ibiki ihn an. „Wie lautet die zweite Regel?“

Mamoru starrt auf seine Füße. „Zweite Regel. Du tust genau, was ...“

„Laut und deutlich, und sieh mich verdammt nochmal an, wenn du mit mir sprichst.“

Zweite Regel. Du tust genau, was ich sage.

„Möchtest du die Regel brechen, Mamoru?“

„Nein, Ibiki-san!“, sagt Mamoru, laut und deutlich.

„Na also. Und genau deswegen wirst du hier bleiben.“ Ibiki nickt Nene zu. „Wenn du zu deiner Schwester willst, geh ruhig. Shintaro kann sich um Mamoru kümmern.“

Damit dreht er sich um und geht den Gang hinunter.

„Meine Güte“, sagt Nene und lacht. „Das war aber mal eine Ansage! Vielleicht hat er schlecht geschlafen.“

„Er will immer, dass man tut, was er sagt“, murmelt Mamoru. „Sonst wird er böse. Aber ... es ist ja auch gut, was er sagt. Ibiki-san ist nämlich schlau.“

„Na, wenn du meinst. Und was machen wir jetzt?“

„Ich bleibe hier.“

„Wirklich?“

Mamoru sieht Nene an. „Sag Mikiko bitte, dass ich gerne gekommen wäre, aber es nicht geht. Okay?“

„Okay“, sagt Nene.
 

*
 

„Ich finde, Ibiki hat genau richtig entschieden“, sagt Shintaro ernst, ohne von dem Buch aufzusehen, in das er lange Reihen von Shinobi-Identifikationsnummern einträgt „Wir müssen dich erst einmal ein bisschen aufpäppeln, Mamoru. So lange solltest du dich von allem fernhalten, was dich krank machen könnte.“

„Aber Mikiko ...“, beginnt Mamoru und verstummt.

„Sie wird bald wieder gesund. Und Nene wird ihr ausrichten, dass du auch an sie denkst. Das wird sie sicher freuen.“

„So sehr, wie wenn ich da wäre?“

„So sehr vielleicht nicht“, gibt Shintaro zu. „Aber auch so wird sie schnell wieder gesund. Dieses Mädchen ist ein Ausbund an Lebendigkeit.“

„Anders als ich, meinen Sie?“, fragt Mamoru und setzt sich unter den Schreibtisch.

„Du bist auch am Leben, Mamoru. Ibiki will, dass das so bleibt. Er macht sich Sorgen um dich.“

Mamoru unter dem Tisch schweigt. Eine Weile lang hört man nur das leise Schaben von Shintaros Stift auf dem Papier.

„Mikiko hat gesagt, sie ist meine Freundin“, murmelt Mamoru. „Ich will nicht, dass sie allein ist.“

„Sie ist nicht allein. Nene ist doch da.“

„Aber ... ich bin nicht da. Und ich meine, nicht, dass ich so wichtig wäre. Mikiko hat ja ganz viele Freunde. Ich habe nur sie, also, in meinem Alter. Aber, ich meine ... sie will mir ja nichts Böses. Und trotzdem glaubt Ibiki-san, mich vor ihr ... beschützen zu müssen. So ist es doch, oder?“

Nachdenklich hält Shintaro inne.

„Ich meine, bestimmt ist es richtig, was Ibiki-san tut. Er tut überhaupt immer das Richtige, weil er schlau ist und einer von den Guten. Aber ... es ist ungerecht. Es ist so, als ob ich Angst vor Mikiko haben würde, obwohl sie mir gar nichts tun will.“

„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Mamoru“, sagt Shintaro langsam.

„Was für eine Geschichte denn?“

„Sie ist mir gerade eben eingefallen.“

„Ich mag Geschichten.“ Mamoru setzt sich unter dem Tisch zurecht. „Erzählen Sie.“

„Es war einmal ein kleiner Junge, der wohnte in Konoha. Er hatte keinen Vater und keine Mutter mehr, weil sie beide gestorben waren. Jetzt hätte man meinen können, dass die Menschen deswegen Mitleid mit ihm hatten und sich gut um ihn kümmerten, aber das taten sie nicht. Sie hatten nämlich alle Angst vor ihm. Deswegen gingen sie ihm aus dem Weg und verboten auch ihren Kindern, mit ihm zu spielen. Und das machte den Jungen furchtbar traurig, weil er ja niemandem etwas Böses tun wollte.“

„Das ist eine traurige Geschichte“, sagt Mamoru.

„Ja, das ist sie“, stimmt Shintaro zu. „Kannst du dir denken, wieso die Menschen eine solche Angst vor dem kleinen Jungen hatten?“

„Weil er eine ansteckende Krankheit hatte?“

„Nein, das war es nicht.“

Verwirrt lugt Mamoru unter dem Tisch hervor. „Dann vielleicht, weil er ... sehr hässlich war? Sah er aus wie ein Monster?“

„Nein, überhaupt nicht. Er war ein ganz normaler, fröhlicher, kleiner Junge. Am liebsten hätte er den ganzen Tag in der Sonne gespielt und getobt und Eis gegessen ... oder was kleine Jungen eben so wollen.“

„Dann verstehe ich nicht, warum alle Angst vor ihm hatten“, sagt Mamoru fest. „Das ist ein bisschen wie mit Mikiko. Die würde ja auch viel lieber gesund sein und spielen, aber das kann sie nicht, weil sie krank ist. Und als wäre das nicht genug, muss ich auch noch Angst vor ihr haben. Also, sozusagen. Das ist ungerecht.“

„Findest du?“, fragt Shintaro.

„Natürlich! Und das mit dem Jungen ist auch ungerecht! Warum hatten alle Angst vor ihm, Shintaro-san?“

Mamorus Augen blitzen vor Empörung, und Shintaro muss beinahe lächeln, als er es sieht.

„Weil in diesem Jungen der Dämon versiegelt war, der Jahre zuvor das Dorf zerstört hatte.“

Mamoru starrt ihn mit offenem Mund an, die Fäuste noch geballt. Shintaro erwidert seinen Blick, ohne zu blinzeln.

„Aber ... das ist ...“ Mamoru schüttelt den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Du verstehst es nicht, weil du die Geschichte nie aus diesem Blickwinkel betrachtet hast“, sagt Shintaro ruhig. „Wenn du ein bisschen darüber nachdenkst, wirst du es verstehen.“

„Aber der Junge mit dem Dämon ist böse! Er muss doch böse sein, wenn er einen Dämon in sich hat!“

„Wenn jemand anderes kommt und dich schlägt, wirst du dann auch zum Schläger?“

„Nein. Also ... nicht unbedingt.“

„Also wirst du auch nicht böse, wenn jemand etwas Böses in dir versiegelt.“

Erneut schüttelt Mamoru den Kopf. Er verkriecht sich unter dem Tisch, und ein paar Minuten lang hört Shintaro nichts von ihm. Er wendet sich wieder seinen Zahlen zu.

„Shintaro-san?“, fragt Mamoru zaghaft.

„Ja?“

„War der Junge denn kein bisschen hässlich?“

„Wieso denn das?“

„Ich hatte mir den Dämonen-Jungen immer so vorgestellt ... mit ganz langen Zähnen und Sabber, und verfilzten Haaren, und vielleicht mit einem Schwanz hinten dran.“

„Nein, den Dämon konnte man von außen nicht sehen. Er war ein ganz normaler Junge.“

Wieder schweigt Mamoru.

„Shintaro-san?“

„Ja?“

„Ich möchte zu dem Jungen gehen und ihm sagen, dass es mir leid tut.“

„Was tut dir leid?“, fragt Shintaro und blättert eine Seite um. „Du hast ihm nie etwas getan.“

„Aber Papa. Und außerdem sagt Ibiki-san, es ist wichtig, was man denkt. Weil wenn man schlechte Dinge denkt, kann das schnell dazu führen, dass man schlechte Dinge tut. Und ich habe gedacht, der Junge wäre böse, und das tut mir leid. Und ...“ Mamoru zögert kurz. „Und außerdem ... macht es mich traurig, was Papa gemacht hat.“

Shintaro schließt die Augen.

„Er hat alles falsch verstanden“, sagt Mamoru langsam. „Papa, meine ich.“

„Ja, das hat er wohl.“

„Und er kann sich nicht mehr dafür entschuldigen. Shintaro-san?“

„Ja?“

„Glauben Sie, wenn man tot ist, weiß man alles?“

„Ich weiß es nicht. Aber ... ich denke schon, dass die Toten eine ganze Menge mehr verstehen als wir.“

„Dann wird Papa es mittlerweile auch verstanden haben“, sagt Mamoru. „Und wenn ich zu dem Jungen gehe und ihm alles erkläre, vielleicht verzeiht er Papa dann auch?“

„Das käme wohl auf den Versuch an.“

„Wissen Sie, wie der Junge heißt?“

Shintaro zögert. „Das darf ich dir nicht verraten.“

„Sie dürfen mir nicht verraten, ob Sie es wissen, oder Sie dürfen mir den Namen nicht verraten?“

„Beides.“

„Aber wenn ich zu dem Jungen gehen und mich entschuldigen will“, sagt Mamoru in einem Anflug von Panik, „dann muss ich seinen Namen doch kennen!“

„Mamoru ...“

„Und außerdem will ich ihn nicht mehr der Dämonen-Junge nennen, weil er doch einen Namen braucht! Ich bin nur so ein Kind ohne Eltern, und selbst ich habe einen Namen!“

„Er heißt Naruto.“

Shintaro zuckt heftig zusammen und hebt den Kopf. Ibiki lehnt am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Uzumaki Naruto. Und soweit ich weiß, hält er sich zur Zeit nicht in Konoha auf.“

„Aber wenn er wieder zurück ist“, sagt Mamoru eifrig, „dann will ich zu ihm gehen!“

„Das kann ich nur unterstützen, kleine Ratte.“

Ibiki betritt den Raum und geht vor Mamoru, der immer noch unter dem Tisch sitzt, in die Hocke. „Dritte Regel?“

„Die ist geheim.“

„Sehr richtig, und lautet wie?“

Dritte Regel. Es wird nicht über den Dämon gesprochen. Mit niemandem. Unter keinen Umständen. Sollte dir irgendetwas rausrutschen, will ich sofort darüber informiert werden.

„Es sieht aus, als hättest du diese Regel gerade gebrochen, Mamoru“, sagt Ibiki ernst. „Was schlägst du als Bestrafung vor?“

Shintaro hört, wie Mamoru nervös hin und her rutscht.

„Komm schon. Ich sehe, dass du etwas weißt.“

„Morgen gibt es Fisch in der Kantine“, nuschelt Mamoru.

„Dein Lieblingsessen?“

„Hm-hmm.“

„Sprich laut und deutlich mit mir.“

„Ja, Ibiki-san.“

„Du bekommst morgen keinen Fisch.“

„Nein, Ibiki-san.“

„Damit wäre das erledigt. Da fällt mir ein ... ich habe ebenfalls über den Dämon gesprochen und damit die dritte Regel gebrochen. Meine Bestrafung wird sein, dass ich morgen meinen Fisch an dich abtrete.“

„Wirklich?“

„Erste Regel?“

Erste Regel. Keine Lügen.“

„Na also. Wenn ich so etwas sage, meine ich das ernst.“

„Danke, Ibiki-san!“

Ibiki richtet sich wieder auf und sieht Shintaro an, der ein Lachen unterdrücken muss. Er schmunzelt und beugt sich etwas näher.

„Ich bin heilfroh, dass diese Dämonen-Angelegenheit endlich geklärt ist“, raunt er ihm zu. „Gute Arbeit, Sensei. Und gut, dass Sie an die Sache so unvoreingenommen herangehen können – Sie waren ja nicht da in den Jahren, in denen der junge Uzumaki ganz Konoha terrorisiert hat ...“

„Gern geschehen. Allerdings ist es verboten, über diesen Jungen zu sprechen, Ibiki. Nicht nur nach deinen Regeln, sondern per Gesetz. Das hast du nicht vergessen, oder?“

„Nein. Aber Mamoru ist sowieso noch nicht strafmündig.“

„Ich habe dabei eher an dich gedacht.“

„An mich? Ich bitte Sie, ich bin Morino Ibiki. Was soll mir schon passieren?“

„Was reden Sie da?“, fragt Mamoru neugierig und streckt den Kopf unter dem Tisch hervor.

„Erwachsenengespräch“, erwidert Ibiki und drückt ihn zurück. „Geht dich nichts an.“

„Davon steht aber nichts in den Regeln, Ibiki-san.“

„Werde nicht frech, oder ich stelle noch ganz andere Regeln auf! Geh jetzt gefälligst in dein Zimmer und ... spiel irgendetwas, oder was Kinder eben so tun. Das ist ein Befehl!“

„Ich schreibe einen Brief an den Jungen“, verkündet Mamoru. „An Naruto. Wo drin steht, dass Papa das falsch verstanden hatte und es mir leid tut.“

„Du kannst nicht schreiben, Mamoru, du kannst ein paar Hiragana malen. Aber meinetwegen versuche dich an dem Brief. Wenn ich mal nichts Wichtiges zu tun habe, werde ich sehen, ob ich ihn entziffern kann.“

„Danke, Ibiki-san!“, ruft Mamoru und läuft hinaus. Ibiki und Shintaro sehen ihm nach.

Falsch verstanden hatte er es also“, knurrt Ibiki. „Das muss die drolligste Rechtfertigung für einen versuchten Doppelmord sein, die ich jemals gehört habe. Und Sie können mir glauben, ich habe schon verdammt drollige Geschichten gehört.“

„Egal, was passiert“, sagt Shintaro langsam. „Mamoru wird niemals aufhören, nach Entschuldigungen für Mizuki zu suchen. Oder?“

Ibiki zuckt die Achseln. „Wahrscheinlich nicht. Aber solange er nicht herumläuft und Leute umbringt, soll mir alles recht sein.“
 

*
 

„Erzähl mir was“, sagt Mikiko.

Nene zieht den Vorhang halb vor das Fenster und setzt sich an ihr Fußende. „Klar. Was willst du hören?“

„Was Lustiges.“ Mikiko drückt das Kissen hinter ihrem Rücken zurecht und sieht Nene erwartungsvoll an.

„Was Lustiges?“

„Egal, was. Denk dir einfach was aus.“

Einen Moment lang überlegt Nene, dann muss sie lachen. „Nein, noch besser. Ich erzähle dir eine Geschichte, die mir selbst passiert ist.“

„Wirklich?“

„Pass auf. Wo fange ich an ...“ Nene zupft die Decke zurecht. „Also. Als ich noch ganz klein war, vor ... lass mich rechnen. Vor mehr als vierzehn Jahren.“

„Da warst du zwei“, sagt Mikiko.

„Anderhalb“, korrigiert Nene. „Shu war vier und Shinichi drei. Mama und Papa waren auf einer Mission und haben uns bei Oma gelassen. Das war Mamas Mutter.“

„Mama erzählt manchmal von ihr. War sie nett?“

„Ich weiß noch, dass sie mich immer Aoi genannt hat und allgemein ziemlich zerstreut war. Aber sie ist gestorben, als ich noch ziemlich klein war. Jedenfalls hat sie im Wald gewohnt, in einem alten Häuschen. Es gefiel ihr da, hat sie gesagt. Aber dann ist ein Dämon gekommen. Ein Fuchs. Habt ihr das an der Akademie gelernt?“

„Der Kyuubi?“, fragt Mikiko.

„Ganz genau.“

„Aber ich dachte, das wäre schon ganz lange her. Hast du ihn gesehen, Nene?“

„Nein ... also, doch, aber ich erinnere mich nicht daran. Er hat jedenfalls im Wald gewütet, und Shinobi sind gekommen und haben uns nach Konoha in Sicherheit gebracht. Also, Oma und Shinichi und Shu. Mich haben sie vergessen. Ich war ja so klein.“

„Oh je!“

„Ja, aber zum Glück ist einer von ihnen noch einmal zurückgegangen und hat mich gefunden. Er hat mich gerettet. Es war ein Junge mit dunkelgrauen Augen. Ich kann mich praktisch an nichts mehr von ihm erinnern, außer an die Augen.“

„Nene, man kann sich nicht an Sachen erinnern, die so lange her sind“, sagt Mikiko belehrend. „Du warst anderthalb Jahre alt bei dem Fuchs. Jetzt bist du sechzehn. Ich bin erst sechs, und nicht mal ich weiß, was passiert ist, als ich so klein war.“

Nene zuckt die Achseln. „Ich weiß. Aber ich erinnere mich trotzdem noch.“

„Du bist komisch.“

„Ich weiß. Vielleicht liegt's ja daran. Aber der Junge hatte diese Augen. Also, glaube ich. Kann auch sein, dass ich es geträumt habe. Nein, Moment, kann nicht sein. Ich habe ihn ja gesehen, auf einem Foto. Shintaro-san hat ein altes Bild von seinem Team im Flur hängen, das Geninteam, das er mal hatte, und da war dieser Junge drauf! Ich habe seine Augen sofort erkannt. Ich habe Shintaro-san gefragt, wo er jetzt wäre, und er meinte, er arbeitet in Ibiki-sans Abteilung. Ich habe ihn gestern sogar schon getroffen! Also, da noch ohne zu wissen, dass er es war. Ich muss ihm demnächst mal einen Strauß Blumen mitbringen, glaube ich. Dafür, dass er mir damals das Leben gerettet hat.“

„Machst du das wirklich?“, fragt Mikiko. „Einfach so?“

„Klar!“

Sie kichert. „Du bist lustig, Nene.“

„Und weißt du, was noch lustiger ist? Es ist mir im Nachhinein erst aufgefallen. Der Junge, der mir das Leben gerettet hat, heißt Tobitake Tonbo. Es ist der Sohn von Frau Tobitake, unserer Nachbarin! Er ist direkt bei uns nebenan ein und aus gegangen, kannst du dir das vorstellen? Und ich habe ihn nie erkannt. Weil ich mich nur an seine Augen erinnern konnte. Und die sind jetzt weg.“

„Warum weg?“

„Weiß nicht. Er hat einen Verband an der Stelle. Vielleicht eine Kampfverletzung oder so. Wie das Leben so spielt, was?“

„Das ist eine verrückte Geschichte“, murmelt Mikiko, und ihre Augen fallen zu.

„Tja“, sagt Nene und streicht ihr über den Kopf. „Es ist eine verrückte Welt, Mäuschen.“
 

*
 

Ibiki runzelt die Stirn, als er zufällig an der Tür zu Mamorus Zimmer vorbeikommt und bemerkt, dass dahinter immer noch Licht brennt. Es ist halb elf, der Junge müsste längst im Bett liegen.

„Mamoru? Was um Hokages Willen machst du noch so spät?“

Er drückt die Tür auf und verstummt. Mamoru ist am Tisch nach vorn gesunken, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Über die gesamte Tischplatte sind vollgeschriebene Blätter verstreut. Eines liegt direkt vor Mamoru, mit ungelenken Zeichen beschriftet. Es sind nach Gehör aneinandergereihte Laute, von Rechtschreibung kann noch keine Rede sein, aber für seinen Einsatz verdient der Junge eine glatte Eins. Am Schreibtisch eingeschlafen, also wirklich.

Behutsam zieht Ibiki den Brief unter Mamorus schlaffer Hand hervor und beschließt, ihn wie versprochen Probe zu lesen. So leise wie möglich tritt er wieder auf den Gang hinaus.

„Ist irgendwas passiert?“, fragt Tonbo, der gerade vorbeiläuft.

„Was?“

„Ob etwas passiert ist. Es sah gerade fast aus, als würdest du lächeln.“

„Unsinn“, sagt Ibiki schroff. „Mamoru ist am Tisch eingeschlafen. Würdest du ihn mal eben ins Bett legen und zudecken, damit der Junge sich keine Erkältung holt?“

Tonbo sieht ihn schief an. „Kannst du das nicht selbst?“

„Nein“, antwortet Ibiki, dreht sich um und geht.
 

*
 

„Deine Frau kommt mir recht jung vor, Shintaro“, sagt Kaede überrascht. „Aber ein sehr fröhliches Mädchen hast du dir ausgesucht. Das freut mich.“

„Nene ist nicht meine Frau, Mutter!“, sagt Shintaro bestürzt.

„Und das ist wohl euer Sohn?“, fährt sie unbeirrt fort. „Ihr solltet dem Jungen mehr zu Essen geben. Aber abgesehen davon ist er hinreißend. Auch, wenn er dir nicht ähnlich sieht.“

„Mamoru ist auch nicht unser Sohn!“

Kaede sieht ihn an. „Was?“, fragt sie, plötzlich sehr müde. „Habe ich keine Enkel?“

Er reißt sich zusammen. „Du hast zwei. Nene und Mamoru sind beide deine Enkel.“

Ihr Gesicht hellt sich auf. „Ich wusste es! Lass dich umarmen, Shintaro.“

Er streckt die Arme nach ihr aus, und das Traumbild zerfließt zwischen seinen Fingern zu Rauch. Shintaro liegt auf dem Rücken in seinem Bett. Die Sonne geht gerade erst auf, in zehn Minuten klingelt der Wecker.

„Ich habe ein neues Leben, Mutter“, sagt Shintaro leise. „Es spielt sich in einer Geheimdienstabteilung ab, in einer der schlimmsten, wie Ibiki dir sagen könnte. Und ich habe nirgendwo so wunderbare Menschen getroffen wie dort. Es ist eine verrückte Welt.“



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