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Creepypasta Extra: Umbra

Schatten einer Tragödie
von

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Scarecrow Jack begegnet Mary Lane

Es war eine perfekte Nacht, das spürte Jackson und sein verdorbenes Inneres wurde von Aufregung und Euphorie erfüllt. Es juckte ihn förmlich in den Fingern und er war ungeduldig. Heute Nacht musste es geschehen, unbedingt. Länger wollte er nicht auf seinen nächsten Mord warten. Auch sein treuer Freund Edgar, eine groß gewachsene Aaskrähe, schien es zu spüren und wurde unruhig. Sanft strich Jackson dem Vogel über den Rücken und grinste breit, wobei ihm mehrere Maden im Zahnfleisch herumkrochen. „Nur Geduld mein lieber Edgar, bald gibt es ein Festmahl. Wir brauchen nur noch ein Opfer zu finden.“ Die Krähe gab ein hässliches Krächzen von sich und begann ein wenig mit den Flügeln zu flattern. Er hatte Hunger und wartete geduldig. Natürlich wollte Jackson seinen Freund nicht zu lange warten lassen. Der Scarecrow Killer hatte sich auf das Dach eines Hauses in Position gebracht und bereits sein Opfer erspäht. Es stand unter einer Straßenlaterne und trug einen schwarzen Parka und die Kapuze verdeckte das Gesicht. Der arme Trottel stand einfach so da, ahnungslos und er machte nicht den Anschein, als könnte er sich wehren, wenn er aus dem Hinterhalt angegriffen würde. Der Parkakerl war schmächtig und nicht sehr groß gewachsen. Eigentlich schon fast eine Hungerportion für seinen lieben Edgar. Na was soll’s, Jackson hatte beschlossen, dass der Kerl sterben würde und deshalb würde er die Sache auch durchziehen. Jede Faser seines Vogelscheuchenkörpers bereitete sich auf den bevorstehenden Angriff vor, Jacksons Klingenbesetzte Hände krallten sich in die Regenrinne, während er sich langsam vornüberbeugte und sein Opfer fixierte wie ein Raubtier auf der Lauer. Dann geschah alles ganz schnell. Jackson stieß sich ab, breitete die Arme aus und schlug mit dem rechten zuerst zu. Die Gestalt drehte sich um, doch Scarecrow Jack war viel zu schnell, um ihm die Chance zu geben, sich zu wehren oder die Flucht zu ergreifen. Die Klingen bohrten sich tief in die Brust und rissen tiefe Wunden. Dann zog Jackson die Klingen wieder raus, stellte aber verwirrt fest, dass sein Opfer gar nicht umfiel, geschweige denn nach hinten stolperte. Es zeigte noch nicht einmal Anflug von Schmerzen. Doch er ließ sich nicht beirren und griff noch einmal an. Dieses Mal schlug er seine Klauen direkt ins Gesicht, eine todsichere Methode. Aber dann geschah etwas, womit selbst Jackson als wandelnde Vogelscheuche niemals gerechnet hätte: Seine Hand verschwand ganz einfach dort, wo dieses Wesen ein Gesicht haben sollte und als er sie herauszog, fehlte sie vollständig. Dabei hatte er nicht einmal etwas gespürt. Als hätte sie sich plötzlich in Luft aufgelöst. Sofort wich Jackson von der Kreatur zurück und sah sie ungläubig an. „Was zum Henker bist du denn für ein Freak?“

Das Wesen antwortete nicht, sondern starrte Jackson einfach an. Und nun sah dieser es deutlich: Es hatte kein Gesicht. Unter der Kapuze war nichts als schwarze Leere. Ganz eindeutig war dieses Wesen nicht normal. Aber was war es dann? Jackson wich langsam vor der Kreatur zurück und betrachtete seine Hand. Wie zum Teufel konnte sie so einfach verschwinden, ohne dass er etwas spürte? Die Sache war ihm nicht geheuer. Er beschloss, noch einen Versuch zu wagen, aber dieses Mal wollte er diesem Ding den Arm abschlagen. Mal sehen, ob es dann endlich eine Schmerzreaktion zeigte. Gerade wollte Jackson wieder angreifen, doch als er von seinem Arm aufsah, war das Wesen verschwunden. „Was zum Teufel ist denn jetzt los?“ Ein lautes Krächzen von Edgar alarmierte Jackson und er drehte sich um. In dem Augenblick, als er das Wesen sah, wurde er im Gesicht gepackt und das Wesen versuchte, seinen Kopf in die Leere unter der Kapuze zu schieben, als wolle es ihn verschlingen. Jackson schlug um sich und versuchte, dieses Monster von sich zu stoßen, aber es ließ einfach nicht los und erwies sich als unfassbar stark. „Verdammt noch mal du Scheißfreak. Lass mich sofort los oder ich werde…“ Ein Schatten tauchte hinter dem Wesen auf und es erstarrte in der Bewegung, als sich eine Klinge von hinten in seine Brust bohrte. Sofort ließ es Jackson los und krümmte sich, als würde es Schmerzen empfinden. Die Klinge wurde tiefer hineingestoßen und da das Wesen für sich wohl keine andere Möglichkeit sah, sprang es auf Jackson zu, schleuderte ihn nach hinten und war dann verschwunden. Jackson prallte gegen eine junge Frau von vielleicht 18 oder 19 Jahren, fing sich aber wieder und blieb auf den Beinen. Neugierig sah er seine Retterin genauer an. Das Mädchen hatte schulterlanges rotbraunes Haar, leuchtend blaue Augen und war wunderschön. Sie war nicht gerade groß gewachsen und in ihrer Hand hielt sie eine Machete. Eindeutig war das ein Mensch. Seltsam, warum hatte sie ihn gerettet? Sie hätte doch trotz der Dunkelheit sofort erkennen müssen, dass Jackson kein Mensch war. Na egal, dann konnte er sie ja töten. Das war doch eine wunderbare Entschädigung. Das Mädchen stand auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung, ihr Gesicht verfinsterte sich und wütend knurrte sie „Scheiße, jetzt ist er mir schon wieder entwischt. Wenn du verdammte Vogelscheuche mir nicht im Weg gestanden hättest, dann hätte ich Umbra schon längst gehabt.“ Sie schien nicht mal Angst zu haben. Im Gegenteil, sie keifte ihn auch noch an. Die musste ja Mut haben… Jackson war recht verblufft, denn normalerweise gerieten insbesondere Frauen und Mädchen bei seinem Anblick in Panik und fingen zu kreischen an. Warum sie nicht? „Du kennst dieses Ding?“

„Ja verdammt. Ich jage es schon eine ganze Weile und ich hätte es beinahe gehabt. Scheißendreck, jetzt darf ich dieses Mistvieh schon wieder suchen gehen. Schönen Dank auch du Freak. Sag mal, was zum Teufel bist du eigentlich?“

„Ich bin Scarecrow Jack. Zu Lebzeiten nannte man mich Jackson Cohan, bevor man mich umgebracht hat. Jetzt sitz ich in diesem Körper fest.“

„Ich glaube, der Name sagt mir was. War dein Vater nicht dieser psychopathische Metzger, der mehrere Frauen abgeschlachtet hat? Und stopfst du nicht deine Opfer aus? Da war doch was…“ Jackson war immer noch verwirrt, weil er damit nun gar nicht gerechnet hätte. Immerhin war er eine wandelnde Vogelscheuche und besaß lange Klingen an den Händen. Er könnte sie einfach so abstechen, wenn ihm danach war und sie könnte mit ihrer lächerlichen Machete rein gar nichts gegen ihn ausrichten. Das musste ihr doch klar sein. Warum aber hatte sie keine Angst? Er sah genauer hin und dann erkannte er etwas Vertrautes in ihrem Blick: Sie war wie er. Sie hatte das Grauen gesehen und hatte ihre Angst vor dem Tod schon vor langer Zeit überwunden. Was da in ihren Augen funkelte, waren Hass und Wahnsinn. Jackson lachte und streichelte Edgar wieder den Rücken. „Du bist wirklich interessant. Das muss ich zugeben. Obwohl mein Anblick abstoßend ist und in mir nichts mehr lebt außer das Ungeziefer, welches sich von meiner verdorbenen Seele und meinem ebenso verdorbenen Verstand ernährt, hast du keinerlei Angst vor mir. Nicht mal der Leichengestank scheint dir was auszumachen.“ „Willst du mir hier etwa grad einen Antrag machen, oder was?“ Wieder lachte Jackson und legte eine seiner Klingenfinger um ihren zarten Hals. „Große Worte für eine mickrige Frau wie dich. Sag mal, warum suchst du nach diesem Ding, das du Umbra nennst?“

„Er ist wahrscheinlich das Bindeglied zwischen unserer Welt und einem Wesen, das als Dream Weaver bekannt ist. Ich will den Dream Weaver finden, unter meine Kontrolle bringen und die Welt so verändern, dass sie mir passt. Und dabei ist es mir völlig egal, wenn ich töten muss. Wenn du dich mir in den Weg stellst, dann mach ich dich ebenfalls kalt.“

„Obwohl dir das Messer wortwörtlich an der Kehle steht?“

„Du solltest mich nicht unterschätzen, du Freak.“ Langsam nahm Jackson seine Klingen von ihr und betrachtete sie eine Weile. Diese Frau war wirklich interessant. Vielleicht könnte es sich lohnen, wenn er sie eine Weile weiter beobachtete und sah, wie sich die Sache entwickelte. Vielleicht sprang ja auch für ihn ein großer Vorteil heraus. Nun war sie es, die ihm die Klinge an die Kehle hielt. Er war sichtlich amüsiert. „Du gefällst mir. Genau diese Art von Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit mag ich. Na schön, ich werde dich nicht töten. Sag mal, wie heißt du denn?“

„Mary Lane.“

„Also gut Mary Lane. Zufällig hat dieses Ding namens Umbra meine Jagdlust geweckt. Warum also tun wir uns nicht zusammen und finden es gemeinsam? Es könnte sicherlich spaßig werden.“ Mary nahm die Machete runter, wandte sich um und ging einfach. Dann aber blieb sie ein paar Meter weiter stehen und sagte „Wenn du mir bloß nicht in die Windrichtung kommst. Du stinkst schlimmer als der Tod!“

„Das ließe sich arrangieren… Mary…“ Mit einem Kichern folgte Jackson ihr und gemeinsam verschwanden sie im Dunkeln der Nacht. Es war so dunkel, dass nicht einmal der Mond oder die Sterne schienen. Ein eiskalter Wind wehte und in der Ferne hörte man das Krächzen einer Aaskrähe.

Kleine Fortschritte

„Nun komm schon Anthony, du schaffst das schon. Es kann dir rein gar nichts passieren.“

„Grey hat Recht. Wir sind ja bei dir!“

Doch Anthony traute dem Braten nicht und so befand er sich immer noch in der abgedunkelten Ecke, welche den einzig dunklen Bereich des Zimmers darstellte. Die Fenster, die mit einer Spezialfolie beschichtet waren und zwar Licht, aber keine UV-Strahlen durchließen, ließen das Tageslicht hinein und neben ihn warteten geduldig Vincent und Viola. Da die beiden momentan nichts Besseres zu tun hatten, machten sie es sich zur Aufgabe, Anthonys Photophobie, also seine panische Angst vor Licht zu behandeln und ihm zu helfen, sich ans Tageslicht zu gewöhnen. Das war leider nicht so einfach wie es sich anhörte, denn Anthony hatte nicht die besten Erfahrungen mit Licht gemacht. Aufgrund eines äußerst seltenen Gendefektes litt Anthony an einer Lichtallergie. War er zu lange Sonnenlicht oder künstlichem Licht ausgesetzt, bekam er schmerzhafte Ausschläge und Verbrennungen, zudem fühlte er sich dann, als würde er von innen verbrennen. Darum vermied er alles, was Licht ausstrahlte. Die einzigen Lichtquellen, die er ertragen konnte, waren Kerzenschein und Kaminfeuer. Nun, da er nach all der Zeit seinen besten Freund Vincent wiedergetroffen hatte und nun auch die kleine Viola bei ihm wohnte, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, seine Angst zu bekämpfen und etwas zu unternehmen. Der erste Schritt war die Spezialfolie und langsame Gewöhnung ans Licht. Inzwischen schaffte es Anthony, wenigstens die Vorhänge bei Sonnenuntergang oder stark bewölktem Himmel zu öffnen, ohne gleich Angst zu bekommen. Doch der jetzige Schritt, nämlich helles Tageslicht, war für ihn immer noch eine viel zu große Herausforderung. Schon jetzt spürte er die Angst in sich aufsteigen, die er vor den anderen zu verbergen versuchte. Sein Herz raste förmlich und der kalte Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Ihm war schlecht und schwindelig, er wollte nur noch so schnell wie möglich raus, um dieses beklemmende Gefühl loszuwerden. Langsam taumelte er zurück und stützte sich an der Wand ab. Viola nahm seine Hand. „Hab keine Angst, wir sind ja bei dir. Wir können das jederzeit abbrechen, wenn es zu viel wird. Aber du solltest es trotzdem mal versuchen.“ Sie hat ja Recht, dachte Anthony, schloss die Augen und atmete tief durch. Solange die Fenster mit der Folie beschichtet waren, konnte er sich problemlos im Licht aufhalten. Aber sein Kopf sagte ihm was anderes. „Eigentlich hättest du dieses Problem nicht, wenn du die Angst in deinem Unterbewusstsein abschalten würdest.“

„Du weißt, warum ich das nicht tue. Wenn ich an meinem eigenen Verstand herumfummle, gibt das nur psychische Spätfolgen und ich werde entweder verrückt oder mein Langzeitgedächtnis wird geschädigt. Man kann nicht alles mit dieser Gabe lösen. Ich muss es aus eigener Kraft schaffen, okay?“ Anthony atmete noch ein Mal tief durch, dann trat er langsam und vorsichtig aus seiner dunklen Nische heraus und näherte sich dem Lichteinstrahl des Fensters. Sein Unterbewusstsein stellte sich vollkommen quer und machte ihm jeden Schritt zur Tortur. Knapp ein paar Schritte vom Lichteinstrahl blieb er entfernt, seine Angst war unbeschreiblich und alles in seinem Kopf schrie danach, in die Dunkelheit zurückzugehen. Er schaffte das nicht, niemals. Das war zu viel. Er ging zurück in die Nische und lehnte sich gegen die Wand. Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein. Warum nur war es so unsagbar schwer, seine tiefste Angst zu bekämpfen? Vincent klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und band ihm ein Tuch um die Augen, um seine Sicht zu verdecken. „Versuchen wir es doch erst mal damit. Ich führe dich und du wirst feststellen, dass alles in Ordnung ist.“ Anthony nickte und hielt sich an Vincents Arm fest. Langsam gingen sie vorwärts, trotzdem blieb die Angst, weil er wusste, was gleich kommen würde. Aber so schnell wollte er nicht aufgeben. Langsam gingen sie weiter, bis Vincent stehen blieb und Anthony ein wenig drehte. „So, jetzt bleib einfach mal eine Weile stehen und lass die Augenbinde drauf. Lass es ganz in Ruhe auf dich wirken.“ Damit ließ er ihn los, blieb aber dicht bei ihm. Anthony stand da und spürte die Wärme auf seiner Haut. Sie war angenehm, sie schmerzte nicht wie sonst. Sonst hatte er in Sonnenlicht nichts anderes als Schmerzen empfunden. Ein paar Sekunden blieb Anthony so stehen und hatte für einen Moment lang seine Angst vergessen. Aber nur für einen Moment. Denn schon bald wurde ihm wieder ganz unbehaglich zumute. Mit einem Male war die Panik wieder zurück, er fühlte sich, als wäre er in einen winzigen Raum eingesperrt und als würden sich die Wände auf ihn zu bewegen. Seine Brust schnürte sich augenblicklich zusammen und er bekam Schwierigkeiten, zu atmen. „Vincent, ich… ich muss zurück.“

„Okay, kein Problem. Aber hey, du hast es ganze 20 Sekunden ausgehalten. Das ist doch ein toller Fortschritt. Letztes Mal hast du dich schon nach drei Sekunden zurückgezogen.“ Vincent führte seinen besten Freund zurück und nahm ihm die Augenbinde ab. Die Anspannung fiel langsam ab, doch dem Lichtscheuen wurde kurz schwarz vor Augen und die Beine gaben nach. „Ich habe das Gefühl, ich werde mich niemals an das Licht gewöhnen. Das ist doch wirklich beschämend. Welcher normale Mensch hat bitteschön Angst vor Licht? Ich bin doch echt eine Lachnummer.“

„Sag so was doch nicht. Jeder hat irgendetwas, wovor er Angst hat. Niemand lacht dich deswegen aus. Du machst großartige Fortschritte und wenn du es ganz alleine ohne deine Gabe schaffen willst, dann musst du eben akzeptieren, dass es länger dauert, eine Phobie zu bekämpfen.“ Vincent reichte ihm die Sonnenbrille, die Anthony tagsüber trug, wenn im Haus die halbdunklen Vorhänge zugezogen waren. Zuvor hatten schwere und dunkle Vorhänge sämtliches Licht aus dem Haus ferngehalten und alles finster gehalten. Lange Zeit hatte er es so arrangiert, dass er tagsüber schlief, während sein treues Hausmädchen Jenna, das sich auch so liebevoll um seinen Garten kümmerte, um diese Zeit die Hausarbeit erledigte. Einzige Ausnahmen waren die Tage, an denen er Kunden hatte. Dann wurde alles abgedunkelt und Jenna bereitete den Salon vor, indem sie die Kerzen anzündete und das Kaminfeuer schürte. Vorsichtig trat das Dienstmädchen herein und fragte „Sir, soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen? Sie sehen sehr blass aus.“

„Danke Jenna, das wäre sehr nett. Und bring den anderen doch auch etwas.“

„Sehr wohl.“ Mit einer leichten Verbeugung ging das Mädchen und Anthony setzte sich erst einmal auf einen Stuhl, während Viola die halbdunklen Vorhänge zuzog. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es sein musste, Angst vor Tageslicht zu haben. Unfähig, das Haus bei Tage zu verlassen und ganz isoliert von der Außenwelt leben zu müssen, musste wirklich schlimm sein. Anthony musste ein sehr einsames Leben geführt haben und das eine so lange Zeit. „Geht es wieder?“ fragte Vincent und betrachtete seinen Freund besorgt. „Ein bisschen, es ist nur der Kreislauf, der mir Probleme bereitet. Gleich geht es wieder.“ Wenig später kam Jenna mit den Getränken und nachdem Anthony wieder aufstehen konnte, verließen sie das Zimmer und gingen in den Salon. Dort waren die Vorhänge zugezogen und ein Feuer brannte im Kamin. Ein Zeichen dafür, dass der Hypnotherapeut einen Klienten erwartete. Viola setzte sich vor den Kamin und betrachtete die tanzenden Flammen. Anthony begann auf dem Schallplattenspieler Musik zu spielen, aber es war kein Swing, wie er es gerne zu hören pflegte, sondern eine sehr melancholische und leicht düstere Melodie, die Viola überhaupt nicht gefiel und die sie als unheimlich bezeichnete. „Was ist das denn für eine Musik?“

„Ist von einem ungarischen Komponisten, ein sehr umstrittenes Lied. Ich hab es die letzten Tage ein wenig unter die Lupe genommen und vergessen, sie wieder wegzulegen. Entschuldigung. Hast du einen Musikwunsch, Viola?“

„Keine Ahnung… Irgendwas Lustiges!“ Also wurde eine Schallplatte mit Tanzmusik der 40er Jahre gespielt. Viola bewegte dabei leicht den Kopf hin und her und begann, sie mitzusummen. Anthony lehnte sich in seinem Sessel zurück und seufzte laut. „Ich hatte echt gehofft gehabt, dass es heute besser laufen würde, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Mich lässt diese Sache einfach nicht los.“

„Was für eine Sache?“

„Ich bekomme in der letzten Zeit immer wieder Besuch von Klienten, die allesamt das Gleiche träumen und sich bedroht und verfolgt fühlen. Hast du schon von einem Wesen namens Umbra gehört?“

„Nur flüchtig.“

„Diese Kreatur treibt offenbar schon seit einiger Zeit sein Unwesen. Es erscheint seinen Opfern zuerst im Schlaf und verfolgt sie dann in der Realität. Und dann absorbiert Umbra seine Opfer oder Teile von ihnen, wenn sie schlafen. Das Ganze ist ziemlich bizarr. Alle beschreiben Umbra gleich: Ein menschenähnliches Wesen mit jeweils vier ungewöhnlich langen Fingern, welches immer einen Parka trägt und offenbar darunter kein Gesicht besitzt. Zumindest kann niemand ein Gesicht erkennen.“

„Dann ist Umbra so etwas wie der kopflose Reiter von Sleepy Hollow?“

„Viola, wie oft hab ich dir gesagt, du sollst die Finger von meiner Horrorfilmsammlung lassen?“ Das Mädchen schaute verlegen weg und Anthony schüttelte den Kopf. „Soweit ich richtig verstanden habe, sagten alle, dass unter der Kapuze rabenschwarze Leere war. Und immer versucht Umbra, den Kopf seiner Opfer unter seine Kapuze zu ziehen. Wenn das geschieht, wachen sie schreiend auf und träumen seitdem ununterbrochen von diesem Wesen. Ich will ja keine schlafenden Hunde wecken, aber für mich klingt das ein wenig danach, als würde Umbra mit dem Dream Weaver in Verbindung stehen.“

„Glaubst du, er ist so etwas Ähnliches wie der Traumfresser, den Viola getötet hat?“

„Ich bin mir nicht sicher. Es könnte auch ein gescheitertes Experiment meines Halbbruders sein. Zuzutrauen wäre es ihm alle Male. Er hat es ja schon immer verstanden, dem schlechten Ruf meiner Familie alle Ehre zu machen.“ In seiner Stimme war ein bitterer Ton des Vorwurfs zu hören und man sah ihm an, dass er für seine Familie nichts als Verachtung empfand. Tatsache war, dass Anthonys Familie in den 30ern und 40er Jahren engagierte Mitglieder der NSDAP waren. Anthony, der damals noch Anton Friedrich Helmstedter hieß, war der jüngste Halbbruder des berüchtigten KZ-Arztes Johann Hinrich Helmstedter, der unzählige grausame Experimente an Menschen durchführte, auch an Kindern. Anthony amerikanisierte seinen ersten Vornamen und nahm den Mädchennamen seiner englischstämmigen Mutter an, die ihn zu seinem Vater abschob, weil sie keine Kinder haben wollte. Anthony fiel der Experimentierfreudigkeit seines Halbbruders ebenfalls zum Opfer und wurde zu einem Konstrukteur gemacht, genauso wie Vincent. Dadurch war er in der Lage, das Unterbewusstsein seiner Mitmenschen zu manipulieren, aber auch sein eigenes. Diese Fähigkeit beruhte allein auf der Tatsache, dass die Konstrukteure in der Lage waren, nicht nur auf 5 bis 10% sondern auf 100% ihres Gehirns bewusst zugreifen zu können. Und da das Gehirn „Funksignale“ aussandte und die Konstrukteure sich auf diese Weise mit dem Unterbewusstsein anderer Menschen verbinden konnten, waren sie in der Lage, andere Menschen genauso zu beeinflussen. Natürlich war die Fähigkeit begrenzt. Eine Bewusstseins- und Gedankenkontrolle war nicht möglich, dafür aber waren sie in der Lage, Bewegungen zu steuern, die für die Menschen Routine waren und unterbewusst erledigt werden konnten. Anthony hatte sich sehr intensiv mit dem Experiment und der Unterbewusstseinsforschung beschäftigt. Er hatte erfahren, dass das Gehirn von Geburt an einen Filter besitzt, um das Bewusstsein nicht zu überlasten. Viele Reize und Sinneseindrücke wurden ins Unterbewusstsein „aussortiert“ und Bewegungen und Tätigkeiten, die ganz nebenbei erledigt werden konnten (wie z.B. Laufen, Fahrrad fahren, Atmen), wurden dort ebenfalls abgelegt. Auch war es Tatsache, dass das Gehirn niemals Erinnerungen vergaß. Sie wurden einfach in ein mentales Archiv verstaut und auf die meisten konnte man nicht mehr bewusst zugreifen, weil die Erinnerungen quasi komprimiert worden waren, um Speicherplatz zu gewinnen. Das Gehirn war wie eine gewaltige und leistungsstarke Festplatte, die regelmäßig routinierte Handlungen herausfilterte, damit der Mensch sich auf noch mehr Tätigkeiten konzentrieren konnte, ohne überfordert zu werden. Die Konstrukteure konnten diese ganzen gespeicherten Daten einlesen, indem sie den Verstand „hackten“ und konnten diese löschen oder umschreiben. Alle Konstrukteure besaßen die gleichen Fähigkeiten, stachen aber deutlich aufgrund einer besonderen Begabung heraus, die sie einzigartig machte. So war es Vincents Spezialität, Erinnerungen, Fantasien, Ideen und andere Dinge im Verstand komplett zu löschen. Darum nannte man ihn auch kurz und knapp „Eraser“. Anthony wurde allgemein als „Trickster“ bezeichnet. Das lag vor allem daran, dass er das ungewöhnliche Talent besaß, mit dem kleinsten Aufwand große Veränderungen herbeizurufen, allein durch seine Fähigkeit. Schließlich hatte er durch seine Forschungen und seine Anstrengungen eine Technik entwickeln können, um die Menschen nach seinem Willen zu steuern, als könne er auch das Bewusstsein beherrschen: Er versetzte seine Opfer mittels Hypnose in Trance und konnte sie zu Dingen zwingen, die sie im normalen Leben niemals tun würden. Aber er wandte sie hauptsächlich nur für seine Arbeit als Hypnotherapeut an, weil er niemals so werden wollte wie der Rest seiner Familie. Die Tatsache, dass seine Familie aus Verbrechern bestand, hatte ihn sehr geprägt und deshalb war er bemüht, so gut es ging ein aufrichtiger Mensch zu sein. Auch wenn das nicht immer einfach war. Ganz anders als Mary Lane, die er damals zusammen mit Vincent und den anderen Kindern aus dem Institut befreit hatte. Ihre Fähigkeiten waren beängstigend und sie hatte keine Skrupel, Menschen zu manipulieren oder sie zu töten, wenn sie ihr im Wege standen. Die Folgen waren, dass sie aggressiv, psychisch labil und wahnsinnig wurde. Sie schreckte nicht einmal davor zurück, jene zu töten, die sie liebte. Diese gefährliche Kraft, die sie, Vincent und Anthony besaßen, barg große Risiken. Es konnten bei einer Überbeanspruchung Schäden am Gehirn entstehen, das Langzeitgedächtnis wurde in Mitleidenschaft gezogen und schwere Gedächtnisprobleme oder Amnesie und sogar Gehirnblutungen konnten die Folge sein. Die geistige Reifung blieb aus, sodass Mary Lane nach über sechzig Jahren immer noch das Verhalten eines Kindes hatte, obwohl sie äußerlich erwachsen war. Das Gehirn konnte manche Dinge nicht mehr richtig einsortieren, sodass das Bewusstsein völlig überfordert wurde und Symptome von Schizophrenie, Paranoia und anderen Krankheiten auftraten. Man konnte wirklich sagen, dass man für diese Fähigkeiten einen hohen Preis zahlte. Und genau das hielten sich Vincent und Anthony immer vor Augen.
 

„Hey Anthony, wann kommt denn dein nächster Kunde?“

„In einer halben Stunde. Könntest du mir einen Gefallen tun und mit Viola vielleicht irgendwo hingehen, zum Beispiel ins Kino? Ich habe einen recht prominenten Klienten und ich habe Diskretion versprochen.“

„Wer ist das denn? Ein berühmter Schauspieler oder ein Sänger?“ Anthony erklärte Viola, dass er die Namen seiner Kunden nicht verraten dürfe, aber er versicherte ihr, dass sie vielleicht schon mal von ihm gehört habe. Und weil es keinen Skandal oder irgendwelchen Klatsch und Tratsch geben sollte, wollte er verhindern, dass mehr Menschen als unbedingt nötig mit seinen Kunden in Kontakt kamen. Vincent hatte vollstes Verständnis und besprach sich mit Viola, die inzwischen wie eine kleine Schwester für ihn war, wohin sie gehen wollten. Sie würden ins Einkaufszentrum fahren, da Viola unbedingt ein neues Kleid haben wollte. Anthony gab den beiden Geld mit, da Vincent noch in der Ausbildung war und er noch kein Geld verdiente. „Macht euch einen schönen Nachmittag. Ich denke nicht, dass ich stundenlang brauchen werde.“ Das kleine Mädchen war ganz aus dem Häuschen und freute sich auf den bevorstehenden Einkauf. Sie sprang auf, umarmte Anthony und dankte ihm. Dann lief sie zu Vincent und bettelte förmlich, dass sie doch gleich losgehen mögen. Vincent streichelte ihr lächelnd den Kopf und verabschiedete sich von seinem besten Freund. Damit ließen sie Anthony allein, der nun damit begann, alles für seinen Kunden vorzubereiten. Er ließ das Dienstmädchen einen Tee vorbereiten und richtete den Salon her. Etwa eine Viertelstunde oder vielleicht auch fünf Minuten später ertönte die Glocke an der Tür und Anthony ging hin, um zu öffnen. Als er sie öffnete, erwarte ihn ein hübsches Mädchen von vielleicht 20 bis 25 Jahren mit feuerrotem Haar und wunderschönen Augen. Sie trug eine rote Jacke und darunter eine weiße Bluse, dazu eine passende Goldkette. „Miss Christine Cunnings?“ Das Mädchen nickte und ließ sich von Anthony hereinführen. Sie war der prominente Gast, von dem Anthony zuvor gesprochen hatte. Eine aufsteigende Schauspielerin, die in ihrer Freizeit gerne an Autos bastelte. Anthony führte sie in den Salon und ließ den Tee bringen, während er Christine den Mantel abnahm. „Sie haben es sehr schön hier“, bemerkte sie bewundernd, als sie den Blick durch den Salon streifen ließ. „Ich hätte nicht gedacht, dass man als Hypnotherapeut gut verdient.“

„Es kommt ganz auf die Kundschaft an.“

„Wie viel verlangen Sie denn für Ihre Therapiesitzungen?“

„Von Ihnen ein kleines Vermögen.“

„Klingt nach Halsabschneiderei.“

„Wenn Sie nicht zufrieden sind, brauchen Sie nicht zu zahlen.“

„Verlangen Sie von anderen auch ein Vermögen?“

„Kommt drauf an, weshalb sie zu mir kommen.“ Diese Frau war wirklich interessant. Sie schien einen sehr spitzfindigen Charakter zu besitzen und ließ sich nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen. Sie gefiel Anthony auf Anhieb. „Und weshalb sind Sie zu mir gekommen?“

„Ich bin letzte Nacht in meiner Hotelsuite aufgewacht und konnte mich an rein gar nichts mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich in einer Bar mit ein paar Freunden und Kollegen gefeiert habe und dann bekam ich einen Filmriss. Als ich aufwachte, wusste ich zuerst nicht wo ich war und geriet in Panik.“

„Klingt verdächtig danach, als hätte jemand Ihnen etwas in den Drink getan.“ Christine nickte und fuhr sich mit ihren zierlichen Fingern durchs Haar. „Ich will wissen, was passiert ist und ob… nun… Sie können sich ja denken, worauf ich hinaus will. Meinen Sie, es ist möglich?“ Christine sah besorgt und unruhig aus. Anthony konnte sich gut vorstellen, dass sie Angst haben musste, jemand hätte ihren berauschten Zustand schamlos ausgenutzt. Er trank seinen Tee aus und begann die Vorgehensweise zu erklären. „Ich werde Sie in Hypnose versetzen und dann versuchen, den fehlenden Teil Ihres Gedächtnisses wachzurufen. Sie müssen wissen, dass unser Gehirn niemals etwas vergisst. Sämtliche Erinnerungen sind in unserem Unterbewusstsein abgespeichert und können auch wieder abgerufen werden. Wichtig ist aber auch, dass Sie sich darauf einlassen und mir Ihr Vertrauen schenken. Und je nachdem was es für Erinnerungen sind, kann es entweder schnell gehen, oder länger dauern. Ihr Unterbewusstsein muss sich darauf einlassen. Wenn es sich gegen meinen Eingriff wehrt und mir sozusagen den Zugriff verweigert, könnte es vielleicht etwas dauern. Das heißt aber keinesfalls, dass es unmöglich ist, Miss Cunnings, machen Sie sich da keine Sorgen.“

„Funktioniert Hypnose überhaupt? Ich dachte, so etwas wäre totaler Quatsch.“

„Sie funktioniert bei jedem unterschiedlich. Bei manchen funktioniert es glatt auf Anhieb, andere wiederum brauchen ihre Zeit und manchmal funktioniert es gar nicht. Ein Hypnotherapeut ist auch kein Wunderwirker.“

„Aber Sie sind berühmt dafür, dass Sie selbst das Unmögliche schaffen können.“

„Die Menschen neigen manchmal zu übertreiben.“ Anthony räusperte sich und bat Christine, sich hinzulegen, damit sie sich besser entspannen konnte. Dies war sehr wichtig, wenn er eine risikofreie Hypnose durchführen wollte. Er hatte mit den Jahren herausgefunden, dass er problemlos das Unterbewusstsein anderer Menschen beeinflussen konnte, wenn er sie hypnotisierte. Somit konnte er seine Gabe einsetzen, ohne Angst zu haben, dass er selbst Schäden davontrug. Langsam versetzte er Christine in Hypnose und sie fiel in eine tiefe Trance. Jetzt war alles soweit. Nun konnte er damit beginnen, die verlorenen Erinnerungen aufzurufen und sie in den Speicher der abrufbaren Erinnerungen zu verschieben, sodass sich Christine von selbst wieder erinnern konnte. Konzentriert schloss er die Augen und atmete tief durch. Er spürte die Resonanz, die von Christines Kopf ausströmte. Alles im Hirn bestand aus elektrischen Impulsen, die kodierte Signale waren mit Daten eines Computers vergleichbar. Jetzt, da Anthony seinen Verstand mit Christines verbunden hatte, konnte er diese „Daten“ einlesen, verschieben oder verändern. Immer tiefer drang er ein und hatte nun den Teil der Erinnerungen erreicht. Jetzt musste er nur noch die wieder aufrufen, die durch die Drogen unzugänglich waren. Gerade wollte er noch weiter suchen, da reagierte plötzlich etwas in Christines Verstand. Tausende von Bildern strömten auf ihn ein und zogen an seinen Augen vorbei. Rasend schnell spielten sich Dinge vor ihm ab, die kaum ertragbar waren. Sein Verstand wurde überflutet mit Erinnerungen, die er nicht aufzuhalten vermochte. Er sah Städte, Bilder von Ruinen, Flammen und Zerstörung und Wiederaufbau. Sein Kopf begann zu dröhnen. Er war nicht in der Lage, diesen Strom aufzuhalten. Das alles war zu viel für ihn, wenn es nicht endlich aufhörte, würde er noch den Verstand verlieren. Das Dröhnen in seinem Kopf wurde immer schlimmer und schließlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er brach auf dem Boden zusammen und hörte nur noch, wie Christine flüsterte „Tut mir Leid, aber es ging einfach nicht anders.“

Die gestohlenen Unterlagen

Eine leise Stimme war es, die Anthony wieder zu Bewusstsein brachte und als er langsam die Augen öffnete, sah er sein Dienstmädchen Jenna neben sich knien. Viola und Vincent kamen gerade herein und eilten ebenfalls zu ihm. „Sir, geht es Ihnen gut? Sagen Sie doch etwas!“ Vorsichtig setzte er sich auf und fühlte den rasenden Kopfschmerz, der ihn beinahe wieder auf die Matte geschickt hätte. Verdammt noch mal, das war eine hinterhältige Falle gewesen. Diese Christine hatte seinen Verstand so stark überlastet, dass sich sein Bewusstsein einfach verabschiedet hatte. Aber wie zum Teufel hatte sie das bloß geschafft? Selbst Konstrukteure waren nicht fähig, ihresgleichen auf solche Weise lahmzulegen. Anthony konnte sich ja gegen so etwas schützen, aber Christine hatte diese „Sperre“ einfach umgangen und seinen Verstand mit einer Flut an Informationen überschüttet, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. Er sah sich um und stellte fest, dass sie nicht mehr hier war. „Helft mir mal hoch…“ Vincent und das Dienstmädchen zogen ihn vorsichtig hoch und etwas unbeholfen und taumelnd kam er wieder auf die Beine. Seltsam, warum nur hatte sie das getan? Hätte sie seine Antiquitäten stehlen wollen, dann hätte sie es doch nicht so umständlich gemacht. Dann hätte sie ihn einfach niedergeschlagen oder gleich umgebracht und Jenna gleich mit dazu. Nein, sie war nicht hinter den Antiquitäten her gewesen. Das stand schon mal glasklar fest. Sie musste etwas anderes gesucht haben. Aber was in seinem Hause könnte denn außer den Sammelstücken und Antiquitäten noch von Wert sein? Die Unterlagen, schoss es ihm in den Kopf und sofort machte er sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Die Forschungsunterlagen seines Halbbruders Hinrich, der damals die Dream Weaver Experimente geleitet hatte. Wenn Christine es auf diese abgesehen hatte, musste sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum amerikanischen Geheimdienst gehören. Hoffentlich hatte sie es nicht geschafft, seine Erinnerungen einzulesen und somit herausgefunden, wo er die Unterlagen versteckt hatte. Nicht auszudenken, wenn sie diese las und somit erfuhr, dass er mit Hinrich Helmstedter verwandt war und dass sein Vater ein Mitglied der Gestapo gewesen war. Das wäre eine Katastrophe. Zwar konnte ihm rein rechtlich nichts passieren, weil er ja nicht für die Fehler seiner Verwandtschaft verantwortlich war, aber in den Forschungsberichten waren Namen und Daten versehen. Man musste nicht einmal eins und eins zusammenzählen um dann zu wissen, dass er, Vincent und Mary Konstrukteure waren. Dann würden sie ins Visier der Regierung geraten und dann erneut für irgendwelche Versuche und Experimente missbraucht werden. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

Anthony eilte in sein Arbeitszimmer und fand alles durchsucht vor. Sämtliche Akten waren aus den Regalen genommen worden und Dokumente lagen verstreut herum. Christine hatte es also tatsächlich auf Hinrichs Forschungsunterlagen abgesehen. Vincent war beunruhigt, als er das Chaos sah und fragte, was das zu bedeuten habe, aber Anthony antwortete nicht. Er eilte zum Bücherregal, zog es von der Wand weg und offenbarte einen versteckten Wandtresor. Diesen öffnete er und stellte mit Entsetzen fest, dass er leer war. Alles Blut entwich seinem Kopf und fassungslos starrte er in die Leere hinein. „Sie sind weg“, murmelte er und sah seinen besten Freund mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß. „Die Forschungsunterlagen von Hinrich sind weg. Sie sind gestohlen worden.“

„Scheiße… und… was heißt das für uns?“

„Dass wir echt in Schwierigkeiten stecken, wenn diese Christine wirklich vom amerikanischen Geheimdienst ist. Sie werden wissen, dass wir noch am Leben sind und dass wir damals zum Projekt gehörten. Und wenn sie das wissen, werden sie uns wieder einsperren.“ Anthony schlug mit der Faust gegen die Wand, weil er sich so ärgerte, dass er die Unterlagen nicht besser woanders versteckt hätte. Vor allem aber war er wütend darüber, dass er sich so austricksen ließ und sowohl sich selbst als auch Vincent und vielleicht auch Viola in Gefahr gebracht hatte. Vincent, der ebenfalls besorgt über diese Entwicklung war, versuchte einen ruhigen Kopf zu bewahren und vernünftig mit seinem besten Freund zu sprechen. „Hör mal, noch sind wir nicht aufgeflogen. Außerdem sind wir hier in England und nicht in Amerika, die können uns nicht einfach festnehmen. Das wird man bei uns nicht zulassen.“

„Du stellst dir das vielleicht einfach vor, aber glaub mir, davon lassen sich die Amis auch nicht abschrecken. Entweder werden sie irgendwelche Dinger drehen und uns als flüchtige Kriminelle darstellen, die man ausliefern soll, oder aber der Geheimdienst kommt uns abholen. Verdammt, das ist genau die gleiche Situation wie mit Hannah damals und ich hatte gehofft, dass mir das nie wieder passieren wird.“

„Wer ist Hannah?“ Aber Anthony schüttelte nur den Kopf und schloss den Tresor wieder. Er sah mit einem Male viel älter aus, als wäre er in wenigen Sekunden um Jahrzehnte gealtert. Doch dann senkte er traurig den Blick und erklärte „Hannah war eine DDR-Flüchtige, die ich damals bei mir aufgenommen habe, als ich noch in der BRD gelebt habe. Die Sowjets haben ebenfalls Forschungen bezüglich des Dream Weavers betrieben, sie aber in ganz anderem Stil durchgeführt und Hannah war die Einzige, die das durchschaut hat. Ich hab versucht, sie zu verstecken, aber dann wurde sie von russischen Agenten geschnappt und zurück in die DDR gebracht. Kurz darauf habe ich von ihrem Tod erfahren.“ Nachdem Vincent das gehört hatte, verstand er sehr gut die für den sonst so besonnenen Anthony heftige Reaktion auf die verschwundenen Unterlagen. Aber leider war es nun mal nicht rückgängig zu machen und es galt deshalb zu überlegen, was man nun tun sollte. Wenn es wirklich die Regierung war, konnten sie nicht länger hier bleiben. „Und was schlägst du jetzt vor?“

„Am Besten unsere Spuren verwischen. Niemand darf von uns wissen und niemand darf erfahren, wer wir wirklich sind. Zum Glück weiß niemand, dass ihr bei mir wohnt. Also gut, ich schlage vor, ihr beide zieht erst einmal nach Winchester. Dort habe ich eine kleine Wohnung, die ich unter einem anderen Namen besitze. Fürs Erste solltet ihr dort sicher sein.“

„Und was ist mit dir? Kommst du nicht mit?“ fragte Viola ängstlich und klammerte sich an Vincents Arm fest, was sie häufig tat, wenn sie sich fürchtete. Anthony lächelte und streichelte ihr den Kopf. „Keine Sorge, ich komme bald nach. Ich muss nur ein paar Dinge klären. Es wird schon alles gut werden und Vincent ist ja bei dir.“ Sein bester Freund sah ihn trotzdem besorgt an. „Bist du dir sicher, dass du das alles alleine tun willst?“

„Ich will euch beide nicht in Gefahr bringen und jemand muss auf Viola aufpassen. Du hast die weitaus engere Beziehung zu ihr, also gehst du mit ihr mit.“ Vincent konnte nichts entgegnen. Sein treuer Freund hatte wie so viele Male Recht und er würde sich auch nicht überreden lassen, mit ihnen zu fliehen. Sein Entschluss, die beiden zu beschützen, stand fest und in dieser Hinsicht war er ein Sturkopf. Viola, die durch die ganze Aufregung sehr verängstigt war, wollte nicht alleine bleiben und so ging Vincent mit ihr und versuchte, sie durch kleine Spiele abzulenken. Er las ihr eine Geschichte vor und erzählte etwas von seiner langen Reise. Es wurde schließlich abends und Viola legte sich erschöpft ins Bett und schlief mit ihrem Lieblingskuscheltier im Arm ein. Vorsichtig und geräuschlos schloss Vincent die Tür und ging in den Wintergarten, wo Anthony mit einem sehr ernsten und nachdenklichen Gesichtsausdruck die letzten Strahlen der Abendsonne in der Ferne beobachtete. Die Sterne waren bereits am Himmel zu sehen und der Horizont in der Ferne war in ein träumerisches rot und lila gefärbt. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und murmelte „Und dabei hab ich mir schon vor zwanzig Jahren das Rauchen wieder abgewöhnt.“ Vincent sagte nichts dazu und setzte sich neben ihm. Anthony bedachte ihn mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln und erkundigte sich nach Viola. „Sie schläft jetzt. Ich hab ihr ein paar Geschichten vorgelesen und das hat sie beruhigt.“ „Tut mir wirklich Leid für die Kleine, dass sie das alles miterleben muss. Erst der Terror durch diesen Traumfresser, dann die traumatischen Erlebnisse in der Traumwelt und jetzt das.“

„Du kannst doch nichts dafür. Niemand konnte ahnen, dass man die Forschungsunterlagen von Dr. Helmstedter stehlen wollte und du hast sie gut versteckt.“

„Ich verstehe einfach nicht, wie diese Frau es schaffen konnte, meinen Verstand zu knacken. Dabei habe ich extra dafür gesorgt, dass man nicht an meine Erinnerungen kommen kann, selbst wenn ich ohnmächtig werde. Aber sie hat es trotzdem geschafft. Ich hab mich zu sicher gefühlt…“ In seiner Stimme lagen Vorwurf gegen sich selbst als auch Hoffnungslosigkeit. Vincent konnte nicht viel Aufmunterndes sagen, deshalb schwieg er genauso niedergeschlagen. Eine Zeit lang herrschte bedrückende Stille, dann seufzte Anthony und drückte seine Zigarette aus. „Und heute ist auch noch Hannahs Todestag. Dass ich das mal vergessen könnte.“

„Habt ihr euch nahe gestanden?“

„Es war eine einseitige Geschichte. Hannah war damals verlobt gewesen mit einem Kerl, dem ich schon von Anfang an misstraut habe. Er besaß einen so eiskalten Charakter, dass du ihm heißes Wasser in den Rachen schütten konntest und unten nur Eiswürfel rauskamen. Keine Ahnung, was sie an dem Kerl gefunden hat. Er war damals noch bei der Stasi tätig und hat sie über die Grenze gebracht. Hannah hat ihn abgöttisch geliebt und sogar schon Heiratspläne geschmiedet. So einen Kerl hatte sie nicht verdient. Er hat sie einfach sterben lassen und nichts unternommen, um sie zu retten.“

„Wie ist Hannah gestorben?“

„Sie wurde in ein Institut gebracht, wo man auch an Umbra geforscht hatte. Ich bin mit ihrem Verlobten ins Institut gegangen, um sie zu befreien und unterwegs haben wir uns getrennt. Während ich die anderen Gefangenen befreit habe, ist er losgegangen, um Hannah zu suchen. Er kam recht schnell wieder zurück und erklärte nur, sie habe es nicht geschafft. Er habe nur noch gesehen, wie sie von Umbra verschlungen wurde.“

„Aber dann konnte er doch nichts dafür!“

„Du hättest ihn erleben müssen, als er mir das erzählte. Er sagte es so ganz nebenbei und verzog nicht einmal die Miene. Nicht einmal eine Träne vergoss dieser Mistkerl. Dem war es völlig egal gewesen, dass seine Verlobte getötet wurde. Als ich ihn darauf ansprach, stieß er mich einfach beiseite und sagte mir wortwörtlich „Das ist nicht deine Angelegenheit. Sie ist tot, finde dich damit ab.“ Nenn mich ruhig verbohrt, aber das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich hab ihm eine reingehauen und ihm geschworen, dass ich ihn umbringen werde, wenn er mir noch mal unter die Augen kommt.“ Vincent schwieg dazu, weil er die näheren Umstände nicht kannte und deshalb kein Urteil bilden konnte, ob Anthony damals richtig gehandelt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so eiskalt sein konnte und den Menschen einfach sterben ließ, mit dem er sich verlobt hatte. Warum verlobte dieser Kerl sich dann überhaupt, wenn diese Hannah ihm sowieso egal war? Das wollte ihm nicht ganz klar werden. Aber er kannte auch Anthony und wusste, dass er niemals übertrieb oder Tatsachen falsch darstellte, um sich in ein besseres Licht zu rücken. Wenn er sagte, dieser Typ hätte so reagiert, dann stimmte das auch. Trotzdem konnte er sich das nicht vorstellen. Aber dass Anthony dieses Mädchen sehr geliebt hatte, das merkte er sofort. „Du hast Angst, es könnte sich wiederholen, nicht wahr?“

„Natürlich, ist das denn falsch? Ich weiß sehr wohl, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie nach Macht streben. Wir haben das damals mit Hitler erlebt, mit dem Kampf zwischen Sowjets und Amis und wir erleben es auch heute noch. Die ganze Welt ist so und wird sich in diese Richtung niemals ändern. Die Machthungrigen unterdrücken die Schwachen und beuten sie nach ihrem Vergnügen aus. Das hast du mit jeder Regierungsform so, nur bei den Demokraten lässt sich alles noch schön reden, sodass sich keiner beschwert und man lässt dem Hund genug Leine, damit er sich etwas frei bewegen kann. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er an der Leine hängt. Die Regierungsform bestimmt die Länge dieser Leine. Sei es die Diktatur, Demokratie, die Monarchie oder die Plutokratie. Die Tragödie besteht darin, dass man immer wieder etwas zu ändern versucht, aber die Wurzel des Übels nicht erkennt. Würden die Menschen nicht so sehr nach Macht über andere streben, dann hätte es so viele Schandflecke in der Geschichte nicht geben müssen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich lebe schon viel zu lange.“ „Du redest schon wie ein alter Mann“, bemerkte Vincent schmunzelnd und stieß seinem Freund in die Seite. Dieser lächelte nun ebenfalls. „Natürlich, wir sind alte Männer, die äußerlich jung geblieben sind. Überlege doch, wir sind über achtzig Jahre alt, Mary ist sogar noch etwas älter als wir. In so vielen Jahrzehnten erlebt man viel. Und die Zeit, in der wir aufgewachsen sind, war die erlebnisreichste von allen. Wenn auch im negativen Sinne.“ Nun schwanden auch die letzten abendlichen Sonnenstrahlen und es wurde allmählich kalt draußen. Zum Glück wurde der Wintergarten gut geheizt und sie hatten es sehr behaglich. Anthony ging schließlich zwei Flaschen Bier holen und reichte Vincent eines. „Manchmal ist es ein echter Fluch, in der Lage zu sein, sich an alles zu erinnern. Ein Wunder, dass ich noch kein Alkoholiker geworden bin, um das alles zu vergessen.“

„Jetzt sei mal nicht so pessimistisch und versuch das Positive zu sehen: Hättest du schon viel früher den Löffel abgegeben, hätten wir uns nicht mehr wiedergetroffen.“

„Das ist auch wahr. Darauf sollten wir anstoßen.“ Sie stießen darauf an und tranken das erfrischend kalte Bier. Es auf englische Weise zu trinken, daran hatten sie sich niemals gewöhnen können, selbst nach all der Zeit nicht. Mit dem Alkohol lockerte sich langsam aber sicher die Stimmung und sie begannen sich über angenehmere Themen zu unterhalten. Sie begannen Witze zu reißen und lachten über lustige Anekdoten, wurden dann aber von Viola unterbrochen, die leise schluchzend im Nachthemd hereinkam und den Stoffhasen an sich gepresst hielt. Vincent ging zu ihr hin, um sie zu trösten. „Hattest du einen Alptraum?“ Viola nickte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich hab von so einem unheimlichen Clown geträumt, der mich mit einem Hackebeil umbringen wollte. Er hatte ein ganz fieses Lachen gehabt….“

„Das kommt davon, wenn du dir heimlich Anthonys Horrorfilme ansiehst. Wie oft habe ich dir gesagt, so etwas ist nichts für kleine Kinder?“

„Aber das war kein Horrorfilm. Den hab ich im Regal gefunden.“ Anthony ahnte schon, was Viola für einen Film gefunden hatte und lächelte verzeihend. „Beim nächsten Mal fragst du mich vorher, bevor du wieder Alpträume kriegst.“ Vincent brachte Viola in den Salon, wo sie es sich auf der Couch gemütlich machte. Im Kamin glühte noch ein wenig Restglut und spendete noch ein wenig Licht. Schließlich kehrte er zu Vincent zurück und fragte, wovon Viola da eigentlich gesprochen hatte. „Ich habe da so ein kleines Hobby, man braucht ja so etwas, wenn man so lange lebt. Viola hat Amateuraufnahmen gefunden, die in Verbindung mit einem vertuschten Massaker stehen. Oh Mann, ich hab mich wohl immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt, dass jetzt ein Kind bei mir lebt. Meinst du, ich sollte die Erwachsenenfilme besser vor ihr verstecken?“

„Vielleicht wäre es besser so. Wer weiß, was sie als nächstes ausgräbt und dann wieder nachts nicht schlafen kann.“

„Dann verstecke ich die Schmuddelhefte besser gleich auch.“ Vincent sah seinen Freund ungläubig an, merkte dann aber, dass er gerade verarscht wurde und beide begannen daraufhin zu lachen. Nun hatte jeder sein zweites Bier angefangen und es war bereits dunkel geworden. Anthony legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen, denn die Kopfschmerzen waren wieder zurückgekehrt. Vincent stellte sein Bier auf den Tisch und angelte sich ein Buch, welches etwas versteckt auf einem Stuhl lag. „Sag bloß, du liest jetzt auch Der lange Weg nach Hause?“

„Ist eben eine sehr gute Lektüre. Und wieso „auch“? Liest du das Buch ebenfalls?“

„Nö, aber dafür meine Kollegen an der Akademie. Hauptsächlich aus dem Grund, weil es von dem Typen geschrieben wurde, der mit dem Sally-Syndrom in Verbindung stand. Ich halte nicht sonderlich viel von Biografien. Es gibt viel zu viele, wenn du mich fragst.“

„Das ist ja auch keine Biografie in dem Sinne. Es geht um verschiedene Themen, wie zum Beispiel Mobbing und Ausgrenzung, Intoleranz, Selbstfindung, Vergebung und Familienzusammenführung. Ich bin zwar erst mit der Hälfte durch, aber dieses Buch hat mich mehr bewegt als Requiem für einen Traum und Schindlers Liste. Was der arme Junge durchleben musste, war fast genauso schlimm wie unsere Vergangenheit. Gleichzeitig ist es auch ein Trost, dass es anderen schlechter gehen kann und man eigentlich Glück hat mit seinem eigenen Leben.“ „Dem kann ich nur zustimmen. Aber ich glaube, solche Lektüren sind nichts für mich. Ich bin da eher für Komödien.“ Sie saßen noch bis spät in die Nacht im Wintergarten, dann ging Vincent in den Salon, um die tief und fest schlafende Viola ins Bett zu bringen. Anthony, der meist tagsüber schlief, legte etwas Holz in die Glut und las sein Buch weiter. Es war eine angenehm ruhige Nacht. Alles schlief und nichts und niemand würde diesen heiligen Frieden stören. Doch trotzdem fand er einfach nicht die Ruhe zum Lesen. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu den gestohlenen Dokumenten und die Angst ließ ihn nicht los. Was, wenn jedermann erfuhr, dass seine Familie aus Nazis bestand und er ein Konstrukteur war? Er musste irgendetwas tun und zwar bald. Aber wo sollte er diese Christine zuerst suchen und was war, wenn sie die Dokumente bereits nicht mehr besaß? Es half alles nichts, er fand einfach keine Ruhe und das Einzige, was er in solch einer Situation tun konnte, war ein kleiner Abendspaziergang. Ja, das war eine gute Idee. Ein kurzer Blick nach draußen verriet ihm, dass es kalt war und sich bereits Frost an den Scheiben bildete. Anthony zog seinen Mantel an, legte sich einen Schal um und öffnete die Haustür. Ein eisiger Wind wehte ihm entgegen, aber er war wohltuend und kühlend. Nachdem er auch Handschuhe angezogen hatte, ging er raus ins Freie. Er liebte die Nacht, es war die einzige Tageszeit, in der er problemlos ins Freie gehen konnte, ohne Schmerzen oder Angst zu haben. Und außerdem war alles ruhig und es gab keine Hektik. Anthony bog um die Ecke und ging in Richtung Park. Der Wind wehte nun etwas stärker und es fielen vereinzelt Schneeflocken. In der Ferne hörte er den Ruf einer Krähe und ihm überkam eine leichte Gänsehaut. In Gedanken begann er, Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe“ aufzusagen und darüber nachzudenken. Dabei war es kein Rabe sondern eine Krähe. Und wenn ihn seine Kenntnisse nicht täuschten, musste es der Ruf einer Aaskrähe sein.

Eine alte Fehde

Anthony blieb kurz stehen, da er sich sicher war, zwischen den Bäumen eine Bewegung gesehen zu haben. Er lauschte gespannt, hörte aber nichts und der Schatten war fort. Vielleicht hatte er sich das ja auch nur eingebildet oder er hatte eine streunende Katze gesehen. Die Krähe in der Ferne war verstummt und da alles in Ordnung zu sein schien, ging er weiter. Wieder wehte der Wind und auf einmal nahm Anthony einen unangenehmen Geruch in der Nase wahr. Es roch vermodert und streng, als hätte jemand ein frisches Grab geöffnet. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Instinkt verriet ihm, besser zu gehen und das schnell. Hastig schaute er sich um, sah aber immer noch nichts und begann dann wieder zu laufen. Dieses Mal etwas schneller als zuvor und der Gestank wurde stärker. Nun roch es nicht mehr nach einem frischen Grab, sondern nach einer verrottenden Leiche. Jetzt begann Anthony zu rennen und hörte ein Rascheln in den Bäumen. Die Bäume! Sein Blick wanderte nach oben und er erstarrte, als er da einen seltsamen Schatten ausfindig machen konnte, dessen Augen im Licht der Laternen stechend gelb leuchteten. Mit einem Satz stürzte er sich auf Anthony und riss ihn zu Boden. Zum Vorschein kam eine Vogelscheuche, eine abgrundtief hässliche Vogelscheuche, die einem Horrorfilm entsprungen zu sein schien. Ihre Zähne waren rasiermesserscharf und an den Händen besaß sie Klingen wie Freddy Krueger. Eine groß gewachsene Aaskrähe mit ebenso unheimlichen gelben Augen hockte auf ihrer Schulter. Ein infernalischer Pesthauch ging von dieser Vogelscheuche aus und Ungeziefer wand sich in den Mundwinkeln. Noch nie in seinem Leben hatte der Konstrukteur so etwas Monströses gesehen. Die Vogelscheuche kicherte und drückte Anthony ihren Fuß auf seinen Brustkorb. „Da hab ich doch gleich den Fang des Abends gemacht mein lieber Edgar. Es ist eindeutig er.“ Anthony wagte es kaum zu atmen, denn er fürchtete, dass der Gestank ihn sonst umbringen würde. „Und sieh mal die Angst in seinen Augen. Ist der Junge nicht niedlich? Zu schade, dass ich ihn nicht einfach so aufschlitzen darf, aber sie hat es ja verboten…“ Was zum Teufel redete die Vogelscheuche da? Aufschlitzen wollte sie ihn? Oh Gott, das war doch nicht etwa die mordende Vogelscheuche Scarecrow Jack, die schon unzählige Menschen aufgeschlitzt und mit Süßigkeiten ausgestopft hatte. Anthony wurde klar, dass es noch ein ziemlich übles Ende nehmen würde, wenn er nichts unternahm. Zu dumm, dass er nicht bewaffnet war und einen Toten konnte er nicht durch Unterbewusstseinsmanipulation beeinflussen. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Als er blind herumtastete, bekam er schließlich einen faustgroßen Stein zu fassen und rammte ihn Scarecrow Jack ins Auge. Der Schlag kam für die Vogelscheuche überraschend genug, um von ihm abzulassen und das nutzte Anthony, um aufzustehen und wegzurennen. „Glaubst du wirklich, dass du mich damit aufhalten kannst?“ rief die Vogelscheuche wütend und nahm die Verfolgung auf. „Niemand entkommt Scarecrow Jack!!“ Anthony rannte, so schnell er konnte und flüchtete in Richtung der Bäume. Wenn es ihm gelang, sich im Schutze der Dunkelheit zu verstecken, konnte er diese mordlüsterne Horrorvogelscheuche irgendwie abschütteln. Mit einem Hechtsprung brachte er sich hinter einer dicken Eiche in Deckung und versuchte, kurz zu verschnaufen. Er war aufgrund der jahrelangen Isolation alles andere als sportlich und der Wind war so schneidend kalt, dass ihm die Brust schmerzte. Ein leises Kratzen ertönte hinter ihm, die Klingenhände kratzten gegen den Stamm. „Ich weiß, dass du da bist, kleines Schweinchen. Ich kann deine Angst riechen.“ Einen Moment später tauchte die Vogelscheuche auf und sah sich um. Ihre Augen schienen in der Dunkelheit nicht so gut zu sein wie seine und das konnte er für sich nutzen. Langsam und vorsichtig schob sich Anthony an der Eiche entlang, um sich unauffällig den Blicken dieses Monsters zu entziehen. Jemand packte ihn von hinten und presste eine Hand auf seinen Mund. „Psst“, flüsterte eine Stimme ihm ins Ohr und zog ihn vorsichtig nach hinten. Die Vogelscheuche drehte sich um und ihre Auge trafen Anthonys. „Da versteckst du dich also, kleines Schweinchen…“ Mit einem gehässigen Kichern hob die Vogelscheuche ihren rechten Arm und kam auf ihn zu. „Und nun werde ich dir ein paar Schönheitskorrekturen verpassen…“ Anthony wollte weglaufen, doch der Unbekannte, der ihn zuvor weggezogen hatte, hielt ihn immer noch fest und rief „Jetzt!“ Blitzschnell schoss ein Schatten hinter Scarecrow Jack hervor und stieß ihm von hinten eine Klinge in die Brust und schlug ihm einen Arm ab. Die Vogelscheuche schrie wütend auf und wollte zum Gegenschlag ausholen, da hieb ihr ein weiterer Schlag den Kopf ab und er rollte davon. Die Aaskrähe krächzte laut auf und flog davon. Anthony hatte gar nicht die Zeit zu begreifen, was hier eigentlich passierte, schon wurde er weggezogen und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Als sie den Park verlassen hatten, blieben sie stehen und endlich konnte er seinen Retter im Licht der Straßenlaterne besser erkennen. Es war Christine und sie schien ziemlich aus der Puste zu sein. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und ihre roten Augen fixierten Anthony. „Das war ja echt knapp. Beinahe hätte dich dieser Psychopath noch filettiert.“ Nun verstand er gar nichts mehr und er wich vor ihr zurück. Das alles war einfach nur verwirrend und er schaute nicht mehr durch. Warum rettete Christine ihn, wenn sie doch Hinrich Helmstedters Unterlagen aus seinem Tresor gestohlen hatte? „Hey, alles in Ordnung? Ist bei dir noch alles dran?“

„Ich glaub schon. Aber ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat.“

„Klären wir das besser woanders, hier ist es ein wenig zu gefährlich. Einer von den beiden könnte zurückkommen und erneut angreifen.“

„Dann muss ich zurück nach Hause. Vincent und Viola könnten in Gefahr sein.“

„Keine Sorge, er ist schon auf den Weg und wird sich darum kümmern.“ Christine wollte schon weitergehen, aber Anthony traute dieser Person nicht. Zuerst legte sie seinen Verstand lahm, um ihn auszurauben und plötzlich rettete sie ihn nun vor dieser Vogelscheuche, die aus einem völlig unbekannten Grund jetzt hinter ihm her war. Das war so verwirrend. „Könnte ich bitte erfahren, was das alles zu bedeuten hat? Warum ist Scarecrow Jack hinter mir her und was spielst du eigentlich für ein Spiel?“

„Dass ich einen Kurzschluss in deinem Verstand verursacht habe, tut mir wirklich leid, ich hätte es gerne gelassen. Aber das alles geschah nur, weil wir verhindern wollten, dass du oder die anderen in Gefahr geratet.“

„Und warum hat es diese Killer-Vogelscheuche auf mich abgesehen?“

„Weil du die Unterlagen von Hinrich Helmstedter besitzt und er sie sich unter den Nagel reißen will. Er hat sich mit Mary Lane verbündet und diese ist auf der Jagd nach einem Wesen namens Umbra.“ Umbra? Der Name sagte Anthony etwas. Ja richtig, seine Kunden kamen in der letzten Zeit zu ihm, weil sie von Umbra verfolgt wurden, nachdem er ihnen in ihren Träumen erschien. Dieses Wesen, das unter der Kapuze kein Gesicht besaß, war dafür bekannt geworden, dass es seine Opfer absorbierte oder zumindest Teile von ihnen. Es war in der Lage Knochen, Muskelgewebe oder Organe seinem schlafenden Opfer zu entfernen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Anthony hatte die Unterlagen seines Halbbruders studiert, weil er glaubte, dass Umbra vielleicht ähnlich wie der Traumfresser vom Dream Weaver erschaffen worden war. Wenn Mary zu dem gleichen Schluss gekommen war, dann war es eigentlich nicht verwunderlich, dass sie wieder aktiv geworden war. Dabei hatte er gedacht gehabt, sie wäre immer noch in der Traumwelt gefangen, nachdem er ihr in den Kopf geschossen hatte. Aber offensichtlich war sie weitaus widerspenstiger, als er es sich vorgestellt hatte. „Und warum hast du meine Unterlagen gestohlen?“

„Weil er sagte, dass Mary und Jack erst einmal bei dir suchen würden und wenn sie die Unterlagen finden würden, wäre das eine folgenschwere Katastrophe! Deshalb mussten wir sie heimlich fortschaffen.“

„Musste der ganze Aufwand eigentlich sein?“

„Hättest du uns etwa geglaubt, wenn wir es dir gesagt hätten?“ Da hatte Christine auch wieder Recht. Diese große Lebenserfahrung, die sich Anthony mit den Jahren angeeignet hatte, hatte ihn des Öfteren gelehrt, besser sich selbst allein zu vertrauen, als anderen Leuten. Wie oft hatte er miterleben müssen, dass man ihn betrogen und hintergangen hatte? Viel zu oft und inzwischen hegte er ein allgemeines Misstrauen gegen jeden. „Und wer ist „er“? Dein Komplize?“ „Komplize klingt nach Kriminalität. Wir sind Partner, weil wir das gleiche Ziel verfolgen und uns deshalb gegenseitig unterstützen.“ Sie hatten Anthonys Haus erreicht und schon kam Vincent auf ihn zu. Er sah durcheinander und aufgewühlt aus. „Anthony, im Garten wird geschossen! Du musst schnell kommen.“

„Also doch, Mary ist tatsächlich aufgekreuzt.“

„Wie bitte? Mary lebt noch?“ Sie eilten ins Haus und trafen auf Viola, die völlig verängstigt von dem heftigen Lärm draußen war und sich hilfesuchend an Vincent klammerte. Christine brachte die drei in den Salon und entsicherte nun ihrerseits eine Pistole. „Die beiden sind schlimmer als Kakerlaken. Ich hab schon des Öfteren versucht, Jack endlich zur Hölle zu schicken, aber der Kerl schafft es immer wieder, sich einen neuen Körper zu suchen und mir zu entwischen. Nichts als Ärger hat man mit denen.“

„Was geht hier eigentlich vor sich und wer zum Teufel sind Sie eigentlich?“

„Ich bin hier, um euch den Arsch zu retten. Wir haben nämlich ein ziemlich dickes Problem an der Backe und das ist ein Duo bestehend aus Mary Lane Johnson und dem Serienkiller Scarecrow Jack. Letzterer hat Anthony vorhin im Park überfallen und ihn fast zu Hackfleisch verarbeitet und jetzt versucht Mary offenbar, das Haus zu stürmen und die Dokumente zu stehlen.“ Draußen wurde immer noch geschossen und es waren Schreie zu hören. Vincent hatte Viola in den Arm genommen und versuchte, sie zu beruhigen, während Anthony sich ganz Christine widmete und sie misstrauisch beäugte. „Und wer ist dein Partner?“

„Ich habe ihn vor längerer Zeit kennen gelernt, er ist ein anständiger Kerl aber ich denke, er wird gleich selbst herkommen und sich vorstellen. Ich kann aber versichern, dass wir nicht in böser Absicht kommen oder euch schaden wollen.“

„Dafür ist alles aber mächtig aus dem Ruder gelaufen“, bemerkte Anthony kühl und verschränkte die Arme. Cristine ließ sich auch davon nicht sonderlich beeindrucken. „Wir hatten geahnt, dass sie trotzdem angreifen werden, deswegen haben wir euch ja auch seit einigen Tagen zu eurem eigenen Schutz observiert. Dass es Ärger geben würde, stand ja schon von vornherein fest. Aber keine Sorge, der Krach dürfte gleich vorbei sein.“ Tatsächlich wurde wenig später nicht mehr geschossen und wenig später öffnete sich die Tür zum Salon und ein junger Mann von vielleicht 24 Jahren kam herein. Er trug einen langen schwarzen Mantel, hatte eine merkwürdige Apparatur an seinem Gürtel, die direkt an ein Schwert angeschlossen war, welches er bei sich trug. Seine Augen waren von dunklen Schatten umrandet, was ihm etwas Zwielichtiges und Bedrohliches verlieh, während die Iris von einem hellblauen Ton war, der an Eisgletscher erinnerte. Groß war er nicht, nein er reichte höchstens an 174cm heran, doch allein schon seine autoritäre und harte Ausstrahlung machte das sofort wieder wett. Sein schwarzes Haar war sehr altmodisch geschnitten und hatte etwas von jenem, den die Jungen in den 30ern zu tragen pflegten. Viola erschrak, als sie ihn sah, wie er mit einer Pistole in der Hand hereinkam und mit einem Stechschritt hereinmarschierte, als wollte er entweder salutieren oder alle Anwesenden erschießen. Leider sah sein todernster und zugleich finsterer Gesichtsausdruck nicht danach aus, als wolle er Ersteres tun. Vincent, der nicht sicher war, ob dieser Kerl ein Verbündeter oder ein Feind war, blieb bei Viola, Anthony hingegen wurde leichenblass und seine Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit, dann aber verzog sich sein Gesicht vor Hass und er stürzte sich auf ihn. Viola und Vincent wussten nicht, was das eigentlich zu bedeuten hatte und sahen das heftige Gerangel erst einmal mit an. Als dann aber Anthony seine Pistole auf die Stirn des jungen Mannes drückte, erschraken sie beide und Christine wurde etwas unruhig. „Wie kannst du es wagen, dich hier überhaupt noch einmal blicken zu lassen? Du hast in meinem Haus nichts zu suchen!“ Noch nie in seinem Leben hatte Vincent seinen Freund so erlebt. Normalerweise ließ sich Anthony nicht so schnell aus der Ruhe bringen, aber jetzt drehte er ja vollkommen durch! Offenbar kannten sich die beiden. Es war das Beste, wenn er versuchte, die Situation zu entschärfen. „Anthony, jetzt beruhige dich doch mal und nimm die Waffe runter.“

„Nein, ich werde mich nicht beruhigen. Ich habe dir doch gesagt Thomas, dass ich dich umbringen werde, wenn du mir noch einmal unter die Augen kommst.“ Thomas? Vincent begann zu ahnen, was hier vor sich ging und er befürchtete, dass gleich das Schlimmste folgen könnte. Er wollte schon aufstehen und Anthony wegzerren, da ging Christine dazwischen und zog Anthony mit einer Kraft weg, die man ihr gar nicht zugetraut hätte. Mit einem kräftigen Handkantenschlag schlug sie ihm die Pistole aus der Hand und konfiszierte sie. „Jetzt beruhig dich doch mal, Anthony. Thomas ist doch hier, um euch vor Jackson und Mary zu schützen.“

„Von dem brauche ich ganz sicher keinen Schutz oder irgendwelche Hilfe. Du hättest damals für deine Verlobte da sein sollen, als sie dich brauchte. Stattdessen hast du sie einfach sterben lassen, du elender Mörder.“

„Nun reicht es aber!“ rief Christine und stieß Anthony sanft, aber bestimmt zurück. „Vorwürfe bringen uns nicht weiter, okay? Regelt eure Streitereien bitte woanders aber nicht vor der Kleinen.“ Doch Anthony wollte sich nicht beruhigen. All die Wut und der Schmerz, den er damals empfunden hatte, brachen jetzt aus ihm heraus und waren nun nicht mehr zurückzuhalten. Jetzt, da er den Menschen direkt vor sich hatte, der Hannah Ackermann, für die er damals mehr als nur freundschaftliche Gefühle gehegt hatte, auf dem Gewissen hatte, wollte er ihn seinen Hass spüren lassen. Ihm war egal, ob Thomas selbst wütend wurde oder sogar Reue zeigte und sich entschuldigte. Aber nichts dergleichen kam. Auf dem Gesicht dieses jungen Mannes war nichts Weiteres als eiskaltes Desinteresse zu sehen und er schenkte Anthonys Worte nicht die geringste Beachtung. Dann aber nahm sein Blick etwas leicht Herablassendes an und mit tonloser Stimme sagte er „Wie oft habe ich dir gesagt, dass das nicht deine Angelegenheit ist? Finde dich damit ab, dass Hannah nicht mehr lebt. Solche Dinge passieren nun mal. Jeder Mensch stirbt irgendwann. Die einen früher, die anderen später. Doch er ist nun mal unvermeidlich, das müsstest du auch wissen. Und sie zu betrauern, bringt sie auch nicht zurück. Also akzeptier es einfach und lass es sein!“ Das war zu viel für Anthony. Er hatte ja für Vieles Verständnis und Nachsehen, aber dass man so gleichgültig über den Tod eines geliebten Menschen sprechen konnte, das ging einfach über sein Fassungsvermögen. Eine Sicherung brannte in ihm durch, er holte aus und schlug Thomas mit der Faust ins Gesicht. Dieser taumelte zwar ein wenig zurück, zeigte jedoch nicht den geringsten Anflug von Schmerzen. Ein kleines Blutrinnsal floss seinen Mundwinkel hinunter, welchen er jedoch achtlos wegwischte. „Werde erwachsen, die ganze Sache ist schon knapp 60 Jahre her. Der Tod gehört nun mal zum Leben dazu.“

„War ja klar, dass das von einem ehemaligen Auftragskiller der Stasi kommen musste“, knurrte Anthony und ballte die Faust erneut. „Jemand wie du hat doch überhaupt keinen Respekt vor dem Leben. Und mit Sicherheit hast du Hannah nur etwas vorgeheuchelt und sie dann an die Sowjets verkauft. Ein Killer wie du ist doch zu gar nichts fähig, außer zu töten!“ Hier aber, bei diesen Worten, blitzte kurz etwas in Thomas Augen auf und nun war er es, der Anthony am Kragen packte und ihm eine reinhaute. Der Schlag traf Anthony in die Magengrube und war stark genug, um ihn von den Füßen zu reißen und gegen eine Kommode zu schleudern. Stöhnend vor Schmerz sank er in sich zusammen, unfähig aufzustehen, da kam Thomas auf ihn zu und stieß Anthony seinen Fuß gegen die Schulter. „Sag mir nicht, was ich bin.“ Das war der Auftakt für einen handfesten Streit, wie ihn keiner der Anwesenden bis jetzt erlebt hatte. Es wurden Schläge ausgeteilt, Wortgefechte geliefert und endete schließlich damit, dass Thomas Anthony mit einem Überwurf auf den Boden schleuderte und dann seine Pistole auf ihn richtete. Er spannte den Hahn und legte den Finger um den Abzug. Für einen Moment sah es tatsächlich danach aus, als wolle er Anthony erschießen, aber dann schweifte sein Blick zu Viola, welche ihn erschrocken und völlig verängstigt ansah, als hätte er die Pistole auf sie gerichtet. Wortlos sicherte er die Waffe wieder und steckte sie ein. Er wandte sich ab und ging, Christine sah beide abwechselnd an und seufzte kopfschüttelnd. „Ihr seid doch beide Idioten.“ Schließlich ging sie zu Anthony hin und wollte ihm hochhelfen, doch er ignorierte diese nett gemeinte Geste. „Warum erfahre ich erst jetzt, dass ausgerechnet er hier ist?“

„Weil ich befürchtet hatte, dass es nur Zankerei geben könnte. Aber jetzt mal im Ernst, das war echt nicht die fein englische Art, ihm eine reinzuhauen und solche Sachen an den Kopf zu werfen.“

„Was ist daran falsch? Es ist die reine Wahrheit, so sieht es aus. Thomas Stadtfeld war ein Auftragskiller der Stasi, er wurde schon als Kind darauf gedrillt, Leute zu töten. Selbst heute lässt er sich noch bezahlen, um Leute umzubringen. Das ist ja auch das Einzige, was er kann.“ Dem konnte Christine durchaus nichts erwidern, aber sie schien trotzdem nicht sehr glücklich mit der Situation zu sein. Schließlich wandte sie sich Vincent und Viola zu und entschuldigte sich für die ganze Aufregung. Das sei alles nicht so gewollt gewesen und sie versprach, dass sie schon dafür sorgen werde, dass sie beide an einen sicheren Ort gebracht wurden. „Und was ist mit diesem Thomas? Können wir ihm wirklich vertrauen?“ Zeitgleich kam von Anthony ein „nein“ und von Christine ein „ja“ zur Antwort, was die Sache auch nicht leichter machte. „Thomas ist hergekommen, um euch vor Mary und Scarecrow Jack zu schützen. Ich gehe erst einmal zu ihm und sehe nach ihm, morgen wird euch ein Kollege zu einem sicheren Ort bringen, wo Mary und Jack euch erst mal nicht finden werden.“

„Und wer sagt uns, dass wir dir vertrauen können?“

„Wenn ich euch ausliefern wollte, hätte ich es schon längst getan.“ Mit einem leichten Kopfnicken verabschiedete sich Christine und lief Thomas hinterher. Die Stimmung war endgültig auf dem Tiefpunkt.

Zwei Fronten, ein Scherbenhaufen

Gleich am nächsten Morgen kam Christine alleine zu Besuch, um sich in aller Ruhe mit Anthony zu unterhalten. Nach einem langen, klärenden Gespräch kamen sie beide zu der Ansicht, dass es das Beste wäre, Vincent und Viola aus der Schusslinie zu holen und sie in Sicherheit zu bringen. Er weigere sich aber, an eine Zusammenarbeit mit Thomas überhaupt zu denken. Christine gab sich mit diesem Teilsieg fürs Erste zufrieden und versprach ihm, dass sie ihr Wort halten werde und seinen beiden Freunden nichts passieren würde. Das genügte ihm fürs Erste und so wurden Vincent und Viola von einer schwarzen Limousine mit getönten Scheibe abgeholt und weggebracht. Danach setzten sich Anthony und Christine in den abgedunkelten Salon (denn es war inzwischen hell geworden), um einige Dinge klarzustellen. Die rothaarige Schönheit hatte schon sehr früh gespürt, dass sich im Laufe der Jahre wohl sehr viele Emotionen bei Anthony aufgestaut hatten und da sich ja gezeigt hatte, dass Thomas nicht gerade eine große Hilfe war, das alles ein für alle Male zu klären, wollte sie das übernehmen. „Hör mal Anthony, ich möchte ja nicht Partei für irgendjemanden ergreifen, aber findest du nicht, dass deine Vorwürfe sehr ungerecht und hart waren? Ich meine, Thomas hat es sich damals nicht aussuchen können, er wurde von klein auf dazu erzogen, Menschen zu töten und hat nie etwas anderes gelernt.“

„Das weiß ich ja und ich gebe auch zu, dass ich überreagiert habe. Aber ich war einfach nur wütend über seine Worte. Hannah war ein so liebenswerter Mensch gewesen und ich hatte mir einfach nur gewünscht, dass sie glücklich wird. Aber all das wurde durch Umbra und die Sowjetunion zerstört und Thomas war nicht in der Lage, sie zu retten. Das kann ich ja noch verstehen, ich bin ja auch nicht allmächtig, aber ich kann ihm diese Worte einfach nicht verzeihen. Es kommt mir so vor, als hätte Hannah ihm nie etwas bedeutet.“

„Thomas reagiert so, weil er es nicht besser weiß. Für ihn hatten Menschenleben nie den gleichen Wert wie für dich und da er nie gelernt hat, was Trauer bedeutet, konnte er die Sache eben anders abschließen als du. Im Grunde ist Thomas kein schlechter Mensch, aber er sieht viele Dinge anders. Nur weil er das alles gesagt hat, bedeutet es noch lange nicht, dass Hannah ihm nichts bedeutet hat.“ Anthony schwieg und dachte über Christines Worte nach. Sie schien ihn schon eine ganze Weile zu kennen. „Sag mal Christine, wie lange kennst du Thomas bereits?“

„Schon eine ganze Weile. Ich hab ihn am 12. Dezember 1955 kennen gelernt. Daraufhin haben wir recht viel Zeit miteinander verbracht.“

„Dann bist du also…“

„Nein, ich bin kein Konstrukteur“, gab Christine kichernd zurück und war amüsiert darüber, dass Anthony tatsächlich dachte, sie wäre wie er. Er seinerseits war verwirrt, denn dieses Mädchen sah nicht danach aus, als wäre sie sie schon so alt. Was zum Teufel war sie dann, wenn sie nicht alterte? „Ich bin kein Mensch“, erklärte sie schließlich. „Und Christine ist auch nicht mein richtiger Name. Aber ich benutze ihn in der letzten Zeit fast immer, um Komplikationen zu vermeiden.“

„Und wer oder was bist du dann?“

„Ich bin schon als vieles bezeichnet worden. Als Hexe, Ausgeburt des Teufels, als Bote Gottes, als Rachegeist, als Eumenide und sogar schon als Gott oder Teufel in Person. Die Menschen neigen oft dazu, Dinge bei völlig bescheuerten und abwegigen Namen zu nennen, die sie nicht verstehen können.“

„Und als was bezeichnest du dich?“

„Ich sorge dafür, dass Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Je nach Härte der Verbrechen steht es mir frei zu entscheiden, wie ich verfahren soll. Und manchmal fällt es auch in meine Aufgabe, gewisse Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken, damit alles seinen vorbestimmten Weg gehen kann. Meine primäre Aufgabe ist es, alles im Gleichgewicht zu halten.“

„Klingt ein wenig nach dem Film „Der Plan“.“ Christine lachte und schenkte sich einen Kaffee ein. „So in der Art, allerdings ist nicht alles vorherbestimmt. Jeder Mensch hat die Freiheit, sein Leben entweder zu verwerfen oder sinnvoll zu nutzen. Aber ich sorge dafür, dass er die Konsequenzen für seine Handlungen zu spüren bekommt. Meine Methoden mögen manchmal unkonventionell sein, aber Hauptsache ist, dass das Ergebnis stimmt.“ Während Anthony sie so betrachtete, glaubte er etwas in ihren Augen zu erkennen, das wie ein loderndes Feuer aussah. Ja, in ihren Augen schien ein unheimliches Höllenfeuer zu lodern und in diesem Moment kam sie ihm nicht ganz geheuer vor. Doch ihr Lächeln war so ehrlich, dass sich gar nicht an ihren guten Absichten zweifeln ließ. „Also gut“, sagte er schließlich. „Könntest du mir dann vielleicht verraten, was ihr beide miteinander zu schaffen habt?“

„Wir haben einen Deal“, erklärte Christine und bediente sich schließlich an den Snacks, die das Dienstmädchen gebracht hatte. „Thomas unterstützt mich ein klein wenig bei der Arbeit und ich helfe ihm, sein Ziel zu erreichen.“

„Und was ist sein Ziel?“

„Tut mir Leid, aber ich bin zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber momentan verfolgen wir sowieso dasselbe Ziel: Umbra vor Mary zu finden und diese Kreatur aufzuhalten, noch mehr Menschen zu verschlingen.“

„Wenn du kein Mensch bist, könntest du ihn nicht alleine ausschalten?“

„Wenn das mal so einfach wäre. Fakt ist leider, dass Umbra ebenfalls nichtmenschlich ist und nicht so einfach zu töten ist wie ein normales Lebewesen. Das gleiche Problem stellte sich ja auch mit dem Traumfresser. Da er vom Dream Weaver erschaffen wurde, war er nicht an die üblichen Naturgesetze gebunden. Ähnlich ist es bei Umbra: Er kann sich den Naturgesetzen entziehen, da er in Verbindung mit dem Dream Weaver steht. Leider weiß ich nicht viel über Umbra, deshalb wollte ich auch die Forschungsunterlagen deines Halbbruders näher durchlesen.“ Als Anthony hörte, dass sie von seiner Verwandtschaft zu Hinrich Helmstedter wusste, zuckte er zusammen und umklammerte seine Tasse fester. Doch Christine lachte und klopfte ihn auf den Rücken und versprach ihm, dass sie sein Geheimnis für sich behielt. Ihr wäre es sowieso herzlich egal, wer wie mit wem verwandt sei. Schließlich holte sie die Forschungsunterlagen, die sie gestohlen hatte und nun begannen sie beide, nach Hinweisen zu suchen. Die Dokumente waren alle in Plattdeutsch geschrieben, ein Trick, um zu verhindern, dass die Sowjets oder die Amis sie schnell entschlüsseln könnten. Zwar war dieser Dialekt in der damaligen Zeit sehr verbreitet, jedoch fiel es Ausländern sowieso schon schwer genug, die deutsche Sprache zu übersetzen. Plattdeutsch stellte einen noch höheren Schwierigkeitsgrad dar. Auch Anthony hatte des Öfteren damit zu kämpfen, seine eingerosteten Plattdeutschkenntnisse wieder aufzuwärmen. Die Berichte waren sehr detailliert und mit Namen und Krankendaten versehen. Es war schon ein seltsames Gefühl zu lesen, was da über ihn selbst und seine Freunde geschrieben stand. Sie fanden einige Forschungsergebnisse über Operationen am Gehirn und inwieweit das Unterbewusstsein eines Individuums Einfluss auf die Handlungen anderer ausüben konnte. Aber Informationen über ein Wesen namens Umbra fanden sie nicht. „Was weißt du eigentlich über Umbra?“

„Es ist ein Wesen, das ausschließlich in der Dunkelheit lebt und bei Licht seine Kraft verliert. Unter seiner Kleidung verbirgt sich nur Leere, man könnte Umbra auch mit einem schwarzen Loch vergleichen. Solange es in der Dunkelheit lebt, kann es alles absorbieren, sogar Angriffe. Das erste Mal haben wir es gesehen, als Umbra gerade dabei war, einen Obdachlosen zu absorbieren. Als wir ihn versuchten herauszuziehen, fehlte die komplette obere Hälfte, dabei gab es keine offenen Wunden. Richtig unheimlich aber wurde es, als ich ihn mit einer Brechstange angegriffen habe. Sie ist einfach absorbiert worden.“

„Dann wird es ja richtig schwierig, ihn zu töten.“

„Wir vermuten, dass Lichteinwirkung ihn verletzlich machen kann. Deshalb wollte Thomas auch nicht, dass du dabei bist. Es war nichts Persönliches aber aufgrund deines… Problems… kannst du da leider nicht viel ausrichten.“ Da hatte Christine leider nicht ganz Unrecht. Wenn Umbras einziger Schwachpunkt tatsächlich das Tageslicht war, dann würde es äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich für ihn sein, ihn zu bekämpfen. Aber eines beschäftigte ihn noch. „Woher kommt Umbra eigentlich? Ist er tatsächlich eine weitere Kreatur, die vom Dream Weaver erschaffen wurde?“ „Ich weiß es noch nicht hundertprozentig, aber ich vermute, dass es mit diesem Experiment der Sowjets zusammenhängt. Diese hatten nämlich im Gegensatz zu den Amerikanern gezielt nach einer Möglichkeit gesucht, Dinge aus Traumwelten in die Realität zu holen und einen neuen Dream Weaver zu erschaffen. Ich vermute, dass Umbra das Endprodukt dieser Versuchsreihe ist, aber dass er nicht vollständig ist. Umbra ist ein leerer Traum ohne Inhalt, vermutlich absorbiert er deshalb alles, was ihm zu nahe kommt. Und Mary will wohl versuchen, Umbra zu vervollständigen und sich dann seine Kraft anzueignen, sollte er dann wirklich zu einem neuen Dream Weaver werden. Kaum auszudenken, wenn sie diese Macht tatsächlich erlangen sollte. Das würde böse enden. Es würde viel schrecklichere Ausmaße haben als die Tragödie von Backwater oder der Alptraum von Shallow Graves, die Sally damals verursacht hatte. Insbesondere, weil wahnsinnige Menschen an sich schon gefährlich sind. Hitler ist ja bis heute noch das perfekte Beispiel.“ Dem stimmte Anthony mit einem Nicken zu und gab einen Würfel Zucker in den Kaffee, da dieser nicht süß genug nach seinem Geschmack war. „Der Wahnsinn hat schon viele Katastrophen und Tragödien hervorgerufen. Erst letztlich las ich von einem Fall, wo ein verwitweter Mann Porzellanpuppen verkaufte, die er aus den Knochen der Kinder gefertigt waren, die er ermordet hatte. Einen solch bizarren Fall hab ich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt.“

„Du wirst dich wundern, was ich schon alles erleben musste“, entgegnete Christine und lehnte sich etwas zurück in die Lehne. „In den Zeiten, wo Seuchen die Menschheit geplagt hatten, wurden die Kranken ausgestoßen, sodass sie elendig verreckten oder man verbrannte oder vergrub sie lebendig, um somit die Seuchen zu bekämpfen. Wenn die Menschen in einer aussichtslosen Lage sind, fällt es ihnen nicht sonderlich schwer, ihre Menschlichkeit über Bord zu werfen, um am Leben zu bleiben. Das war mit Sally so, mit Jackson Cohan alias Scarecrow Jack und auch Mary Lane. Sie ist zu dem geworden, was sie war, weil sie sonst genauso im Konzentrationslager gestorben wäre wie ihre Familie.“ Das wusste Anthony nur zu gut, auch er hatte in aussichtslosen Situationen Dinge getan, auf die er nicht sonderlich stolz war. Die Menschlichkeit war eben keine Selbstverständlichkeit, sie war ein Schein, den es so lange aufrecht zu erhalten galt wie unbedingt nötig. Sie war eine Selbstlüge, weil niemand wahrhaben wollte, dass jeder eine genauso kaltblütige und grausame Ader besaß wie diese unzähligen Diktatoren und Serienmörder. Kinder, die Tiere und Insekten aus einem reinen Vergnügen heraus quälten, waren das perfekte Beispiel, nur waren sie sich noch nicht im Klaren darüber, was sie da überhaupt taten. „Was genau will Thomas eigentlich? Was verspricht er sich davon, Umbra zu finden?“

„Er will die Vergangenheit auslöschen. Weißt du, Thomas ist nicht ohne Grund Mitglied der Stasi geworden. Er hatte der Sowjetunion nur unter der Bedingung die Treue geschworen, wenn sie den Kindern aus den Instituten Hilfe zukommen ließ und sämtliche Forschungsunterlagen vernichtete und versprach, dass es solche Experimente niemals geben würde. Aber sie haben ihr Wort gebrochen und so verriet Thomas die Sowjetunion und ist bis heute noch damit beschäftigt, die letzten Spuren dieser Experimente auszulöschen. Damit will er verhindern, dass sich diese Geschichten jemals wiederholen könnten.“

„Und warum tut er das alles?“

„Er war damals im gleichen KZ gewesen wie Mary und wurde ebenfalls zu einem Konstrukteur gemacht. Damit gehört er zu den ersten Prototypen, deshalb konnte er auch so jung bleiben. Aber er kann seine Fähigkeiten nicht gegen andere einsetzen, zumindest nicht so wie du, Mary und Vincent. Thomas wurde schon kurz nach seiner Geburt den Eltern weggenommen und zu einem Attentäter ausgebildet, um Hitler zu töten. Er lernte alles darüber, wie man einen Menschen töten konnte, aber nicht, wie man mit ihnen lebte. Als er zufällig erfuhr, dass seine Ausbilder vorhatten, Hitler zu stürzen und selbst an die Macht zu kommen, tötete er sie und tauchte unter, bis ihn die Sowjets fanden und anheuerten.“ So war das also, dachte Anthony und starrte nachdenklich auf seinen Kaffee. Er hatte sich schon immer gefragt gehabt, wie ein kleines Mädchen wie Mary es damals fertig bringen konnte, über 100 Gefangene aus dem Konzentrationslager zu befreien und zu fliehen. Aber jetzt ergab das einen Sinn: Thomas hatte ihr geholfen und die Wachen getötet, sodass sie alle fliehen konnten. Trotzdem verstand er nicht, wie Thomas so viele Menschen retten konnte, aber nicht in der Lage war, Hannah davor zu retten, von Umbra absorbiert zu werden. Es wollte ihm einfach nicht einleuchten. „Ich verstehe gut, dass du um Hannah trauerst, du hast sie geliebt. Aber geh von Thomas’ Verhalten nicht davon aus, dass sie ihm völlig egal war. Er wirkt nur so kalt und abweisend, aber er ist nicht wirklich so.“

„Das verstehe ich ja, aber…“ Anthony seufzte und senkte den Blick. Christine sah ihm an, dass ihm etwas auf der Seele lastete. Etwas sehr Trauriges, das er nicht auszusprechen wagte und lange für sich behalten hatte. Für einen Moment sah es danach aus, als wolle er es zumindest ihr anvertrauen, doch da überlegte er es sich anders und schüttelte nur den Kopf mit einem leisen Murmeln „ach nichts“. Wenig später wurde die Tür geöffnet und Thomas Stadtfeld kam mit festen Schritten herein, sodass das Dienstmädchen ihm kaum zu folgen vermochte und verzweifelt versuchte, ihn aufzuhalten. „Moment, Sie können doch nicht einfach…“, stammelte sie und eilte ihm noch hinterher, aber er machte nicht die geringsten Anstalten, ihr zuliebe stehen zu bleiben und ihr wenigstens eine Antwort zu geben. Er ignorierte sie einfach. Anthony warf Christine einen stummen Blick zu, der so viel sagte wie „Wie war das noch mal gerade mit „er wirkt nur so abweisend, aber in Wahrheit ist er nicht so“, hä?“ und sie schickte einen verlegenen Blick zu Thomas, der wohl sagen sollte „Bitte sei doch nicht ganz so kaltschnäuzig.“ Aber diese Botschaft schien ihn nicht zu erreichen. Nein, er überging das Dienstmädchen einfach und baute sich vor Christine und Anthony auf wie ein Drill Sergeant, der die neuen Rekruten gleich nach allen Regeln der Kunst wortwörtlich zur Sau machen wollte. „Die Forschungsunterlagen“, sagte er tonlos und sah Christine mit einem eisigen und zugleich tödlichen Blick an. „Wir haben uns geeinigt, sie mitzunehmen.“

„Nun sei doch nicht so“, sagte Christine und stand nun auf. Da sie mehr als zehn Zentimeter größer war als Thomas, wirkte dieses Bild irgendwie merkwürdig verkehrt. „Anthony könnte uns durchaus helfen und ich bin gerade dabei, euer beschissenes Verhältnis wenigstens ein bisschen zu kitten.“

„Darum habe ich dich nicht gebeten.“

„Fall mir bloß nicht dankend um den Hals. Jetzt mal im Ernst, wir haben leider nicht die besten Karten. Mary ist absolut gefährlich und unberechenbar, genauso wie Scarecrow Jack und der ist ein Toter im Körper einer Vogelscheuche. Du kannst ihm die Arme abschlagen, aber leider ist er trotzdem ein Stehaufmännchen. Ich bin in meiner jetzigen Position auch nicht befugt, alles auf meine Weise zu lösen und du kannst nur auf deine Kampfkunst vertrauen.“

„Ich will ihn nicht dabei haben, das ist nicht seine Angelegenheit.“

„Es ist sehr wohl meine Angelegenheit, wenn es um die Dream Weaver Experimente geht“, entgegnete Anthony und stand nun ebenfalls auf. Die Sache sah deutlich danach aus, als würde die Situation eskalieren und wieder in einer handfesten Auseinandersetzung enden. Thomas beachtete ihn kaum, er sah ihn nur aus den Augenwinkeln an und hob eine Augenbraue und diese Geste hatte etwas leicht Arrogantes an sich. „Und was willst du schon ausrichten? Jemanden, der nur aus dem Haus kann, wenn es stockfinster ist, kann ich nicht gebrauchen. Weder Umbra noch Hannah oder die sowjetischen Experimente gehen dich in irgendeiner Weise etwas an. Du hattest nichts damit zu tun, deshalb wirst du dich da auch raushalten.“ Das war es, nun war Anthony wieder genau da, wo er gestern war. Alles Verständnis, das er empfunden hatte, war fort. Dass dieser unverschämte Mensch sich jetzt auch noch über seine Krankheit lustig machte, war zu viel. Er musste es jetzt sagen, egal was auch als Konsequenz folgen mochte. Mit einem finsteren aber bestimmten Blick packte er Thomas am Kragen und schaute ihm in diese von dunklen Schatten umringten Augen. „Mach dich noch ein Mal über mich lustig und du wirst dein blaues Wunder erleben. Ich kann nichts dafür, wie ich geboren wurde, lass dir das gesagt sein. Aber soll ich dir mal etwas sagen? Ich werde dir mal ein Geheimnis verraten, mein lieber Thomas: Hannah hat dir damals eine Kleinigkeit verschwiegen, als sie bei mir gelebt hat.“ Christine ahnte Schlimmes und ging zu Anthony hin, um die beiden wieder voneinander zu trennen, denn sie befürchtete, dass er gleich von einer heimlichen Liebesaffäre mit Thomas’ Verlobten sprechen würde, um ihn zu provozieren. Das würde kein gutes Ende nehmen. Doch statt, dass so etwas kam, erklärte Anthony „Hannah hat es mir damals anvertraut, als sie bei mir gelebt hat: Sie war schwanger mit deinem Kind! Sie hatte mich gebeten, die Patenschaft zu übernehmen, wenn es auf der Welt sein sollte und sie wollte dir davon erzählen, wenn ihr wieder zusammen wärt.“ Für einen kurzen Moment war etwas in Thomas’ Augen zu sehen, was nicht von Härte oder Kälte zeugte. Es war ein merkwürdiger Ausdruck, den man nicht zu deuten vermochte. Für den Bruchteil einer Sekunde begann dieses ausdruckslose und hartherzige Gesicht zu bröckeln, aber das alles war nur so kurz zu sehen, dass es niemand außer Christine bemerkte. Thomas stieß Anthony von sich, sodass dieser nach hinten fiel und richtete seinen Kragen neu. „Dann ist das eben so. Da sie tot ist, hat sich diese Sache ja auch erledigt, aber mein Entschluss steht fest: Du hältst dich aus der Sache raus.“

„Das kannst du vergessen!“

„Nun hört endlich auf, alle beide!“ rief Christine und stellte sich zwischen die beiden. Während wir hier streiten, kommen Mary und Jackson immer näher an Umbra heran und wir treten immer noch auf der Stelle. Anthony, bitte entschuldige uns kurz, wir müssen etwas miteinander bereden.“ Christine ergriff Thomas am Arm und verließ mit ihm den Salon. Der Hausherr folgte ihnen unauffällig und lauschte neugierig an der Tür, um herauszufinden, was da eigentlich beredet wurde. Er konnte nicht viel aus dem Getuschel herausholen, sodass er sich den Rest zusammenreimen musste.
 

„Das war so nicht abgemacht.“

„Ich weiß, aber wir müssen jetzt umdenken. Die Situation hat sich geändert.“

„Nichts hat sich geändert. Wir bleiben bei unserem Plan, ganz egal was auch kommt.“

„Ich krieg das schon hin, Thomas. Wenn wir Umbra vor Mary fangen wollen, müssen wir uns beide auf Kompromisse einlassen.“

„Da gibt es keine Kompromisse. Wir hatten eine Abmachung und ich habe meinen Teil erfüllt. Nun wirst du auch deinen erfüllen.“

„Das tue ich auch, mach dir da keine Sorgen. Aber du musst endlich mal deine verdammte Sturheit ablegen und einsehen, dass wir Unterstützung brauchen. Aber sag mal, wegen dem Kind…“

„Daran ändert sich nichts, okay? Wir werden einfach weiter verfahren, wie bisher. Mich interessiert nur Umbra, sonst nichts. Die Sache ist für mich abgeschlossen und ich interessiere ich auch nicht für die Vergangenheit.“

„… du kannst mir nichts vormachen, Thomas. Das müsstest du nach all der Zeit eigentlich wissen.“

„Ich habe keine Lust, mir dein sentimentales Geschwätz anzuhören. Also gut, dann werden wir mit Anthony zusammenarbeiten. Aber wenn er mir im Weg stehen sollte, wird er schon sehen, was er davon hat.“

Letzte Vorbereitungen

Mary hatte sich hingelegt, denn die Wunden schmerzten sehr, obwohl sie fast verheilt waren. „Dieser verdammte Mistkerl hat mir genau ins Bein geschossen. Wenn ich den in die Finger kriege, bringe ich ihn um!“ „Du hast gut reden. Mir hat er die Arme und den Kopf abgeschlagen“, gab Jackson wütend zurück und war gerade dabei, den Rest von sich wieder dem Vogelscheuchenkörper anzufügen, während seine zahme Krähe Edgar auf einer Stange hockte und ihr pechschwarzes Gefieder putzte. Sie beide waren vernichtend geschlagen worden, nachdem sie vorherige Nacht versucht hatten, Anthony zu überwältigen und in sein Haus einzubrechen, um die Dokumente seines Halbbruders zu stehlen. Zwar hatten sie mit Widerstand gerechnet, aber nicht mit einem ausgebildeten Profikiller, der sie beide so gnadenlos auseinandernehmen würde. Ohne Vorwarnung hatte dieser einfach das Feuer eröffnet und Mary war nichts anderes übrig geblieben, als in Deckung zu gehen. Zwar hatte sie versucht, diesen Schießwütigen zu manipulieren, aber er hatte ihren Zugriff auf sein Unterbewusstsein einfach abgeblockt. Das alles ließ nur einen Schluss zu: Es musste Thomas Stadtfeld sein. „Ich hätte nicht gedacht, dass er immer noch am Leben ist“, murmelte Mary und drückte sich ein Kühlkissen auf die Stirn. „Ich meine, ich habe doch selbst gesehen, wie dieser Hurensohn damals von den Russen niedergeschossen wurde, nachdem er mehrere Agenten der Stasi getötet hat. Aber anscheinend ist er doch nicht so einfach totzukriegen.“ Jackson schwieg, er war damit beschäftigt, seinen abgetrennten Arm wieder anzunähen und das war mit klingenbestückten Händen alles andere als einfach. Seine giftigen gelben Augen funkelten Mary heimtückisch an und dann fragte er „Kennt ihr beiden euch etwa?“

„Er war damals auch im Konzentrationslager und gehört zur Prototypenreihe wie ich. Er hat uns befreit, allerdings wurde ich sofort wieder eingesperrt, als die Nazis am Ende waren. Thomas Stadtfeld ist ein eiskalter Killer, der nicht zu unterschätzen ist. Da er seine Fähigkeiten als Konstrukteur nicht richtig einsetzen kann, konzentriert er sich auf sein physisches Können, bei mir ist es anders herum und da er sich gegen meinen Einfluss abschirmen kann, bin ich echt am Arsch.“

„Dafür bin ich ja da. Jeder hat seinen Schwachpunkt und den gilt es herauszufinden.“

„Problem ist leider, dass er keinen Schwachpunkt hat. Dem Kerl ist ein Menschenleben völlig egal und er ist nur darauf aus, seine Aufträge auszuführen.“

„Ihr beide würdet wirklich ein gutes Pärchen abgeben“, kicherte Jackson und grinste breit, wobei er seine rasiermesserscharfen und gelblich verfärbten Zähne entblößte. Mary verzog bei diesem Anblick angewidert das Gesicht und wandte sich von ihm ab. „Sag das noch mal und ich dreh dir den Hals um.“

„Versuchs ruhig, einen Toten kann man nicht noch mal umbringen. Hey, was ist denn mit unserem lichtscheuen Prince Charming? Haben die beiden nicht irgendwie etwas am Laufen?“

„Pure gegenseitige Abneigung höchstens. Soviel ich weiß, hat sich Thomas’ Schickse von Umbra fressen lassen und Anthony gibt Thomas die Schuld, weil er nichts unternommen hat.“

„Vielleicht war er sie leid und das war die Gelegenheit. So brauchte er wenigstens nicht die Sauerei wegzumachen.“ Jackson kicherte hämisch und war amüsiert. Mary hingegen lachte nicht, sie schloss die Augen und drückte das Kühlkissen fester gegen die Stirn und seufzte leise. „Was auch immer, ich würde nur zu gerne wissen, wer diese Frau war, die bei ihm war. Ich glaube, ich habe sie irgendwo schon mal gesehen. Mensch, da war doch etwas…“ „Wirst wohl langsam dement, alte Frau.“ Diese Stichelei ließ sich Mary nicht gefallen. Sie nahm eins der Messer, die sie bei sich zu tragen pflegte und schleuderte es in Jacks Richtung. Zielgenau traf sie sein Auge und mit einem giftigen Blick knurrte sie „Sag das noch mal und ich zünd dich an wie ein Streichholz.“ Lange dachte Mary noch nach, woher sie diese rothaarige Frau kannte bzw. wo sie sie schon mal gesehen hatte. Sie erinnerte sich sehr schwach an einen Hudson Hornet, den diese Frau zu fahren pflegte. Einen Oldtimer, den sie hütete wie ihren Augapfel. Dann aber fiel es ihr ein und es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Die Pfähle des Purgatoriums, eine bizarre Mordserie in den 80ern, die das Aufsehen der Medien erregt hatten. Ein Priester hatte Leute, die zu ihm in die Beichte gekommen waren, mit sieben Pfählen an die Wand oder an den Boden genagelt mit ausgebreiteten Händen wie Christus. Diese Pfähle sollten sowohl die sieben Todsünden als auch die sieben Schalen des Zorns darstellen. Dann hatte er seine Opfer, die zu dem Zeitpunkt noch gelebt hatten, angezündet und sie qualvoll verbrennen lassen. Das war das Purgatorium, also das Fegefeuer, in welchem die Sünder gereinigt werden sollten. Diese Fälle hatten Mary eine Zeit lang interessiert und sie selbst hatte den letzten Mord heimlich beobachtet und dann gesehen, wie diese rothaarige Frau erschien. Sie hatte ein Leuchten in den Augen, als würde das Fegefeuer selbst in ihnen lodern. Die Frau hatte den Pfarrer an der Kehle gepackt und ihn mit einer Kraft von den Füßen gerissen, die man ihr nicht zugetraut hätte. Der Pfarrer hatte geschrien, sie um Gnade angefleht und die Angst hatte ihm ins Gesicht gestanden, als spürte er, dass sie ihn gleich töten würde. Doch all dies hatte nicht geholfen. Nach und nach hatte sie ihm die sieben Pfähle in den Körper gerammt und ihm diese langsam mit den Füßen hineingestoßen. Mary hatte beobachtet, wie der Pfarrer grausame Schmerzen litt und um Gnade bettelte, während die Frau unheimliche Worte zu ihm sprach. Die Kirche, in der der letzte Mord verübt war und wo sich dieses Grauen abspielte, ging in Flammen auf, Mary schaffte es gerade noch rechtzeitig heraus und hatte das Geschehen von der Ferne aus beobachtet. Sie hatte die Schreie des Pfarrers gehört, die jedoch nicht von Schmerz und Qual, sondern von Entsetzen und nackter Todesangst zeugten. Was immer da auch am Altar geschehen war, es hatte den sterbenden Pfarrer um den Verstand gebracht. Mary konnte in den vielen Flammen nicht viel erkennen, sah aber einen riesigen, monströsen Schatten, der sie noch mehr schockiert hatte als die Zustände im Konzentrationslager. Sie hatte geschrien, genau wie der Pfarrer, als sie sah, wie dieses unbeschreibliche Grauen den Pfarrer mit sich nahm und die Kirche bis auf die Grundmauern niederbrennen ließ. Dieses unheimliche Ereignis hatte Mary gezeigt, dass diese Frau nichts Menschliches besaß, auch wenn sie äußerlich danach aussah. Es war eine teuflische Maskerade, um ihre Opfer zu täuschen. Der Gedanke, dass diese Frau wieder aufgetaucht war und nun an der Seite von Thomas Stadtfeld kämpfte, erschauderte Mary. Sie hatte keine Angst vor ihr, nein die Angst war ihr fast vollständig fremd geworden. Es war eher ein Unbehagen, ein schlechtes Gefühl. Sie hatte gefährliche Gegner, die sie keinesfalls unterschätzen durfte. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um doch noch an ihr Ziel zu kommen. Schließlich setzte sie sich auf und legte das Kühlkissen beiseite. Jack hatte seinen Arm nun vollständig geflickt und betrachtete Mary neugierig. „Ich sehe nicht ein, warum ich mich von einer rothaarigen Nutte und einem Pseudokiller aufhalten lassen soll. Ich bin so nah an meinem Ziel, dass ich jetzt keinen Rückzieher machen darf.“

„Hast du eine Idee?“ Mary lachte spöttisch und ihr Gesicht verzerrte sich zu einem manischen Grinsen. „Na was denkst du denn wohl?“ Beide brachen in ein schauriges Gelächter aus und sahen sich verstohlen an. Sie waren fest entschlossen, sich nicht von einer dahergelaufenen rothaarigen Kampftussi, einem Säbelrassler oder einem lichtscheuen Stubenhocker unterkriegen zu lassen. Dazu hatte Mary damals zu viel erlebt. Als sie noch Marie Lena Johann hieß, hatte sie Dinge gesehen, die andere um den Verstand brachten und Zustände miterlebt, die nur dem kranken Hirn eines menschenverachtenden Wahnsinnigen entspringen konnten. Um sie herum hatte es nur Leid, Elend, Angst und Terror und Tod gegeben. Sie hat im Konzentrationslager und im Forschungslabor von Dr. Helmstedter die Hölle erlebt, nun war sie selbst die Hölle geworden. Die Erinnerung war selbst nach all der Zeit noch so deutlich präsent und immer, wenn sie daran dachte, wie grausam die Menschen damals zu ihr und ihrer Familie waren, loderte der blanke Hass in ihr. Sie schaute auf ihr Handgelenk, wo eine Zahlennummer tätowiert war. Da man ihnen allen damals die Köpfe kahl geschoren und sie nackt und abgemagert in die Kammern oder Gefangenenzellen geschickt hatte, waren sie mit Zahlen gekennzeichnet worden. In Marys Augen war sie gebrandmarkt worden mit diesen winzigen Zahlen, die für Unwissende aussah wie eine einfache Zahlenkombination mit Kugelschreiber geschrieben. Nie wieder wollte sie eine Nadel an sich heranlassen oder sonst irgendjemanden. Um diese Tätowierung zu verbergen, trug sie normalerweise das rote Seidenband, welches Vincent ihr zum Versprechen geschenkt hatte, dass sie sich wiedersehen und für immer zusammen sein würden. Doch er hatte sie einfach im Stich gelassen, nur weil ihr scheißegal war, wer alles krepieren musste, damit sie ihr Ziel erreichte. Jackson beobachtete sie aufmerksam und bemerkte, dass diese Tätowierung Mary zu schaffen machte. „Kleines Andenken von damals?“

„Eher mein persönlicher Fluch. Sie erinnert mich immer wieder daran, was damals geschehen ist und wie grausam die Menschen doch sind. Deshalb werde ich alles versuchen, um den Dream Weaver in meine Gewalt zu bringen und dann selbst der neue zu werden. Dann wird diese Welt zu einem lebenden Alptraum werden.“

„Erklär mir doch mal bitte, was genau dieser Dream Weaver eigentlich ist.“ Mary legte sich die Armbanduhr wieder um, die sie jetzt ersatzweise am Handgelenk trug und seufzte. „Der Dream Weaver ist ein Wesen, dessen Ursprung nicht ganz geklärt ist. Tatsache ist, dass seine Träume unsere ganze Welt beeinflussen können. Er ist in der Lage, Realität und Traum miteinander zu verweben und Dinge zu erschaffen, oder zu vernichten. Durch seine Träume wurden so einige Monster, wie zum Beispiel der Traumfresser auf die Menschheit losgelassen. Dr. Helmstedter, der damals als KZ-Arzt für die Nazis gearbeitet hat, konnte so einiges über ihn herausfinden und hat versucht, seine Fähigkeiten auf Menschen zu übertragen. Sein Ziel war es, einen menschlichen Dream Weaver zu erschaffen, jedoch war er nur in der Lage, den Menschen die Fähigkeit zu geben, das Unterbewusstsein zu beeinflussen. Ich gehörte damals zu den Prototypen, zusammen mit Thomas Stadtfeld. Er wurde jedoch bewusst dorthin geschickt, damit er in der Lage war, Hitler zu töten und die Diktatur zu beenden. Daraus wurde aber wohl nichts, dafür konnte ich dank seiner Hilfe fliehen. Pech nur, dass mich die Amis schnappten und gleich wieder einsperrten, obwohl sie uns allen die Freiheit versprochen hatten.“ „Echt ne miese Tour. Zu beneiden bist du nicht. Nun ja, zumindest musst du nicht in einem Vogelscheuchenkörper leben, in dem das Ungeziefer haust.“ Während Jackson sprach, kroch eine Tarantel aus seinem Ärmel hervor und ließ sich auf seiner Hand nieder. Jackson öffnete seinen Mund, klappte den Unterkiefer so weit runter, dass er ihn beinahe ausrenkte und ließ die Tarantel hineinfallen. Die Spinne blieb zuerst an seinen haifischartigen Zähnen hängen, dann aber begann sie langsam seine Kehle hinunterzukrabbeln. Jackson legte seinen Kopf in den Nacken und streckte seinen Hals, während die Spinne sich ihren Weg durch seinen Hals bahnte. Mary rümpfte angewidert die Nase, denn Jackson atmete einen so bestialischen Gestank aus, dass sie fast einen Würgreiz bekam. „Das ist ja widerlich. Wie schaffst du es nur, so ekelhaft zu stinken?“

„Es ist meine Seele, die hier verrottet…“, gab Jackson mit einem Krächzen zurück, das dem seiner zahmen Krähe nicht so unähnlich klang. „Alles in mir verrottet langsam. Meine Seele, mein Innerstes, mein Verstand… Meine Leiche ist auch schon Würmern zerfressen und ich spüre es, wie sie zerfällt. Ich hab es damals gespürt, wie sie mir zur Nase reingekrochen und zu den Augen wieder rausgekommen sind. Sie haben sich in meinem Magen eingenistet, in meinem Hirn, in meinem…“

„Ich will wirklich keinen Lehrvortrag darüber anhören, wie Leichen in Gräbern verrotten“, unterbrach Mary ihn gereizt. „Du kannst es ja gerne deinem Freund Edgar erzählen, aber verschon mich damit!“ Sie sah aus dem Fenster und bemerkte, dass die Sonne langsam unterging. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Umbra aktiv wurde und dann würden mit Sicherheit auch Anthony und die anderen in Aktion treten. „Jackson, wir machen uns auf den Weg. Es wird Zeit, dass wir denen zeigen, wer hier die Stärkeren sind. Und dieses Mal werde ich nicht davonlaufen.“
 

Christine war es wie durch ein Wunder gelungen, die beiden Streithähne zu beruhigen und die Lage ein wenig zu entspannen. Doch Thomas strahlte immer noch diese unmenschliche Kälte aus, die jeden sofort auf Abstand hielt und Anthony beäugte beide mit einem deutlichen Misstrauen. Er hatte sich bereit erklärt, die beiden bei ihrer Suche nach Umbra zu unterstützen, aber er behielt dieses ominöse Gespräch im Hinterkopf, welches die beiden hinter geschlossener Salontür geführt hatten. Viel hatte er nicht in Erfahrung bringen können, wohl aber, dass Thomas mit Christine eine Vereinbarung getroffen hatte und er nun von ihr verlangte, dass sie ihren Teil erfüllte, nachdem er selbst abgeschlossen hatte. Und dabei würde er sich nicht aufhalten lassen, weder von Christine noch von ihm. Anthony fragte sich, was das wohl für eine Vereinbarung war und was für Pläne die beiden eigentlich verfolgten. Fakt war, dass Umbra eine ungeheuer große Rolle spielte. Und er würde schon noch herausfinden, was sie vorhatten und er würde bereit sein, wenn sie ihn hintergehen sollten. Inzwischen war es fast vier Uhr nachmittags und draußen wurde es allmählich dunkel. Den Vormittag und den Mittag hatte Anthony geschlafen, da diese Tageszeiten ihn sowieso im Haus festhielten. Das Dienstmädchen war für den Rest des Tages entlassen, da sie eine alte Freundin wiedertreffen wollte und langsam öffnete Anthony die Vorhänge, um das sehr spärlich gewordene Tageslicht hereinzulassen. Es war ihm immer noch zu hell, aber es war zumindest erträglich und seine Angst hielt sich in Grenzen. Seine Zeit war sowieso der späte Nachmittag, die Nacht und der frühe Morgen und genau um diese Zeit wurde auch Umbra aktiv. Passte also perfekt. Da sie sich vorbereiten mussten, auf Umbra zu stoßen und von ihm angegriffen zu werden, mussten sie sich für den Ernstfall ausrüsten. Waffen waren Pflicht, wobei Thomas auch hier wieder ein Schwert dabei hatte, welches an einer merkwürdigen Apparatur angeschlossen war. Auf eine Frage Anthonys hin erklärte er „Das Schwert hier ist im Grunde wie ein großes Elektroskalpell. Über den Generator wird ein Hochfrequenzwechselstrom in die Klinge geleitet, wodurch sich Gewebe viel besser zerschneiden lässt, ohne dass zu viel Blut austritt. Ich kann Blut auf der Haut oder Kleidung nicht leiden.“

„Dann hast du dir als Auftragskiller wohl den falschen Beruf ausgesucht.“ Diesen Seitenhieb ignorierte Thomas und widmete sich wieder seiner Ausrüstung. Schließlich kam Christine und drückte Anthony eine große Taschenlampe in die Hand, die eigentlich mehr ein transportabler Scheinwerfer war. „Wenn Umbra auftauchen sollte, wirst du ihn damit blenden. Da dies sein einzig bekannter Schwachpunkt ist, ist es auch gleichzeitig unsere einzige Chance, ihn zu erwischen, ohne dass er sich wieder in Luft auflöst. Das kriegst du doch wohl hin, oder?“

„Kein Problem, solange ich nicht ins Rampenlicht muss.“ Christine lächelte und begann nun ihre Waffen zu kontrollieren. Schließlich fragte sie ganz nebenbei „Könnte ich eine Frage stellen?“

„Na klar doch.“

„Wenn Konstrukteure doch in der Lage sind, das Unterbewusstsein und damit sämtliche Körpervorgänge zu kontrollieren, könntest du deine Krankheit doch selbst heilen, oder nicht?“

„Nicht wenn es genetisch bedingt ist. Wenn ich da was verändern würde, könnte mich das sofort töten oder alles nur verschlimmern. Eigentlich komme ich ganz gut zurecht, mir macht nur meine Phobie zu schaffen.“ Christine sagte nichts dazu, sie nickte nachdenklich und verabschiedete sich kurz, weil sie den Wagen noch mal prüfen wollte. Anthony und Thomas waren allein und frostiges Schweigen herrschte zwischen ihnen. Sie sahen sich zwar kurz aus den Augenwinkeln an, wechselten aber nicht ein Wort miteinander. Schließlich aber gab sich Anthony einen Ruck und murmelte „Ich wollte mich für die Vorwürfe letztens entschuldigen. Es war nicht gerade fair, dass ich gesagt habe, du hättest Hannah an die Sowjets verkauft.“ Thomas sah ihn nicht an, er sagte auch nichts dazu und es war schwer festzustellen, ob er noch wütend darüber war, oder ob ihm die Sache eigentlich komplett egal war. Rein gar nichts war in seinem Gesicht zu lesen. Anthony war sich nicht sicher, was er davon halten sollte und nun sah er den so ausdruckslosen Menschen an, der nie die Beherrschung verlor und niemals Freude oder Trauer zeigte. Mit ruhigen aber festen Worten fragte er „Hast du Hannah wirklich geliebt?“ Aber zugleich bereute er seine Frage wieder, denn es kam nur ein eisiger Blick von Thomas zurück und die abweisende und kalte Antwort „Das spielt keine Rolle mehr. Vergangenheit ist Vergangenheit, ich beschäftige mich nicht mit so etwas.“

„Das ist keine Antwort. Ich will nur wissen, ob Hannah sich nur etwas vorgemacht hat.“ Aber Thomas schwieg, als hätte er Anthonys Frage ignoriert. Es war nichts zu machen, mit diesem Kerl war einfach nicht zu reden. Für ihn war dieses Thema abgeschlossen und er wirkte auch nicht, als wolle er sich auch nur ein einziges Mal damit befassen. Und da Anthony keine Lust hatte, sich schon wieder mit ihm zu streiten, schwieg er nun auch. Christine kam zurück und war sichtlich erleichtert, dass sich die beiden nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hatten. Trotzdem war die frostige Stimmung zwischen den beiden deutlich spürbar. Schließlich unterbrach ein Donnern in der Ferne die Stille und alle drei sahen aus dem Fenster. „Kommt da etwa ein Gewitter auf uns zu?“ fragte Anthony und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Thomas Miene verdüsterte sich und leise murmelte er „So klingt kein Gewitter.“

„Wie bitte? Und was war es…“ Anthony sprach den Satz nicht zu Ende, denn nun erinnerte auch er sich an dieses gewitterähnliche Geräusch, welches ihm nur allzu vertraut war. Damals in Deutschland hatte er dieses Donnern und Krachen gefürchtet und sich immer versteckt, um sich in Sicherheit zu bringen. Es war das Geräusch einer fernen Detonation. „Wer zum Teufel sprengt denn hier?“

Thomas antwortete nicht, sondern schnappte sich seine Ausrüstung und verließ den Salon. Christine und Anthony folgten ihm und der Weg führte sie zu einem Oldtimer, einem 54er Hudson Hornet. Dieser Wagen war Christines Augenstern und treuer Begleiter. Nirgendwo fuhr sie ohne ihn hin. Thomas wartete auf sie und schließlich stiegen sie ein. „Ich verstehe das nicht. Wer sprengt denn hier rum?“

„Wahnsinnige“, erklärte Thomas knapp und ruhig. Zwar verstand Anthony, was er ihm damit sagen wollte (nämlich, dass es Mary und Jackson waren), aber wieso sollten die beiden jetzt Bombenleger spielen? Doch dann leuchtete es ihm dann schließlich ein: Natürlich! Wenn sie Sprengsätze auf der Straße platziert hatten, würde dies automatisch einen Unfall bedeuten. Und wo Unfälle waren, gab es Verletzte, die sich kaum rühren konnten. Mary und Jack präsentierten Umbra die Opfer quasi auf dem Silbertablett, um ihn anzulocken. Hinterhältig, aber effektiver, als in der Gegend herumzusuchen. Demnach mussten sie hier irgendwo auf der Lauer liegen. Christine raste die Straße entlang, während im Hintergrund das Radio lief. Eine zweite Detonation war zu hören, dieses Mal näher. Plötzlich explodierte etwas dicht neben ihnen und der Wagen wurde zur Seite geschleudert. Christine riss das Steuer rum und versuchte, den Hornet unter Kontrolle zu halten, doch er kam von der Straße ab und prallte direkt gegen einen Baum. Anthony wurde durch die Wucht nach vorne geschleudert, der Gurt hielt ihn aber weitestgehend zurück, jedoch schlug er sich so heftig den Kopf, dass er das Bewusstsein verlor.

Ein kleines Licht inmitten einer tiefen Finsternis

Im Mai 1937, zu einer Zeit in der Deutschland sich in einer kritischen Situation befand und damit auch kurz vor dem Beginn des zweiten Weltkrieges stand, erblickte Hannah das Licht der Welt. Und schon die Umstände standen unter keinem guten Stern. Ihre Mutter war ihrem Mann schon seit langem nicht mehr treu und betrog ihn mit einer Unzahl von Männern und aus einer dieser Affären ging Hannah hervor. Für sie war dies eine Katastrophe, denn da ihr Ehemann selbst keine Kinder zeugen konnte, würde sofort klar sein, dass das Kind nicht von ihm war. Also versuchte die untreue Mutter alles Mögliche, um das Kind abzutreiben. Sie ließ nichts unversucht, doch das Kind hatte einen außergewöhnlich starken Überlebenswillen und hielt durch. Die Mutter, die das Kind unbedingt und unter allen Umständen loswerden wollte, versuchte ihre Schwangerschaft zu vertuschen. Nachdem das Baby auf einer Bahnhofstoilette zur Welt gebracht wurde, versteckte die Mutter es zwischen Müllsäcken mit der Absicht, es dort verenden zu lassen und verschwand. Ein Pärchen fand das Baby schließlich und brachte das Kind zur städtischen Polizei, die nach der Mutter des Kindes suchte. Da die Suche erfolglos blieb, wurde das Baby in ein Heim gebracht und dort auf den Namen Hannah Ackermann getauft. Trotz der unzähligen giftigen Substanzen, mit der die Mutter versucht hatte das Kind abzutreiben, entwickelte sich Hannah prächtig und lernte recht schnell das Laufen und Sprechen. Doch stand es mit ihrer Kondition nicht immer zum Besten, was man auf die missglückten Abtreibungsversuche zurückführen konnte. Sie war etwas anfälliger für Krankheiten als andere Kinder ihres Alters und ihr Herz bereitete dem Arzt Sorgen. Deswegen verbot er allzu große Anstrengungen, die das Mädchen verausgaben könnten. Also durfte Hannah nur sehr selten mit den anderen Kindern draußen spielen. Sie durfte nicht mit ihnen herumtoben, um die Wette laufen oder Ähnliches. Stattdessen spielte sie immer im Haus und bekam nur wenig von der Welt da draußen mit. Sie war aber nicht traurig deswegen, nein Hannah besaß die außergewöhnliche Gabe, immer das Gute zu sehen und nicht aufzugeben. Wenn sie schon die Abtreibungsversuche der eigenen Mutter überleben konnte, dann würde sie auch mit ihrem schwachen Herzen fertig werden. Hannah besaß eine ungewöhnliche positive Ausstrahlung, die auch Wirkung auf die anderen Kinder zeigte. Ihr herzliches Lachen steckte andere an und sie selbst liebte es, Zeit mit den anderen zu verbringen und ihnen zu helfen. Dabei zeigte Hannah nicht immer absoluten Gehorsam den Erwachsenen gegenüber. Die Erzieher dieser Anstalt waren äußerst streng und militärisch und schon die Kleinsten, die gerade erst die ersten Worte lesen konnten, wurden an die Arbeit geschickt. Hannah verbrachte den ganzen Tag mit Putzen und Waschen und wurde für jeden kleinen Fehltritt hart bestraft. Als sie ein Mal einen Teller fallen ließ, verprügelte der Erzieher sie und Hannah musste einen ganzen Tag ohne Essen auskommen. Sie ertrug die Strafen, doch konnte sie einfach nicht mit ansehen, wenn andere leiden mussten. Wenn sie sah, wie jemand versehentlich etwas zu Bruch gehen ließ, die Milch verschüttete oder Dreck hinterließ, nahm sie die Schuld auf sich und wurde von den dankbaren Kindern heimlich mit Essen versorgt. Unter so harten Bedingungen durchzuhalten war nur möglich, wenn alle fest zusammenhielten und Hannah war das Bindeglied für die anderen. Immer, wenn jemand zur Strafe hungern musste, so fand sich immer jemand, der heimlich Essen aus der Küche mitgehen ließ. So war Hannah glücklich, trotz der unerbittlichen und grausamen Erzieher und der Isolation. Doch dann geschah etwas Schreckliches. Etwas, das sich für immer tief in Hannahs Gedächtnis einbrennen sollte. Der Krieg kam ins Land und mit ihm kamen Terror, Angst, Schrecken und Tod. Fast täglich wurde Bombenalarm ausgerufen und die Schutzbunker waren nicht groß genug. Und da Familien Vorrang vor einem Haufen Waisen hatten, mussten Hannah und ihre Freunde im Waisenhaus Deckung suchen und hoffen, dass es sie nicht treffen würde. Um sie von der Angst abzulenken, sangen die älteren Kinder Lieder oder spielten unter den Tischen, wo sie sich in Sicherheit gebracht hatten. Aber dann schlug nicht weit vom Waisenhaus eine Zehnzentnerbombe ein, die wahrscheinlich von den Amerikanern oder den Engländern abgeworfen worden war. Die Luftalarmsirene war an diesem Tag still geblieben, als es passierte, sodass es die Waisenkinder völlig unvorbereitet traf. Durch die Wucht der Explosion zersprangen die Fensterscheiben und zerfetzten Elsa, Hannahs bester Freundin, das Gesicht und ein großer Splitter durchbohrte ihre Kehle. Einem Jungen zerstörte es die Augen und mehrere weitere Kinder wurden verletzt. Sie schrieen und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, doch der Altbau konnte der Druckwelle nicht standhalten und stürzte in sich zusammen. Alle 112 Kinder wurden begraben und von den Trümmern erschlagen oder unter ihnen eingeklemmt. Hannahs untere Hälfte wurde von einem großen Mauerstück eingeklemmt und sie schaffte es nicht aus eigener Kraft, herauszukommen. Sie rief verzweifelt um Hilfe, aber niemand antwortete ihr. Selbst als sie die Namen ihrer Freunde rief, blieb es still. Und als sie sich umsah, wurde ihr klar warum: Sie alle waren tot. Sie alle waren von den Trümmern erschlagen und unter ihnen begraben worden. Verzweiflung überkam Hannah und sie schrie sich die Seele aus dem Leib, damit irgendjemand sie retten kam. Aber es kam niemand. Das Einzige, was vorbei kam, waren Panzer und Transportwagen. Blut und Tränen verwischten Hannahs Sicht, sie versuchte mit aller Kraft, sich unter den Trümmern hervorzuziehen, aber sie schaffte es einfach nicht. Warum nur? Warum kam denn keiner sie retten? Sie war doch so nahe bei ihnen. Nach und nach verschwanden die Transportwagen und Panzer, die Infanteristen kamen. Wieder schrie sich Hannah die Seele aus dem Leib und tatsächlich schaute hin und wieder jemand zu ihr hin, doch keiner kam zu ihr hin um zu helfen. Hannah blieb stundenlang unter den Trümmern, unfähig um Hilfe zu rufen, da sie sich vollkommen heiser geschrieen hatte. Völlig entkräftet und ausgekühlt wurde sie ins Hospital gebracht, wo man feststellte, dass beide Beine gebrochen waren. Hannah sagte nicht ein Wort sondern weinte nur still. Schließlich wurde sie in ein Heim gebracht, welches sich außerhalb der Stadt befand und wo die Zustände auch nicht besser waren als in ihrem alten. Aber einer der Erwachsenen war nicht so hartherzig und das war John, die Hilfskraft der Anstalt. John war der Sohn englischer Immigranten und seit einem schweren traumatischen Ereignis konnte er nicht mehr sprechen. Deshalb musste er sich einer Schreibtafel bedienen, um mit anderen kommunizieren zu können. John war 18-jährig und schielte auf einem Auge. Sein Haar war etwas ungewöhnlich und genauso schwarz wie seine Kleidung. Die anderen Kinder fanden ihn seltsam und unheimlich, was aber ausschließlich an seinen Einschränkungen lag. Hannah hingegen fand in ihm die allererste Bezugsperson und vertraute ihm alles an, was sie bekümmerte. John, der selbst nicht sprechen konnte, war ein aufmerksamer Zuhörer und merkte schnell, dass Hannah sehr viel Zuwendung brauchte. Vor allem aber eine Familie. Ihr Wunsch nach einer Familie war so groß, dass sie an nichts anderes denken konnte als daran, adoptiert zu werden. Aber sie wusste, dass die Chancen einer Adoption sehr niedrig waren. Es gab einfach zu viele Waisenkinder und die Männer wurden alle an der Front erschossen, weshalb sich Witwen nicht auch noch mit Kindern herumschlagen wollten. Die Angst in Hannah wuchs und so vertraute sie sich schließlich John an. Dieser lächelte gutmütig und streichelte ihr den Kopf. Dann schrieb er auf seine Schreibtafel „Keine Sorge Hannah, irgendwann wirst du eine Familie haben. Selbst wenn du nicht adoptiert werden solltest, hast du die Chance, selbst mal eine Familie zu gründen, wenn du erwachsen bist.“

„Und wie soll ich das machen?“

„Das erfährst du noch früh genug. Wenn du erwachsen bist.“ Die beiden wurden ein Herz und eine Seele und für Hannah wurde John so etwas wie ein großer Bruder. In der Zeit, in der sie aufgrund ihrer gebrochenen Beine kaum das Zimmer verlassen konnte, war er stets an ihrer Seite und kümmerte sich liebevoll um sie. Er trug sie die Treppen hinunter und spielte ihr auf einem alten Klavier wunderschöne Melodien vor als Ersatz dafür, dass er ihr keine Geschichten erzählen konnte. Schließlich verheilten Hannahs Beine und John half ihr, wieder zum Laufen zu kommen. Aber auch dieses Glück sollte nicht lange andauern, denn als Hannah acht Jahre alt war, kam der Krieg 1945 langsam zu seinem blutigen und grausamen Ende. Der Alarm kam und man erfuhr, dass die rote Armee auf dem Vormarsch war. Panik brach in den Städten aus, die Menschen liefen davon und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich erreichte das Chaos das Heim von Hannah und John. Da man die Kinder unmöglich alle auf einmal wegbringen konnte, wurden sie aufgeteilt. John übernahm die letzte Gruppe, Hannah war ebenfalls dabei. Sie eilten auf die Straße und versuchten, dicht beieinander zu bleiben, da schlug neben ihnen auf der anderen Straßenseite ein Panzergeschoss ein und schleuderte Pflastersteine und Staub durch die Luft. Ein Stein traf Judith, die gerade mal vier Jahre alt war, am Kopf und erschlug sie sofort. Panik unter den Kindern brach aus und John versuchte verzweifelt, sie zusammenzuhalten. Er hatte in der letzten Zeit zumindest teilweise seine Stimme zurück gewonnen, jedoch war es eher ein krächzendes Stottern. Die Kinder, völlig in Panik geraten, rannten in alle Richtungen davon und nur Hannah und zwei andere blieben bei John. Ein weiterer Schuss schlug dicht neben sie ein und John versuchte, die drei Kinder zu schützen, indem er sich dazwischenstellte und ihnen somit Deckung bot. „Warum nur schießen die auf uns?“ rief Hannah ängstlich, während sie sich an ihn klammerte. „I-i-ich weiß es n-nicht.“ John sah sich um und entdeckte zwei Panzer und eine Infanterieeinheit, die das Banner der roten Armee mit sich trug. Die sowjetische Armee war da. „Sind die denn verrückt geworden? Ich dachte, sie haben es auf die Nazis abgesehen.“ Offenbar erkennen sie uns nicht auf die Entfernung, dachte Hannah beunruhigt. Vielleicht denken sie, wir sind bewaffnet und wollen sie angreifen. Das Gleiche dachte auch John. Er wies die drei an, hinter ihm zu bleiben, während er selbst mit erhobenen Armen auf die Soldaten zuging. „Hey!“ rief er und winkte mit den Armen als Zeichen, dass er keinerlei Widerstand leisten würde. „Wir sind unbewaffnet. Hier sind Kinder, bitte nicht schießen!“ Doch das Abschussrohr des Panzers wurde neu ausgerichtet und die Soldaten richteten ihre Gewehre auf ihn. John blieb stehen, immer noch die Hände erhoben. Schließlich wiederholte er seine Worte auf Englisch, da er glaubte, sie hätten ihn nicht verstanden. Da sie immer noch keine Anstalten machten, wandte er sich Hannah und den anderen beiden zu und wies sie an, sich in Sicherheit zu bringen. Aber sie konnten nicht gehen. Sie hatten zu viel Angst und waren wie erstarrt. Schließlich gab es John auf, die Soldaten vom Angriff abzuhalten. Er nahm Emma, die Jüngste der drei auf den Arm und Hannah an die Hand, dann eilte er los. Hinter ihnen schossen Kugeln vorbei und erneut feuerte der Panzer einen Schuss ab. Überall auf den Straßen schrieen die Menschen, rannten um ihr Leben und trampelten sich gegenseitig zu Tode. Mehrere von ihnen wurden getroffen und fielen tot oder schwer verletzt zu Boden. Alte und Junge, Erwachsene und Kinder. Sogar ein kleiner Junge, der ein Baby im Arm hielt, wurde von den Soldaten niedergeschossen und sank tot zu Boden. Fassungslos sah Hannah das Blutbad und zitterte am ganzen Körper. Warum taten sie das? Warum nur erschossen sie unbewaffnete Kinder? Hatten sie nicht vor, Hitlers Terrorherrschaft und damit auch den Krieg zu beenden? Wie konnten sie das, wenn sie auf Kinder schossen? Das war kein Krieg mehr, das war eine gezielte Abschlachtung. Sie rannten um ihr Leben, hörten den Kugelhagel und achteten schon gar nicht mehr auf den anderen. Doch dann, als Hannah sich nach John umdrehen wollte, spritzte ihr etwas ins Gesicht und sie sah, wie John zusammenbrach. „John!“ rief sie und wollte zu ihm und ihm hochhelfen, doch er schlug ihre Hand weg. „Mach dass du wegkommst!“

„Nein, ich lass dich hier nicht zurück. Ich will nicht wieder alleine sein!“ Hannah kniete weinend neben ihm nieder und hielt weinend seine Hand fest. Sie konnte nicht mehr klar denken, alles was sie wollte war, dass John bei ihr blieb und überlebte. Warum nur? Womit haben wir es verdient, getötet zu werden? Wir haben doch nichts Falsches getan, wir haben diesen Krieg doch nicht angefangen! Zwei Soldaten richteten ihre Gewehre auf Hannah, sagten etwas auf Russisch und traten sie direkt ins Gesicht. Sie fiel zu Boden und der schwer verletzte John versuchte, sie zu schützen, indem er sich über sie beugte und die Tritte abfing. Einer der Soldaten lachte verächtlich und sagte wieder etwas, das Hannah nicht verstand. Aber so viel wusste sie: Er würde sie erschießen. Sie und John hielten sich fest umschlungen und erwarteten den tödlichen Schuss, doch da schrie der Soldat plötzlich auf und fiel tot neben ihnen zu Boden. Verwundert sahen sie auf, da regnete eine Fontäne von Blut auf sie nieder, als der zweite Soldat mit aufgeschlitzter Kehle ebenfalls zusammenbrach. Ein Junge von vielleicht 13 Jahren, recht klein für sein Alter und mit einer Gasmaske im Gesicht war aufgetaucht und hielt ein blutiges Armeemesser in den Händen. Wie aus dem Nichts war er einfach aufgetaucht und griff ohne zu zögern die sowjetischen Soldaten an. Bevor sie ihre Gewehre überhaupt ansetzen konnten, entsicherte er eine Granate und schleuderte diese auf sie. Die Soldaten sprangen zur Seite, konnten aber nicht rechtzeitig fliehen und wurden von der Sprengkraft in Stücke gerissen. Bevor die Druckwelle vollständig an ihnen vorübergezogen war, stürzte sich der Junge auf die Überlebenden und schlitzte ihnen die Kehlen auf oder stieß ihnen die Klinge in die Brust. Als noch mehr Soldaten kamen, ließ er das Messer fallen, nahm eines der Maschinengewehre in die Hände (obwohl das Gewicht eigentlich zu groß für solch einen schmächtigen Jungen war) und feuerte auf die Menge. Als der Rest der Überlebenden floh, kletterte er auf den Panzer und zerrte den Fahrer heraus. Diesen hielt er am Haarschopf gepackt und sprach „Sic Semper Tyrannis“, dann schlitzte er auch ihm die Kehle auf. Nachdem er den Panzer unbrauchbar gemacht hatte, kletterte er wieder herunter und eilte zu Hannah und John. Er nahm die Maske ab und tatsächlich kam ein Junge zum Vorschein. Ein Junge mit eiskaltem Blick und dunklen Schatten um den Augen. „Seid ihr schwer verletzt?“

„Mir geht es gut, aber sie haben John erwischt. Er wird verbluten, wenn er keine Hilfe bekommt.“ Der Junge schob Hannah zur Seite und sah sich die Verletzung an. John hatte es im Rücken erwischt. „Ein glatter Durchschuss, aber lebenswichtige Organe wurden verfehlt.“ Der Junge kramte in den Taschen der Soldaten herum und holte ein Feuerzeug heraus. Unter dem Feuer begann er eine Nadel zu erhitzen, dann zog er einen Faden durch, den er von seiner Kleidung gelöst hatte und begann die Wunde provisorisch zusammenzunähen. Zuvor goss er etwas Wodka über die Verletzung. „Steh auf“, forderte der Junge und ging von John zurück. Er kam langsam wieder auf die Beine, hatte aber starke Schmerzen und man sah ihm an, dass er nicht lange durchhalten würde. „Nicht weit von hier ist eine Auffangstation für Verletzte. Dort wird man euch weiterhelfen.“

Der Junge wandte sich zum Gehen, aber Hannah hielt ihn zurück. „Warte, wer bist du eigentlich?“ „Ich habe keinen Namen. Es ist sowieso das Beste für euch, wenn ihr mich vergesst.“ Damit verschwand der Junge und ließ John und Hannah zurück.

Sie kamen tatsächlich zu einer Auffangstation, wurden aber schließlich getrennt. John wurde von den Sanitätern versorgt und in ein Krankenhaus gebracht. Da Hannah nicht verletzt war, wurde sie fortgeschickt. Sie irrte durch die zerbombten Straßen, floh vor den Soldaten und fragte sich, wer dieser Junge war, den sie getroffen hatte. So wie er gegen die Soldaten gekämpft hatte, schien er ausgebildet fürs Töten zu sein. Aber er trug nicht die Uniform der HJ. Wer auch immer er gewesen war, er hatte sie beide vor dem sicheren Tod gerettet. Hannah schlief nachts in kleinen Verschlägen und ernährte sich von dem, was sie fand oder erbeuten konnte. Eine Zeit lang hatte sie Glück, bis sie jedoch von einem sowjetischen Infanteristen erwischt und festgehalten wurde. Er zog sie an den Haaren und sagte ihr etwas auf Russisch, das wie Spott und Beleidigung klang. Mit einem verächtlichen Grinsen stieß er sie zu Boden und trat ihr ins Gesicht. Dann richtete er eine Pistole auf sie und nannte sie in gebrochenem Deutsch „Naziabschaum“. Er wurde durch einen Schuss niedergestreckt und brach tot zusammen. Es war wieder der Junge mit der Gasmaske. „Du bist ganz schön leichtsinnig“, sagte er und ergriff Hannahs Hand. „Es ist gefährlich hier. Komm mit, ich bringe dich dorthin, wo du sicher bist.“ Sie folgte ihm, fragte sich aber, warum er so plötzlich wieder da war. War es Zufall oder hatte er sie verfolgt? Und warum rettete er sie schon zum wiederholten Male? „Bist du mein Schutzengel?“ Der Junge sah sie ungläubig an, als wolle er sagen „Bist du bescheuert?“ und antwortete „Ich hab dich nur zufällig gefunden.“ Da Hannah zu müde war um weiterzulaufen, rasteten sie und der Junge gab ihr etwas Brot. Hannah nahm es dankend an und fragte, was nun passieren würde. Er erklärte, dass er sie in ein Heim bringen würde, wo sie erst einmal sicher wäre und wo sie ein Bett und Verpflegung bekäme. „Und was ist mit dir?“

„Nichts.“

„Hast du keine Familie mehr oder ein Zuhause?“

„Nein.“

„Was hatte das zu bedeuten mit diesen komischen Worten, die du dem Soldaten gesagt hast?“

„Sic Sempre Tyrannis bedeutet: Tod den Tyrannen. Das ist meine Mission.“

„Du tötest Tyrannen?“

„Jeden, der seine Macht über andere Menschen ausnutzt, um sie nach seinem Vergnügen zu quälen und zu töten. Dafür allein wurde ich ausgebildet.“

„Und warum hilfst du mir?“

„Keine Ahnung. Menschen zu retten gehörte jedenfalls nicht zu meiner Ausbildung.“

„Dann hat man dir also befohlen, Menschen zu töten aber nicht, welche zu retten?“ Der Junge nickte und schaute mit einem ernsten Blick auf den Himmel. In der Ferne waren Rauchschwaden zu sehen und in der Ferne ertönte Donnergrollen, das von Bomben und Panzergeschossen stammte. Hannah, die kaum noch die Augen aufhalten konnte, legte ihren Kopf auf seine Schulter ab. Er nahm dies schweigend hin und sah sie mit einem unbestimmten Blick an. Das Mädchen schloss die Augen und fragte „Findest du es richtig, dass man dir aufgetragen hat, Menschen zu töten, aber nicht zu retten?“

„Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich gehorche einfach und tue das, wofür ich ausgebildet wurde.“

„Aber du musst doch auch deine eigene Meinung dazu haben, ob das richtig ist oder nicht. Ich finde es jedenfalls schlimm, wenn man nur tötet, aber nicht den Versuch macht, andere zu retten. Du hast doch das Recht, selber zu entscheiden, was du tust. Immerhin hast du mich und John doch auch gerettet.“ Der Junge sagte dazu nichts, aber man konnte ihm ansehen, dass er über Hannahs Worte nachdachte. Selbst zu entscheiden, was er tat, das hatte man ihm niemals beigebracht. Man hatte ihn ausgebildet, Gehorsam zu leisten und eine einzige Priorität zu setzen: Jeden zu töten, der seine Macht ausnutzte, um andere Menschen zu töten. Und dabei spielten andere Menschenleben keine Rolle. Er hatte das befolgt und doch hatte er dieses Mädchen gerettet. Warum, das wusste er selbst nicht. Aber irgendetwas an diesem Mädchen war anders. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber es erfüllte ihn mit einem Gefühl der Wärme, wenn er in ihrer Nähe war. Darum war er wohl auch nie ganz von ihrer Seite gewichen und hatte auf sie aufgepasst.

Zwei Herzen

Die Jahre gingen ins Land und der Krieg hatte endlich sein Ende gefunden. Hannah hatte lange gebraucht, um ihr Lachen wiederzufinden nach alledem, was sie erlebt hatte. Dabei war John ihr eine große Hilfe, der sich langsam aber sicher von seinen Verletzungen erholte und sie nach seiner Genesung besuchen kam. Da er so gut mit Kindern umgehen konnte, erhielt er einen Hilfsjob in der Küche und immer, wenn er etwas Zeit entbehren konnte, kümmerte er sich um Hannah. Dann spielte er ihr etwas auf dem Klavier vor oder erzählte ihr und den anderen Kindern abends vor dem Schlafengehen Geschichten. Sei es die Geschichte von dem Mädchen, das kein Herz besaß und darum tausend Masken erschuf, die alle für menschliche Eigenschaften standen oder von einem Wald, aus dem man nicht mehr herauskam weil man sich unrettbar dort verirrte. John schaffte es, den Kindern die Lebensfreude wiederzugeben und Hannah über den Verlust ihrer Freunde hinwegzutrösten. Sie half mit, wo sie konnte und begann Pläne zu schmieden, sollte sie eines Tages endlich adoptiert werden. Ihr Wunsch nach einer Familie war ungebrochen und das Einzige, wonach sie sich von ganzen Herzen sehnte. Jedes Mal, wenn sich Paare ankündigten, die bereit waren, ein Kind aufzunehmen, suchte sie ihre besten Kleider heraus und tat alles, um ihnen zu gefallen. Sie war unermüdlich und konnte an nichts anderes denken und auch John war sich sicher, dass Hannah irgendwann liebevolle Eltern finden würde. Aber diese unzähligen fehlgeschlagenen Versuche, Hannah zu vermitteln, hinterließen Spuren bei ihr, obwohl sie immer lächelte und sagte „Dann eben beim nächsten Mal“. Natürlich freute sie sich ungemein für die anderen Kinder, wenn diese aufgenommen wurden, dafür war sie einfach zu ehrlich. Aber Hannah wurde bald zwölf Jahre alt und sie wusste, dass es schwer werden würde, je älter sie wurde. Diese Befürchtung bestätigte sich schließlich auch, als ein Paar sie begutachtete wie ein Ausstellungstier auf dem Viehmarkt und sagte „Tut mir Leid, aber die ist uns zu alt.“ Hannah blieb optimistisch und sagte sich, dass es vielleicht irgendwo eine Familie gab, die vielleicht ein älteres Mädchen suchte. Aber die Wahrheit war, dass es ausschließlich die Jungen waren, die ausgewählt wurden, da diese mehr von Nutzen waren als ein Mädchen. Auch verschlechterte sich Hannahs Gesundheitszustand und insbesondere bei feuchtem und schwülem Wetter machte ihr Herz ihr schwer zu schaffen. Manchmal lag sie tagelang krank im Bett und ein Mal stand es so schlimm um sie, dass man sie in ein Krankenhaus bringen musste. Entgegen der Erwartung der Ärzte berappelte sie sich wieder und versuchte, guten Mutes zu bleiben. Sie arbeitete hart an ihren eigenen Fähigkeiten und lernte zu nähen, kochen, waschen und half mit, wo sie nur konnte und wie es ihre Gesundheit zuließ. Denn sie wusste, dass sie bessere Chancen auf eine Adoption hatte, wenn sie sich als sehr tüchtig erwies. John, der ihr immer wie ein großer Bruder gewesen war, half ihr dabei und zeigte ihr alles, was sie wissen musste. Hannah entwickelte große Freude an diesen Aufgaben und immer, wenn irgendwo Personal knapp wurde, sprang sie ein. Doch die Zeit verging schnell und als Hannah schließlich 13 Jahre alt war, musste sie der Realität ins Auge sehen, dass sie nun endgültig zu alt für eine Adoption war. Danach verließ sie all ihr Mut und auch ihre Gesundheit baute zunehmend wieder ab. Sie weinte oft am Fenster und fragte sich, womit sie das alles nur verdient habe und warum niemand sie haben wolle. Sie fühlte sich unnütz und wertlos, selbst John oder ihre neuen Freunde waren nicht imstande, sie wieder aufzuheitern. Aber dann… es geschah, als sie aus dem Fenster heraus auf die Straße sah und die vorübergehenden Passanten beobachtete. Sie sah eine glückliche Familie, die einen Kinderwagen vor sich her schob und das weckte in ihr eine neue Hoffnung. Ein Gedanke wurde laut: Wenn ich schon nicht mehr adoptiert werde, dann kann ich doch eine eigene Familie gründen, wenn ich erwachsen bin. Ich werde einen liebevollen und aufrichtigen Mann heiraten und mit ihm ein Kind in die Welt setzen, egal ob ein Junge oder ein Mädchen. Diese Idee erfüllte sie voll und ganz und Hannah sagte sich, dass noch nichts zu spät sei. Sie vertraute John schließlich ihre Idee an und dieser versicherte ihr, dass sie schon bald den Richtigen finden würde, der sie glücklich machte. Verdient hätte sie es alle Male. Nun widmete sich Hannah voll und ganz der Vorbereitung auf ihre zukünftige Rolle und beschäftigte sich neben der Hausarbeit auch mit der Kindererziehung. Sie wusch die Kleinen, sorgte dafür, dass sie gut angezogen waren und half ihnen beim Schuhzubinden. Hannah blühte richtig auf und setzte all ihr Engagement und all ihre Kraft in diesen einen Traum. Doch dann eines Tages, es geschah ganz unerwartet, da wurde Hannah von heftigen Herzkrämpfen befallen. Sie ließ dabei das Tablett mit dem Geschirr fallen und brach in der Küche des Heims zusammen. Die Köchin fand sie schließlich und rief direkt den Notarzt, der Hannah ins Krankenhaus brachte. Die Diagnose: Eine durch Stress bedingte Gefäßverengung, die deutliche Symptome eines Herzinfarktes aufwies und zunächst als solcher diagnostiziert wurde.
 

Hannah verbrachte fast vier Wochen im Krankenhaus und erhielt in dieser Zeit mehrere Spritzen, die ihren Zustand stabilisieren sollten. Doch sie erholte sich nur sehr langsam und es zeigte sich, dass sie sich durch die harte Arbeit im Waisenhaus vollkommen überfordert und sie ihrem Körper zu viel zugemutet hatte. Man riet ihr, kürzer zu treten aber Hannah lächelte nur und sagte „Es wird schon gut werden. Ich habe einen großen Traum und für den will ich stärker werden und schnell wieder gesund werden.“ In dieser Hinsicht war sie sehr dickköpfig. Zwar hielt sie sich an die Empfehlungen der Ärzte und trat tatsächlich ein wenig kürzer, aber sie bemühte sich tatsächlich darum, ihrem schwachen Herzen entgegenzuwirken. Der Arzt, der sie betreute, bewachte ihre Genesung und gab ihr regelmäßig Spritzen. Ein Mittel, um ihr Immunsystem zu stärken und vielleicht auch somit ihr schwaches Herz zu kräftigen. Hannah ließ diese unangenehme Prozedur über sich ergehen, ließ sich regelmäßig untersuchen und fühlte sich ein wenig unwohl bei der Sache. Sie mochte den Arzt nicht und er benahm sich manchmal so komisch. Als sie ihn fragte, was das für Medikationen seien, lächelte der Arzt seltsam und erklärte, dass es eine neue Entwicklung der sowjetischen Pharmaunternehmen war und sie die Vitalität von Kindern und Jugendlichen deutlich steigere. Hannah war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte und vertraute ihre Zweifel John an, der sie besuchen kam. Dieser versprach, mit dem Arzt zu reden und ging. Das war das letzte Mal, dass John Hannah besuchen kam. Nach sechs Wochen war Hannah immer noch im Krankenhaus und fühlte sich eigentlich wieder fit genug, jedoch ließ man sie nicht gehen. Spaziergänge im Freien wurden verhindert und Besuch empfing sie auch nicht mehr. Alles begann immer merkwürdiger zu werden und so begann Hannah damit, heimlich durch die Gänge zu schleichen, wenn sie nicht gerade vom Pflegepersonal ans Bett fixiert wurde und begann, sich umzusehen. Sie wusste nicht, wonach sie suchen sollte, aber sie spürte, dass hier etwas faul war und ihr etwas verschwiegen wurde. Außerdem bemerkte sie, dass sie in der letzten Zeit immer müde und erschöpft war und kaum klar denken konnte. So als würde man sie unter Drogen setzen. Sie beschloss, Dr. Weinberg aufzusuchen und mit ihm zu reden, da hörte sie zufällig ein Telefongespräch des Doktors mit. Dieser flüsterte beinahe und sprach von Testphasen und dass sie, Hannah, die besten Ergebnisse zeigte und man sie deshalb ins Institut bringen sollte zu weiteren Experimenten. Als Hannah das hörte, erschrak sie und rannte davon. Ihr wurde klar, dass sie in einer absolut gefährlichen Lage war und noch Schlimmes kommen würde, wenn sie nicht sofort aus dem Krankenhaus verschwand. Hannah versuchte, dem Pflegepersonal aus dem Weg zu gehen und heimlich zu flüchten, doch ihr Fluchtversuch blieb nicht unbemerkt. Zwei Ärzte fingen sie am Lieferanteneingang ab und versuchten, ihr ein Betäubungsmittel zu injizieren, doch Hannah gelang es, beide zu überwältigen und wegzulaufen. Sie flüchtete zu einer alten Textilfabrik am Rande der Stadt, die vor einiger Zeit demontiert worden war und nun leer stand. Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf. Fragen wie etwa, was diese Leute mit ihr vorhatten und was man ihr gespritzt hatte. Und vor allem fragte sie sich, was mit John geschehen war. Hatten sie ihn beseitigt, weil er ihnen gefährlich wurde? Mit Sicherheit war er entweder verschleppt worden und schlimmstenfalls war er tot. Hannah kauerte sich zitternd in eine Ecke und brach in Tränen aus. Sie weinte bitterlich und fühlte sich vollkommen alleine und hilflos. Egal was sie auch tat und wie sehr sie auch kämpfte, es wurde alles nur schlimmer. Zuerst der Krieg, welcher all ihre Freunde und ihr altes Zuhause genommen hatte und jetzt war sie das Opfer irgendwelcher obskuren Experimente. Was sollte denn als Nächstes passieren? Hannah blieb nicht lange in der Fabrik, sondern lief nach Anbruch der Dunkelheit weiter und verließ die Stadt. Sie fand Unterschlupf in einem kleinen Lagerhaus und versuchte, sich irgendwie warm zu halten, denn es war Winter und sie fror entsetzlich und der Hunger kam auch noch dazu. In dieser Nacht konnte Hannah kaum ein Auge zumachen und als sie aufwachte, was sie völlig durchgefroren und ausgehungert. Ihre Zähne klapperten heftig und sie konnte kaum aufstehen, da sie am ganzen Körper zitterte. Sie schaffte es nicht, sich auf den Beinen zu halten und kauerte weiterhin in der Ecke. Hier drin würde sie sowieso niemand finden, so dachte sie. Als sie aber kurz einnickte und wieder aufsah, da traf sie der Schlag als plötzlich ein junger Mann von vielleicht 20 oder 21 Jahren in Stasiuniform vor ihr stand und eine Pistole auf sie gerichtet hielt. Hannah schrie nicht auf, sie flehte auch nicht um Gnade oder versuchte zu fliehen. Sie war wie erstarrt und die Tränen, die über ihre eiskalten Wangen flossen, fühlten sich brennend heiß an. So würde es also mit ihr enden. Halb erfroren von einem Stasi in einer schmutzigen Behausung erschossen zu werden. Der Stasi sah sie mit einem eiskalten Blick an und diese so finsteren Augen waren von dunklen Schatten umgeben, die ihnen etwas Unheimliches verlieh. Irgendwo hatte sie diese Augen schon mal gesehen. Mit heiserer und schwacher Stimme fragte sie „Haben wir uns vor acht Jahren nicht irgendwo schon einmal gesehen?“

„Ja“, sagte er mit ruhiger und kalter Stimme und hielt die Pistole weiterhin auf sie gerichtet. „Damals warst du auf der Flucht vor den sowjetischen Panzern.“

„Du… bist es tatsächlich? Du warst es, der mich damals gerettet hat!“ Hannah konnte ihr Glück kaum fassen und schöpfte doch noch Hoffnung, dass sie diese Sache überleben würde, aber er hielt immer noch die Pistole auf sie gerichtet, was sie wiederum beunruhigte. „Ich erhielt den Befehl, dich zu töten. Die Anklage steht auf Landesverrat und Volksverhetzung.“

„Das habe ich niemals getan!“ rief Hannah, oder zumindest wollte sie es, denn ihre Stimme versagte fast vollständig, sodass sie nur ein leises Krächzen zustande brachte. „Ich bin weggelaufen, weil die im Krankenhaus mich festgehalten haben. Sie haben mir irgendwelche Mittel gespritzt und mich unter Drogen gesetzt.“ Nun nahm er die Waffe runter und er runzelte fast unmerklich die Stirn. „Was für ein Mittel?“

„Keine Ahnung. Ich hab mit angehört, wie er am Telefon sagte, dass ich weggebracht werden sollte, damit das Experiment in die nächste Testphase gehen kann. Deshalb bin ich geflohen.“ Eine Weile stand er da und betrachtete sie nachdenklich, dann aber schien er einen Entschluss gefasst zu haben und steckte seine Waffe ein. Er zog seine Jacke aus und legte sie Hannah um, dann nahm er sie auf den Arm und brachte sie zu einem Wagen, der nicht weit vom Verschlag entfernt stand. „Wo… wo bringst du mich hin?“

„Weg von hier, wo sie dich nicht finden werden.“

„Dann wirst du mich nicht töten?“

„Nein.“

„Obwohl man es dir befohlen hat?“

„Du hast mir vor Jahren gesagt, dass man die Wahl hat, Befehle zu befolgen oder seine eigene Entscheidung zu treffen. Und ich habe die Entscheidung getroffen, meine Befehle zu missachten. Ich bin in die Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit getreten unter der Bedingung, dass keine Experimente mehr an Menschen durchgeführt werden. Da sie ihr Wort gebrochen haben, besteht für mich keinerlei Grund mehr, weiterhin dort zu bleiben und meine Befehle auszuführen.“ Vorsichtig setzte er Hannah in den Wagen und schaltete die Heizung an. Langsam aber sicher wurde es warm und Hannah zitterte nun weniger. Er gab ihr eine Decke, in die sie sich einwickelte und setzte sich schließlich hinters Steuer. Hannah betrachtete ihn und dachte sich, dass er vielleicht doch ein Schutzengel war. Ein Schutzengel, der immer für sie da war, wenn sie ihn am dringendsten brauchte. „Sag, wie heißt du oder hast du immer noch keinen Namen?“

„Mein Name ist Thomas Stadtfeld.“

„Okay Thomas. Ich heiße Hannah, Hannah Ackermann.“ Sie fuhren zu einem alten verlassenen Bauernhof, wo sie sich fürs Erste niederließen. Die meiste Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen, da Thomas nicht der gesprächigste war und Hannah nicht sicher war, ob sie ihn ansprechen sollte oder nicht. Er sorgte dafür, dass das Haus gut geheizt war und ließ Hannah erst einmal alleine, da er wichtige Dinge zu erledigen habe. Erst am Abend kehrte er wieder zurück und brachte ihr etwas zu essen. Die ganze Nacht blieb er wach und hielt Wache. Nur zwischendurch schlief er für ein oder zwei Stunden und verschwand dann wieder. Meist saßen sie abends beieinander und Hannah erzählte von ihrem Leben im Waisenhaus, von den schrecklichen Geschehnissen während der Bombenangriffe und das Grauen, das sie gesehen hatte. Sie merkte, wie gut es tat, mit jemanden über all das zu reden und obwohl Thomas niemals Worte des Trostes sprach oder Anstalten machte, sie aufzumuntern, so hörte er ihr zu und diese Charakterfestigkeit und diese ungebrochene Ruhe wirkte beruhigend auf Hannah. Sie fühlte sich sicher bei ihm und solange er bei ihr war, hatte sie auch keine Angst mehr. Ingesamt waren sie drei Jahre auf der Flucht und suchten sich immer wieder neue Verstecke. Tagsüber verschwand er für wenige Stunden und kehrte dann zurück, um Wache zu halten. In der Zeit begann er immer mehr aufzutauen, was auch an Hannahs Fürsorge lag. Als er ein Mal angeschossen zurückkehrte und am Arm blutete, so verarztete sie ihn, obwohl er sie schroff abwies und erklärte, er könne das alleine tun. Anfangs verhielt er sich kühl und distanziert ihr gegenüber aber je mehr Zeit sie miteinander erbrachten, desto mehr begann er, sich zu öffnen. An einem besonders kalten Januarabend saßen sie am Kaminfeuer und hatten sich in Decken gewickelt, während sie das wild tanzende Feuer betrachteten. Hannah hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und seufzte. Langsam wanderte ihre Hand zu der seinen und umschloss sie. Er zog sie zurück und als sie ihn fragend ansah, wich er ihrem Blick aus, aber er sah durchaus, dass sie verletzt über seine Zurückweisung war. „Ich muss dir etwas gestehen Hannah“, sagte er und schaute zu Boden. „Ich bin nicht sonderlich erfahren in solchen Dingen. Seit ich denken konnte, wurde ich ausgebildet, Menschen zu töten. Niemals Gnade zeigen, niemals das Ziel aus den Augen verlieren. Ich habe gelernt, wie man seine Gegner mit und ohne Waffen tötet, aber was das Zwischenmenschliche betrifft, darüber habe ich nie etwas gelernt. Ich kenne diese Gefühle nicht, die ich empfinde und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

„Kannst du es beschreiben?“

„Es ist so anders. Es fühlt sich… angenehm an. Etwas in mir sagt mir, ich solle deine Hand halten, aber ich verstehe nicht wieso. Schon damals hatte ich den Gedanken, ich müsste dich beschützen, weil es richtig ist und weil ich es unbedingt tun muss, ganz gleich wie meine Befehle lauten.“ Hannah ergriff schließlich seine Hand und hielt sie fest. Sie sah ihm tief in die Augen und erkannte, dass er Angst hatte. Er fürchtete sich vor diesen unbekannten Gefühlen, die er nicht verstand. Hannah hatte großes Mitleid mit ihm. Thomas musste eine sehr lieblose und traurige Vergangenheit gehabt haben, in der es keinen anderen Inhalt gab, außer das Töten von Menschen. Sie nahm seine Hand und legte ihre blasse Wange darauf. „Es ist okay“, sagte sie schließlich und sah ihm erneut tief in die Augen. Er zögerte, war sich nicht sicher, was er tun sollte und ob er wirklich auf sein Gefühl hören sollte. Aber dann kamen sie sich langsam näher. Ihre Lippen berührten sich und zärtlich küssten sie sich. Der Kuss war zögernd, von beiden Seiten ein wenig unbeholfen, da sie beide keine Erfahrung besaßen, aber sie spürten doch, dass es gut so war. Eng umschlungen saßen sie schließlich da und obwohl Thomas’ Gesicht so starr und kühl wie sonst war, spürte Hannah seine Angst. Noch nie in seinem Leben hatte er so einen Kontakt zu anderen Menschen gehabt und kannte das alles gar nicht. Hannah in den Armen zu halten und ihren Herzschlag und ihre Wärme zu spüren, überwältigte ihn und vor allem erfüllte ihn eine Angst besonders: Ihr wehzutun. Er hielt sie so zaghaft in den Armen, dass man eigentlich nicht von einer Umarmung sprechen konnte. Thomas wusste um seine Kraft und er hatte schon mehreren Menschen das Genick gebrochen, sie erschlagen, ihnen die Rippen oder die Wirbelsäule gebrochen, aber zum ersten Mal hielt er jemanden im Arm. Und zum ersten Mal erkannte er, wie zerbrechlich ein solcher Menschenkörper sein konnte. Hannah war es schließlich, die ihm half, seine Angst zu überwinden, er könnte sie durch eine Unbedachtheit verletzen. In den darauf folgenden Tagen und Monaten half sie ihm, diese neu entdeckten Gefühle zu verstehen und sie auszuleben. Aus den zärtlichen Gefühlen wurde schließlich Liebe und Hannah spürte, dass Thomas der Mann sein würde, den sie eines Tages heiraten würde.

Zwar legte Thomas nie so wirklich seine ernste und kalt wirkende Art ab, aber Hannah war durchaus in der Lage zu verstehen, was er wirklich meinte und was zwischen den Zeilen geschrieben stand und sie akzeptierte ihn so, wie er war. Sie dachte nicht eine Sekunde daran, ihn jemals zu ändern und aus einem impressiven Menschen einen expressiven zu machen. Da sie wusste, dass er sie liebte, war es ihr egal, wie ruppig er sein konnte. Er war eben so, weil er es nicht besser wusste und weil er es so gelernt hatte. Ihre Liebe wurde mit der Zeit immer stärker und eines Tages, als die letzten Ängste und Zweifel überwunden waren, schliefen sie miteinander. Und auch dabei war Thomas fast ängstlich darauf bedacht, Hannah nicht wehzutun.

Die drei Jahre gingen schnell ins Land und Hannah begann bereits mit dem Gedanken zu spielen, mit Thomas sesshaft zu werden und mit ihm ein gemeinsames Leben aufzubauen. Zwar hatte keiner von ihnen über ein Mal dieses Thema angesprochen, aber sie spürten trotzdem, wie sehr sie einander brauchten. Durch Hannah war Thomas in der Lage, mehr über das Leben mit Menschen zu lernen und zu verstehen, wie kostbar das Leben doch war und dass Töten nicht immer die richtige Entscheidung ist. Und Hannah konnte dank Thomas wieder Kraft schöpfen und ihre Gesundheit verbesserte sich immer mehr. Sie gewöhnte sich an ein Leben auf der Flucht an der Seite von Thomas und sie hätte das sogar noch länger gemacht, wenn es nicht zu dem gekommen wäre, was Thomas insgeheim befürchtet hatte: Nämlich ein Angriff. Immer hatte er Hannah ermahnt, dass sie sich nicht so sehr in Sicherheit wiegen sollte und dass es durchaus passieren konnte, dass die Stasi sie fand. Aber drei Jahre lang war nichts geschehen und Hannah glaubte sich schon in Sicherheit und dachte gar nicht mehr daran, was alles passieren konnte. An einem Märzabend, als Thomas noch nicht zurückgekehrt war und Hannah gut gelaunt mit dem Essen auf ihn wartete, da hörte sie plötzlich Schritte im Haus. Sie horchte auf und glaubte zuerst, Thomas wäre zurückgekehrt und hätte sich in die obere Etage zurückgezogen, aber dann verwarf sie diesen Gedanken sofort wieder. Thomas würde sich nicht einfach so hereinschleichen. Es musste ein Einbrecher sein. Hannah ergriff die Pistole, die er ihr da gelassen hatte und überlegte, was sie tun sollte. Thomas hatte ihr erklärt, dass sie sich mit der Waffe in der Hand verstecken sollte, damit sie eine reelle Chance hatte. Wenn sie blindlings nach draußen laufen würde, was jeder von ihr erwarten würde, dann wäre sie eine wandelnde Zielscheibe und ein Schuss in den Rücken genügte dann, um sie unschädlich zu machen. Thomas hatte in weiser Voraussicht ein Geheimversteck eingebaut, damit Hannah sich verstecken konnte, sollte sie während seiner Abwesenheit unerwünschten Besuch bekommen. Sofort schlich sich Hannah in Richtung des kleinen Nähzimmers, wo unter dem Teppich eine Art Falltür im Boden war, die sie von innen verschließen konnte. Hannah hörte, wie Schritte die Treppe herunterkamen und jemand laut und rasselnd atmete, als würde er nach Luft schnappen. Es klang nicht nach Soldaten oder sowjetischen Agenten, nein es hörte sich eher danach an, als wäre da jemand schwer verletzt.

Hannah war sich nicht sicher, was sie tun sollte und entschloss sich schließlich, vorsichtig um die Ecke zu gucken und festzustellen, wer das war. Zum Vorschein kam ein groß gewachsener Mann, der komplett in Schwarz gekleidet war. Er trug einen Rollkragenpullover, schwarze Handschuhe und hatte ebenso schwarzes Haar. Seine Haut war vollkommen weiß und etwas Schwarzes tropfte aus seinen Augen. Hannah glaubte nicht recht zu sehen, als sie diesen Mann als John wiedererkannte. „John?“ rief sie und kam langsam hinter der Ecke hervor. „John, bist du das?“ Der Mann drehte sich zu ihr um und tatsächlich war es John! Aber er wirkte irgendwie anders. Seine Augen waren schwarz, als besäße er keine Iris mehr und seine Zähne sahen aus, als stammten sie von einem Raubtier. An seinen Händen, die ungewöhnlich lang waren und wie Vogelkrallen wirkten, besaß er nur noch vier Finger und seine Arme und Beine waren so dürr und lang geworden. Er hatte sich so verändert, dass Hannah erst mal nicht glauben konnte, dass das wirklich John aus dem Heim war. Unablässig flossen schwarze Rinnsale wie Tränen seine Wange herunter und als er Hannah sah, streckte er langsam seine Hand nach ihr aus. Entsetzt über seinen Anblick wich sie zurück. „John… was ist mit dir?“

„Hannah“, brachte er mit schwacher Stimme hervor und kam langsam auf sie zu. „Sieh, was sie aus mir gemacht haben…“ Hannah bekam Angst und flüchtete zurück in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Was um Gottes Willen war nur mit John passiert und was hatten ihm diese Schweine aus dem Krankenhaus angetan? Das da war doch nicht John! Etwas schlug heftig gegen die Tür und Hannah wich so weit sie konnte zurück und zielte mit der Pistole. „John hör auf! Du machst mir Angst!“

„Sie treiben mich dazu… sie sagten, ich solle dich mitnehmen! Es wäre besser, du wehrst dich nicht.“

„Bitte hör auf damit John! Ich will dir nicht wehtun!!!“ Aber das Schlagen gegen die Tür hörte nicht auf und schließlich durchbrach Johns Arm das Holz und tastete nach dem Griff. Hannah legte den Finger um den Abzug, jedoch zitterte ihre Hand zu heftig, als dass sie hätte schießen können. Sie wollte ja auch gar nicht auf John schießen. Er war ihr großer Bruder, der sich all die Jahre immer so liebevoll um sie gekümmert hatte und jetzt versuchte er, sie zu entführen. „John, tu das nicht!!!“

„Es ist in meinem Kopf Hannah. Sie zwingen mich dazu. Ich ertrage diese Töne nicht mehr…“ Ein Schuss löste sich und traf Johns Arm. Er schrie und zog seinen Arm zurück, Hannah wurde durch die ausgelöste Kraft nach hintern gestoßen und prallte gegen den Herd. Für einen Moment setzte ihr Gehör durch den lauten Schuss aus und sie nahm nur ein lautes Pfeifen wahr, aber dann hörte sie etwas anderes: Töne. Eine Melodie, die sich ähnlich wie ein Klavier anhörte und sich direkt in ihrem Kopf abspielte. Sie klang vertraut und doch gleichzeitig so schrecklich verzerrt und laut, dass sich Hannah die Ohren zuhielt, aber das brachte nichts. Diese Töne spielten sich allein in ihrem Kopf ab und lähmten ihre Gedanken und ihr Bewusstsein. Sie bereiteten ihr höllische Kopfschmerzen und lösten Migräneanfälle aus. Ihre Augen und Ohren schmerzten und ihr ganzer Verstand schien verrückt zu spielen bei dieser Melodie. Hannah ließ die Waffe fallen und drückte ihre Hände gegen den Kopf, während sie schrie. John stieß die Tür so heftig auf, dass sie aus den Angeln flog und schlurfte auf sie zu. Er bekam sie an den Haaren zu packen und zerrte sie hoch. Sein schielendes Auge rollte bei seinen Kopfbewegungen herum und schielte wie schon vor acht Jahren in eine völlig andere Richtung. „Es tut mir Leid, aber ich muss es tun.“ Er packte sie an der Kehle und drückte zu. Hannah versuchte, sich zu wehren und sich aus seinem Griff zu befreien, aber diese schrecklichen Töne in ihrem Kopf machten es ihr unmöglich, vernünftig zu handeln oder überhaupt etwas zu tun. Sie lähmten sie vollständig und so begann John langsam damit, sie zu erwürgen.

Hannahs Verzweiflung

Hannah war nicht imstande, sich gegen Johns Würgegriff zu wehren, da die schrecklichen Töne, die sich in ihrem Kopf abspielten und ihren Verstand verrückt spielen ließen, es ihr unmöglich machten. Sein Griff um ihren Hals wurde unerbittlich fester und ihr wurde bereits schwarz vor Augen, ertönte plötzlich ein Schuss und Hannah fiel zu Boden. Die Töne in ihrem Kopf verstummten und sie schnappte nach Luft. Als sie aufsah, erkannte sie Thomas, der mit einer Waffe auf John zielte. John wandte sich zu ihm um und verzerrte sein schneeweißes Gesicht zu einer breit grinsenden wahnsinnigen Fratze. „Wer wagt es, mein Spiel zu unterbrechen?“ Thomas antwortete nicht darauf, sondern feuerte einen zweiten Schuss ab, der John an der Wange streifte. „Geh von ihr weg, auf der Stelle.“

„Nein, tu es nicht Thomas! Das ist John! Er ist mein Freund.“

„Er hätte dich beinahe erwürgt. Er hätte dich getötet, Hannah.“

„Aber er wollte das doch nicht. John wird dazu gezwungen. Bitte, du darfst ihn nicht töten.“ Thomas steckte seine Pistole ein und in dem Moment griff John ihn an. Die beiden lieferten sich einen unerbittlichen Kampf, bei dem John alles daran setzte, Thomas zu töten, während dieser lediglich versuchte, ihn außer Gefecht zu setzen, da John Hannah sehr wichtig war und er ihre Gefühle nicht verletzen wollte. Doch die Tatsache, dass er diesen außer Kontrolle geratenen Engländer nicht einfach so töten konnte (was für ihn überhaupt kein Problem dargestellt hätte), war er stark in seinem Handeln eingeschränkt und darum auch im Nachteil, wie sich schnell herausstellen sollte. John warf ihn durch die Küche, trat ihn zu Boden und versuchte, ihm das Genick zu brechen. Hannah kauerte zitternd in der Ecke und konnte nicht fassen, was aus John geworden war. Er war nicht mehr er selbst, sondern nur noch ein Monster. „John, bitte hör auf. Lass ihn in Ruhe!!!“ Aber er hörte sie nicht mehr. Der letzte Rest seiner Persönlichkeit war verschwunden und was da blieb, war ein blutrünstiges Etwas. Hannah sah, wie Thomas immer wieder Schläge einsteckte, wie er versuchte den Angriffen seines Gegners auszuweichen und wie er selbst verletzt wurde. Und das nur, weil er ihr zuliebe John nicht töten wollte. Ihr wurde klar, dass sie ihm helfen musste. Wenn sie nichts tat, würde Thomas noch getötet werden und dann wäre sie wieder ganz alleine auf der Welt. Sie nahm die Pistole wieder auf und zielte auf John, aber sie schaffte es nicht, den Abzug zu betätigen. Ihre Hand zitterte zu sehr und sie fürchtete, dass sie dabei vielleicht Thomas treffen könnte. Nein, sie konnte das nicht tun. Sie konnte nicht schießen…

Weinend senkte sie wieder die Waffe und hasste sich selbst dafür, dass sie so schwach war und nichts unternehmen konnte. Warum nur war sie nicht in der Lage, beide zu retten? Warum nur lief es darauf hinaus, dass entweder Thomas oder John sterben würde? Das war nicht gerecht, das war einfach nicht fair!

Thomas wurde gegen die Küchenzeile geschleudert und fiel zu Boden. Dabei schlug er mit dem Hinterkopf gegen eine Kante und verlor fast das Bewusstsein. Blut floss aus der Wunde und Hannah fürchtete zunächst, er wäre tot, aber er regte sich noch. John lachte und schielte sie beide grinsend an. „Was für ein armseliges Würstchen. Und ich dachte, er wäre ein Profikiller der Stasi.“ Hannah sah abwechselnd zu John und zu Thomas und ihr wurde klar, was gleich geschehen würde, wenn sie jetzt nicht sofort etwas unternahm. Thomas würde sterben und sie gleich als nächstes. Hannah kam auf die Beine, griff zum Messerblock neben dem Herd und bekam eines der großen Küchenmesser zu fassen. Ihre Brust schnürte sich zusammen und die Tränen verwischten ihre Sicht. Verzweiflung überkam sie und sie wünschte sich einfach nur, dass sie dies nicht tun musste und dass John endlich wieder der Alte werden würde. „John… bitte…“ Etwas regte sich in den Augen dieses schielenden Mannes, der sich all die Jahre in ihrer Jugend so aufopferungsvoll um sie gekümmert und ihr wie eine Familie gewesen war. Wie er immer an ihrem Bett gesessen hatte, wenn sie krank war oder ihr etwas auf dem Klavier vorspielte, als er seine Stimme noch nicht wiedergefunden hatte. Als er sie auf dem Rücken getragen hatte, als ihre beiden Beine gebrochen waren und wie er verzweifelt versucht hatte, die sowjetischen Panzer davon abzuhalten, auf sie zu schießen und wie er selbst dabei verletzt wurde. John war immer für sie da gewesen und jetzt war er zu einem Monster geworden. Diese pechschwarzen und unmenschlichen Augen fixierten Hannah, selbst sein schielendes Auge und sie erkannte die Hilflosigkeit in ihnen. Etwas von John war immer noch da und es rief ihr zu „Töte mich!“ Hannah schrie auf, als sie den Griff fest umklammerte und die Klinge in Johns Brust rammte. Sie schrie und weinte, als sie den Menschen tötete, den sie wie einen großen Bruder geliebt hatte. John stöhnte, als sich die Klinge ihren Weg in seinen Körper bahnte und pechschwarzes Blut floss ihm aus dem Mund. Hannah hielt immer noch den Griff der Klinge umklammert und hielt den Blick zu Boden gerichtet, da sie ihm nicht in die Augen sehen konnte. Tränen rannen ihre Wange hinunter, tropften auf den Boden und vermischten sich mit Blut. „Es tut mir Leid… Hannah…“ Ein Arm legte sich tröstend um ihre Schultern und als Hannah aufschaute, sah sie, dass das Monster verschwunden war und John nun wieder der war, den sie kannte. Er sah sie traurig an und strich ihr sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. Hannah zog die Klinge aus seiner Brust, hielt ihn fest und versuchte, etwas zu sagen, aber heftige Schluchzer unterbrachen sie. „John, bitte bleib bei mir. Du musst durchhalten, ich rufe einen Arzt und…“

„Nein“, sagte John und würgte einen bedrohlichen Schwall Blut hervor. „Ich kann nicht.“ Er sank zusammen und Hannah versuchte noch, ihn zu stützen, aber sie konnte sein Gewicht nicht halten. John rang nach Luft, er würgte immer mehr Blut hervor und versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber seine Kraft verließ ihn langsam. Sein Blick wanderte zu Thomas. „Bitte pass du an meiner Stelle auf sie auf…“

„Nein John, du musst bei mir bleiben. Bitte!!“ Doch alles Flehen hatte keinen Zweck. Sein Blick wurde leer, sein Herz hörte auf zu schlagen. Er sank tot zu Boden und um ihn herum bildete sich eine pechschwarze Blutpfütze. Thomas beobachtete Hannah schweigend und sah, wie sehr sie der Verlust dieses Mannes schmerzte, der noch vor wenigen Augenblicken versuchte, sie zu töten. Hatte sie John so geliebt wie ihn oder war es etwas anderes? Würde sie auch so bitterlich weinen, wenn er nicht mehr leben würde? Sie hatte John erstochen, nicht um sich selbst zu retten, sondern den Menschen zu schützen, den sie liebte. Sie hatte sich für ihn entschieden und ein großes Opfer gebracht. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er hautnah, wie ein Toter so betrauert wurde und er sich schuldig fühlte. Er fühlte sich vollkommen elend und obwohl er nicht verantwortlich war für das, was da gerade passiert war, so hatte er das Gefühl, dass er allein Schuld an Hannahs Unglück trug.
 

Nachdem sich Hannah beruhigt hatte, übernahm Thomas die Aufgabe, Johns Leiche angemessen zu bestatten. Er wurde neben einem Apfelbaum begraben und er gab Hannah die Zeit, um Abschied zu nehmen. Thomas selbst hielt sich im Abseits und dachte nach. Wenn es dieses Mal John war, wer würde als nächstes Jagd auf Hannah machen? Was, wenn noch mehr Menschen wie er zu Monstern geworden waren und man Hannahs Gefühle ausnutzen wollte, um sie erfolgreich auszuschalten. Für sie musste es ein Alptraum sein und er würde noch schlimmer werden, wenn vielleicht sogar Kinder aus dem Waisenhaus Teil dieser Experimente waren. Nein, das konnte er ihr nicht auch noch zumuten. Hannah musste so schnell wie möglich weg und das am Besten raus aus der DDR. Aber wo war sie denn sicherer? Ja genau, die Bundesrepublik. Wenn sie im Westen wäre, hätte sie den Schutz der Amerikaner auf ihrer Seite, denn denen war es doch mehr als Recht, wenn sie irgendwelche Mittel fanden, die sie gegen die Sowjetunion verwenden konnten. Als er Hannah am nächsten Tag über seine Idee in Kenntnis setzte, sah sie nicht gerade begeistert aus. „Ich soll in den Westen? Aber wie sollen wir das anstellen?“

„Wir reisen nach Berlin. Dort ist es dir möglich, ohne Probleme über die Grenze zu kommen.“

„Und was ist mit dir?“

„Ich werde nachkommen, sobald ich ein paar wichtige Angelegenheiten geregelt habe. Wichtig ist erst einmal, dass du in Sicherheit bist.“

„Was hast du vor?“

„Ich werde die Leute finden, die John zu diesem Monster gemacht haben und sie beseitigen, damit diese Experimente aufhören. Vielleicht seid ihr beiden nicht die Einzigen gewesen, an denen die Sowjets Experimente durchgeführt haben.“ In dem Falle hatte Hannah nichts zu erwidern und sie akzeptierte Thomas’ Entschluss, auch wenn es ihr schwer fiel. Schließlich holte Hannah etwas aus ihrer Tasche, es waren zwei Ringe. Sie hatte alles, was sie entbehren konnte, verkauft und drei Jahre darauf hingespart. Bis jetzt hatte sie ja geschwiegen und diese wichtige Frage nicht gestellt, doch jetzt, da sich ihre Wege für eine unbestimmte Zeit trennen würden, wollte sie es jetzt tun. Zaghaft nahm sie Thomas’ Hand und streifte ihm den einen Ring über den Finger. „Wenn wir uns wieder sehen und die Hoffnung besteht, dass wir ein friedliches Leben führen können, möchte ich, dass wir beide heiraten. Versprichst du es mir?“ Thomas sah sie mit einem seltsamen und nur sehr schwer definierbaren Blick an. Schließlich aber schüttelte er seufzend den Kopf und murmelte „Heiraten… jetzt komm mir nicht mit solchen Kindereien.“

„Ich meine es Ernst“, sagte Hannah und legte sich selbst nun den anderen Ring an. „Ich möchte, dass wir heiraten und eines Tages eine Familie haben. Das ist mein allergrößter Traum.“ Thomas schüttelte wieder den Kopf und sah sie ungläubig an, so als wäre sie verrückt geworden. Aber Hannah sah es an seinen Augen, dass er glücklich war. Ich werde bald heiraten und ein Kind großziehen, vielleicht sogar zwei. Sie hatte sich sogar schon Namen überlegt. Sollte es ein Mädchen sein, würde sie Evangeline heißen und im Falle, dass es ein Junge wurde, würde sie ihn auf den Namen Noah taufen lassen. Nichts auf dieser Welt würde sie davon abbringen, sich ihren einzigen Traum zu erfüllen. Und dieser Ring an ihrem Finger war das wunderbare Versprechen, dass Thomas bald zu ihr zurückkehren und sie zu seiner Frau machen würde.

Die Nacht ging viel zu schnell vorbei und als die Sonne aufging, lagen sie eng umschlungen da und lauschten dem Herzschlag des jeweils anderen. Nachdem sie abreisefertig waren, setzten sie sich ins Auto und fuhren stundenlang durch weite Landschaften und Ortschaften. Hannah schlief zwischendurch immer wieder ein und träumte davon, wie wunderschön ihre Hochzeit werden würde, wenn sie wieder zusammen wären. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte diese Autofahrt nie ein Ende genommen, aber dann erreichten sie schließlich Berlin. Dort kam es jedoch zu einem Zwischenfall. Als sie in einem dichten Gedränge voneinander getrennt wurden, geriet Hannah versehentlich an sowjetische Soldaten, die sie bedrängten und ganz eindeutige Absichten zu haben schienen. Hannah versuchte wegzulaufen, wurde aber festgehalten und in eine Gasse gezerrt. Sie fürchtete schon, dass das Schlimmste eintreten würde, doch da ließen die Soldaten von ihr ab und gingen einfach davon. „Hey Mädchen!“ rief jemand vom Fenster eines Hauses direkt neben der Gasse zu ihr herunter. „Alles in Ordnung bei dir?“

„J… ja.“

Die Stimme bat Hannah, ins Haus zu kommen, da die sowjetischen Soldaten eventuell zurückkommen könnten. Zwar war ihr der Gedanke, zu einem Fremden ins Haus zu kommen, nicht ganz geheuer aber wenn die Soldaten zurückkamen und Thomas immer noch nicht da war, konnte es gefährlich werden. Also ging Hannah ins Haus und fand sich schnell im Dunkeln wieder. Überall im Haus waren die Vorhänge zugezogen und es brannte auch kein Licht. Vorsichtig öffnete sich eine Tür und ein junger Mann von ungefähr 19 Jahren kam auf sie zu. Er war schön, hatte aschblondes Haar und eine vornehme Ausstrahlung. Seine Haut war sehr blass und schon fast schneeweiß. „Du bist aus dem Osten, richtig? Mein Name ist übrigens Anthony Winter.“

„Hannah Ackermann. Woher weißt du, dass ich aus dem Osten bin?“

„Ich hab ein Auge fürs Detail. Du sahst aus, als wärst du auf der Flucht und das nicht nur vor den Soldaten gerade eben. Außerdem flüchten jetzt alle aus dem Osten rüber in den Westen. Oh, wie unhöflich von mir. Ich habe dir ja noch gar nichts angeboten, Hannah. Möchtest du einen Kaffee? Keine Sorge, ich beiße auch nicht.“ Hannah folgte Anthony in die Küche, welche ebenfalls dunkel war, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. „Warum ist hier alles so dunkel?“

„Ich leide an einer seltenen Krankheit. Bei Licht bekomme ich Schmerzen und Ausschläge auf der Haut. Deshalb muss ich alles hier dunkel halten. Außerdem will ich nicht, dass die Amerikaner mich entdecken.“

„Du versteckst dich vor den Amerikanern?“

Anthony reichte ihr einen Kaffee und erwies sich als ein sehr zuvorkommender Gastgeber. Er fragte Hannah nach dem Grund ihrer Flucht und sie erzählte ihm, was ihr passiert war. Hier wurde er ernst und sagte nach einiger Zeit des Schweigens „Das habe ich schon fast befürchtet, dass es auch im Osten dazu kommen würde.“

„Was meinst du damit?“

„Auch die Amis haben hier Experimente an Menschen durchgeführt. Was genau haben sie mit dir gemacht?“

„Sie haben mich im Krankenhaus festgehalten und unter Drogen gesetzt, damit ich nicht weglaufe. Außerdem haben sie mir so ein merkwürdiges Mittel gespritzt. Ich weiß nicht, was das war, aber es hat aus John, einem Freund von mir, ein Monster gemacht.“ Anthony dachte eine Weile nach, sagte aber nichts weiter dazu und riet Hannah dazu, sich besser versteckt zu halten, denn den Amerikanern sei ebenfalls nicht zu trauen. Er erklärte, dass Deutschland zwar momentan raus aus der Nummer mit dem Sündenbock des zweiten Weltkrieges war, jedoch sei dieser Friede nur eine Farce. In Wahrheit war Deutschland nun zum Spielball zweier Supermächte geworden und Berlin sei der momentane Kernpunkt des Konfliktes. „Beiden Seiten ist es egal, welche Mittel eingesetzt werden müssen, um den anderen in die Knie zu zwingen. Und da Deutschland sowieso total verkackt hat als ehemaliger Nazistaat, ist es für sie auch nicht weiter tragisch, wenn ein paar von denen zu Tode kommen. Du bist da in eine sehr gefährliche Sache hineingeraten, Hannah. Die Sowjets werden nichts unversucht lassen, diese Experimente zu vertuschen und die Beteiligten zu beseitigen. Wir sind beide Leidensgenossen. Die Amerikaner haben an mir und einigen anderen auch Experimente durchgeführt. Sie haben die Unterlagen eines KZ-Arztes gefunden, einem gewissen Dr. Helmstedter. Im Grunde führen die Amerikaner die Naziexperimente weiter fort, obwohl sie uns die Freiheit versprochen hatten. Sie wollen diese Forschungen im Kampf gegen die Sowjetunion einsetzen. Und diese hat offenbar auch seltsame Projekte am Laufen, um zum Schlag gegen die USA auszuholen.“

„Oh Gott, was soll ich bloß tun?“

„Wenn du willst, kannst du gerne hier bleiben und dich hier verstecken, bis einigermaßen Gras über die Sache gewachsen ist. Wenn du wirklich in einen Versuchsskandal geraten bist, wäre es äußerst gefährlich, sich hier einfach so in Berlin herumzutreiben.“ Hannah war sich nicht sicher, ob sie das Angebot annehmen sollte und wollte erst einmal nach Thomas suchen gehen. Dieser traf wenig später bei Anthony ein und erfuhr von seinem Angebot. Misstrauisch beäugten sich beide Männer und schwiegen sich an. Hannah sah beide abwechselnd an und fürchtete, dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen könnten, weil sie sich so finster anstarrten und kein Wort sagten. Dann aber, als das Anstarren und Schweigen kein Ende nahm, kam ihr langsam der Gedanke, dass hier vielleicht eine Art telepathischer Gedankenaustausch stattfand und jeder den anderen prüfte, ob ihm wirklich zu trauen war. Und so etwas in der Art fand tatsächlich statt, ohne dass Hannah etwas davon mitbekam. Denn sowohl Anthony als auch Thomas waren Konstrukteure und damit in der Lage, in den Erinnerungen des anderen zu lesen, wenn dies zugelassen wurde. Anthony offenbarte Thomas seine Vergangenheit und Thomas seinerseits verriet ihm, dass er im selben Konzentrationslager wie Mary Lane Teil der Dream Weaver Experimente war und sie beide somit zum gleichen Schlag gehörten. Da der ehemalige Stasi-Beamte nun erfahren hatte, dass Anthony die gleichen Probleme wie Hannah hatte und er ausschließlich gute Absichten hegte, willigte er in das Angebot ein. Er gab sein Einverständnis und so war beschlossen worden, dass Hannah von nun an bei Anthony bleiben würde, bis Thomas zurückkehren würde. Die Verlobten nahmen voneinander Abschied und dann verschwand Thomas. Von nun an wohnte Hannah bei Anthony und sie beide freundeten sich sehr schnell an. Dabei war es vor allem Hannahs sanftes und harmoniebedürftiges Wesen, das den Einstieg erleichterte. Sie lebte sich sehr schnell ein und half, wo es nur ging, solange es ihre Gesundheit zuließ, denn um die stand es in der letzten Zeit nicht immer gut. Erschöpfung und häufige Übelkeit waren oft bei ihr zu bemerken gewesen und der Verdacht eines kleinen Infektes stand im Raum. Anthony war ein Gentleman, der ihr stets mit Rat und Tat zur Seite stand, doch ihr entging durchaus nicht, dass er sich zu freundlich um sie kümmerte. Dieser kleine Verdacht bewahrheitete sich tatsächlich schon nach einem Monat, als Anthony ihr seine Liebe gestand. Sie war sehr gerührt darüber, nahm dann seine Hand fest in die ihren und sagte ihm „Das ist wirklich sehr lieb von dir, aber mein Herz gehört schon jemandem. Ich bin dir wirklich sehr dankbar für alles und ich fände es unendlich schade, wenn genau das zwischen uns stehen würde. Deshalb hoffe ich, dass wir zumindest Freunde bleiben könnten.“ Anthony war einverstanden und so hatte man sich auf eine gute Freundschaft geeinigt, aber trotzdem konnte er seine Gefühle für Hannah nie wirklich vergessen.

Eines Tages geschah es dann, dass Hannah von einer so starken Übelkeit gepackt wurde, dass sie sich mehrmals erbrechen musste und sie daraufhin einen Arzt aufsuchte, der ihr dann die Mitteilung machte, dass sie im dritten Monat schwanger sei. Ach, Hannah kam gar nicht mehr aus den Freudentränen heraus, als sie davon erfuhr und sofort eilte sie zurück zu Anthony, um ihm die Nachricht mitzuteilen. Sie sprach dabei so hastig und durcheinander, dass sie es noch mal wiederholen musste, damit er es richtig verstand. „Schwanger? Im dritten Monat sagst du?“

„Ja, ist das nicht toll? Endlich werde ich eine Familie haben und Thomas und ich werden heiraten. Ich kann es nicht glauben, mein größter Traum von einer Familie wird endlich wahr.“ Sie war so überglücklich, dass sie wieder zu weinen begann und Anthony freute sich natürlich mit für sie, auch wenn er insgeheim der Meinung war, Hannah sei noch zu jung für ein Kind. Von da an begann die 18-jährige intensiv damit, sich auf ihre bevorstehende Mutterrolle vorzubereiten und Pläne zu schmieden. Sie konnte an nichts anderes denken, über nichts anderes mehr sprechen. Doch es blieb nicht unbemerkt, dass sie etwas schwächer wurde und sich oft ausruhen musste. Anthony riet ihr, kürzer zu treten und als es draußen dunkel wurde, ging er zur Apotheke, um Mittelchen aufzutreiben, die vielleicht ihrer Gesundheit helfen konnten. Der Schlag traf ihn, als er zurückkehrte und das ganze Haus verwüstet war. Möbel waren umgerissen, ein blutiges Messer lag auf dem Küchenboden und von Hannah fehlte jede Spur. Dafür fand er ihren Verlobten, der sich gerade umsah. „Was ist passiert? Wo ist Hannah?“ fragte Anthony und dachte zuerst, dass Thomas etwas damit zu tun haben könnte, doch dieser starrte nur auf das blutige Messer. „Sie haben sie mitgenommen.“

„Wer denn?“

„Die Agenten der Stasi. Offenbar haben sie Hannahs Spur wieder aufgenommen, sie hier im Haus überfallen und dann verschleppt. Und so wie es aussieht, hatte Hannah erheblichen Widerstand geleistet und sie mit dem Messer angegriffen, bevor sie weggebracht wurde.“

„Scheiße… und was denkst du? Besteht noch eine Chance, dass sie am Leben ist?“

„Wenn sie sie töten wollten, hätten sie es hier getan. Nein, ich vermute, sie haben Hannah in eine Einrichtung gebracht, um die Experimente fortzusetzen. Jetzt gilt es nur noch, diese Einrichtung zu finden. Dazu brauche ich deine Hilfe als Konstrukteur.“

„Okay. Dann machen wir uns sofort auf den Weg.“ Sie gingen bei ihrer Suche strategisch und gezielt vor. Da Thomas nicht in der Lage war, seine Fähigkeiten der Unterbewusstseinskontrolle bei anderen einzusetzen, war er auf Anthony angewiesen. Und auch wenn die beiden schon vom ersten Augenblick an nicht das beste Verhältnis zueinander hatten, so verband sie doch ihre gemeinsame Sorge um Hannah. Sie fanden das Institut, in denen die illegalen Experimente durchgeführt wurden und wo es noch mehr Gefangene außer Hannah gab. Während Anthony mit der Aufgabe betraut wurde, die anderen zu befreien, machte sich sein Begleiter alleine auf die Suche nach Hannah. Dabei ahnte niemand, was für eine Tragödie sich dabei entwickeln sollte. Denn als Hannah nämlich von den Agenten überfallen und in dieses Institut verschleppt worden war, kam sie in Kontakt mit einem Arzt, der sich ihr als Dr. Hagenström vorstellte. Hannah war in ihrer Zelle an Ketten gefesselt und rechnete mit allem, sogar mit Folter und Tod. „Sie haben uns wirklich lange auf Trab gehalten, Hannah. Drei Jahre haben wir nach Ihnen gesucht und wie ich sehe, sind Sie unverändert geblieben. Wirklich erstaunlich.“

„Was haben Sie mit mir vor? Arbeiten Sie etwa mit diesem Dr. Weinberg zusammen?“

„Zusammenarbeiten würde ich das jetzt nicht nennen. Er führte lediglich unsere Befehle aus.“

„Und was soll das Ganze mit mir? Was habt ihr mit John gemacht?“

„Ein genialer Arzt namens Hinrich Helmstedter hat unzählige Forschungen und Experimente bezüglich des menschlichen Verstandes betrieben und herausgefunden, dass es tatsächlich möglich ist, Traum und Realität zu beeinflussen und den Verstand der Menschen zu beeinflussen oder auszuspionieren. Diese Kraft wollte er auf Menschen übertragen, jedoch konnten seine Forschungen niemals vollendet werden. Die Amerikaner konzentrieren ihre Experimente auf Verstandkontrolle, wir aber wollen die Realität verändern. Sie Hannah, sind der Schlüssel zu unserem Erfolg. Sie sind die einzige Versuchsperson, die es geschafft hat, ihre Kraft zu unterdrücken, ohne von ihr beherrscht zu werden, so wie Ihr Freund John. Alle anderen entwickelten Mutationen, verloren den Verstand, oder starben nach wenigen Monaten. Sie haben es paradoxerweise als Einzige geschafft, obwohl Ihre Gesundheit äußerst mangelhaft ist und wir Ihnen allerhöchstens zwei Wochen gegeben haben. Nur leider besteht jetzt die Gefahr, dass uns nun unsere größte Trumpfkarte verloren geht und deswegen mussten wir Sie hierher bringen, damit wir den Eingriff vornehmen können.“ Hannah wurde bleich vor Schreck, als sie das hörte und ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Ein… Eingriff? Was meinen Sie damit?“

„Sie haben ein sehr schwaches Herz und nicht nur Ihr Herz, sondern Ihre ganze Gesundheit steht auf dem Spiel. Können Sie sich vorstellen, was der Grund dafür ist? Ich will es Ihnen sagen: Das Kind, welches Sie austragen, zehrt Sie vollständig aus. Ihr Körper baut immer weiter ab, da dieses Baby Sie wie ein Parasit krank macht und schwächt. Wir müssen Ihnen den Embryo entfernen, sonst werden Sie daran zugrunde gehen.“

„Sie… Sie wollen mir mein Kind nehmen?“

„Entweder das Kind, oder Sie werden sterben. Das ist leider Tatsache. Wenn Sie sich dazu entscheiden, das Kind zur Welt zu bringen, werden Sie das nicht überleben. Im Prinzip dürften Sie eigentlich niemals Kinder bekommen.“ Hannah konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie durfte keine Kinder zur Welt bringen, weil sie sonst sterben würde? Nur weil ihre verdammte Mutter vor 18 Jahren versucht hatte, sie abzutreiben, konnte sie keine eigene Familie gründen? Was war das denn für eine Gerechtigkeit? Mit welchem Recht wollte man ihr jetzt auch noch ihre letzte Hoffnung nehmen? Ihr Kind wuchs doch gerade so gut heran und sie konnte seine ersten Regungen spüren. Es war ein Teil von ihr und sie war so nah daran, sich ihren einzigen bescheidenen Traum zu erfüllen und zusammen mit Thomas glücklich zu werden. Und jetzt erfuhr sie, dass sie die Geburt des Kindes, auf das sie so sehr gehofft hatte, nicht überleben würde. Das konnte einfach nicht sein. Der Doktor war verstummt und begann seine medizinischen Werkzeuge auszubreiten. „Sie sollten nicht versuchen, sich zu wehren. Wir wollen doch nicht, dass Sie allzu sehr verletzt werden.“

„Nein!“ schrie Hannah und trat nach dem Arzt. „Ihr werdet mir mein Kind nicht nehmen, das lasse ich nicht zu. Ich lasse nicht zu, dass ihr mein Kind tötet!!!“ Etwas in ihrem Kopf hatte sich ausgeschaltet und nun begann sie wie eine Verrückte zu toben. Die nackte Verzweiflung sprach aus ihr, als sie schrie und jeden von sich stieß, der ihr zu nahe kam. Sie wollte es einfach nicht akzeptieren, dass ihr selbst dieses kleine Glück verwehrt bleiben sollte und dass ihre einzige Chance, zu überleben, darin bestand, ihr Kind zu töten. Das wollte sie einfach nicht hinnehmen und sich mit aller Macht dagegen wehren. Zwei uniformierte Wachen kamen herbei und begannen auf die tobende Hannah einzuprügeln. Sie schlugen ihr ins Gesicht und traten ihr in den Bauch und in den Unterleib. Vor Schmerz wimmernd krümmte sich die Schwangere zusammen. Ein Strom von Tränen floss ihre zerschundenen Wangen hinunter und Verzweiflung übermannte sie. Sie konnte es nicht mehr spüren… sie konnte ihr Kind nicht mehr spüren. Sonst hatte sie immer spüren können, wie sein kleines Herzchen schlug und es sich bewegte. Aber jetzt war nichts mehr. Es musste die Tritte nicht überlebt haben. Nun wich auch die allerletzte Hoffnung in ihr und damit ihre letzte Widerstandskraft. Der Stich in ihrem Herzen wurde zu einem rasenden Schmerz in ihrer Brust und schnürte ihr die Kehle zu und explodierte förmlich. Ihr war, als würde sie innerlich zerquetscht werden Sie schrie auf, da er nicht mehr zu ertragen war und in Krämpfen begann sie sich zu winden. Ihre Augen verdrehten sich in den Höhlen und ein entsetzliches Dröhnen ertönte in ihrem Kopf. „Das ist nicht gut. Haltet Sie fest, ich muss ihr eine Beruhigungsspritze geben.“ Die Wachen nahmen Hannah die Fesseln ab, um sie besser festhalten zu können, doch bevor der Doktor dazu kam, ihr die Spritze zu geben wurde die Tür aufgestoßen und Thomas kam herein. Sofort erschoss er die beiden Wachen und die Ärzte und eilte zu Hannah, um ihr zu helfen. Dabei sah er, wie sie sich immer mehr veränderte. Ihre Augen wurden pechschwarz, genauso wie ihr Haar und die kleinen Finger begannen, mit den Ringfingern zusammenzuwachsen und länger zu werden. Ihre Haut verfärbte sich und auch ihre Extremitäten wurden länger und dürrer. Voller Angst sah sie Thomas an und streckte ihre Hand nach ihm aus. „Hilf mir…“, brachte sie gequält hervor und versuchte, auf ihn zuzukriechen, doch ihr Körper gehorchte ihr kaum noch. Sie sah, was mit ihr passierte und wusste, was das bedeutete: sie wurde zu einem Monster wie John. „Thomas, bitte hilf mir…“ Aber er war wie erstarrt. Er wusste nicht, was er tun konnte, um diesen schrecklichen Prozess aufzuhalten. Hilflos und zur Untätigkeit verdammt sah er mit an, wie Hannahs ganzes Gesicht in eine pechschwarze Leere verwandelt wurde, die von einer Kapuze bedeckt wurde. Entsetzt wich er zurück und konnte nicht fassen, was mit ihr passierte. Er richtete instinktiv die Waffe auf sie oder besser gesagt auf dieses Ding, doch er brachte es nicht fertig, sie zu töten. Noch nie in seinem Leben hatte er Probleme damit gehabt, Menschen zu töten und es war ihm auch meist egal gewesen. Befehl war ja Befehl. Aber Hannah konnte er einfach nicht töten. Dazu liebte er sie einfach zu sehr. „Hannah, komm zu dir. Ich will dich nicht töten!“ Doch sie war nicht mehr sie selbst. Sie stürzte auf ihn zu und wollte ihn zu sich zerren, um ihn zu verschlingen, doch Thomas stieß sie von sich und Hannah oder besser gesagt dieses Ding stürzte zu Boden. Es hatte keinen Sinn, Hannah Ackermann existierte nicht mehr… sie war für immer fort. Der Ex-Stasi eilte zur Tür, drehte sich noch einmal um und sah, wie das Wesen sich wieder aufrichtete und langsam auf ihn zukam. „Bitte verzeih mir Hannah…“ Damit verriegelte er die Zellentür und ließ die Kreatur, die einst seine Verlobte gewesen war, zurück.

Mary schlägt zurück

Anthony wachte schlagartig aus seiner Ohnmacht auf, als er eine Stimme zu hören glaubte, die etwas rief. Zuerst wusste er gar nicht, was geschehen war und warum er am Kopf blutete. Er spürte, wie ihn etwas an der Kehle packte und ihn hochzerrte. Vor ihm stand Umbra und er sah in die pechschwarze Leere unter der Kapuze, wo es nichts gab und alles ins Nichts verschwand. Was hatte er vorhin bloß gesehen gehabt, während er bewusstlos war? Das waren keine Träume gewesen… sondern Hannahs Erinnerungen. Ja, er hatte unbewusst Hannahs Erinnerungen gelesen. Aber wie war das möglich? Konstrukteure konnten von Toten doch keine Erinnerungen lesen, es sei denn… es sei denn sie waren gar nicht tot. Die Erkenntnis traf ihn schlimmer als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können. Mit einem traurigen und fassungslosen Blick sah er Umbra an und fragte mit zitternder Stimme „Hannah?“ Das Wesen antwortete nicht, sondern versuchte sogleich, ihn näher heranzuziehen, auf dass es ihn verschlingen konnte. Der Konstrukteur war so getroffen, dass er nicht imstande war, sich dagegen zu wehren. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein, dass dieses Monster Hannah war?

Jemand packte ihn am Kragen und zerrte ihn nach hinten und das mit solcher Kraft, dass Umbra ihn losließ. Christine und Anthony fielen beide nach hinten und die rothaarige Frau schrie vor Schmerz auf, da ihr ein scharfes Stück Metall im Oberschenkel steckte und es sich bei dem Aufprall noch tiefer ins Fleisch bohrte. „Bist du verrückt, Anthony? Willst du dich freiwillig umbringen lassen?“ „Aber das ist…“ Er kam nicht dazu, auszureden, da dicht neben ihnen ein Schuss fiel und Christine sich auf Anthony warf, um ihn vor der Kugel zu schützen. Mary Lane kam aus der Dunkelheit hervor und sie zielte mit einer Pistole auf ihn und Christine. „Na da hat es euch aber böse erwischt“, sagte sie gehässig und trat näher. „War wohl doch keine so schlechte Idee, die Sprengsätze in der Gegend zu verteilen. Und Umbra habt ihr mir gleich auch noch gebracht. Wirklich zu freundlich.“

„Wag es auch nur, sie anzufassen und ich bringe dich eigenhändig um.“

„Oh wie niedlich, er will diesen Freak tatsächlich schützen.“

Anthony glaubte seinen Augen nicht, als er sah, wie eine Vogelscheuche hinter den Bäumen hervorkam und sich zu Mary gesellte. Eine abstoßend hässliche Vogelscheuche, wie sie nur aus den schlimmsten Alpträumen entflohen sein konnte, bewegte sich von selbst und sprach auch noch. Das war er also, der Serienmörder Scarecrow Jack, der im Alter von acht Jahren ermordet worden und dann als Vogelscheuche zurückgekehrt war. Und das war die gleiche Vogelscheuche, die ihn zuvor im Park attackiert hatte. Ein leichter Wind ging und wehte Anthony einen mörderischen Verwesungsgestank um die Nase. Der Geruch war so ekelerregend und widerwärtig, dass ihm schlecht wurde. Und außerdem glaubte er, Ungeziefer unter seiner Kleidung sehen zu können. Großer Gott, was war das nur für ein Monster? Der Traumfresser, den er in Violas Traumwelt gesehen hatte in seiner monströsen Riesenspinnengestalt war ja nichts im Vergleich dazu. Christine zog das Metall aus ihrem Bein und warf es weg. „Na super, da sind Dideldei und Dideldum endlich angetanzt. Das kann ja ein Spaß werden. Mit dir, Jackson, habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Du bist dem Fährmann oft genug von der Schippe gesprungen, aber jetzt wird es Zeit, dass ich dich höchstpersönlich in die Hölle befördere.“ Die Vogelscheuche lachte und entblößte dabei ihre gelb verfärbten Zähne. „Hörst du das, Mary? Das Weibstück will mich eigenhändig in die Hölle schicken. Haha, wie geil ist das denn? Ich glaub, ich lach mich gleich tot. Wobei… Ich bin ja schon tot!!“ Jackson brach in ein wahnsinniges Gelächter aus und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Er hielt sich vor Lachen den Bauch und beugte sich nach vorne, dabei fielen ihm mehrere Asseln und Tausendfüßler aus dem Mantel und dem Kragen seines Pullovers. Mary lachte nicht, sie wandte sich nur von ihm ab, da der bestialische Gestank dieser Vogelscheuche sie ebenfalls ekelte. Christine ließ ihre Handgelenke knacken und sagte herausfordernd „Mach dich nur lustig, du wirst schon sehen, was du davon hast.“ Mit erhobener Faust ging sie auf Jackson zu und schlug ihm in die Brust. Schon zu sehen, wie heftig ihr Rechtshaken war, flößte Anthony Respekt ein. Aber noch mehr blieb ihm der Mund offen stehen, als die Vogelscheuche regelrecht von den Füßen gerissen und weggeschleudert wurde. Erst als sie gegen einen Baum prallte, wurde der Flug abgebremst und danach musste sich der Scarecrow Killer erst einmal kurz von dem Schlag erholen. „Meine Fresse, die Schlampe hat echt Arme wie ein Boxer! Obwohl mein Körper nur aus Stroh, Holz und Ungeziefer besteht, tut das echt weh…“

„Jetzt hör auf zu jammern, du kannst keine Schmerzen spüren!“ rief Mary und wandte sich mit einem eiskalten Lächeln Christine und Anthony zu. Sie holte etwas hervor, das wie eine Granate aussah und entfernte den Stift. „Wir wollen ja auch nicht kämpfen, sondern nur die Fracht abholen.“ Mit einem kräftigen Satz warf Mary den granatähnlichen Behälter und wandte sich zum Gehen. Kurz bevor das Ding auf den Boden fiel, strömte ein blassgelbes Gas heraus und nebelte alles binnen weniger Sekunden ein. Anthonys Augen begannen zu tränen und seine Lunge brannte. War das etwa Tränengas? Nein, es war etwas anderes. Es… es brannte sogar auf der Haut. Christine reagierte sofort und zerrte Anthony hoch. Da er aber immer noch etwas benommen durch die Verletzung am Kopf war, stemmte Christine ihn kurzerhand auf ihren Rücken. „Wir müssen sofort weg hier. Das ist Senfgas!“

„Wie bitte? Senfgas?“

„Ein echt teuflisches Zeug aus dem ersten Weltkrieg. Es ist hochgiftig und verätzt die Haut und Atemwege.“ Die Wolke breitete sich immer weiter aus und erreichte langsam das Autowrack. Thomas lag immer noch dort und war noch nicht bei Bewusstsein. Christine zerrte ihn mit einer Hand heraus und brachte sie beide aus der Gefahrenzone. Sie lief, bis sich die Gaswolke langsam verflüchtigte, dann setzte sie Thomas und Anthony ab und setzte sich hin, um sich kurz auszuruhen. Unglaublich, dachte Anthony während er Christine betrachtete. Sie hat dieser Monstervogelscheuche einen Rechtshaken verpasst, wie es nicht mal Profiboxer schaffen und sie hat trotz ihrer recht zierlichen Gestalt zwei ausgewachsene Männer tragen können, obwohl ihr ein riesiger Metallsplitter ihr bis zum Knochen im Oberschenkel steckte. Sie war wirklich kein Mensch…. Nachdem Christine einen kurzen Moment Luft geschnappt hatte, kümmerte sie sich um Thomas und sah nach, ob er schwer verletzt war. Zu ihrer Erleichterung war er größtenteils in Ordnung, lediglich eine Platzwunde an der Stirn, die sie provisorisch versorgte. Schließlich kam er zu sich und fragte, was passiert sei. Hier musste Christine ihm beichten, dass sie Umbra nicht fangen konnten und er stattdessen Mary in die Hände gefallen war. Sie erklärte die Umstände und zuerst dachte Anthony, dass von Thomas erst einmal Vorwürfe kamen, aber er sagte nur „Dann ist es, wie es ist. Zumindest leben wir.“

„Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest“, sagte Christine mit schuldbewusster Miene. „Anthony weiß Bescheid. Er kennt die Wahrheit.“

„Ist das so?“ fragte er mit ruhiger und gefasster Stimme und erwartete eine Antwort von Anthony. Dieser nickte bekümmert. „Ja. Ich habe, als ich ohnmächtig war, Hannahs Erinnerungen gesehen. Sie ist es, sie ist in Wahrheit Umbra.“ Thomas senkte ein klein wenig den Blick, sein Gesichtsausdruck jedoch blieb unverändert kühl und abweisend. „Hannah wurde von ihren eigenen Träumen verschlungen, aber ich habe mir niemals einen plausiblen Grund vorstellen können, warum sie zu Umbra geworden war. Aber als du mir das mit der Schwangerschaft erklärt hast, ist mir so einiges klar geworden. Zwischen uns, den Konstrukteuren, besteht ein deutlicher Unterschied zu den „Träumern“, wie sie beim DDR-Projekt genannt werden. Wir Konstrukteure werden so genannt, weil wir in der Lage sind, Trauminhalte zu konstruieren und zu gestalten, ebenso wie wir das Konstrukt des Verstandes beherrschen. Allerdings sind wir nicht fähig, das Traumgerüst selbst zu erschaffen. Wir können keine Träume erschaffen, sondern nur den Inhalt bestimmen. Bei den Träumern ist es genau anders herum. Sie können Träume erschaffen, sind aber nicht fähig, ihnen einen Inhalt zu geben, oder den Traum zu stabilisieren. Stattdessen werden sie von ihren Träumen verschlungen und verlieren den Verstand, oder werden zu monströsen Wesen. Umbra ist ein leerer Traum. Hannah hatte ihren einzigen Traum von einer Familie verloren und damit auch ihre Hoffnung. Was blieb, war Leere und diese hat sie schließlich völlig vereinnahmt, sodass sie zu Umbra wurde. Nun versucht sie, ihrem leeren Traum wieder einen Inhalt zu geben, indem sie Menschen verschlingt, weil sie sich ihre Träume aneignen will. Aber da alles ins Nichts verschwindet, ist es im Grunde ein nie enden wollender tragischer Teufelskreis. Ich hätte es schon vor sechzig Jahren beenden können, aber ich habe es einfach nicht fertig gebracht, sie zu töten.“

„Und warum hast du mir nichts davon gesagt und mich belogen?“

„Hannah hätte das nicht gewollt. Ebenso wenig wie ich wollte, dass du sie als das Monster in Erinnerung behältst, zu das sie letztendlich wurde.“

„Aber warum hast du so getan, als würde dir alles am Arsch vorbeigehen?“ Thomas schwieg eine Weile und sah hinauf in den klaren Nachthimmel, wo die Sterne ungewöhnlich schön leuchteten. „Ich habe mir sechzig Jahre lang schwere Vorwürfe gemacht, dass ich Hannah nicht retten konnte. Ich wollte meine Gefühle vollständig verschließen und verleugnen, weil ich nicht mehr diesen Schmerz spüren wollte. Wenn ich so wie damals, vor meiner Begegnung mit Hannah, keine spürbaren Gefühle hatte, so wäre ich in der Lage gewesen, Umbra zu töten und damit Hannah zu erlösen. Vielleicht wollte ich mich auch selbst bestrafen, indem ich dich immer wieder provoziert hatte. Aber indem ich meine eigenen Gefühle verleugnete, so habe ich auch gleichzeitig Hannah verleugnet, was meine Verbrechen nicht weniger schlimm macht.“ Es war das erste Mal, dass Thomas offen mit jemand anderem außer Hannah über seine Gefühle sprach und damit auch gleichzeitig einen Versöhnungsschritt auf Anthony zu machte. „Ich habe dich nicht so behandelt, weil ich persönlich etwas gegen dich hatte. Ich wusste, dass du Hannah geliebt hast, aber ich war damals wirklich froh, dass Hannah nicht alleine war, während ich fort war.“

„Das mit dem Kind… es muss dich sicher sehr mitgenommen haben.“ Thomas antwortete nicht darauf, aber Anthony sah es nun so deutlich, als würde er es mit Hannahs Augen sehen: Den unendlich tiefen Schmerz in Thomas’ Augen. All diese Vorwürfe und Anschuldigungen waren niemals spurlos an ihm vorbeigegangen. Im Grunde hatte Anthony genau das laut ausgesprochen, was er sich selbst all die Jahre vorgeworfen hatte. Thomas hatte Hannah wirklich aufrichtig geliebt. „Und was hatte Christine mit der Sache zu tun?“

„Ich traf sie kurz nach dem Vorfall im Institut und ich bot ihr einen Handel an. Ich würde für sie arbeiten und ihre Aufträge ausführen, egal wie sie auch lauten mochten. Im Gegenzug versprach sie mir, alles daran zu setzen, dass ich mein Ziel erreichte. Bedingungen waren, dass sie möglichst keine Außenstehenden mit hineinzieht und dass dir und deinen Freunden nichts passiert.“ Anthony fühlte sich echt mies, als er das hörte. Hätte er das alles eher gewusst, dann hätte er so einiges besser nicht gesagt. Christine merkte, dass die Zeichen beider Seiten auf Versöhnung standen und räusperte sich. „Ich denke, jetzt wäre genau der perfekte Zeitpunkt, um den Streit beizulegen.“

„Tut mir echt Leid, Mann“, murmelte Anthony und klopfte Thomas auf die Schulter. Dieser zeigte immer noch keinerlei sichtbare Emotionen, aber er nickte und erwiderte „Lass uns das einfach vergessen.“ „Sehr gut“, rief Christine und klatschte in die Hände. „Jetzt, da das endlich geklärt ist, müssen wir uns langsam mal auf die Socken machen und unser Durchgeknallten-Duo einholen. Der Wagen ist hin, aber ich werde uns ein neues Gefährt auftreiben. Ihr wartet kurz hier.“ Christine verschwand in der Dunkelheit und sowohl Thomas als auch Anthony blieben zurück. Langsam kamen sie wieder auf die Beine und erholten sich von dem Autounfall. Ihre Verletzungen verheilten bereits, da sie ja als Konstrukteure die Fähigkeit hatten, sämtliche Vorgänge im Körper zu beeinflussen und damit auch die Wundheilung. Zwar dauerte es seine Zeit, aber zumindest würden sie schneller verheilen als bei einem normalen Menschen. „Wenn ich das richtig verstanden habe, dann bestand euer Handel darin, dass du für sie arbeitest und sie dir hilft, Umbra zu finden?“

„Ja.“

„Und was willst du dann tun, wenn du Umbra oder besser gesagt, Hannah gefunden hast?“

„Ich hatte zuerst vorgehabt, Umbra zu töten, aber dann erzählte mir Christine, dass es noch weitere Unterlagen von Dr. Helmstedter gibt. Vielleicht existiert ja eine Möglichkeit, die Mutation rückgängig zu machen und Hannah wieder zurückzuholen. Auch deshalb sind Christine und ich bei dir eingebrochen.“ Anthony nickte bedächtig und sah Thomas forschend an. „Und hast du einen Weg finden können?“

„Nein, Dr. Helmstedter hat nichts in der Art niedergeschrieben und die Unterlagen über die Medikation, die Hannah und John damals injiziert wurde, ist verschwunden. Und ich fürchte, das geschah nicht grundlos. Vielleicht hat Mary die Unterlagen vor mir gefunden, oder aber jemand anderes war schneller.“ Wenn dem so war, dann hieße das, die Experimente aus der damaligen DDR wurden danach noch mal aufgenommen. Unvorstellbar, was für Monstrositäten außer Umbra noch das Tageslicht erblicken würden, wenn es stimmen sollte.

Keine zehn Minuten später fuhr ein Wagen heran, ein Oldtimer, den Anthony als einen Plymouth Fury erkannte. Dieser hatte etwas eigenwillige Farbe, denn statt der goldweißen Anfertigung, wie sie damals vom Fließband rollte, war er in rotweiß lackiert. Er sah haargenau aus, wie der mörderische Teufelswagen „Christine“ aus Stephen Kings gleichnamigen Roman. Sie stiegen ein und Christine trat sofort das Gaspedal durch. „Wo hast du den denn aufgetrieben?“ fragte Anthony, der durch den plötzlichen Ruck in den Sitz gedrückt wurde und nun schnell versuchte, sich anzuschnallen, bevor es noch einen Unfall gab. Tatsächlich bog Christine so haarscharf um eine Kurve, dass die Reifen laut aufkreischten wie eine wild gewordene Furie. „Ist ein kleines Hobby von mir, alte Oldtimer zu restaurieren. Der alte Hudson war zwar mein Liebling, aber das Baby hier hat mehr Power unter der Haube. Ich bin immer auf alles vorbereitet.“ Das beantwortete zwar nicht die Frage, wie sie so schnell von der Landstraße zu Fuß in die Stadt kommen und den Wagen hierher fahren konnte, aber Anthony bohrte nicht weiter nach. Er sagte sich einfach „Sie ist kein Mensch, also sollte ich mich nicht allzu sehr über sie wundern.“ Der Tacho schoss immer weiter in die Höhe und es war erstaunlich, wie viel Power Christine aus einem 58er Plymouth herausholen konnte, obwohl diese nicht mal im Traum an 200 Meilen pro Stunde herankamen. Er raste fast wie ein Sportwagen über die Straße und für einen Moment schien es so, als könnten sie es tatsächlich schaffen, Mary und Jackson einzuholen, da trat Christine plötzlich in die Bremsen und wieder schrieen die Reifen auf, als sie über den Asphalt schleiften und schwarze Schlieren hinterließen. Sie kamen rechtzeitig zum Stehen, bevor sie in den Abgrund gestürzt wären. Die Brücke, die eigentlich auf die andere Seite führen sollte und den kürzesten Weg darstellte, war verschwunden. Sie war gesprengt worden, ganz offensichtlich von Mary und Jackson, um einen Vorsprung zu gewinnen. Christine schlug aufs Lenkrad und ärgerte sich sichtlich. „Diese elenden Mistkerle“, fluchte sie und bog notgedrungen nach links ab. „Sie waren bestens auf uns vorbereitet.“

„Kannst du nicht irgendetwas machen?“ fragte Anthony und musste sich trotz des Sicherheitsgurtes festhalten, da Christine um die Kurven raste wie eine wahnsinnig gewordene Rennfahrerin in der letzten Runde. „Würde ich ja gerne, wenn ich nicht die Vorschriften einhalten müsste“, erklärte sie mit gereizter Stimme und trat das Gaspedal durch, dass der Motor laut aufheulte. „Solange ich hier bin, darf ich nicht einfach so machen, wonach mir gerade ist, sondern habe sehr strenge Vorschriften einzuhalten und ich kann sie auch nicht in Ausnahmefällen brechen.“

„Na toll, und was kannst du tun?“

„Den beiden gehörig die Kauleiste polieren, wenn sie mir unter die Augen kommen!“ Christine war sauer, das hatte selbst Thomas nie bei ihr erlebt. Normalerweise wurde sie allerhöchstens provokant, als wolle sie es auf eine Schlägerei ankommen lassen, aber dies war das erste Mal, dass er sie so erlebte. Und Grund dafür war, dass es niemanden bisher gelungen war, ihr derart auf der Nase herumzutanzen. Mary, so verrückt sie auch sein mochte, hatte gewusst, dass sie nicht menschlich war und damit eine ernsthafte Gefahr darstellte. Da sie aber festgestellt hatte, dass diese mysteriöse Frau mit den roten Haaren unter allen Umständen lieber Menschenleben rettete als auszulöschen, brauchte sie nicht viel um sie loszuwerden. Die ausgelegten Bomben waren eine Falle gewesen, um sie zu behindern und gleichzeitig Umbra aus seinem Versteck zu locken. Um ungehindert fliehen zu können, hatte Mary die Senfgasgranate geworfen mit der Gewissheit, dass Christine Anthony und Thomas sofort aus der Gefahrenzone bringen würde, anstatt ihnen zu folgen. Und kaum, dass sie die Brücke überquert hatten, sprengten sie diese. Sie hatten ihren einzigen Schwachpunkt, nämlich ihren unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, gegen sie verwendet und genau das war das Unerhörte. Und Christine war nicht in der Lage, das wahre Ausmaß ihrer Kraft zu entfesseln, um Mary Lane und Jackson auf direktem Wege zur Hölle zu schicken. Mit lautem Fluchen schlug sie mit der Faust auf die Armaturen und hinterließ eine Delle, aber das war ihr jetzt egal. Sie würde die beiden nicht ungestraft davonkommen lassen, dafür würde sie schon persönlich sorgen.

Die Fahrt führte sie einen kleinen Waldweg entlang und schließlich auf eine andere Landstraße. Es war stockfinster, sodass Christine das Fernlicht anschalten musste und erst im letzten Moment sahen sie jemanden auf der Straße direkt vor ihnen stehen. Es war Jackson. Breit grinsend sprang er auf die Motorhaube und zerschlug mit seiner Klingenhand die Frontscheibe. Glassplitter flogen ins Innere des Plymouth und Christine riss das Lenkrad zur Seite und versuchte somit, den Scarecrow Killer wegzuschleudern, aber er krallte sich fest und lachte hämisch. Thomas zog seine Pistole und schoss der Vogelscheuche in den Kopf, was aber keinerlei Wirkung zeigte. „Christine, halt den Wagen ruhig!“ rief er und öffnete die Wagentür. „Ich mach das schon!“ Damit befreite er sich von seinem Gurt und kletterte aufs Dach. Er brauchte jetzt Bewegungsfreiheit und die hatte er nur, wenn er nicht mehr auf dem Rücksitz gequetscht und von diesem lästigen Gurt behindert wurde. Mit einer Hand hielt er sich fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten und seine Bewegungen denen des fahrenden Plymouth anzupassen. Er hatte so etwas schon des Öfteren mal gemacht und hatte deshalb Übung drin, aber dies würde das erste Mal sein, dass er eine monströse Killer-Vogelscheuche bekämpfte. Und da Kugeln nicht die geringste Wirkung zeigten, musste er zu anderen Mitteln greifen. Also zog er sein Schwert und schaltete die Batterie ein, an der es angeschlossen war. Durch die elektrischen Impulse wurde die Zertrennung von Gewebe einfacher gemacht und zeitgleich sorgte es dafür, dass keine größeren Blutungen eintraten. Dieses Verfahren wurde in der Chirurgie oft angewendet und Thomas nutzte diese Technik, weil er es hasste, dass Blut auf seine Kleidung kam. Da dieser Gegner aber nicht blutete, erhöhte er die Voltanzahl, wodurch sich eine Energie entwickelte, die das Metall erhitzte. Der ehemalige Stasi-Beamte machte sich bereit und als die Klinge genug geladen war, stieß er zu und durchbohrte Jacksons Brust. Die Vogelscheuche schrie auf und versuchte die Klinge herauszuziehen. „Das brennt“, schrie sie wütend und schlug nach Thomas. „Du elender Hurensohn, das brennt!!!“ „Offenbar ist Feuer dein Schwachpunkt“, bemerkte der Auftragskiller kühl und wollte erneut angreifen und dieses Mal den Kopf abschlagen, aber da blockte Jackson den Schlag mit seinen Klingenhänden ab und sah ihn hasserfüllt an. „Das wirst du mir büßen…“ Tatsächlich war Jackson gegen alles Mögliche immun. Kugeln und Messerangriffe waren für ihn gar nichts, auch Wasser und Gift steckte er locker weg und lachte noch darüber. Aber Feuer war seine größte Achillesferse. Sein Vogelscheuchenkörper war äußerst gut brennbar, insbesondere da es teilweise aus Stroh bestand. Doch ein weiterer Grund war seine Vergangenheit. Jackson war damals von einer religiösen Sekte im Alter von acht Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden und obwohl er mit diesem Vogelscheuchenkörper nichts spürte, so war allein die Erinnerung an das Feuer schmerzhaft. Dieses Wissen nutzte Thomas und hielt mit der Klinge gegen Jacksons Blockversuche. Dabei erhitzten sich die Messerhände und das heiße Glühen war, wenn für ihn auch nicht spürbar, trotzdem so präsent, als würde er es tatsächlich fühlen. Er schrie auf und versuchte, Thomas abzuwehren und ihn auf Abstand zu bringen. Aber dieser schlug erneut zu und schaffte es, dem Untoten den linken Arm abzutrennen. Daraufhin verlor Jackson das Gleichgewicht und versuchte, sich festzuhalten. Dies bemerkte auch Christine am Steuer und rief „Thomas, gut festhalten!!!“ Kurz darauf bremste sie scharf und schleuderte Jackson über die Motorhaube auf die Straße und fuhr über ihn drüber. Thomas sprang vom Dach herunter und lief zu Jackson, dessen Körper furchtbar lädiert aussah. Er drehte seinen Kopf zu ihm und seine gelben Augen funkelten mörderisch. „Na los doch, töte mich ruhig. Ich werde sowieso wieder zurückkehren. Jemanden, der schon längst tot ist, kann man nicht noch einmal umbringen!“ Da Thomas keine Lust hatte, sich weiterhin dieses Geschwätz anzuhören, stieß er der Vogelscheuche die Klinge in den Mund. Etwas weiter weg hörte er, wie eine Autotür zugeschlagen wurde und sah Christine und Anthony herbeieilen. Die Rothaarige war immer noch gereizt und sah mit einem schadenfrohen Grinsen, wie Scarecrow Jack auf dem Boden lag und sich mit seinem kaputten Körper kaum bewegen konnte. „Das ist ja perfekt!“ rief sie, wobei sie ihren Absatz beinahe triumphierend auf seinen Brustkorb drückte. „Jetzt läufst du uns nicht mehr so schnell davon.“

„Macht ruhig! Tötet mich, zündet mich an oder reißt mich in Stücke. Ich komme wieder zurück und bringe euch alle um, ihr dreckigen kleinen Schweinchen!!!“

„Oh, da mach dir mal keine Sorgen“, sagte Christine mit einem unheilvollen Lächeln im Gesicht. „Der Fährmann wartet bereits auf dich und ihm wirst du garantiert nicht entkommen.“ Als Jackson das hörte, weiteten sich seine Augen, denn er verstand allmählich, was Christine ihm sagen wollte und er wusste, was das zu bedeuten hatte. „Das kannst du doch wohl nicht ernst meinen. Du bluffst doch nur!!“

Hier hockte sich Christine direkt neben ihn hin und entgegnete ruhig. „Eines solltest du dir sehr gut merken: Ich bluffe niemals!“ Hierauf zog sie etwas unter ihrer Jacke hervor, das wie ein Pflock aussah, nur war dieser aus massiven Eisen. „Du hast mein Mitleid, für das, was man dir angetan hat. Aber jetzt ist langsam Schluss mit den Spielchen.“ Mit einer Wucht rammte Christine Jackson den Metallpflock in die Brust und gequält stöhnte er auf. Dann jedoch verzog er seine Lippen zu einem widerwärtigen Lächeln und brachte mit letzter Kraft hervor „Ihr könnt Hannah nicht mehr retten, ebenso wenig wie diese Welt. Bald werdet ihr alle in dem Alptraum gefangen sein, den Helmstedter einst erschaffen hat. Ihr habt ja keine Ahnung…“ Damit wich das Leben aus der Vogelscheuche und sie begann immer mehr in sich zusammenzufallen. Auch das Ungeziefer verendete, der mörderische Gestank wich allmählich. „Es ist immer wieder traurig, so etwas mit anzusehen. Noch nie in meinem Leben habe ich eine Seele gesehen, die so entsetzlich verdorben ist, dass sie wie eine verrottete Leiche stinkt.“

„Ist er jetzt endgültig weg?“

„Mit Sicherheit. Wenn der Fährmann sich entschließt, eine Seele mitzunehmen, gibt es kein Entkommen.“

„Wer oder was ist dieser Fährmann? Etwa ein Kollege?“

„Nein, wir sind keine Kollegen oder Partner. Der Fährmann bringt die Seelen, die nach ihrem Tode in die Zwischenwelt kommen, rüber auf die andere Seite oder zurück. Das entscheidet er meist aus eigenen Willen und hat sich nicht an Vorschriften zu halten wie ich. Du hast ihn auch schon getroffen, Anthony. Er hat dich und deine beiden Freunde gerettet, als der Traumfresser euch getötet hat.“ Der lichtscheue Konstrukteur dachte nach und versuchte sich zu erinnern, was passiert war, nachdem er von diesem Monster gefressen worden war. Ja genau, er war der Stimme eines Mädchens gefolgt und Viola hatte von einem Mädchen mit roten Augen gesprochen, das ihr geholfen hatte, das Monster zu töten und damit aus der Traumwelt zu fliehen. „Der Fährmann ist ein kleines Mädchen?“

„Sie ist viel älter als sie aussieht. Ich habe sie gebeten, Jackson persönlich auf die andere Seite zu bringen, damit er keinen Blödsinn mehr anstellt. Es ist sowieso das Beste für ihn.“

„Dann ist das Mädchen, also der Fährmann, auf unserer Seite?“

„Er ergreift nur selten Partei und dann meist für jene, die ihm nahe stehen oder jene, die er sympathisch findet.“ Dabei sah sie Anthony an, als wolle sie sagen „Und damit meine ich dich und deine beiden Freunde.“ Sie ließen die verrottete Vogelscheuche, in der nun kein Leben mehr steckte, zurück und setzten sich in den Wagen. Kaum, dass sie losfuhren, hörten sie irgendwo in der Ferne eine Aaskrähe krächzen. Es klang für ihre Zuhörer wie ein schauriges Trauerlied für einen toten Freund.

Geburt eines Traumes

Das Licht brannte in ihren lichtentwöhnten Augen und in ihrem Kopf dröhnte es laut. Ihr ganzer Körper schmerzte furchtbar und alles fühlte sich so bleischwer an, sodass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Alles war so verschwommen, sodass sie mehrmals blinzeln musste, um etwas erkennen zu können. Eine Stimme direkt neben ihr schreckte sie auf und sogleich war wieder dieser schreckliche Schmerz im Kopf da. „Na also, endlich bist du wach geworden Hannah. Ich hatte schon Sorge, du würdest uns noch wegsterben.“ Seltsam, dachte sie und sah sich um. Das war nicht die Stimme von Dr. Hagenström und das war auch nicht ihre Zelle. Wo war sie denn bloß? Hannah setzte sich auf und begann sich langsam zu erinnern, was passiert war. Ja, diese Männer hatten sie getreten und sie hatte ihr Kind nicht mehr gespürt und geglaubt, es sei tot. Sie war so durcheinander gewesen und dann hatte sich ihr Körper verändert. Ihre Hände… Hannah schaute auf ihre Hände und sah, dass sie zehn Finger hatte und sie auch ganz normal wie ihre eigenen Hände aussahen. Sie hatte sich verwandelt und Thomas hatte sie gesehen. Mein Gott, wie viel Zeit war seitdem vergangen? Sie konnte sich an die Zeit danach nicht erinnern. Es war, als wäre sie nur kurz ohnmächtig geworden. „Welches Datum haben wir?“ fragte sie und sah die Person neben ihr an, die sie aber nur sehr verschwommen wahrnahm. „Wir schreiben den 19. Dezember 2013. Du warst knapp 58 Jahre in dieser Monstergestalt unterwegs.“

„58 Jahre?“ rief Hannah fassungslos, als sie das hörte. Sie konnte es nicht glauben. Fast sechzig Jahre waren seit ihrer Verwandlung in Umbra vergangen… Tausende von Fragen schossen ihr in den Kopf, die lauteste von allen aber war die Frage „Was ist mit Thomas?“ Hannah wagte es kaum, diese Frage zu stellen. Wenn so viele Jahre ins Land gezogen waren, dann war er bestimmt längst tot… oder ein dementer alter Greis. Sie versuchte schließlich aufzustehen, aber ein rasender Schmerz in ihrem Unterleib hielt sie davon ab. Ihr Gesicht verzerrte sich und sie stöhnte auf. Was zum Teufel war mit ihr los und warum tat ihr Unterleib so weh? Sie presste eine Hand auf die schmerzende Stelle und bemerkte, dass ihr Bauch plötzlich ganz aufgebläht war und etwas gegen ihre Hand drückte. Hannah konnte und wollte es nicht glauben, sah hinunter und wurde bestätigt: Sie war hochschwanger. Aber wie war das möglich? Ihr Kind war doch durch die schweren Tritte gestorben, da war sie sich hundertprozentig sicher gewesen. Und wenn diese Person Recht hatte und tatsächlich so viel Zeit vergangen war, hätte das Kind entweder nicht lange überlebt, oder es wäre längst zur Welt gekommen. Wie konnte es fast sechzig Jahre in ihrem monströsen Körper überleben? „Es ist wirklich ein außergewöhnliches Wunder, aber so langsam verstehe ich die ganzen Zusammenhänge.“ Hannah rieb sich die Augen und schließlich gelang es ihr, die Person bei ihr zu erkennen. Es war eine wunderschöne junge Frau mit rotbraunem Haar und leuchtenden Augen. Trotzdem hatte sie ein äußerst ungutes Gefühl bei dieser Frau. Sie war irgendwie unheimlich und Hannah, die ein Gespür für das wahre Wesen anderer Menschen hatte, konnte den Wahnsinn und den Groll im Herzen dieser jungen Frau deutlich spüren. „Wer… wer bist du?“

„Ich bin Mary Lane. Weißt du, ich habe wirklich interessante Dinge über dich herausgefunden und es hat mir wirklich Spaß gemacht, nach dir zu suchen.“

„W… warum?“

„Du bist eine Träumerin, Hannah. Man hat dir damals ein Mittel gespritzt, um dir die Fähigkeit zu geben, Träume zu erschaffen und in die Realität zu holen. Neben dir gab es noch viele weitere, aber du warst die Einzige, die einen so langen Zeitraum durchgehalten hat, obwohl du so ein schwaches Herz hast. Du warst der erste Erfolg der Sowjets, bis du dich so gehen ließest und du nicht mehr stark genug warst, diese verborgene Kraft unter Verschluss zu halten. Als dein Kind starb, wurde dein Herz genauso leer wie deine Träume, sodass du schließlich selbst von deinen leeren Träumen verschlungen wurdest. Aber trotzdem war immer noch genug Bewusstsein vorhanden, um dein Kind zu retten. Indem du Menschen und ihre Träume verschlungen hast, konnte deinem Kind genug Kraft gegeben werden, damit es ins Leben zurückkehren und so lange in diesem Zustand durchhalten konnte. Wozu die bedingungslose Liebe einer Mutter doch fähig ist.“ Mary seufzte beinahe beneidend und lief langsam auf und ab. Hannah ahnte, dass von dieser Frau Gefahr ausgehen würde, nur war sie kaum imstande, sich zu rühren. Ihr ganzer Körper schmerzte unvorstellbar. „Wieso bin ich wieder ich selbst?“

„Die Akten von Dr. Weinberg und Dr. Hagenström waren sehr aufschlussreich. Eigentlich hatte ich ja geplant gehabt, dich zu töten. Aber dann musste ich meine Pläne schließlich doch noch ändern und mit Hilfe eines kleinen aber feinen Mittels konnte ich die Wirkung des Wirkstoffs „Somnia“ umkehren. Das ist auch der Grund, warum du jetzt wieder in deiner normal menschlichen Form vor mir stehst.“

„Gehörst du etwa auch zu denen?“ rief Hannah und rutschte von Mary weg, bis sie mit dem Rücken zur Wand lehnte. Diese lächelte kalt und erwiderte „Nein, ich gehöre ebenfalls zu den Dream Weaver Projekten, um genauer zu sein zur Prototypenserie und war eine der ersten Konstrukteure.“

„Dann bist du hier, um mir zu helfen?“ Sie bereute ihre Frage sofort, da Mary in ein wahnsinniges Gelächter ausbrach, als hätte sie soeben den besten Witz aller Zeiten gehört. Nein, Mary hatte gewiss nicht vor, Hannah zu helfen. Aber wenn diese Mary doch genauso Teil von irgendwelchen Experimenten war, warum hatte sie sie in diese Zelle gesperrt? Hannah wurde mulmig zumute und sie legte einen Arm um ihren Bauch, als wolle sie ihr ungeborenes Kind vor eventuellen Gefahren schützen. Was sie auch irritierte war die Tatsache, dass Mary fließend Deutsch sprach, obwohl sie einen englischen Namen hatte. „Wer bist du wirklich?“

„Marie Lena Johann, KZ-Überlebende und BRD-Flüchtling. Die Amerikaner haben damals, als sie den Westen Deutschlands für sich beansprucht haben, meinen Namen amerikanisiert, weil sie die deutschen nicht aussprechen konnte. Ich bin eine Konstrukteurin und kann als solche das Unterbewusstsein anderer Menschen beeinflussen. Eine überaus praktische Fähigkeit, die es mir auch ermöglicht hat, in all den Jahren so hübsch und jung zu bleiben.“ Hannah erinnerte sich an Anthony, der ihr erzählt hatte, dass er auf der Flucht vor den Amerikanern war, die Experimente an ihm und einigen anderen durchgeführt hatten. Aber hatte Mary nicht angedeutet, dass die Nazis sie als Versuchskaninchen benutzt hatten? Warum jetzt auch noch die Amerikaner? Waren es vielleicht beide gewesen? „Wenn wir beide Opfer sind, warum hältst du mich hier fest? Was hast du vor?“

„Ich will vollständig werden und dazu brauche ich dich, Hannah. Als Konstrukteur kann ich Träumen ihren Inhalt geben, aber das Grundgerüst, also den Traum selbst, kann ich nicht erschaffen. Du hingegen schon. Wenn ich mir die Kraft der Träumer aneignen kann, dann werde ich zu einem lebenden Dream Weaver. Dann wird die Realität zu einem Traum werden und mein Traum zur neuen Realität.“

„Du willst diese Welt durch eine Traumwelt ersetzen?“ Hannah konnte nicht glauben, dass so etwas tatsächlich funktionieren sollte. War es das gewesen, wonach diese Wissenschaftler gesucht hatten und dabei Menschen als Versuchskaninchen missbraucht hatten? Dann besaß sie also eine Kraft, von der sie bislang nicht die geringste Ahnung hatte und die sie in den letzten Jahren beherrscht hatte? „Ganz recht. Ich werde mir eine neue Welt schaffen, die ich allein nach meinen Wünschen gestalte. In dieser Welt hat es für mich doch sowieso nie einen Platz gegeben. Damals gehörte ich zum Judenabschaum, den es auszurotten galt und bis heute bin ich gezeichnet. Darum muss ich das tun!“

„Aber du kannst doch nicht einfach so unschuldige Menschen töten. Das, was passierte, war schrecklich. Ich habe all meine Freunde im Krieg verloren, aber deshalb würde ich diese Welt nicht zerstören wollen. Wir beide haben gleich schlimme Dinge erleben müssen, deshalb kannst du mich doch nicht einfach so töten wollen.“

„Oh, da mach dir mal keine Sorgen“, sagte Mary und grinste sie gehässig und herablassend an. „Du wirst in meinen Träumen weiterleben, genauso wie alle anderen.“ Diese Frau war doch wahnsinnig, das konnte sie unmöglich ernst meinen. Welche Person mit gesundem Menschenverstand würde so etwas nur tun? Hannah sah sie fassungslos an und wollte etwas erwidern, da durchzuckte sie wieder ein rasender Schmerz. Sie schrie auf und krümmte sich zusammen. „Sieht so aus, als würdest du schon die ersten Wehen haben. Das trifft sich sehr gut, dann kann ich gleich mit der Arbeit beginnen.“ Mary ging zu einem Holztisch, auf dem sie mehrere Geräte ausgebreitet hatte und holte ein Skalpell. Hannah versuchte, ruhig zu atmen und biss sich auf die Unterlippe, während sie versuchte, aufzustehen. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da sie durch ihren Zustand deutlich eingeschränkt war. „Wo willst du denn hin?“

„Weg von hier“, brachte Hannah keuchend hervor und hielt sich an der Wand fest. „Ich werde nicht eine Sekunde länger hier bleiben.“

„Tut mir Leid, aber das kann ich leider nicht zulassen. Da die mutierten Teile deiner DNA durch das Gegenmittel isoliert wurden, bist du selbst leider nicht mehr von Nutzen für mich. Deshalb brauche ich dein Kind.“

„Mein Kind?“ rief Hannah entsetzt und bemerkte nun endlich das Skalpell in Marys Hand. „Was… was willst du von meinem Kind?“

„Die durch „Somnia“ mutierten Gene wurden an dein Kind weitergegeben, sodass es die gleichen Fähigkeiten besitzt wie du. Deshalb muss ich dir dein Kind rausschneiden, ich hab nämlich keine Lust zu warten, bis du es von alleine zur Welt gebracht hast.“

„Nein, das kannst du nicht tun! Du kannst mir doch nicht mein Kind nehmen, das lasse ich nicht zu!“ Hannah versuchte, sich bis zur Tür vorzukämpfen, doch riss Mary sie an den Haaren zurück und schlug ihr ins Gesicht. Die Hochschwangere stolperte nach hinten und stürzte. Geistesgegenwärtig schaffte sie es noch, so zu stürzen, dass ihr Kind dadurch keinen Schaden nehmen konnte. Kaum, dass sie am Boden lag, bekam sie einen Tritt gegen den Kopf und sah für einen kurzen Moment schon Sterne. „Ich habe zu viel riskiert und geopfert, um jetzt im entscheidenden Moment aufzugeben!“ rief Mary und trat gegen Hannahs Brustkorb. Diese stöhnte unter Schmerzen auf, tat aber nichts, um sich dagegen zu wehren, sondern legte schützend ihre Arme um den Bauch, damit ihrem ungeborenen Kind nichts passierte. „All die Menschen, die ich getötet habe… all das Leid, das ich erdulden musste… das werde ich mir von so einer wie dir nicht versauen lassen!“ Immer und immer wieder trat Mary auf die am Boden liegende Schwangere ein, bis diese sich kaum noch rührte. Hannah hatte eine Platzwunde am Kopf und Mary hatte ihr einen Zahn ausgeschlagen. Sie konnte sich kaum noch bewegen vor Schmerzen und Tränen vermischten sich mit ihrem Blut. „Bitte“, brachte sie hervor und ergriff Marys Hosenbein und sah sie verzweifelt an. „Bitte lass mein Kind in Frieden.“

„Glaubst du wirklich, ich lasse mir von dir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Sei froh, dass ich dich nicht schon vorher getötet habe.“ Mary setzte ihren Fuß auf Hannahs Hals und drückte sie zu Boden. Schließlich packte sie die Wehrlose am Kragen und schlug ihr noch mal ins Gesicht. Kraftlos und halb ohnmächtig sank Hannah zu Boden und blieb dort liegen. Ihre Augen versuchten, einen Punkt zu fixieren, damit sie bei Bewusstsein blieb. Immer noch vergoss sie Tränen und versuchte, Mary zu bitten, es nicht zu tun, aber sie schaffte es nicht. Die Konstrukteurin schob Hannahs Kleider hoch und setzte das Skalpell an. Vorsichtig setzte sie den ersten Schnitt und die Schwangere stöhnte gequält auf. „Nein“, brachte sie hervor. „Nicht mein Kind. Lass mein Kind in Frieden…“

„Halt die Schnauze oder ich schneide dir noch die Zunge raus!“ Mary rammte das Skalpell in Hannahs Handfläche und diese schrie auf, dann fuhr sie mit ihrer Arbeit fort und schnitt den Unterleib ihrer Gefangenen auf. Hannah wand sich vor Schmerzen und schrie, bis Mary ihr einen Knebel in den Mund stopfte, damit sie endlich leise war. Dafür aber war wenig später ein anderer Schrei zu hören. Mary holte ein Tuch und wickelte das kleine blutverschmierte Baby darin ein. Es sah gesund und munter aus und war so klein und zart, dass es für einen Moment selbst Marys schwarzes Herz berührte und für eine Sekunde lang ihre angeborenen mütterlichen Instinkte regte. Aber dieser Zustand verflog alsbald wieder, nachdem sie sich wieder auf ihren Plan besinnte. „Glückwunsch, meine Liebe“, sagte sie und sah mit Verachtung und kalter Bosheit auf die schwer verletzte blutüberströmte Hannah herunter. „Es ist ein Junge.“

Der Schrei ihres Kindes mobilisierte Kräfte in Hannah, die man ihr in diesem Zustand niemals zugetraut hätte. Ihr Kind zu retten, selbst wenn es ihr Leben kostete, war so stark, dass sie es schaffte, Mary am Bein zu packen und sich an ihr hochzuziehen. „Gib mir mein Kind!“ rief sie und krallte ihre Hände in Marys Fleisch. „Lass deine dreckigen Finger von Noah!!!“ Mary ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie belächelte Hannahs Kampfgeist und stieß sie verächtlich von sich. „Akzeptier endlich, dass du nichts daran ändern kannst. Nimm es mit Würde hin und krepier einfach, anstatt dir und mir solche Scherereien zu machen. Du gehst mir allmählich echt auf die Nerven!“ Mit dem Kind in der einen Hand erhob Mary mit der anderen das Skalpell und wollte es in Hannahs Hals rammen, doch bevor die Klinge sie überhaupt berühren konnte, war ein lautes Klirren zu hören, als wäre Porzellan oder Glas zerbrochen. Die Konstrukteurin wusste nicht, wie ihr geschah, schaute auf ihren Arm und schrie als sie sah, dass er zerbrochen war. Ihre Hand war fort und übrig war nur ein Armstumpf, der deutliche Risse aufwies. Bis zur Schulter war er steif und hart und der Rest des Armes war in unzählige Scherben zerbrochen. Wie war das nur möglich? Warum nur war ihr Arm zerbrochen? War das etwa Hannahs Werk? Nein, das war es nicht. Hannahs Fähigkeit war durch das Gegenmittel neutralisiert worden und selbst wenn, könnte sie sich allerhöchstens in Umbra verwandeln. Aber wer oder was hatte das angerichtet? Ein Verdacht stieg in Mary auf: Das Kind, dachte sie und sah auf den Säugling, der immer noch schrie. Das Kind hatte es getan. Aber wie war das nur möglich? Es konnte nur eine logische Erklärung dafür geben, dass es so etwas tun konnte: Dieses Kind musste ein Dream Weaver sein. Und das wiederum bedeutete, dass Hannah es mit einem Konstrukteur gezeugt haben musste. Als sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich, dass sie in Hannahs Erinnerungen gesehen hatte, dass Thomas Stadtfeld der Vater war. Unfassbar, dass dieser Kerl doch tatsächlich der Vater dieses Balgs war. Das hätte sie ihm nicht zugetraut, aber im Nachhinein erklärte das so einiges. In Mary kochte es. Dieses Baby war ein Dream Weaver… Wie konnte das nur sein? Sechzig Jahre hatte Mary versucht, selbst einer zu werden. Sie hatte ihre Freunde verraten, ihre Gönner getötet sowie ihre Gegner und Feinde. So lange hatte sie gewartet und dieses mickrige kleine Würmchen war einfach so mit dieser Gabe geboren worden und hatte nichts dafür tun müssen. Das war nicht fair, sie sollte diese Fähigkeiten haben und nicht dieser Bastard! Mary packte das Kind mit ihrer verbliebenen Hand am Genick, hob es hoch und wollte es zu Boden schleudern, damit es starb, doch da versteifte sich ihr Arm und ließ sich nur mit größter Kraftanstrengung bewegen. Ihr linker Fuß zersplitterte und Mary stürzte. „Was… was passiert mit mir?“ rief sie und sah auf ihren unbeweglichen Arm. Mit Entsetzen erkannte sie, dass er sich ebenfalls verwandelte. Ihr ganzer Körper wurde zerbrechlich und begann, kaputt zu gehen. Und selbst sie als Konstrukteurin, mit der Fähigkeit ihren Körper beliebig zu manipulieren, war nicht in der Lage, diesen Prozess aufzuhalten. Die Zelltür öffnete sich und sie und Hannah hörten Schritte von Männerschuhen auf sie zukommen. „Arme kleine Mary“, sagte eine Stimme und eine Gestalt betrat die Zelle. „Da hast du es so weit gebracht und wirst von den Träumen eines Babys getötet. Was für ein erbärmliches Ende.“ Das Baby schrie immer noch und wurde dabei ganz rot im Gesicht. „Wirklich erstaunlich, wozu ein Säugling in der Lage ist, wenn er seine Mutter beschützen will. Tja Mary, sieht so aus, als wärst du jetzt am Ende.“

„Nein, gib mir noch eine Chance. Ich kann es schaffen, aber dazu musst du mir helfen!“

„Mary, Mary, Mary… versteh doch endlich, dass es vorbei ist. Ich habe dich unterstützt, weil ich geglaubt habe, dass du das Zeug dazu hast, ein Dream Weaver zu werden. Aber sieh dich doch an. Dein Körper zerfällt und das Kind hier besitzt angeborene Fähigkeiten. Ich habe keine Verwendung mehr für dich.“

„Nein, gib mir eine Chance!!“ Doch da wurde ihr das Kind aus der Hand genommen und die Schritte verschwanden wieder in Richtung Tür. „Nein, das kannst du nicht mit mir machen!“ rief sie verzweifelt und kam langsam wieder auf die Beine, was bei einem Arm und einem fehlenden Fuß alles andere als einfach war. „Ich werde zum Dream Weaver und nicht dieser Bastard! Ich lasse nicht zu, dass dieses Balg mir alles kaputt macht und mir meinen Traum zerstört.“

„Ach Mary, sieh doch ein, dass es vorbei ist. Du hast alles aufgegeben und alles riskiert und dabei letzten Endes alles verloren. Was für ein Ende… aber im Grunde auch irgendwie passend für dich.“ Mit einem Lachen trat die Gestalt gegen Marys lädiertes Bein, welches daraufhin in Stücke brach. Sie schrie nicht, da sie keinen Schmerz spürte. Stattdessen brachte sie mit heiserer Stimme hervor „Nein, ich will nicht sterben. Ich werde zum Dream Weaver und diese Welt durch meine ersetzen. Das werde ich mir von niemandem versauen lassen.“

„Nimm es mit Würde hin und stirb einfach.“ Schließlich wandte sich der Unbekannte an Hannah. „Du kannst dich wirklich glücklich schätzen. Du hast ein Kind mit der Macht eines Gottes zur Welt bringen dürfen.“ Mit dem Kind im Arm verschwand die Gestalt und wollte gehen, doch Hannah mobilisierte all ihre Kräfte und schaffte es, trotz ihrer schweren Verletzungen aufzustehen. „Gib mir mein Kind zurück!“ rief sie und streckte ihre Hand nach ihm aus. „Ich lasse nicht zu, dass du meinem Kind etwas antust.“ Doch dann verschwand der Unbekannte mit dem schreienden Kind auf dem Arm, dann wurde die Zellentür geschlossen. Mary lag regungslos auf dem Boden, während ihr Körper langsam zerbrach. Sie begann zu weinen und schluchzte leise. „Ich will nicht sterben… nicht bevor ich meinen Traum verwirklicht habe.“ Traurig, wie sehr wir uns doch ähnlich sind, dachte Hannah und kämpfte sich zur Zellentür vorwärts. Wir beide haben einen Traum, den wir um alles in der Welt verwirklichen wollen. Aber Marys Traum war nur eine Illusion gewesen. Diese Welt durch einen Traum zu ersetzen hätte bedeutet, dass sie sich selbst noch etwas vorgemacht hätte und in einer Illusion leben müsste. Zwar konnte sie die Menschen, die sie getötet hätte, in ihrer Traumwelt wieder aufleben lassen, aber es wäre niemals das Gleiche gewesen. Mit dem Wissen, dass es nur ein Traum war, wäre Mary niemals glücklich geworden. Aber Hannahs Traum war keine Illusion. Ihr Kind war wirklich und sie hatte es deutlich gespürt. Es lebte und sie musste es retten. „Du kannst nichts tun“, sagte Mary schließlich und drehte ihren Kopf zu Hannah. „Es gibt Dinge, die kann man eben nicht ändern. Diese Welt wird sich niemals ändern, genauso wenig wie die Menschen.“

„Mag sein, dass wir die Welt nicht ändern können“, sagte Hannah und presste ihre Hand auf die Schnittwunde, aus der unablässig Blut tropfte. „Aber ich werde trotzdem weiterkämpfen, weil ich mein Kind retten will.“

„Du bist so dumm und naiv…“

„Die einzig Dumme hier bist du. Vor der Realität zu fliehen ist bequem, aber feige. Träume sind dazu da, um unserem Leben einen Sinn und ein Ziel zu geben und es zu verbessern. Aber sie sind nicht dazu da, damit wir vor der Realität fliehen und damit unser Leben vertun. Wir haben nur eines und genau darum dürfen wir es nicht verwerfen.“ Ein Knacken ertönte und der Rest von Marys Bein zerbrach. Auch der Rest ihres Körpers begann Risse zu bilden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihr Körper endgültig zerstört war. „Wie zum Teufel kannst du nach all dem, was damals passiert ist, einfach so weitermachen?“

„Wie kannst du nach alledem, was passiert ist, einfach so aufgeben?“ Hannah erreichte die Tür und bekam den Türgriff zu fassen. Die Tür war nicht abgeschlossen. Mit einer großen Kraftanstrengung und unter enormen Schmerzen gelang es ihr, sie aufzudrücken und so schleppte sich die Schwer verletzte weiter. Mary ließ sie zurück. Sie hatte den Kampf aufgegeben.

Eine schreckliche Erkenntnis

Thomas, Anthony und Christine hatten eine Art Gefängnis erreicht, welches dem Anschein nach schon seit längerer Zeit nicht mehr in Betrieb war. „Und hier sollen Mary und Hannah sein?“ fragte Anthony unsicher, denn er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass sich die beiden in so einem heruntergekommenen Bau aufhalten sollten. Christine parkte den Wagen neben dem Eingang und stieg aus. „Vertrau mir, die sind dort.“ Schließlich stiegen auch Thomas und Anthony aus und gemeinsam gingen sie zum Haupttor, welches jedoch verschlossen war. Ein paar kräftige Tritte von Christine reichten aber aus, um die Kette auseinanderzubrechen und das Tor aufzustoßen. Sie eilten zum Haupteingang, wobei Thomas sich nach allen Seiten umsah und bemerkte, dass überall Kameras angebracht waren. Offenbar war das Gefängnis doch nicht so verlassen, wie es von außen aussah. Wahrscheinlich hatte Mary sie installiert und in dem Falle hatte sie die drei längst bemerkt und würde gleich einen gehörigen Empfang bereiten, der sich gewaschen hatte. Der Ex-Stasi war hochkonzentriert und bereitete sich auf einen weiteren Kampf mit unfairen Mitteln vor. Christine war die Erste an der Tür und stieß auch diese auf. Das künstliche Licht blendete Anthony und er blieb stehen. Thomas drehte sich um und fragte „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Ich hab eine Lichtallergie, schon vergessen? Selbst künstliches Licht kann ich nicht vertragen.“

„Kein Problem, dem verschaffen wir gleich Abhilfe.“ Christine holte eine Sonnenbrille hervor und setzte sie Anthony auf. Dann warf sie ihm eine Kapuzenjacke zu, damit er sich verhüllen konnte. „Damit müsste es doch gehen, oder?“

„Ich glaube schon“, murmelte er und versuchte, sich an seine Übungen zu erinnern. Er musste versuchen, an etwas anderes zu denken, als das Licht. Hannah, er musste an Hannah denken und dass sie in Gefahr war. Ja, dieser Gedanke war stark genug, um seine schreckliche Angst zu vertreiben. Anthony hielt sich dicht hinter Thomas und folgte ihm und Christine ging allen voran. Ein langer Gang führte sie ins Innere des Gefängnisses und sogleich erkannten sie, dass das Innere eigentlich nicht mehr viel mit einem Gefängnis zu tun hatte. Es war komplett umgebaut worden und sah aus wie ein riesiges Labyrinth. „Da hat sich aber jemand Mühe gegeben“, murmelte die rothaarige Frau und schaute sich um. Anthony hingegen wurde unwohl zumute und das lag nicht an dem Licht. „Es erinnert mich an das Institut, in welchem ich damals gewesen bin.“

„Mary kann das nicht alleine umgebaut haben. Da war noch jemand anderes am Werk.“ Sie gingen den Gang entlang und bogen nach rechts ab, wo sie eine Reihe von schweren Eisentüren vorfanden, die allesamt verschlossen waren. Dahinter hörten sie schwach aber trotzdem hörbare Geräusche. Christine ging zu eine dieser Türen und öffnete das kleine Sichtfenster. „Ich glaub’s ja nicht!“ rief sie und wandte sich an Thomas und Anthony. „Da ist jemand drin!“ Nun schaute Anthony durch das kleine Fenster und sah tatsächlich einen Mann, der in einer Zwangsjacke steckte und acht Augen besaß. Aus seinem Rücken wuchsen deformierte Extremitäten, die ihm etwas Spinnenartiges verliehen. Der Mann trug eine Art Hannibal Lecter Mundschutz und an seiner Kleidung klebte eingetrocknetes Blut. „Was zum Henker ist das?“

„Das sind Experimente“, erklärte Thomas und ging zur nächsten Zellentür. „Offenbar weitere fehlgeschlagene Versuche des DDR-Experimentes, ähnlich wie John damals. Das Mittel, das den Betroffenen gespritzt wurde, verursacht eine Hirnmutation. Durch enormen Stress oder durch andere Ursachen gerät der Mutationsvorgang außer Kontrolle, sodass der Körper sich immer weiter verändert. Genau aus dem Grund ist auch Hannah zu Umbra geworden.“ Sie schauten sich die weiteren Zellen an, in der Hoffnung, Hannah dort zu finden, aber sie wurden enttäuscht. Doch dann, als sie die letzte Tür erreichten, machten sie trotzdem eine unfassbare Entdeckung. Thomas, der zwar immer noch den gleichen Gesichtsausdruck wie sonst hatte, stand das Entsetzen in den Augen geschrieben und er brach die Tür auf. „Was hast du?“ rief Anthony und eilte zusammen mit Christine zu ihm, dann aber sah er es selbst. In der Ecke dieser Zelle kauerte in Ketten gelegt ein schielender schwarzhaariger junger Mann, der offensichtlich das Opfer schwerer Misshandlung gewesen war. Es war John, der schielende Engländer aus Hannahs Erinnerung. Thomas stand wie vom Donner gerührt da und konnte seinen Augen nicht trauen. Er dachte zunächst, er hätte es mit jemanden zu tun, der John ähnlich sah, aber dann schaute dieser auf und sagte „Ich kenne dich doch… du bist doch derjenige, der Hannah damals geholfen hat.“

„John?“ fragte Thomas zögernd und trat näher. Der Schielende nickte, sein Atem war rasselnd und schwarzes Blut floss in einem dünnen Rinnsal von seinen Mundwinkeln herunter. „Ja… zumindest war ich es einmal.“

„Wie kann das sein? Ich dachte, Hannah hätte dich getötet.“

„Ich war tot“, erklärte John mit schwacher und hoffnungsloser Stimme. „Aber ich konnte nicht übergehen. Stattdessen hat mich etwas mit Gewalt wieder zurückgeholt, so wie viele andere von uns auch. Wir können nicht sterben, obwohl wir tot sein sollten.“

„Wer hat euch zurückgeholt?“ fragte Christine nun, auch sie sah sehr beunruhigt über diese Entdeckung aus und trat näher, sodass sie nun neben Thomas stand. „Wer hat euch ins Leben zurückgeholt?“ John senkte traurig den Kopf und machte sich ganz klein, was bei seiner beachtlichen Größe nicht gerade einfach war. „Wir alle haben lange genug gelebt und wollen einfach nur sterben, aber er lässt uns nicht. Obwohl wir allesamt Fehlschläge sind, erhält er uns gewaltsam am Leben, weil wir seine persönlichen Trophäen sind. Diese Anstalt hier ist nichts Weiteres als seine Trophäenkammer. Egal was wir tun, wir können nicht sterben, obwohl wir wissen, dass unsere Zeit abgelaufen ist. Aber wie können wir etwas gegen jemanden ausrichten, der Macht über den Tod besitzt?“

„Nun sag schon, wer tut euch das an?“

„Habt ihr euch denn nie gefragt, wieso die Experimente so lange fortgeführt wurden und selbst heute noch präsent sind, warum seine Leiche nie aufgetaucht ist? So viele Ungereimtheiten und ihr habt sie nicht erkannt. Woher glaubt ihr wohl, hat Mary die Informationen zu Umbra und wer hat diese Anlage gebaut? Woher weiß Mary, was es mit Umbra auf sich hat und wie sie an seine Kraft kommen soll? Ihr habt schon längst die Antwort, aber ihr seht sie nicht.“ Anthony erbleichte, als er verstand, was John ihm sagen wollte. Aber sein Verstand weigerte sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Es konnte nicht sein, nein es durfte nicht sein. Er war doch tot. Sein bester Freund Vincent hatte den Verantwortlichen doch unter Einsatz seines Lebens getötet! „Hinrich Helmstedter lebt? Aber er ist doch tot!“

„Ebenso tot wie ich und die anderen und trotzdem wandeln wir alle noch als Lebende in dieser Welt, ob wir nun wollen oder nicht.“ Johns Stimme war so gebrochen und hoffnungslos, dass man wirklich Mitleid mit ihm haben musste. Aber weder Anthony noch Thomas konnten sich erklären, wie es möglich war, dass Tote wieder zum Leben erwachen konnten, doch schließlich erinnerten sie sich an Christines Worte und Thomas fragte „Hat der Fährmann damit zu tun?“

„Nein, ganz ausgeschlossen. So etwas Schreckliches würde er nicht tun. Moment mal, ich überprüfe das.“ Christine holte ein Handy mit einem kleinen Totenkopfanhänger heraus und wählte eine Nummer. Nach einiger Wartezeit wurde das Gespräch angenommen und eine Stimme am anderen Ende der Leitung meldete sich.

„Hallo, hier ist Christine.“

„Christine, was gibt es? Kommst du gut voran?“

„Wie man’s nimmt. Sag mal, kann es sein, dass es noch einen Nekromanten außer dir gibt, den du übersehen hast?“

„Hm… das kann eigentlich nicht sein. Soweit ich weiß, habe ich allen ihre Kraft genommen und somit wäre ich eigentlich die Letzte. Wovon sprichst du denn?“

„Wir haben hier ein Problem. Doktor Helmstedter ist noch am Leben und er ist ebenfalls ein Nekromant. Das fällt eigentlich nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich, dafür bist du zuständig, meine Liebe. Der Doktor hat seine verstorbenen Experimente wieder zurückgeholt und erhält sie zwangsweise am Leben. Das sind Zustände, über die wir beide unmöglich hinwegsehen können.“

„Schon gut, reg dich nicht auf! Ich werde schauen, dass ich mich darum kümmere.“

„Na gut… ich werde sehen, dass ich meine Angelegenheit so schnell wie möglich erledigt bekomme. Aber ich verlasse mich darauf, dass du dich darum kümmerst.“ Damit legte Christine auf und steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Sie fuhr sich durch ihr leuchtend rotes Haar und sammelte sich. „So wie die Sache aussieht, haben wir ein echt dickes Problem. Hinrich Helmstedter ist offenbar ein Nekromant und als solcher verfügt er über Fähigkeiten, gegen die man kaum etwas ausrichten kann.“

„Ein Nekromant?“ fragte Anthony und so langsam begann ihm ein Licht aufzugehen. Er hatte in dem Buch „Der lange Weg nach Hause“ von Menschen gelesen, die die Macht besaßen, den Tod zu beherrschen. Für gewöhnlich wurden sie von ihren Mitmenschen verstoßen, misshandelt und ermordet. Aber eines Tages verschwand diese Kraft einfach und die Nekromanten waren nur noch einfache Menschen. Christine bestätigte diese Geschichte. „Man benutzte die Nekromanten, um Zugang zum Jenseits zu erhalten, da machte der Fährmann ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er nahm den Nekromanten ihre Kraft und wendete sie gegen die Menschen an, die sie missbrauchen wollten. Somit wäre der Fährmann der letzte verbliebene und zugleich mächtigste Nekromant. Er wäre in der Lage, das Ende der Welt einzuläuten. Eigentlich wurde mir versichert, dass es außer dem Fährmann keine anderen Nekromanten mehr gäbe aber so wie es aussieht, wurde da jemand übersehen.“

„Sind die Nekromanten sehr gefährlich?“

„Erinnert sich einer von euch an den entstellten Jungen, der seine ganze Klasse umgebracht hat, aus Rache für den Mord an seiner Familie? Die Nekromanten können Menschen sterben lassen, ohne selbst Hand anzulegen. Die meisten von ihnen sind eigentlich friedlicher Natur aber wenn ausgerechnet Helmstedter ein Nekromant ist, dann sieht das ganz anders aus. Wie es aussieht, muss sich der Fährmann selbst darum kümmern.“ Christine sah besorgt über diese neue Entwicklung aus und auch Thomas wirkte beunruhigt. Verdenken konnte man es ihnen nicht, aber Anthony traf diese Nachricht am schlimmsten. Hinrich Helmstedter war sein Halbbruder und als solcher fürchtete er, dass diese Fähigkeit vielleicht auch in ihm steckte. Womöglich war sie ja vererbbar! „Ist Nekromantie vererbbar?“ Thomas verstand die Frage nicht, doch Christine schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging und sie klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. „Nein, diese Kraft tritt eher zufällig auf und hat nichts mit Vererbung zu tun.“ John, der immer noch in der Ecke kauerte, hustete schwarzes Blut aus und sah sie mit einem flehenden Blick an. „Ihr müsst dieses Monster töten. Bitte, ihr müsst diese schrecklichen Versuche beenden, die sie selbst Kindern antun. Zerstört diese Anlage hier, verbrennt alles und uns gleich mit dazu! Vielleicht können wir dann endlich sterben!“

„Keine Sorge“, sagte Christine schließlich. „Dafür werde ich schon sorgen.“ John senkte den Kopf und vergoss Tränen, aber er wirkte erleichtert. „Danke“, sagte er mit zitternder Stimme. „Vielen… Dank…“ Sie verließen die Zelle und verschlossen sie hinter sich. Christine senkte den Blick und sah bestürzt aus. So hatte noch niemand sie erlebt. Diese Sache nahm sie mit, auch wenn sie normalerweise solch emotionale Dinge auf Abstand hielt und versuchte, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Aber dass Menschen gewaltsam vom Sterben abgehalten wurden und sie in solch einem Elend dahin vegetierten, obwohl ihre Zeit schon lange abgelaufen war, berührte sie trotzdem. Wie grausam konnte man nur sein und diese armen Seelen dermaßen quälen, nur um sie sich als lebende Trophäen zu halten? Sie hatte in ihrem langen Leben vieles erlebt und gesehen, aber dies hier ging ihr nahe. Das durfte es nicht! Sie musste versuchen, neutral und objektiv zu bleiben, damit sie stets richtig handelte. Wenn sie sich von ihren Gefühlen leiten ließ, war sie nicht mehr in der Lage, das Richtige zu tun. „Alles in Ordnung?“ fragte Anthony und riss Christine aus ihren Gedanken. Sie sah zu ihm auf und nickte. „Ja. Wir… wir sollten jetzt besser gehen und Mary und Hannah finden.“ Sie verließen den Zellentrakt und bogen nach rechts ab, wo eine Treppe in die untere Ebene führte. Dort gelangten sie in eine Art riesiges Labyrinth von Gängen und Treppen, welches wahrscheinlich größer und verzweigter war, als der überirdische Bau. Sie entschieden sich, geradeaus zu gehen und bemerkten, wie still es hier doch war. Es war ein wenig zu ruhig. Schließlich erreichten sie eine Abzweigung und mussten sich nun für einen Weg entscheiden. Jemand klopfte Anthony auf die Schulter und als er bemerkte, dass es Thomas war, folgte er seinem Blick und sah Blutstropfen auf dem Boden. Sie waren frisch, also war erst kürzlich jemand hier gewesen. „Wir sollten uns aufteilen“, schlug der Ex-Stasi schließlich vor. „Christine geht nach rechts, wir beide nach links.“ So wurde es gemacht und so eilten die beiden Konstrukteure in die eine Richtung, während Christine in die andere verschwand. Diese erreichte schon nach wenigen Augenblicken eine offen stehende Zellentür, an der ein blutiger Handabdruck zu sehen war. Ein leises Stöhnen kam aus der Dunkelheit und so schaltete sie das Licht an. Auf dem Boden lag Mary Lane, deren halber Körper bereits völlig zerfallen war. Lediglich ein Teil ihres Torsos sowie ihr Kopf waren noch unversehrt, aber von Rissen übersäht. Noch nie hatte Christine so etwas gesehen. Es schien so, als verwandle sich Marys Körper langsam in eine porzellanartige Struktur und zerfiel dann einfach. Vorsichtig kniete sie sich neben den Überresten Marys hin und drehte sie auf den Rücken. Sie lebte noch, wenn auch nicht mehr für lange. „Was ist denn mit dir passiert?“

„Ich hätte es fast geschafft… ich hätte ein Dream Weaver werden können, wäre dieses Balg nicht schon mit dieser Gabe zur Welt gekommen.“ Was für ein Kind? Sprach sie da etwa von Hannahs Kind? „Wo ist Hannah?“

„Sie ist losgegangen, um ihr Kind zurückzuholen. Diese naive dumme Gans glaubt doch tatsächlich, sie kann noch etwas ausrichten. Sie wird sterben… Wenn nicht durch die Verletzungen, dann wird er sie töten.“

„Meinst du Helmstedter?“ Mary keuchte erschöpft, ihr Gesicht war von Rissen übersät und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie endgültig zerfallen würde. „Er hat mich betrogen. Er sagte, er würde mir helfen, ein Dream Weaver zu werden, weil ich seine größte Schöpfung sei. Aber er hat mich einfach weggeworfen, dieser Dreckskerl. Ich hatte gedacht, ich benutze ihn, um an mein Ziel zu kommen und töte ihn dann ganz einfach, wenn ich ihn nicht mehr brauche. Aber letzten Endes war er es, der mich weggeworfen hat, als ich nicht mehr von ihm gebraucht wurde. Was für eine bittere Ironie…“ Es knackte leise und Marys Becken löste sich auf. Sie weinte nicht einmal, sondern lächelte nur hoffnungslos. „So einfach werde ich es diesem Hurensohn nicht machen. Selbst wenn ich wie Jackson als hässliche Vogelscheuche zurückkehren sollte, werde ich nicht aufgeben. Ich werde diese Welt in Schutt und Asche legen und aus den Leichenbergen blühende Gärten erschaffen…“

„Wie aus dem Kinderlied, nicht wahr?
 

Mary, Mary quite contrary

How does your garden grow?

With silver bells and cockle shells

And pretty maids all in a row...
 

Mary nickte und vergoss doch noch eine einzelne Träne. „Eines Tages werde ich es schaffen. Dann wird diese Welt, die nichts als Verfall und Elend bereithält, aufhören zu existieren und ich werde eine bessere aus meinen Träumen erschaffen. Und wenn ich die ganze Menschheit dafür abschlachten muss!“ Marys Augen weiteten sich, sie brachte ein leises Stöhnen hervor, als ihr Gesicht zu zerbröckeln begann. Christine stand auf und ging zwei Schritte von ihr zurück, da zerfiel Mary Lane Johnson, geborene Marie Lena Johann in unzählige Scherben, die sich langsam in Staub verwandelten. „Was für ein Ende“, seufzte Christine, schüttelte den Kopf und verließ die Zelle. „Zerstört von den Träumen eines Säuglings. Das ist wirklich Ironie.“ Damit schloss sie die schwere Tür hinter sich und ging los, um nach Anthony und Thomas zu suchen. Diese waren der Blutspur in die andere Richtung gefolgt und sahen, dass neben den Blutspuren auf dem Boden auch Handabdrücke an der Wand klebten. Thomas lief schneller, sodass Anthony kaum Schritt halten konnte und als sie um eine Ecke bogen, sahen sie eine junge Frau auf dem Boden liegen. Sie war schwer verletzt und völlig am Ende ihrer Kräfte. Ihr brünettes Haar war blutverklebt und ihre ebenso blutigen Hände fanden an den Wänden kein Halt. Sie versuchte verzweifelt aufzustehen, doch ihre Beine versagten. Zum ersten Mal in seinem langen Leben sah Anthony, wie sich Thomas’ Augen weiteten und er erstmals in seiner Gegenwart so etwas wie Gefühle zeigte. „Hannah!“ rief er und eilte zu ihr. Er kniete sich neben sie hin und hob sie vorsichtig hoch. Sie atmete noch, doch sie war durch den Blutverlust sehr geschwächt. Ihr Gesicht war geschunden und ein Zahn war ihr herausgeschlagen und ihr Unterleib aufgeschlitzt worden. Sie war es tatsächlich und trotz der Verletzungen und des vielen Blutes war sie genauso hübsch wie vor 58 Jahren. Hannah schaffte es, bei Bewusstsein zu bleiben und sie diese vertrauten Augen, die von dunklen Schatten umgeben waren und die auf andere Menschen so finster und kalt wirkten. Nur nicht auf sie… „Ich muss tot sein, wenn ich dich so sehe, wie du damals warst…“ Sie lächelte und strich ihm über die Wange. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wieder sehen werde. Und du hast dich kein bisschen verändert.“

„Wer hat dir das angetan, Hannah? Was ist passiert?“ Hierauf wich Hannahs schwaches Lächeln und Thomas sah den Schmerz und den Kummer in ihren Augen. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und sie ergriff schluchzend seine Hand, während sie die andere auf ihre blutende Wunde presste. „Er hat… er hat unser Kind mitgenommen, Thomas. Er hat unser Kind!“ Hannah, die die ganze Zeit stark geblieben war, konnte die Tränenflucht nicht mehr zurückhalten und gab sich all ihrer Verzweiflung hin. Sie weinte nur noch und drückte sich fest an Thomas. Er seinerseits blieb ruhig und starrte ins Leere. Sein Gesichtsausdruck war wieder genauso kalt wie zuvor und für fremde Augen sah es aus, als würde ihn dieses unendlich traurige Bild, was sich ihm bot, nicht berühren. Doch Anthony wusste es jetzt besser, denn er sah, dass auch Thomas litt. Nur litt er allein in seinem Inneren, während er nach außen hin stark für Hannah blieb. „Es tut mir so Leid“, schluchzte sie und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. „Ich habe wirklich alles falsch gemacht. Ich wollte dir eine gute Frau werden und dir Kinder schenken. Aber ich habe in allen Dingen versagt, ich bin dir weder eine gute Frau, noch dem Kind eine gute Mutter gewesen. Ich war nicht mal in der Lage, unser Kind zu retten…“

„Du hast getan, was du konntest“, sagte Thomas ruhig und hielt ihre Hand, an der sie immer noch den Ring von damals trug, fest. Er selbst trug ihn auch und als Hannah das sah, fehlten ihr die Worte. Nach all der Zeit, nach fast sechzig Jahren trug er den Verlobungsring immer noch. Selbst wenn sie niemals ein Kind hätte zeugen können, wäre er trotzdem bei ihr geblieben. Obwohl sie sich in ein Monster verwandelt und versucht hatte, ihn zu verschlingen, hatte er sie nicht aufgegeben. Schließlich wagte sie die eine Frage. „Würdest du mich nach alledem, was passiert ist, trotzdem heiraten?“ Und Thomas antwortete ruhig „ja“. Glücklich schloss sie die Augen und ihr Atem verlangsamte sich. Ihr Körper wurde schlaff und sank zurück, doch er hielt sie und drückte sie fest an sich. Er senkte den Kopf, sodass Anthony sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, aber ihm entging nicht, dass Thomas zitterte. Schritte kamen rasch auf sie zu und als Anthony zurückschaute, sah er Christine. Diese war sichtlich außer Atem und wollte gerade von ihrer Entdeckung berichten, da erblickte sie Hannah und lief zu ihr. Sie legte die schwer Verletzte vorsichtig zu Boden und fühlte ihren Puls. „Das ist nicht gut“, murmelte sie ernst. „Sie ist zu schwach und sie hat bereits zu viel Blut verloren.“ Schließlich legte sie ihr Ohr an Hannahs Brust, um den Herzschlag zu kontrollieren. „Ihr Herz schlägt unregelmäßig. Sie wird es nicht mehr lange machen.“

„Dann heißt das, sie wird sterben?“

„Wenn nicht sofort ein Wunder geschieht, dann ja. Aber zum Glück haben wir alles für ein Wunder parat. Anthony, komm mal her, ich brauch dich hier.“ Damit winkte sie den Lichtscheuen, der aus Rücksicht auf Thomas’ Gefühle im Hintergrund geblieben war, zu sich heran. Sie erklärte ihm, dass er versuchen sollte, Hannahs Körper dazu zu bringen, die Wundheilung zu beschleunigen und die Blutzellenproduktion zu erhöhen. „Aber selbst wenn, dann wird es sehr knapp werden!“

„Ich weiß. Wenn es nicht anders geht, dann gehen wir zu Plan B: Wir versetzen Hannah ins Koma. Somit werden alle Körperfunktionen auf ein Minimum heruntergefahren und das verschafft uns Zeit.“

„Gut, ihr zwei kümmert euch um Hannah und ich gehe mein Kind suchen.“ Es klang seltsam, als er das sagte. Sowohl für ihn selbst als auch für Anthony und zugleich spürte Thomas so etwas wie Angst. Er hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr verspürt, nämlich als er Hannahs Verwandlung mit ansehen musste und wie sie beide das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Wenn er jemals vor etwas Angst gehabt hatte, dann davor, dass er Hannah verletzen könnte. Und jetzt war es eine völlig neue Angst. Fragen schossen ihm durch den Kopf, die er sich noch nie zuvor gestellt hatte. Er fragte sich, ob er überhaupt imstande sein würde, ein Kind aufzuziehen und ihm ein guter Vater zu werden. Aber vor allem beherrschte ihn die Angst um das Leben dieses kleinen Wesens, welches so zerbrechlich war, dass er es sich niemals vorstellen konnte, so eines jemals im Arm zu halten. In seinem langen Leben hatte er schon viele Familien gesehen und beobachtet, wie Mütter ihre Babys, die kaum die Augen öffnen konnten, liebevoll im Arm hielten und wie glücklich sie ausgesehen hatten. Er hatte eigentlich nie etwas dabei empfunden, denn er hatte sich mit so einem Thema nie auseinander gesetzt. Und nun hatte er erfahren, dass er selbst Vater war und dass sein Kind der Mutter gewaltsam weggenommen und entführt worden war. Und Hannah hatte sich mit letzter Kraft weitergeschleppt, um ihr Kind zu retten. Jetzt war es seine Aufgabe und er hatte Angst, dass er es nicht schaffen könnte… dass er seiner neuen Rolle nicht gerecht werden würde. Aber sofort verbannte er diese Gedanken wieder und konzentrierte sich einzig und allein auf sein jetziges Ziel: Helmstedter zu finden und ihn zu töten!
 

Christine und Anthony waren hochkonzentriert und versuchten ihr Bestes, um Hannahs Leben zu retten. Doch es erwies sich als schwieriger als gedacht, denn etwas in Hannah schien nicht weiterkämpfen zu wollen. Sie war bereits nicht mehr ansprechbar und reagierte auf nichts mehr. Auch ihr Herz hörte immer wieder zu schlagen auf, woraufhin Christine sie reanimieren musste. „Wir verlieren sie“, rief Anthony beinahe hilflos, während er alles in seiner Macht stehende tat, um Hannah vor dem Tode zu bewahren. Aber selbst seine Kraft war begrenzt. Wenn die Wundheilung und die Blutproduktion zu schnell wurden, konnte das bei Hannah zu einem Herzinfarkt führen, den sie nicht überleben würde und es konnte sehr gut geschehen, dass sich ihr Körper dagegen sträubte. Christine ihrerseits konzentrierte sich darauf, Hannah durch Herzmassage und Mundzumundbeatmung am Leben zu halten. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengten, Hannah starb langsam. „Anthony, du machst weiter mit der Herzmassage, ich muss kurz telefonieren.“ Sie holte erneut ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. „Hey, ich bin es noch mal. Hör zu, wir haben hier eine junge Mutter, die uns gerade wegstirbt… Hannah Ackermann… ja? Das habe ich mir bereits gedacht. Hör zu, du musst mir einen Gefallen tun und uns helfen, sie am Leben zu erhalten. Ja das ist gut, okay.“ Damit legte Christine auf und übernahm wieder ihre Aufgabe. „Und? Was ist?“ fragte Anthony. „Wie es aussieht, versucht unser feiner Herr Doktor, Hannah übern Jordan gehen zu lassen. Offenbar versucht er mit Gewalt, Hannah auf die andere Seite zu drängen, damit sie stirbt. Der Fährmann wird sich darum kümmern und Hannah zurückbringen. Wir konzentrieren uns jetzt darauf, dafür zu sorgen, dass ihr Zustand stabilisiert wird.“ Allmählich, ganz langsam aber trotzdem erkennbar, hörte die tiefe Schnittwunde auf zu bluten und das war schon mal ein gutes Zeichen. Anthony musste kurz unterbrechen, da sein Kopf heftig schmerzte und er ein Sausen in den Ohren bekam. Seit Ewigkeiten hatte er so etwas nicht mehr gemacht und das Unbewusstsein anderer Menschen zu steuern, war ungeheuer anstrengend und vor allem extrem belastend. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. „Das hast du gut gemacht“, lobte Christine und klopfte ihn auf die Schulter. „Ich glaube, sie wird es schaffen…“

„Darf ich dir eine Frage stellen?“

„Klar doch.“

„Was genau hast du eigentlich mit Thomas ausgehandelt?“ Christine schaute ihn unsicher an, da sie überlegen musste, ob sie ihm das wirklich sagen sollte. Dann aber entschied sie sich dafür und erklärte „Thomas tötet eine gewisse Zahl von Leuten, die auf meiner Liste stehen und erledigt andere Aufgaben für mich. Dafür sorge ich, dass er mit Hannah wieder zusammen kommt. Egal ob in dieser Welt, oder im Jenseits. Das heißt, wenn Hannah stirbt, dann wird auch Thomas sterben. Und da ich nur ungern will, dass das Kind zur Vollwaise wird, muss ich eben alles daran setzen, dass Hannah so lange wie möglich am Leben bleibt. Außerdem hab ich Thomas irgendwie gern und ich fände es schade, wenn alles so ein tragisches Ende nehmen würde.“ Unfassbar wie weit Thomas gehen würde, nur damit er wieder bei Hannah war. Selbst den Tod würde er ohne zu zögern in Kauf nehmen. Er musste sie wirklich lieben. „Glaubst du, er wird etwas gegen den Doktor ausrichten können?“

„Um ehrlich zu sein: Nein, er wird nicht die geringste Chance gegen ihn haben. Aber keine Sorge, wir bekommen Unterstützung und wenn die Anlage hier erst mal zerstört ist, bin ich raus aus der Sache. Dann wird jemand anderes den Fall übernehmen.“

„Wieso steigst du aus?“

„Ich kümmere mich um ungesühnte Verbrechen. Alles, was mit Nekromantie und ähnlichen zu tun hat, fällt nicht in meinen Aufgabenbereich und ich will es lieber vermeiden, in Konflikt mit Kollegen zu geraten. Ein Mal ist mir das passiert und es hatte wirklich böse Folgen.“ Christine holte einen Flachmann aus ihrer Innentasche, nahm einen Schluck und reichte ihn Anthony, der irgendwie sehr niedergeschlagen aussah. „Erzähl schon, was genau bedrückt dich?“

„Es ist Helmstedter…“, murmelte er und nahm die Sonnenbrille ab, mit der er seine Augen vor dem künstlichen Licht geschützt hatte. „Ich hatte echt gehofft, dieses Monster wäre tot. Mein bester Freund hat sein Leben riskiert und sein Gedächtnis gelöscht, nur um uns vor diesem Schwein zu retten. Aber er lebt immer noch und führt seelenruhig weiter seine kranken Experimente durch. Wie soll das bloß weitergehen?“

„Man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen.“

„Da hast du wohl recht. Ich hoffe nur, dass wir ihn überhaupt noch aufhalten können."

Rettung in letzter Sekunde

Thomas erreichte die oberste Etage und glaubte schon, den falschen Weg gewählt zu haben, da sah er einen Schatten am Ende des Ganges, der um die Ecke verschwand. Nun gab es folgende Optionen: Entweder war es Helmstedter, oder ein Träumer war aus seiner Zelle ausgebrochen und versuchte abzuhauen. Er lief dem Schatten hinterher und zog seine Waffe, bereit, sofort zu schießen. Kaum, dass er an den Zelltüren vorbeilief, ertönte plötzlich ein lautes Geschrei. Es wurde heftig gegen die schweren Metalltüren geschlagen und manche streckten ihre Arme aus den Fenstern und griffen nach Thomas. Einer der Insassen rief „Frischfleisch, ich will Frischfleisch!!!“ während ein anderer immerzu „Blut und Spiele, Blut und Spiele!“ schrie. Offenbar waren diese eingesperrten Individuen geistig nicht mehr ganz gesund und Thomas hielt es für besser, sie in ihren Zellen zu lassen. Der Lärm nahm immer mehr zu, je weiter er den Gang entlang lief und das Geschrei der Gefangenen war wirr und zum Teil völlig unverständlich. Thomas ignorierte den Lärm und lief schneller, bis er schließlich den Schatten sah und nur undeutlich eine Gestalt in einem langen weißen Kittel sah, welche normalerweise Laboranten und Ärzte trugen. Das musste Dr. Hinrich Helmstedter sein. Der Auftragskiller begann zu zielen, zögerte aber, da er Sorge hatte, dass er vielleicht das Baby treffen könnte. Dann aber feuerte er schließlich zwei gezielte Schüsse ab und traf den Flüchtenden ins Bein, woraufhin dieser stürzte. Thomas war ein Meisterschütze, selbst unter solchen Bedingungen und er hatte schon des Öfteren aus solcher Entfernung schießen müssen und hatte nie sein Ziel verfehlt. Wenn die harte Ausbildung zum Auftragskiller jemals von Nutzen gewesen war, dann in solchen Momenten. Und jetzt würde er es diesem Mistkerl zeigen, der es gewagt hatte, Hannah diese Qualen anzutun und sich dann auch noch erdreistete, sein Kind zu entführen. Nun würde Hinrich Helmstedter für all das bezahlen, was er so vielen Menschen angetan hatte. Allein schon für die Leben, die er ruiniert hatte. Nicht nur Anthonys und Hannahs, sondern auch Vincents und Marys. Als er jedoch näher kam, explodierte plötzlich etwas dicht neben ihm und nur ein geistesgegenwärtiger Sprung zur Seite rettete ihm das Leben. Dr. Helmstedter, ein charismatischer blonder Mann Mitte 30 erhob sich und klopfte sich den Dreck vom Kittel. Er war alleine, vom Kind war keine Spur zu sehen. Die Verletzung schien ihm rein gar nichts auszumachen und sie blutete auch nicht mehr. Offenbar war auch er ein Konstrukteur und beherrschte seine Fähigkeiten wirklich ausgezeichnet. „Du warst schneller, als ich erwartet habe“, bemerkte er und lächelte kalt. Vom ersten Augenblick an, als Thomas dem KZ-Arzt persönlich gegenüber stand, der selbst vor Versuchen an Kindern und deren Ermordung nicht zurückschreckte, verabscheute dieser ihn. Diesem Doktor war schon an den Augen abzulesen, dass dieser weder Skrupel noch Mitleid besaß, geschweige denn so etwas wie Moral oder Gnade. Solche Menschen hatte selbst Thomas selten in seinem langen Leben gesehen und am liebsten hätte er ihn gleich hier und jetzt umgebracht. Aber er tat es nicht, denn er sah, dass Helmstedter einen Fernzünder in der Hand hielt. Wo ist mein Kind?“ fragte er und hielt die Pistole auf ihn gerichtet. Helmstedter zeigte nicht den leisesten Anflug von Angst, was Thomas ein wenig an Mary erinnerte. In ihrem Falle war es jedoch der Wahnsinn, der jegliche Angst in ihrem Inneren abtötete. Helmstedter hingegen besaß ein viel zu eiskaltes Wesen, um Angst vor dem Tod zu haben. Und da er ein Nekromant war und somit den Tod beherrschte, bedeuteten ihm weder Leben noch Tod überhaupt etwas. „An einem sicheren Ort“, antwortete der ehemalige KZ-Arzt und selbst seine Stimme war so aalglatt und kalt, dass einem normalen Menschen ein Anflug von Schauer über den Rücken laufen musste. Gott, dem Menschen würde heißes Wasser am anderen Ende als Eiswürfel wieder rauskommen, dachte Thomas. Was für ein widerlicher und verachtenswerter Mensch, dem das Leben eines anderen nur so viel bedeutete, wie dieser von Nutzen für ihn war. Dieses Individuum war ein Monster wie aus dem Bilderbuch, ohne den geringsten Anflug von Menschlichkeit. Denn zur Menschlichkeit gehörten Gewissen, Gnade und Mitgefühl und schon auf dem ersten Blick war deutlich, dass Helmstedter nichts davon besaß. „Und wie es scheint“, fügte dieser hinzu, „ist es euch gelungen, Hannah zu retten. Offenbar habt ihr sehr mächtige Verbündete…. Aber vielleicht ist es ja gar nicht mal so schlecht, dass sie noch lebt. Immerhin hat sie etwas geschafft, worauf ich seit neunzig Jahren hingearbeitet habe. Falls es mit dem Kind nicht lange gut geht, weiß ich ja, wie ich mir Nachschub holen kann. Zuerst hatte ich ja geplant gehabt, ihr nach dem Tod mittels einer Operation Eierstöcke und Gebärmutter zu entfernen, aber wenn sie überlebt, könnte ich mir diese Mühe auch sparen.“

„Nur über meine Leiche rühren Sie Hannah noch ein einziges Mal an!“ Thomas’ Blick war so finster geworden, dass er fast hätte töten können. Allein der Gedanke, dass dieses Monster es wagte, Hannah als eine Art Gebärmaschine zu benutzen, um weitere Dream Weaver zur Welt zu bringen, ließ ihn vor Wut kochen. So etwas abgrundtief Perverses konnte nur einem Nazi-Doktor wie Helmstedter einfallen. Niemals würde er so etwas zulassen und wenn er mit seinem Leben dafür bezahlte! Helmstedter belächelte spöttisch Thomas’ Wut und schüttelte den Kopf. „Du kannst mich noch so böse anstarren, dadurch bekommst du dein Kind auch nicht mehr zurück. Da es durch meine Arbeit und meinen Verdienst ein Dream Weaver ist, ist es damit sowieso mein Eigentum, genauso wie du und Hannah. Und als Schöpfer steht es mir eben frei zu entscheiden, wer weiterleben darf und wer stirbt. Und da du mir derart unverschämt gekommen bist, habe ich entschlossen, dich und deine Freunde zusammen mit dieser Anlage zu vernichten. Überall sind Sprengsätze angebracht und dieser Fernzünder ist so konzipiert, dass er sofort ausgelöst wird, sobald mein Herz aufhört zu schlagen oder ich diesen Knopf drücke.“ Der Kerl blufft, dachte Thomas und legte den Finger um den Abzug. Dieser Dreckskerl lügt doch, dass sich die Balken biegen. Aber etwas in ihm zögerte. Helmstedter war nicht der Typ Mensch, der einfach so bluffte. Die Explosion, der Thomas um Haaresbreite entkommen war, sollte eine Warnung sein. Nun begann er zu überlegen, was er am besten tun konnte. Wenn er Helmstedter den Arm abschlug, konnte der Zünder nicht betätigt werden und sie wären fürs Erste sicher. Aber andererseits lag der Daumen schon auf dem Knopf und egal wie es der Ex-Stasi im Kopf ausrechnete, es blieb bei dem einen Szenario: Sie würden alle sterben. Aber dann stieß er auf eine Ungereimtheit. „Wenn alles in die Luft fliegt, wie wollen Sie dann lebend entkommen?“

„Gar nicht und darin liegt mein Vorteil: Wenn ich sterbe, komme ich einfach wieder zurück. Ein Nekromant zu sein, hat eben durchaus seine Vorzüge. Und außerdem weiß ich im Gegensatz zu dir sehr gut, welche Bomben wann genau hochgehen werden.“ Langsam trat Helmstedter zurück, den Zünder immer noch bereithaltend. Thomas sah sich gezwungen, ihn gehen zu lassen. Andernfalls würden nicht nur er, sondern auch Christine, Hannah und Anthony von den Trümmern erschlagen werden, wenn sie nicht durch die Explosion in Stücke gerissen wurden. Der Nazi-Doktor lachte verächtlich und ging weiter. „Richte meinem kleinen Bruder noch schöne Grüße aus, wenn ihr euch wieder seht.“ Damit betätigte er den Zünder und dicht hinter Thomas ging ein Sprengsatz hoch und schleuderte Beton, Glas und Staub in die Luft. Er riss die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, da erschütterten weitere Explosionen die Anlage. Verdammt, dieser elende Dreckskerl hatte ihn ausgetrickst und machte sich jetzt einfach aus dem Staub. Zuerst wollte Thomas hinterher, aber stattdessen lief er zurück zu Anthony, Christine und Hannah. Dicht hinter ihm stürzte ein Teil der Decke herunter und eine Staubwolke wurde aufgewirbelt. Die nächste Explosion zerstörte die Treppe in die untere Etage und hinterließ ein großes Loch. Mit einem kräftigen Anlauf sprang Thomas und schaffte es, über den Abgrund zu springen. Doch da der Sprung etwas zu weit war, konnte er nicht rechtzeitig abbremsen und prallte mit der Schulter gegen die Wand. Ein rasender Schmerz durchzuckte seinen linken Arm, doch er ignorierte den Schmerz und lief weiter. Zwei weitere Explosionen verwüsteten die obere Ebene und ließen den Boden heftig zittern, wie bei einem Erdbeben. Schnell lief er die nächste Treppe hinunter, bevor es ihn noch erwischte, doch schon nach wenigen Schritten gab die Treppe unter ihm nach und stürzte ein. Der Auftragskiller stürzte hinunter und schlug auf die Stufen der unteren Etage auf. Dabei stieß er sich den Hinterkopf, wobei er beinahe das Bewusstsein verlor, doch der Schmerz in seiner linken Schulter hielt ihn bei Sinnen. Mit seinem gesunden Arm ergriff er das Treppengeländer und zog sich daran hoch. Sein Kopf schmerzte und er spürte, dass er am Hinterkopf blutete, aber zumindest konnte er noch laufen und das war doch was. Also ignorierte er die Schmerzen und schleppte sich weiter. Hoffentlich war den anderen nichts passiert. Nun, Christine war ja da und sie würde schon auf Hannah und Anthony aufpassen, wenigstens darauf konnte er sich verlassen. Etwas hinter ihm ging hoch und die Druckwelle riss ihn von den Füßen und er fiel zu Boden. Ein Betonbrocken traf ihn und ihm wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen. Irgendwo in der Ferne hörte er eine Stimme, die ihn rief und zwei Hände packten seinen heilen Arm, um ihn hochzuziehen. Benommen kam er wieder auf die Beine und versuchte, wieder klar zu sehen, aber ein Blutrinnsal floss ihm ins Auge. Verwundert sah er sich um, da er sich sicher war, jemand hätte ihm auf die Beine geholfen, aber merkwürdigerweise war hier niemand. Hatte er sich das etwa eingebildet? Na egal, jetzt war nicht die Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Er musste schnellstmöglich zu den anderen. Thomas schleppte sich weiter, überall explodierten Bomben und Feuer brach aus. Das ganze Gefängnis verwandelte sich nach und nach in ein Inferno und es würde nicht mehr lange dauern, bis alles unter ihm zusammenstürzen würde. Bis dahin musste er die anderen finden und so schnell wie möglich abhauen. Gerade wollte er den linken Gang nehmen, der direkt zu Hannah führte, doch da riss ihn jemand von hinten zurück und kurz darauf stürzte das halbe obere Stockwerk herunter und riss den Boden vor seinen Füßen mit sich in die Tiefe. Das war haarscharf gewesen. Gerade wollte der Gerettete sich umdrehen, um sich zu bedanken, aber wieder war da niemand. Das wurde ihm langsam ein wenig unheimlich. Wer hatte ihn bloß zurückgezogen und ihn somit vor dem sicheren Tod gerettet? Und warum konnte er niemanden sehen? „Ist da jemand?“ rief er in das Getöse hinein, hörte aber niemanden antworten. Also entschloss er sich, besser weiterzugehen und sprang ins Loch und somit in die untere Etage hinunter. Zum Glück hielt der Boden stand, aber schon stürzten weitere Teile der oberen Stockwerke ein. Wenn das so weiterging, würde das ganze Gebäude in den nächsten zehn Minuten komplett in sich zusammenstürzen, wenn nicht sogar schon in fünf Minuten. Die Zeit wurde langsam knapp. Schließlich, als Thomas zwei weitere Gänge durchgelaufen war, hörte er schon in der Ferne die Stimme von Christine und dann sah er sie. Diese trug die immer noch bewusstlose Hannah auf dem Rücken und Anthony folgte dicht hinter ihr. Thomas eilte zu ihnen, musste aber sofort stehen bleiben, als vor ihm die Wand in Stücke gewissen wurde und Beton, Ziegel, Staub und Eisenstäbe in die Luft geschleudert wurden. „Thomas“, rief Christine ihm zu. „Wir müssen versuchen, in die alte Kanalisation zu gelangen, die sich weiter unten befindet. Die führt in ein still gelegtes Wasserkraftwerk und dort sind wir in Sicherheit.“ Da Thomas nicht riskieren wollte, dass Hannah und den anderen etwas passierte, ging er ihnen voran und ließ sich von Christine den Weg nennen. Überall brach Feuer aus und flammende Hände griffen nach ihnen. Auf Anthonys Gesicht hatte sich langsam ein rötlicher Ausschlag gebildet, der sich zusehends verschlimmerte und fast nach Verbrennungen aussah. „Was passiert hier und wo ist Helmstedter?“

„Er hat im ganzen Gebäude Bomben angebracht und lässt sie nach und nach hochgehen und er selbst hat sich derweil aus dem Staub gemacht.“

„Und du hast ihn einfach entkommen lassen?“

„Ich hatte keine Wahl. Er hatte das Kind gar nicht mehr bei sich. Offenbar hat er noch Komplizen und da er ein Nekromant ist, kann man ihn nicht einfach so umbringen.“

„Das ist leider wahr. Und Nekromanten zu töten, ist je nach Kategorie sehr schwierig. Sie können, je nachdem wie schwer ihre Körper verletzt sind, wieder ins Leben zurückkehren oder sie werden einfach wiedergeboren. Und besonders mächtige Nekromanten sind sogar fähig, ohne festen Körper wieder zurückzukehren und quasi ewig zu leben. Diese letzte Kategorie ist die gefährlichste und schlimmste von allen, weil keine Waffen der Welt etwas gegen sie ausrichten können. Hoffen wir, dass das nicht auf Helmstedter zutrifft.“

„Super, du verstehst es echt, einem Mut zu machen…“

„Ich bin nur ehrlich und es ist ja nicht ganz so hoffnungslos. Wir haben noch eine Trumpfkarte in der Hinterhand und damit müssten wir es schaffen. Dazu aber sollten wir erst einmal dieser Todesfalle entkommen.“ Eine heftige Erschütterung riss sie von den Füßen und mehrere Teile des Bodens brachen ein. Christine konnte sich mit einem Sprung nach vorne retten, doch Anthony traf ein Stein am Kopf und er stürzte hinunter in die Tiefe. Thomas reagierte sofort und bekam ihn am Arm zu fassen. Leider war es der Arm mit der lädierten Schulter und ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper. Ihm war, als würde ihn der ganze Arm abgerissen werden, aber um nichts in der Welt wollte er Anthony loslassen. Dieser sah hoch und erkannte, dass bereits die Decke über ihnen zu bröckeln begann. „Thomas“, rief er. „Du musst loslassen, die Decke stürzt ein!“

„Vergiss es, ich lass dich nicht los.“

„Doch! Du hast versprochen, dass du Hannah beschützen wirst, schon vergessen? Also lass mich endlich los, oder ich werde dich dazu zwingen.“ Thomas wusste, dass Anthony Recht hatte. Er hatte die Wahl, entweder Hannah oder Anthony zu retten. Und er hatte Hannah bereits das Versprechen gegeben, sie zu beschützen. Also blieb ihm keine Wahl. „Tut mir Leid, Anthony“. Damit ließ er ihn los und der Konstrukteur stürzte in die Tiefe. In dem Moment brach über ihnen alles zusammen und für Thomas versank die Welt in eine tiefe Schwärze.
 

Als er die Augen aufschlug, konnte er nicht sagen, wo er war und wie er hierher gekommen war. Alles um ihn herum war dunkel und er fühlte sich so seltsam leicht und schwerelos. Er fühlte rein gar nichts an diesem Ort, sodass er nicht einmal sagen konnte, ob er gerade in der Leere schwebte, oder in eine endlose Tiefe stürzte. „Wo… wo sind wir hier?“ Er sah sich um und entdeckte Anthony, der nicht weit von ihm entfernt lag. Er war wohlauf und auch Hannah war da. Aber nirgendwo war eine Spur von Christine zu sehen. „Sind… sind wir etwa tot?“

„Fast wäre es so gewesen“, sprach eine Stimme zu ihnen, die sie als Christines Stimme wieder erkannten. „Aber dann hat der Fährmann euch in die Zwischenwelt geholt und euch somit vor den Tod gerettet. Das hätte leicht ins Auge gehen können.“

„Und warum bist du nicht hier? Wo bist du eigentlich?“

„Ich befinde mich außerhalb dieser Welt, weil ich diese nicht betreten darf. Aber zumindest kann ich mit euch reden.“

„Na, das ist ja beruhigend. Und wie kommen wir hier wieder weg?“

„Der Fährmann kümmert sich schon drum, keine Sorge. Es ist nur das erste Mal, dass er lebende Menschen hierher gebracht hat. Sonst sind es nur Seelen.“ Thomas eilte zu Hannah, um nachzusehen, ob es ihr gut ging. Sie atmete kaum noch und reagierte auf gar nichts. „Keine Sorge, ich hab sie ins Koma versetzt. Ihr geht es dementsprechend besser.“ Thomas schwieg, aber man konnte ihm die Erleichterung ansehen, als er hörte, dass es seiner Verlobten gut ging. Sanft strich er ihr übers Haar und sein Blick nahm etwas Schwermütiges und Trauriges an. Anthony ahnte schon, was ihm durch den Kopf ging. Er machte sich Sorgen, wie seine Verlobte reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er ihr gemeinsames Kind nicht retten konnte, genauso wie er sie damals nicht retten konnte. „Mach dir keine Sorgen, wir finden euer Kind schon. Ich glaube nicht, dass Helmstedter so dumm sein wird, es zu töten.“ „Ach ja?“ fragte Thomas und wandte sich Anthony zu. „Du scheinst ja ganz gut über Helmstedter Bescheid zu wissen.“ Anthony ahnte, was da gleich kommen würde und hielt es für besser, von vornherein alles zu erklären, damit es keine Missverständnisse gab. „Hör mal Thomas, ich glaube, ich muss dir da was erklären.“

„Ich bin gespannt, denn Helmstedter bat mich, seinem kleinen Bruder schöne Grüße auszurichten und ich weiß, dass ich nicht damit gemeint bin.“ Der lichtscheue Konstrukteur kratzte sich am Hinterkopf und sah etwas beschämt zu Boden. Nach einigem Zögern erzählte er von seiner Halbverwandtschaft zu Hinrich Helmstedter, wie er den Namen seiner Mutter angenommen und dass er sämtliche Geburtsurkunden und Unterlagen vernichtet hatte. Alles, nur um diesen schwarzen Fleck in seinem Lebenslauf endgültig loszuwerden, weil er sich über alle Maßen für seine eigene Familie schämen musste. Sein Halbbruder ein sadistisches und perverses Monster, sein Vater ein Gestapo, seine Mutter eine lieblose Frau ohne Muttergefühle. Selbst seine anderen Halbgeschwister waren nicht besser gewesen. Karl hatte bei einer Synagogenverbrennung mitgewirkt und jüdische Kinder erschossen, Markus gehörte damals ebenfalls zur Gestapo und Sarah wurde zur Prostituierten. Seine ganze Familie war eine einzige Katastrophe und Anthony wollte nichts mit der ganzen Sippe mehr zu tun haben und hatte ihnen allen den Rücken gekehrt. „Zwar war meine Mutter eine eiskalte Hexe, aber sie war immerhin besser als der Rest, also hab ich meinen Namen von Anton Friedrich Helmstedter zu Anthony Winter geändert. Ich wollte dieses Kapitel einfach nur aus meinem Leben streichen. Ich habe sie alle sowieso niemals als meine Familie angesehen, vor allem nicht Hinrich. Nicht nur, dass er auch mich für seine Experimente benutzte, er hat auch seine Geschwister umgebracht, als diese ihm lästig wurden. Zusammen mit Vincent habe ich einen Plan ausgeheckt, um die anderen Kinder zu befreien und dazu habe ich vorgetäuscht, als wollte ich Hinrich bei seinen Forschungen helfen. Dabei habe ich heimlich gegen ihn intrigiert und bin mit den anderen abgehauen. Leider haben wir damals nur eine Hand voll Kinder lebend retten können und diese hat Mary später getötet. Jetzt kennst du die Geschichte und hast hoffentlich Verständnis dafür, warum ich lieber nicht darüber rede.“

„Jeder hat sein eigenes dunkles Kapitel“, sagte Thomas schließlich und Anthony interpretierte das als Zeichen dafür, dass Thomas Verständnis hatte und trotz dieses Wissens nicht schlechter von ihm dachte. Er hatte ihn als einen hilfsbereiten, wenn auch manchmal etwas nachtragenden und misstrauischen Menschen kennen gelernt, der Hannah ohne zu zögern geholfen hatte. Das hatte deutlich bewiesen, dass er nichts mit diesem Monster gemeinsam hatte. Aber zumindest verstand Thomas jetzt, warum Anthony die Forschungsunterlagen Helmstedters so unter Verschluss hielt und mehr als jeder andere hinter ihm her war. Er musste diesen Kerl mehr hassen als jeder andere auf der Welt sonst. „Wer weiß sonst noch davon?“

„Außer dir nur noch Vincent und Christine. Keine Ahnung, woher sie das weiß, aber sie hat mir versprochen, es niemandem zu erzählen.“

„Ich wüsste auch nicht, wen es sonst interessieren sollte.“ In Thomas’ Sprache hieß das wohl, dass er es auch niemanden sagen würde. Anthony war erleichtert und setzte sich neben Hannah hin. Er fragte sich, wie lange sie noch hier bleiben würden und was danach geschehen würde. Hoffentlich überlebte sie die ganze Sache und es ging dem Baby gut. Auch Thomas machte sich Sorgen, das spürte er deutlich. „Keine Sorge, ich bin mir sicher, dass es eurem Kind gut geht. Und wenn wir hier raus sind, werde ich dir helfen, diesen Bastard zu finden und den Kleinen zu retten.“

„Es ist ein Junge?“ Anthony nickte. „Ja und er heißt Noah.“

„Noah“, murmelte Thomas und dieser Name klang vertraut und zugleich sehr schön. Ja, das war ein guter Name und zugleich so passend. Noah stand für den Vermittler zwischen Gott und den Menschen und bedeutete zugleich Trost. Für Hannah war dieses Kind der Trost und das Symbol der Hoffnung nach all der schweren Zeit, die sie durchstehen musste. Aber nun war auch dieser Hoffnungsschimmer fort und er hatte es nicht geschafft, ihn zu retten. Anthony spürte, dass ihn etwas bedrückte und fragte deshalb „Hast du vielleicht Angst, du könntest deiner neuen Aufgabe nicht gerecht werden?“ „Ich bin ein Auftragsmörder und als solcher ein strikter Einzelgänger. Aber nun habe ich eine Verlobte und ein Kind. Ich weiß nicht, ob ich Hannah wirklich der Ehemann sein kann, den sie sich wünscht, noch ob ich Noah jemals der Vater sein kann, der er braucht. Menschen zu töten ist etwas ganz anderes, als sie zu retten, oder mit ihnen zusammen zu leben.“ Anthony nickte verständnisvoll, denn er kannte diese Angst. Auch er hatte es im Leben nicht immer leicht gehabt und mit Menschen zusammen zu leben, fiel ihm auch nicht immer leicht. Er konnte eigentlich auch gar nicht normal unter ihnen leben, nicht nur wegen seiner Krankheit, sondern auch wegen der Tatsache, dass er nicht wie normale Menschen alterte. So etwas wie dauerhafte Beziehungen und Freundschaften waren niemals möglich gewesen. Thomas hatte sein Herz verschlossen aus Angst, der Verlust eines geliebten Menschen könnte ihn jemals wieder so sehr schmerzen wie damals, als Hannah zu Umbra wurde. Deshalb war er so wie er war. „Weißt du Thomas“, sagte er schließlich. „Hannah hat dich schon immer so geliebt, wie du warst. Sie hat als Erste erkannt, wie du wirklich bist und ihr war es egal, wie du dich nach außen hin gegeben hast. Und ich glaube, sie hätte diese Familienpläne nicht geschmiedet, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, du könntest kein guter Vater werden. Und ich bin ja auch noch da.“ Nun setzte sich Thomas ebenfalls und zum ersten Mal sah Anthony etwas bei ihm, das ein klein wenig wie ein Lächeln aussah. Und das hatte er noch nie zuvor bei ihm gesehen. Vorsichtig strich Thomas Hannah über die Wange und fragte mit gefasster Stimme „Wird sie es schaffen?“

„Ich denke schon“, sagte der Konstrukteur zuversichtlich. „Wir haben ihre Blutung gestoppt und sie dann ins Koma versetzt. Aber weißt du, die ganze Sache hat bei all dem Unglück, das passiert ist, auch was Gutes: Hannah lebt und das Kind ebenfalls. Hätte sie es damals selbst zur Welt gebracht, wäre sie gestorben. Ich habe mich sowieso gewundert, dass Hannah überhaupt so lange durchgehalten hat und sogar noch trotz der schweren Verletzungen laufen konnte.“

„Sie ist viel stärker als sie aussieht.“ Dem konnte der Konstrukteur nur zustimmen, wenn er darüber nachdachte, was Hannah trotz ihres schwachen Herzens alles geschafft hatte. Sie hatte den Krieg überlebt, die Verwandlung in Umbra und das Medikament. Selbst als man sie entführte, ließ sie sich nicht unterkriegen. Trotz ihrer schlechten Konstitution besaß sie eine solche Willensstärke, für die man sie nur bewundern konnte. Vielleicht war das auch der Grund, warum Thomas sich damals in sie verliebt hatte.

Ein helles Licht durchbrach plötzlich die Dunkelheit und geblendet mussten sie ihre Hände als Sichtschutz zur Hilfe nehmen. „Und was kommt jetzt?“ fragte Anthony schließlich und kniff die Augen zusammen. „Sollen wir jetzt ins Licht gehen, oder wie?“

„Nein, ich glaube wir verlassen jetzt die Zwischenwelt.“ Das Licht wurde immer stärker und füllte bald die ganze Dunkelheit aus. Sie wurden vollständig umhüllt und obwohl das Licht heller und reiner strahlte als jede Sonne, schmerzte es Anthony überhaupt nicht. Es war kein normales Licht, das wusste er sofort. Für einen Moment schien es so, als würde er frei in der Luft schweben und von unsichtbaren Händen hinaufgetragen werden. Das war’s, dachte er und spürte, wie ihm langsam etwas benommen zumute wurde. Ich bin tot… Aber dann ergriff eine Hand die seine und zog ihn unwiderstehlich in eine ihm völlig unbekannte Richtung. Diese Hand fühlte sich vertraut an und eine Stimme flüsterte ihm etwas ins Ohr, was er aber nicht verstand. Seltsam, diese Hand ist so klein… wie die eines Kindes, dachte er, vermochte aber nicht, auch nur ein Wort zu sprechen. Das gleißende Licht um ihn herum lähmte ihn vollständig. Dieser Zustand dauerte aber nicht lange an, da spürte er plötzlich etwas an seiner Wange, das sich wie Gras anfühlte. Blind tastete er herum und fühlte tatsächlich Gras und schließlich erkannte er, dass er auf einer Wiese lag. Benommen und mit einem bleischweren Kopf setzte er sich auf und öffnete die Augen. Er lag auf einer Rasenfläche, etwas weiter vom Gefängnis entfernt, welches nur noch ein brennender Trümmerhaufen war. Thomas lag nicht weit von ihm entfernt und hatte Hannah fest an sich gedrückt. Seltsam, wie waren sie hierher gekommen? Nur langsam erinnerte er sich wieder an die letzten Momente im einstürzenden Gebäude, als er heruntergestürzt war und Thomas aufgefordert hatte, ihn loszulassen. Ja richtig, alles war über sie zusammengebrochen und dann waren sie an diesem dunklen leeren Ort aufgewacht. Und irgendjemand oder irgendetwas hatte sie wieder hierher zurückgebracht. „Ein Glück, ihr seid alle wohlauf. Mensch, das war wirklich knapp gewesen, als alles über euch zusammengebrochen ist. Buchstäblich eine Rettung in der allerletzten Sekunde.“ Anthony sah sich um und entdeckte Christine, die auf sie zugeeilt kam. Sie sah ein bisschen verstaubt aus, wirkte aber sichtlich erleichtert, sie drei gesund und munter zu sehen. Auch Thomas kam langsam wieder zu sich und sah genauso wie Anthony verwirrt aus, bis langsam die Erinnerung zurückkehrte. Aber trotzdem war ihnen so, als hätten sie bloß einen sehr realistischen Traum gehabt. „Christine, wie bist du denn da rausgekommen?“

„Berufsgeheimnis. Ich hoffe, ihr habt keinen allzu großen Schrecken gekriegt.“

„Ich dachte zuerst, wir wären tot… Aber wo genau waren wir eigentlich und wie sind wir wieder zurückgekommen?“

„Ihr ward in der Zwischenwelt, der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Die Griechen nennen es auch Styx und die Japaner den Sanzu-Fluss. Aus eigener Kraft können die Lebenden diese Welt niemals erreichen, aber für den Fährmann war es der einzig sichere Weg, euch aus dieser Todesfalle herauszuholen. Aber wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren. Die Polizei wird bald hier eintreffen und ihr kommt am besten mit ins Krankenhaus. Die Sonne geht auch bald auf.“ Jetzt wo es Christine sagte, fiel es Anthony auch auf: In der Ferne waren schon die ersten schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne zu sehen. Christine übernahm die Aufgabe, Hannah zu tragen, da Thomas’ Schulter immer noch heftig schmerzte und er sie kaum bewegen konnte. Sie alle hatten die Sache nicht ohne Schaden überstanden und einen wirklichen Sieg konnte man es auch nicht nennen. Allerhöchstens einen Teilsieg. Hannah war zwar gerettet und sie lebte noch, aber auch Helmstedter lebte und er hatte ihr Kind entführt, welches die Macht eines Dream Weavers besaß. Wenn der Doktor tatsächlich in den Besitz dieser Kraft kam, dann würde es die Welt, die sie kannten, schon bald nicht mehr geben. Und dann würde den Doktor nichts mehr aufhalten. Allein der Gedanke daran schauderte sie.
 

Christine brachte die drei ins Krankenhaus und konnte dank ihrer Redegewandtheit dafür sorgen, dass die Ärzte keine Fragen stellten und die Polizei aus dem Spiel blieb. Anthony hatte einigermaßen Glück gehabt und hatte lediglich ein paar leichte Verbrennungen und Ausschläge, sowie einige Schürfwunden. Thomas hingegen hatte mehrere Verletzungen am Kopf und einen Sehnenriss an der Schulter. Außerdem steckte ein Splitter in seinem Bein. Hannah selbst war da in ernsterer Verfassung. Sie hatte zwei gebrochene Rippen, einen gesplitterten Zahn, mehrere Prellungen, innere Blutungen und eine Fraktur des linken Armes. Viel Blut hatte sie auch verloren, wobei die Ärzte allesamt rätselten, warum diese tiefe Schnittwunde im Unterleib sich bereits schloss und warum ihr Körper so schnell Blutzellen produzierte. Hannah wurde stundenlang operiert, aber sie überstand alles und der Chirurg konnte Thomas beruhigen. Dieser war sichtlich erleichtert und wollte sofort zu ihr, aber sie brauchte Ruhe, da man noch einige Untersuchungen durchführen musste. Stattdessen setzte sich Christine zu ihm und Anthony ins Zimmer, um mit ihnen zu reden. „So Jungs, das war es jetzt offiziell. Ich muss mich leider von euch verabschieden. Für mich ist dieser Fall beendet.“

„Und was wirst du jetzt tun?“

„Meinen Job natürlich. Ich hab noch einen Klienten, um den ich mich kümmern muss. Ein verrückter Psychopath, der mehr Menschen umgebracht hat, als der Valentine Killer. Und wenn das vorbei ist, mach ich erst einmal Urlaub. Dann heißt es Monstertruck Spaß und Motocross-Rennen. Und wenn Zeit ist, dann vielleicht noch Armwrestling. Ihr wisst schon, das Leben genießen. Außerdem muss ich meinen armen Hudson und den Fury reparieren. Mary und Jackson haben ja großartige Arbeit geleistet, um sie zu Schrott zu verarbeiten.“ Christine holte aus einer Tasche drei Dosen Bier, die sie heimlich ins Krankenhaus geschmuggelt hatte und reichte Anthony und Thomas je eine. „Aber mal ganz im Ernst: Ich finde, ihr seid schwer in Ordnung und ich hab euch echt gerne. Und es freut mich, dass wir einen so guten Teilsieg erringen konnten. Ihr beide habt endlich eure Differenzen aus dem Weg geräumt und Hannah lebt. Den Rest werdet ihr ganz sicher auch schaffen. Ihr ruht euch erst einmal aus, der Fährmann ist bereits auf den Weg hierher und wird dann die Sache für mich übernehmen.“

„Sehen wir uns irgendwann mal wieder?“

„Na sicher doch. Die Welt ist einfach viel zu klein und wenn der Kleine gerettet und Helmstedter tot ist, komm ich noch mal vorbei und dann feiern wir. Für Partys bin ich auch immer zu haben.“ Anthony lachte und genehmigte sich einen Schluck. Das Bier war eiskalt und tat richtig gut nach all den Strapazen. Nur Thomas war noch bedrückt, was man ihm auch nicht verdenken konnte, denn immerhin war sein Sohn in der Gewalt eines gefährlichen Nazi-Arztes, der über Leichen ging. Und außerdem beschäftigte ihn noch eine Sache. „Ist der Fährmann schon die ganze Zeit bei uns gewesen?“ Christine runzelte verwirrt die Stirn und fragte „Wie meinst du das?“

„Als ich zu euch wollte, nachdem Helmstedter die Bomben gezündet hat, da hat mir jemand aufgeholfen, als ich stürzte und mich zwei Male vor dem Tod gerettet. Aber da war niemand.“

„Das war nicht der Fährmann“, sagte Christine schließlich und ihr Blick wurde ernst. „Ganz offensichtlich war da noch jemand außer uns im Gefängnis…“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Auch für Umbra hatte ich zunächst ein völlig anderes Ende geplant, welches ich aber nach einigem hin und her wieder verworfen hatte, um die Geschichte weiterzuführen:

Hannah sollte von Scarecrow Jack und Mary gefoltert und ihr Kind herausgeschnitten werden. Da es aber nicht lebend gebraucht wurde, sondern nur seine DNA, köpft Mary das Baby und lässt den kopflosen Leichnam und Hannah einfach zurück. Mit dem Baby in Arm läuft Hannah den beiden hinterher und trifft auf Thomas und die anderen. Sie stirbt an dem hohen Blutverlust in Thomas’ Armen, während Anthony und Christine Jack und Mary töten können. Thomas entschließt sich, auch zu sterben und bleibt in dem Institut, welches in Flammen aufgeht. Anthony ist der einzige, der entkommt.

Diese Story wäre ja sehr gut geworden und ich hätte sie auch beinahe genommen, aber ich hatte so großes Mitleid mit der armen Hannah, dass ich ihr eine Chance geben wollte. Außerdem hätte die Dream Weaver Serie ein so abruptes Ende gefunden, wo doch so viele Fragen noch offen sind. Also habe ich mich anders entschieden und alle am Leben gelassen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2013-12-11T18:44:42+00:00 11.12.2013 19:44
Hallo :)

Ich habe die Fanfic schon am Tag ihres Uploads abonniert gehabt, weil sich die Idee sehr spannend angehört hat. Allerdings bin ich noch nicht zum Schreiben eines Kommentars gekommen, was ich nun gerne nachholen würde. Ich muss aber gestehen, dass ich erst den Prolog gelesen habe und heute Abend die kapitel lesen werde.

Titel:
Ehrlich gesagt war es gar nicht so recht der Titel, der mich zum Lesen angeregt hat, als vielmehr dein Name. Du bist mir genauer gesagt schon öfter aufgefallen, besonders weil ich nirgends sonst echte Creepypasta in form einer Fanfic finden konnte. Trotzdem ist der Titel – ich sag mal – teilweise gut gewählt. Für mich hätte der Titel "Umbra" mehr Spannung erzeugt als der jetzige, ganz einfach weil es etwas unbekanntes ist.Wer oder was ist Umbra?

Kurzbeschreibung:
Als ich diese gelesen habe, hatte ich eben dasselbe Gefühl wie bei der Kurzbeschreibung von Thomas Harris' "Roter Drache". Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte spannend werden könnte und bei beiden wurde ich nichr enttäuscht ...

Prolog:
Wie gesagt, meine Erwartungen wurden voll und ganz erfüllt. Vom ersten Wort an haftete ich an dem Text, deine Beschreibungen sind interessant und sinnvoll gewählt, obwohl du noch immer mit dem Prinzip "Bilder mit Worten arbeiten" pfeilen könntest. Ich fand es sehr interessant deine Charaktere "kennenzulernen". Sie haben sofort leben bekommen und von anfang an begann sich die Geschichte um sie herum zu spinnen. Schlussendlich war ich neugierig, wie es weiter ging, aber musste mich gedulden.

Charakter:
Wie schon erwähnt finde ich, dass du erstaunliches mit deinen eigenen Charakteren geleistet hat. Sie scheinen lebendig, mit einem eiskalten Schauer habe ich mir Scarecrow vorgestellt, mit welcher Übetzeugung du ihn beschrieben hast. Es war beinahe so, als würdest du ihn kennen.
Mary Lane ist ebenfalls sehr interessant. Sie scheint mir sehr außergewöhnlich und ich bin eigentlich sehr gespannt auf eine Hintergundgeschichte von ihr.
Eigentlich vermeide ich es lieber, Charakterbeschreibungen mit Bildern und näheren Daten zu lesen, da mir das etwas mein Bild zerstört, weswegen ich vllt auch manchmal etwas verwirrt sein kann, aber ich bin lieber für das Geheimnis.
Und Umbra ist – wie du es schon am Besten ausgedrückt hat – misteriös!

Fazit:
Für mich heißt das alles eigentlich nur eines: Endlich wieder ordentlicher Lesestoff! Dir kann ich nur mein Erstaunen für deine Fâhigkeit versichern und meinen Neid für diese Idee. Ich merke schon, du kannst so einiges im Bereich des Schreibens und ich werde mir mit großem Vergnügen heute Abend noch die beiden Kapiteln durchlesen.

Ich bin so begeistert von deiner Idee, dass ich die Fanfic sehr gerne in meinem Weblog vorstellen würden. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.

Liebe Grüße
abgemeldet
Antwort von:  Sky-
11.12.2013 21:30
Danke für die hilfreichen Tipps und den Kommi. Ich freu mich immer wieder, eine Rückmeldung von meinen Lesern zu bekommen. Umbra hab ich schon seit langer Zeit in Planung, nur leider hab ich nie eine gute Geschichte dazu gefunden, sodass ich sie immer wieder neu ändern musste, bis sie passt.
"Umbra" ist ein Sequel zu meiner Dream Weaver Reihe, die als einzelne Geschichten in der FF "Meine Creepypastas" zu finden sind. Trotzdem werden die Charaktere noch mal erklärt und der Hintergrund beleuchtet. Gerne kannst du meine FF im Weblog vorstellen, ich würde mich richtig freuen-^_^-
Ich hoffe nur, du gehörst nicht zur Sorte er empfindlicheren Leser, denn zum Ende hin hab ich etwas geplant, was etwas... heftig sein könnte.


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