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Einsamer Engel

von

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One light for each tear

ch versuchte zunächst etwas Schlaf zu finden. Doch es gelang mir vor lauter Sorge um Erik nicht. Unruhig wälzte ich mich in dem großen Bett hin und her. Schreckliche Bilder plagten mich, sobald ich die Augen schloss: Die leblose Gestalt des Phantoms auf dem Boden und ein hässlich grinsender Victor, der mit einer rauchenden Pistole in der Hand breitbeinig da stand und auf den soeben getöteten Mann hinab starrte.

Keuchend richtete ich mich schließlich auf. Offenbar war ich doch für einen kurzen Augenblick eingeschlafen und war dann von diesem entsetzlichen Traumbild heimgesucht worden, dass mir nun immer noch gestochen scharf vor Augen stand.

Ich schüttelte energisch den Kopf um diesen grauenhaften Anblick zu verscheuchen und erhob mich dann aus dem Bett. Sorgfältig strich ich die Falten aus dem Seidenkleid, bevor ich überlegte was ich nun tun sollte. Ich musste mich irgendwie ablenken, um nicht ständig an das Phantom und Victor zu denken, die sich vielleicht gerade in diesem Moment gegenüber standen.

Ziellos schritt ich aus der Nische in das große Gewölbe und blickte mich dabei um. Hinter der Orgel entdeckte ich einen schmalen Durchgang, durch den ich neugierig schlüpfte. Entzückt blieb ich stehen, als ich die vielen Bücherregale entdeckte, die vollgestopft mit Hunderten von Büchern waren. Ich näherte mich einem der Regale und fuhr liebevoll mit den Fingern über die leicht verstaubten ledernen Buchrücken.

Ich liebte Bücher seit ich ein kleines Mädchen war. Lesen hatte schon immer eine große Faszination auf mich ausgeübt. Wenn ich in die Welt des geschriebenen Wortes eintauchte, dann blieb ich größtenteils von den Gefühlen anderer Menschen verschont und konnte mich voll und ganz mit meiner eigenen Gefühlswelt beschäftigen. Hin und wieder blitzte zwar eine vereinzelte Emotion des Autors in mir auf, welche ihn beim Schreiben sehr bewegt haben musste, aber das war nichts im Vergleich zu der Intensität der Empfindungen, denen ich sonst immer ausgesetzt war. Das Lesen erlaubte mir folglich eine Art Erholung von meinen empathischen Fähigkeiten und sooft es mir möglich war, nutzte ich diese Gelegenheit und floh in die fantasievollen Welten, die sich unter einem Buchdeckel verbargen.

Interessiert musterte ich die Titel, die auf den Buchrücken prangten. Ich fand bedeutende Werke und Autoren der französischen Literatur darunter wie zum Beispiel Flaubert, Stendhal oder Balzac. Doch Erik verfügte auch über eine beachtliche Sammlung englischer, deutscher und italienischer Literatur. Ich geriet immer wieder ins Staunen, über die Vielzahl der Dichter und literarischen Strömungen, die hier durch nahezu all ihre wichtigen Werke vertreten waren, während ich ehrfürchtig an den Regalen vorbei schlenderte.

Schließlich nahm ich mir eine Ausgabe von Victor Hugos „Les Misérables“, das ich schon seit einiger Zeit hatte lesen wollen, setzte mich in einen bequem aussehenden Sessel und vertiefte mich in die Geschichte um den verhärmten Jean Valjean.

Bald schon war ich so gefesselt von dem Buch, dass meine unguten Gefühle und Sorgen um Erik für den Moment in den Hintergrund rückten.

Die Zeit verging und ich las und las.

Das Geräusch von Schritten, die schnell näher kamen, ließ mich schließlich aufhorchen. Mein Herz pochte wie wild und das Buch glitt mir aus den zittrigen Fingern, als ich aufsprang.

War Erik etwa zurückkehrt? Ich wollte schon loslaufen, um nachzusehen ob es ihm gut ging, als mir plötzliche ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss, der mich an Ort und Stelle verharren ließ. Was wenn es nicht das Phantom war sondern Victor oder einer seiner Männer?

Ich wollte unter keinen Umständen zurück in die Fänge dieses abscheulichen Mannes, der nur wegen meiner besonderen Begabung und der Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Mutter so besessen von mir war. An mir selbst lag ihm nicht das Geringste und er würde mich hart dafür bestrafen, dass ich ihm so kurz vor der geplanten Hochzeit entkommen war. Ich erinnerte mich noch gut an die eisigen Worte, die ich hinter der Spiegeltür vernommen hatte: „Ich finde dich. Und dann wirst du bitter dafür büßen, dass du es gewagt hast mir zu entfliehen.“

Als ich erneut daran dachte, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und ich wich in den Schatten der hohen Bücherregale zurück. Ängstlich presste ich mir eine Hand auf die Brust, um mein ungestüm klopfendes Herz zu beruhigen, und lauschte.

Die Schritte schienen immer näher zu kommen und ich hielt furchtsam den Atem an, als ein großer Schatten in den Raum fiel. Ich wagte nicht mich zu rühren aus Angst mich durch die kleinste Bewegung zu verraten.

„Emilie? Bist du hier irgendwo?“ Die ruhige Stimme Eriks durchbrach die atemlose Stille und ließ mich vor Erleichterung auf seufzen. Ich trat aus meinem Versteck hervor und meinte mit leiser Stimme: „Ich bin hier.“

Er drehte sich zu mir um und trat näher. In seinen Augen flackerte es belustigt und er sah mich fragend an. „Warum versteckst du dich denn?“

Meine Wangen färbten sich augenblicklich rot und ich senkte verlegen den Blick. „Ich dachte vielleicht hätten Victor und seine Männer einen Weg hier her gefunden. Ich wollte es nicht riskieren, dass er mich letztendlich doch bekommt und mich... mich“ Meine Stimme brach und mit einem Aufschluchzen verbarg ich mein Gesicht in den Händen. Ich hatte schreckliche Angst zurück zu Victor zu müssen und wollte lieber sterben, als mich seinen Grausamkeiten erneut auszuliefern.

Plötzlich schlangen sich zwei starke Arme um meinen Körper und wiegten mich sanft hin und her. „Scht,“ machte das Phantom und strich mir beruhigend über den Rücken. „Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Bitte weine nicht. Ich werde dich beschützen.“

Bei seinen Worten durchfuhr mich ein angenehmes Gefühl der Wärme. Meine Tränen versiegten und mit einem leichten Seufzen schmiegte ich meinen Kopf vertrauensvoll an seine Schulter.

Da war sie wieder seine zärtliche Seite, von der ich so sehr gehofft hatte, dass sie erneut zum Vorschein kommen möge. Wenn er solch ein warmes Glühen in den Augen hatte wie jetzt und mich liebevoll in seinen Armen hielt, konnte ich die Welt um mich herum vollkommen vergessen. Dann existierten nur noch wir beide und alles andere war nicht mehr länger von Bedeutung.

Ich spürte wie sich sein Körper kurz vor Verwunderung verkrampfte, als ich mich enger an ihn schmiegte. Er konnte offenbar immer noch nicht so recht glauben, dass jemand ihn nicht als abstoßend empfand. Wenn er wüsste was für starke Gefühle ich mittlerweile für ihn hegte, wäre er sicher noch erstaunter. Trotz all der abscheulichen Verbrechen, die er begangen hatte und seines anfänglichen rüden Verhaltens mir gegenüber, bedeutete er mir inzwischen mehr als ich es mir eingestehen wollte. Ich wollte ihm mein Herz schenken und ihn aus seiner tiefen Verzweiflung herausholen.

„Ich bin so froh, dass dir nichts geschehen ist,“ wisperte ich in den Stoff seines Hemdes.

Er strich weiterhin sacht über meinen Rücken, sagte aber vorerst nichts. Ich fühlte jedoch was in ihm vorging. Er war sehr glücklich über meine Worte und voller Staunen darüber, dass er mir überhaupt etwas bedeutete. Seine zerschundene Seele wagte noch immer nicht vollends zu glauben aus Furcht er könne wieder verletzt werden. Doch das Fünkchen Hoffnung, dass ich in ihm geweckt hatte, begann allmählich immer größer zu werden und heller zu leuchten. Ich wusste, dass er eines Tages glauben würde. Und diesen Tag sehnte ich schon jetzt herbei.

Schließlich löste er sanft die Umarmung auf und blickte mir in die grünen Augen, die ihn voller Wärme anstrahlten. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl er würde wieder versuchen mich zu küssen und mein Puls begann sich vor Vorfreude zu beschleunigen. Doch zu meiner großen Enttäuschung drehte er sich schließlich einfach um. Wenn ich nicht genau gespürt hätte wie sehr er innerlich um seine Beherrschung kämpfte, wäre ich sehr betrübt gewesen.

„Ich wollte dir noch berichten, dass du dir zunächst einmal keine Sorgen mehr um Victor und seine Schergen machen musst. Zumindest für heute haben sie mein Opernhaus verlassen. Ich habe mit einem kleinen Trick ein wenig nachgeholfen und hoffe, dass es ausreicht um sie eine Weile von hier fernzuhalten,“ sagte er ohne sich wieder mir zu zuwenden. Stattdessen hob er das heruntergefallene Exemplar von „Les Misérables“ wieder auf und stellte es zurück an seinen Platz im Regal.

Wehmütig betrachtete ich seinen Rücken. Ich vermisste seine Nähe bereits schmerzlich. Diese Distanziertheit, die er zwischen uns schuf, behagte mir ganz und gar nicht. Wenn ich mich trauen würde, dann würde ich einfach zu ihm gehen und mich an seinen Rücken schmiegen. Doch das wagte ich nicht.

Stattdessen fragte ich vorsichtig: „Es wurde also niemand verletzt?“

Bei meiner Frage drehte er sich dann doch zu mir um. „Zumindest nicht ernsthaft,“ erwiderte er und ein gefährliches Funkeln erschien in seinen Augen.

Bestürzt blickte ich ihn an. Was hatte er nur getan?

Er wandte sich von mir ab und sein Umhang flatterte unheilvoll hinter ihm her, als er Anstalten machte den Raum zu verlassen.

„Warte!“ Ich hastete zu ihm und umklammerte seinen Arm. „Du musst mir sagen was du getan hast!“

Sein Blick bohrte sich in meinen. „Wieso willst du das wissen?“ fragte er scheinbar ruhig, doch mir entging der eisige Unterton nicht, der in seiner Frage mitschwang.

„Ich möchte nicht, dass meinetwegen jemand verletzt wird,“ murmelte ich unglücklich und hielt seinem stechendem Blick stand.

„Und was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass Victor dir nie wieder Schwierigkeiten machen wird?“ fragte er mit betont gleichgültiger Stimme und einem kalten Glitzern in den silbergrauen Augen.

Es dauerte einen Moment bis ich den Sinn seiner Worte erfasst hatte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen und ich wich einen Schritt von ihm zurück. „Du hast ihn doch nicht etwa... getötet?“ hauchte ich fassungslos und schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Egal wie sehr ich Victor und seine grauenvollen Taten verabscheute seinen Tod wünschte ich nicht.

Erik machte einen Schritt in meine Richtung und ich musste mich zusammenreißen, um nicht erneut vor ihm zurückzuweichen. So wie er jetzt da stand, mit dem düsteren Blick und dem harten Zug um seine Mundwinkel, flößte er mir ein wenig Angst ein, doch das wollte ich ihn auf keinen Fall wissen lassen.

Aber anscheinend hatte er bemerkt wie bedrohlich er auf mich wirkte, denn seine Miene wurde ein wenig weicher, als er sagte: „Nein, das habe ich nicht. Aber ich hätte es gekonnt und wenn du es möchtest, dann werde ich es für dich tun.“

Mir stockte der Atem. Er war bereit für mich zu töten und würde es zweifellos auch tun, wenn ich nur das geringste Zeichen an Zustimmung erkennen lassen würde. Ich fröstelte und starrte blicklos auf den massiven Bogen aus Stein, der über seiner Gestalt aufragte. Ich musste ihm klar machen, dass ich das nicht wollte. Niemand sollte für mich sterben. Selbst Victor nicht.

„Ich möchte das nicht, Eric. Du darfst niemanden für mich umbringen!“ erklärte ich und sah ihn beschwörend an.

Eine ganze Weile schauten wir uns wortlos an und ich suchte in den silbernen Tiefen seiner Augen nach einem Anzeichen dafür, dass er meinen Wunsch akzeptierte. Doch ich fand nichts was mich beruhigte.

Schließlich beugte er sich vor, ergriff meine Hand und hauchte einen zarten Kuss darauf, bei dem ich ein sanftes Kribbeln in der Magengrube verspürte. „Wir werden sehen,“ sagte er und schenkte mir einen glutvollen Blick, der seinen inneren Aufruhr verriet. Dann drehte er sich abrupt um und ließ mich mit meinen Gedanken und Ängsten zurück.

Ich seufzte und ließ mich in den Sessel sinken. Während ich die Knie wie ein kleines Mädchen anwinkelte und mit meinen Armen umschlang, dachte ich nach.

Wieso konnte er nicht verstehen warum ich nicht wollte, dass jemand meinetwegen starb? Das war einfach nicht richtig! Es wäre Mord und das konnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich musste unter allen Umständen verhindern, dass es jemals soweit kam, dass er sich berechtigt fühlte für mich zu morden. Doch wie sollte ich das anstellen?

Eine böse Vorahnung sagte mir, dass ich mich nicht ewig hier beim Phantom vor Victor verstecken konnte. Irgendwann würde er mich finden und da Erik geschworen hatte mich zu beschützen, würden die beiden Männer sich wahrscheinlich ein Duell auf Leben und Tod liefern.

Bei dem Gedanken schauderte ich unwillkürlich. Ich legte den Kopf auf meine Knie und wiegte mich sacht vor und zurück, um mich zu beruhigen. Als Kind hatte mir das immer geholfen, wenn ich aufgewühlt war und auch jetzt hatte es eine beruhigende Wirkung auf mich.

Doch die Furcht vor dem was noch geschehen würde blieb und nagte weiterhin unerbittlich an meiner Seele.



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