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Für wen lächelt sie

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Erstmal danke schön für den netten Kommi!
In diesem Kapitel startet dann die eigentliche Handlung mit Toris & Natalja. Komplett anzeigen

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Prolog

Das sonst so wohl frisierte, dunkle Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Erschöpfung und Ungläubigkeit lagen in seinen blauen Augen.

Katjuscha ließ ihm ein wenig Zeit, bis sie sich zaghaft räusperte. „Herr Edelstein“, setzte sie vorsichtig an. „Könnten wir dann über Ostgalizien sprechen?“

Es war jetzt immerhin schon über ein halbes Jahr her, seit sie ihre Unabhängigkeit verkündet hatte, aber Katjuscha verspürte immer noch eine tiefe Ehrfurcht gegenüber den Großmächten. Auch wenn Österreichs Macht inzwischen bröckelte.

Er sah sie an –eine starke, junge Frau mit einem Gewehr, dass sie über die Schulter gehängt hatte- und Katjuscha verspürte ein wenig Mitleid mit ihm.

Seine Frau hatte ihn verlassen.

Er hatte gegenüber der Entente kapitulieren müssen und damit den Großen Krieg verloren.

Sein gewaltiges Reich fiel in sich zusammen.

„Natürlich“, murmelte er jetzt mit schwacher Stimme und schien sich mit Mühe wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. „Ukraine, nicht wahr?“ Sie nickte. „Katjuscha Braginskaja.“

„Der Name.“ Österreich hob eine Braue, wahrscheinlich in Gedanken bei seinem ehemaligen Kriegsgegner.

„Ich werde ihn nicht ändern“, verkündete Katjuscha. „Ich bin wer ich bin und ich hoffe, dass die Leute mich eines Tages nicht mehr sofort mit meinem Bruder in Verbindung bringen werden.“ Sie räusperte sich. „Ich will nicht dreist sein, aber ich würde gerne Ostgalizien übernehmen. Du weißt, wir haben früher schon darüber gesprochen. Ich meine, in Ostgalizien leben so viele Ukrainer, dass ich zu behaupten wage, dass das Gebiet rechtmäßig mir zu steht.“

Österreich erwiderte müde ihren erwartungsvollen Blick. „Diese Tatsache ist mir durchaus bewusst. Ich befürchte, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr selbst über meine Gebiete bestimmen werden kann. Deswegen werde ich es mir ein letztes Mal erlauben, ein Gebiet selbst zu übergeben.“ Ein bitteres Lächeln. „Ostgalizien soll also an die Ukraine gehen.“
 

„Feliks, bitte.“ Ihre Stimme zitterte leicht, aber das Gewehr hielt sie fest in den Händen. Polen kniete vor ihr im Staub, eine tiefe Entschlossenheit brannte in seinen grünen Augen.

„Das kannst du total vergessen!“, fauchte er und wischte sich das Blut von der Stirn. „Du kriegst dieses Gebiet nur über meine Leiche.“

Katjuscha richtete den Gewehrlauf auf seinen Kopf, aber jetzt zitterte auch der Finger, der gegen den Abzug drückte.
 

Katjuscha rannte so schnell sie konnte. Sie wusste nicht, ob man sie verfolgte, ob Feliks sie jagte, ob ihr die Flucht glücken würde. Aber sie wusste, dass ihre Truppen den Polnischen nicht standhalten konnten und deswegen musste sie rennen, aus der Stadt fliehen und durch Wiesen und Wälder. Man durfte sie nicht kriegen. Sie durfte ihr Land nicht in Gefahr bringen.
 

Schüsse halten. In Katjuschas Ohren erklangen Schreie und Explosionen. Sie wankte durch Trümmer, durch Ruinen. Blut rann ihr den Arm herunter.

War sie verletzt worden? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass um sie herum alle starben und es war ihre Schuld. Nein! Es war Polens Schuld.
 

Katjuschas aufgeschürfte Hände schlossen sich um den Stock, einen erbärmlichen Ersatz für eine Waffe. Ihr Blick war angstvoll auf Feliks’ höhnisches Grinsen gerichtet.

„Weißt du“, sagte er und seine Stimme klang ein wenig selbstgefällig. „Die Großmächte haben mir Unterstützung geschickt. Eigentlich sollte ich damit ja gegen deinen Bruder kämpfen. Aber ich habe mir gedacht, dass ich erst dich total fertig mache. Und es ist mir ja so was von egal, was die Großmächte dazu sagen.“
 

„Oh Gott, nein! Bitte, das kann nicht wahr sein!“ Katjuscha starrte ihr Gewehr an, als könne das ihr helfen. Ausgerechnet jetzt bemerkte sie, dass ihre Munition aufgebraucht war.

Sie biss die Zähne zusammen und ließ langsam die Arme sinken. Die Polen würden bald da sein. Sie konnte aufgeben. Katjuscha hatte Angst, aber sie straffte die Schultern und beschloss, dass sie nicht mehr wegrennen würde. Es war vorbei.
 

Katjuschas Hand zitterte leicht, als sie ihre Unterschrift setzte. England und Frankreich sahen ihr ernst dabei zu, während Polen seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern drehte und lächelte.

Der Krieg war zu Ende. Die Großmächte hatten entschieden, wie sie es immer taten. Ostgalizien war an Polen gefallen. Dafür hatte er ihr militärische Unterstützung gegen Russland versichert. Gegen ihren Bruder.
 

*
 

Langsam schlug Katjuscha die Augen auf. Sie lag in ihrem Bett, in ihre warme Decke gehüllt und zitterte. Diese Erinnerungen schienen einfach nicht weggehen zu wollen.

Der Große Krieg war vorbei, doch nun setzten die Kleinkriege ein; da waren Nationen die plötzlich unabhängig waren, Gebiete, die niemandem mehr gehörten.

Als Katjuscha ihre Unabhängigkeit ausgesprochen hatte, hatte sie nicht geahnt, in was für einen Machtkampf sie sich katapultiert hatte. Auf einmal war sie auf sich selbst gestellt und niemand, den sie früher gekannt hatte, schien auf ihrer Seite.

Dagegen sah sie sich von zwei Seiten her bedroht.

Da war Ivan, der sie für seine Union von sozialistischen Staaten gewinnen wollte.

Und da war Feliks, der weiterhin nach ihren Gebieten gierte.

Es war schwerer, sich in der Welt zu behaupten, als Katjuscha gedacht hatte. Am liebsten würde sie einfach im Bett liegen bleiben. Aber natürlich ging das nicht, es gab Arbeit zu erledigen.

Seufzend stand Katjuscha auf.

1.Kapitel

Toris zögerte, bevor er die Tür öffnete. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt und nicht in der Verfassung, für das was gleich kommen würde.

Die Litauisch-Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik. Tage- und nächtelang hatte Toris darüber nachgedacht, sowohl mit einer gewissen Freude, wie auch mit Sorgen.

„Du machst dir immer Sorgen“, hatte Feliks ihm mal gesagt. „Über alles. Immer.“ Aber dagegen konnte Toris nichts machen. So war er nun einmal. Er hatte gerne dagegengehalten, dass Feliks oft zu unüberlegt handelte und in Schwierigkeiten geriet.

Zögerlich schloss sich seine Hand um die Türklinke. Ivan ließ man besser nicht warten.

Toris atmete tief durch und öffnete die Tür. Ein kalter Windzug wehte ins Haus, ließ ihn frösteln. Schnee bedeckte die Kleider seiner Gäste und Toris bekam ein schlechtes Gewissen, dass er sie hatte warten lassen.

„Privjet, Kamerad“, grüßte Ivan ihn mit einer Stimme, die so müde klang, wie Toris sich fühlte. Er sah vollkommen geschafft aus; blass und mit dunklen Schatten unter den Augen.

Natalja sagte gar nichts, sondern schmiegte sich enger an ihren Bruder. Mit heftig klopfendem Herzen suchte Toris ihren Blick.

Natalja war so wunderschön wie immer. Ihr volles, blondes Haar fiel ihr offen über die Schultern, umrahmte ihr makelloses, helles Gesicht. Die schmalen Brauen hatte sie hochgezogen und in ihren dunkelblauen Augen lag eine tiefe Verachtung- wie immer. Dennoch schmeckte Toris bittere Enttäuschung.

„Kommt doch rein“, sagte er mit einem versuchten Lächeln und ließ die beiden eintreten. Er schlug die Tür hinter ihnen zu, um die Kälte auszusperren und erhaschte so noch einen letzten Blick nach draußen. Schneeflocken tanzten durch die Luft.

„Ich werde nicht lange hier bleiben“, verkündete Ivan und stellte eine Reisetasche ab. Sie war nicht sehr groß, anscheinend besaß Natalja nicht viel, dass sie hatte mitnehmen wollen. „Ich wollte nur sichergehen, dass Natalja auch ankommt. Es tut uns leid, dass wir erst so spät gekommen sind. Nicht wahr?“ Er sah Natalja scharf an und sie biss sich auf die Unterlippe. „Entschuldige bitte“, würgte sie schließlich hervor. Sie sah wütend und unglücklich aus und Toris fühlte sich schuldig, da er sich tatsächlich freute, dass dieses engelsgleiche Mädchen bei ihm einzog.

„Das macht gar nichts“, sagte er schnell.

Während andere Natalja aus Furcht mieden, hatte er sie stets anziehend gefunden. Es lag nicht nur daran, dass sie die schönste Frau war, die er kannte. Nein, er bewunderte sie auch für ihren eisernen Willen und ihren Stolz. Und der Gedanke reizte ihn, die Mauer aus Eis, die sie umgab, zu durchbrechen und das Mädchen, das sich dahinter verbarg kennen zu lernen.

Ivan hustete unterdrückt. „Du wirst dich gut um Natalja kümmern, da?“, fragte er und Toris nickte heftig. „Natürlich. Natalja, ich freue mich, dich hier willkommen heißen zu dürfen.“

Vielleicht würde er sie besser kennen lernen können, ihr wahres Ich kennen lernen können, wenn sie erst bei ihm wohnte. Wenn sie von ihrem Bruder weg war und nur noch mit ihm zusammen, ein bisschen wie ein Ehepaar.

Nataljas Kinn zitterte. „Vanja!“, sagte sie und in ihrer Stimme klang ein leichtes Entsetzen mit. „Bitte, lass mich hier nicht zurück!“ Toris schluckte.

Ivan versuchte sich aus dem Klammergriff seiner Schwester zu befreien. Sie hatte lediglich einen Arm um ihn geschlungen -der zweite hing schlaff herab-, aber anscheinend legte sie ihre ganze Kraft in ihn.

„Das hatten wir doch schon alles. Du ziehst zu Toris und...“ Er unterbrach sich und hustete. „Oh, Vanja!“, sagte Natalja besorgt. „Du bist krank! Wir...wir könnten heiraten und dann kümmere ich mich um dich!“

„Unsinn!“ Ivan wirkte, als würde es ihm schwer fallen, ruhig zu bleiben. „Mir geht es gut. Du kannst dich um Toris kümmern.“

„Aber...“

„Sestritschka!“ Ivan legte ihr eine Hand unters Kinn und drückte es leicht hoch, sodass sie einander in die Augen sahen. „Es ist nur zu deinem Besten“, erklärte er. „Siehst du? Ivan sorgt sich um dich. Du weißt doch, alleine seid ihr zu schwach. Ihr müsst euch vereinigen, um stark genug zu sein. Und ihr müsst stark sein, um den Kommunismus zu verbreiten. Das bedeutet mir sehr viel, verstehst du?“

Natalja nickte.

Auf Ivans Gesicht erschien sein übliches Lächeln; er ließ seine Schwester los und wandte sich wieder Toris zu. „Du sorgst dafür, dass ich mir keine Sorgen machen muss, wenn Toris auf meine Natalja aufpasst“, sagte er in einem Befehlston. „Ich kann euch dann alleine lassen, da?“

„Warte!“, schrie Natalja. „Du kommst mich doch besuchen?“

Ivan lächelte etwas gequält. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Er hustete. „Aber momentan braucht mich mein Volk.“

Er drückte Natalja einen Kuss auf die Wange, nickte Toris zu und verließ das Haus. Natalja sah einen Moment so aus, als wolle sie ihm nachlaufen, dann blieb sie jedoch in der Türschwelle stehen und rief ihm nach. „Ja teba ljublju, bratez!“ „Do swidanja, sestritschka“, erwiderte Ivan, ohne sich umzudrehen.

Natalja sah ihm nach, auch noch, als er längst nicht mehr zu sehen war. Sie sah einsam aus, wie sie da im Türrahmen stand und in den Schnee starrte.

Toris räusperte sich. „Komm wieder ins Warme“, sagte er sanft und sie kam mit angezogenen Schultern herein. Zögerlich blieb sie im Flur stehen und weigerte sich beharrlich, Toris anzusehen. Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte sie leicht zusammen.

Toris fühlte sich ein wenig hilflos. „Willst du deinen Mantel nicht ausziehen?“, fragte er. Sie zögerte kurz und schälte sich dann langsam aus dem Mantel, den Toris ihr abnahm und an die Garderobe hängte. Ihm fiel auf, dass sie dabei lediglich eine Hand benutzt hatte.

Erst ohne das dicke Kleidungsstück fiel auf, wie schmal und zierlich Natalja war. Wie sie da stand; mit gesenktem Blick und bebenden Lippen, die Arme um den Körper geschlungen, wirkte sie unglaublich verletzlich.

„He“, sagte Toris sanft. „Fühl dich hier einfach wie zu Hause, ja? Komm, ich führe dich herum.“

Zu seiner Erleichterung kam sie tatsächlich mit, hielt die Arme jedoch verschränkt, wobei die eine Hand leicht abgespreizt blieb, und machte ein mürrisches Gesicht.

Toris’ Haus war nicht allzu groß, es hatte vier Zimmer und einen Keller, in dem Toris alles Mögliche aufbewahrte. Nachdem er jahrelang in Ivans riesigem Haushalt hatte leben müssen, zog er die Gemütlichkeit eines kleinen Hauses vor, sowie die Einsamkeit. Sein Haus befand sich am Waldrand, etwas abseits seiner Hauptstadt Vilnius.

Toris zeigte Natalja das Wohnzimmer mit dem Kamin, die Küche mit der Essecke, das Badezimmer und schließlich das Schlafzimmer. Hier machte Natalja zum ersten Mal den Mund auf. „Ich schlafe nicht mit dir in einem Zimmer.“

„Das Bett wäre groß genug für zwei“, meinte Toris mit einem schwachen Lächeln und erntete einen vernichtenden Blick von Natalja. „Ich will nach Hause“, sagte sie.

Gerne hätte Toris sie tröstend in den Arm genommen, aber er wusste, dass ihr das gar nicht gefallen hätte.

„Ich wette“, sagte Natalja ein wenig weinerlich, „wenn Ivan gewusst hätte, dass du kein Gästezimmer hast, hätte er mich nicht gezwungen, hierher zu kommen.“ Das glaubte Toris nun nicht, aber er hütete sich, das auszusprechen.

„Wir werden eine Lösung finden“, sagte er beruhigend. „Das verspreche ich dir. Sieh mal, dieser Schrank ist für dich. Da kannst du all deine Sachen einräumen.“ Nataljas einzige Reaktion war, dass sie ihre Tasche fester an sich drückte. Toris unterdrückte ein Seufzen. „Hast du Hunger?“, fragte er und fügte, als sie zögerte, „Wenn du willst, kann ich uns etwas zu Essen kochen“ hinzu. Sie nickte schließlich und Toris lächelte. „Gut, komm mit.“

Sie gingen zurück in die Küche und Natalja setzte sich an den kleinen Esstisch. Er wackelte ständig und so hatte Toris eine Holzscheite unter seine Füße gestellt.

Toris füllte gerade etwas Wasser in eine Karaffe, als Natalja leise „Kannst du mir mal helfen?“ fragte. „Wobei?“

Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie einen Handschuh ausgezogen hatte und ihm nun die andere Hand hinhielt. Toris’ Augen weiteten sich leicht, als die Hand sah, die bis jetzt unter dem Handschuh verborgen gewesen war und die Natalja nun schützend an ihre Brust drückte.

Mit Ausnahme des Daumens waren alle Finger geschwollen, stellenweise blau verfärbt und unnatürlich gekrümmt.

„Du meine Güte, Natalja!“ Geistesgegenwärtig holte Toris ein Tuch aus einem Schrank und ließ kaltes Wasser darüber laufen. „Wie ist das denn passiert?“ Sie schwieg, aber er war schon erleichtert, dass sie ihn nicht angefaucht hatte, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern.

Er setzte sich neben sie, nahm ganz vorsichtig ihre verletzte Hand in seine und drückte sanft das Tuch auf die geschundenen Finger. In Nataljas Augen schimmerten Tränen.

Schließlich murmelte sie: „Ivan hat mir die Finger gebrochen.“ Toris sah sie entsetzt an. „Was? Warum denn?“

Natalja atmete tief durch. „Auf dem Weg hierher“, erzählte sie, „bin ich abgehauen. Ivan hat lange gebraucht, um mich einzufangen und dann hat er gesagt, ich solle so etwas nie wieder machen und hat mir die Finger gebrochen. Deswegen sind wir sind spät angekommen.“

„Das tut mir leid“, sagte Toris betroffen. „Das ist schrecklich von Ivan!“ Natalja ließ den Kopf hängen. „Nein, er hatte ja recht. Ich hätte nicht versuchen sollen, abzuhauen. Vanja ist sehr beschäftigt und er ist krank und ich mache ihm nur Ärger.“

Sie wirkte so niedergeschlagen, dass Toris eine Welle aus Zuneigung überrollte. „Deswegen kann er dir doch nicht einfach die Finger brechen“, ereiferte er sich.

Natalja funkelte ihn wütend an. „Sprich nicht in diesem Ton von meinem Bruder“, kommandierte sie. Toris strich ihr zärtlich über den Handrücken. „Schon gut“, sagte er beschwichtigend. „Soll ich dich vielleicht in ein Krankenhaus bringen?“

„Nicht nötig“, sagte Natalja kalt. „Ich bin immer noch eine Landespersonifikation. Das wird von selbst verheilen.“ Diesmal seufzte Toris wirklich. „Wie du willst.“

Behutsam half er ihr den zweiten Handschuh auszuziehen und kümmerte sich dann wieder um das Essen, während Natalja sich in finsteres Schweigen hüllte.

2.Kapitel

„Bitte, Ivan! Ich will wieder nach Hause.“ Trotz des dicken Wintermantels fror Natalja und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Ivan sie in den Arm nahm.

Früher hatte er das oft getan. Heute jedoch sah er sie nicht einmal an, sondern studierte irgendeine Karte.

„Vanja“, beschwerte Natalja sich. „Litauen ist ein dummer, langweiliger Schwächling. Ich will in meine Heimat zurück! Oder wir heiraten und werden die Weißrussisch-Russische Sozialistische Sowjetrepublik!“

„Geh zurück zu Toris, Natalja!“, sagte Ivan lediglich und sie verzog das Gesicht.

Sie hatte sich in den frühen Morgenstunden aus dem Haus geschlichen, um wieder in ihr Land zu reisen. Sie konnte spüren, in welche Bereiche, die Russen eindrangen und in welche die Polen. Es war nicht allzu schwer gewesen, Ivan zu finden.

Natalja hatte selten so eine Erleichterung empfunden, wie in dem Moment als sie ihn auf dem Platz hatte stehen sehen. Die Nacht hatte sie in Toris’ Bett geschlafen –während er selbst im Wohnzimmer übernachtet hatte-, aber es hatte schier ewig gedauert, bis sie eingeschlafen war. Ihre Gedanken waren gerast. Sie hatte ihre Tasche nicht ausgepackt, vielleicht als eine Art trotzige Geste. Als wollte sie beweisen, dass das nicht ihr neues Zuhause war.

Da wo Ivan war, war ihr Zuhause, so war es schon immer gewesen. Nie hatte sie diesen Gedanken hinterfragt.

Kaum hatte sie ihn gesehen, hatte sie alles andere vergessen. Als sie jedoch zu ihm gelaufen war, hatte er alles andere als erfreut ausgesehen, und das hatte ihr weh getan.

Und alles was er ihr jetzt sagte war „Geh zurück zu Toris!“ Natalja hätte weinen können.

„Du eroberst doch jetzt schon Gebiete von mir“, sagte sie. So leicht gab sie nicht auf! „Warum können wir dann nicht heiraten?“

Endlich sah er sie an. „Warum sagst du, ich erobere Gebiete von dir? Das klingt ja, als würde ich dir wehtun. Sestritschka, diese Gebiete gehören dir genauso sehr wie mir. Ich schlage lediglich ein paar Rebellionen nieder.“

Natalja verdrängte die Tatsache, dass ihr seine Worte nicht gefielen. „Warum heiratest du mich dann nicht?“, jammerte sie. „Ich liebe dich! Und ich weiß, dass du mich lieben würdest. Ich würde dafür sorgen, dass du mich liebst!“

Einen Moment lang betrachtete Ivan sie mit einer Mischung aus Furcht und Ekel, dann lächelte er wieder auf eine geradezu kindliche Weise.

„Du bist meine Schwester“, sagte er. „Deswegen werden wir nie heiraten und deswegen werde ich dich nie so lieben, wie du es dir wünscht. Das habe ich dir schon oft gesagt und ich habe keine Lust mich andauernd zu wiederholen. Natalja will nicht, dass Ivan ungeduldig mit ihr ist, da?“

Natalja schluckte. „Natürlich nicht.“ Ihre Finger schmerzten immer noch leicht, wenn sie sie bewegte. „Aber wir könnten es doch wenigstens...“ „Runter!“, donnerte Ivan und schleuderte sie kurzerhand zu Boden. Natalja blieb gar keine Zeit, sich zu wundern, was los war, da setzte der Kugelregen auch schon ein.

Sie blieb im Schnee liegen, die Hände schützend vor dem Kopf, während sie die Geschosse hörte, die um sie herum einschlugen. Natalja spürte Tränen, die in ihren Augen brannten, schmeckte Schnee als ihre Lippen stumme Gebete formten. Ivan hatte es ihr verboten, aber in ihrer Angst scherte sie sich nicht mehr darum. Wenn sie nur nicht getroffen wurde!

„Natalja!“ Sie wagte es kaum, den Kopf anzuheben, als sie aufsah. Ivan hatte sich hinter einem großen, steinernen Brunnen in Sicherheit gebracht und bedeutete ihr nun mit hektischen Handbewegungen zu ihm zu kommen. Immer noch ließ der Kugelhagel nicht nach.

„Ich kann nicht“, wimmerte Natalja. Sie war sich sicher, wenn sie sich auch nur ein bisschen bewegte, würden die Kugeln sie zerfetzen.

Ivan schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dann rannte er geduckt zu ihr hin und warf sie sich kurzerhand über die Schulter. Natalja kniff die Augen zusammen, bis er sie hinter dem Brunnen wieder absetzte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er laut, um die Schüsse zu übertönen. Natalja konnte nur den Kopf schütteln.

Wie durch ein Wunder hatte sie nichts abbekommen. Vielleicht hatte ihr Gebet sie ja tatsächlich beschützt. Jedoch zitterte sie immer noch vor Schreck und das verstärkte sich, als sie sah, dass Ivans Uniform an der Schulter rot durchtränkt war.

„Du bist getroffen“, flüsterte sie betroffen und begann zu schluchzen. „Das ist meine Schuld. Ivan, es tut mir so leid!“

„Es ist nicht so schlimm“, murmelte er und brachte sein eigenes Gewehr in Position.

Natalja schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie kam sich entsetzlich nutzlos vor. Warum hatte sie kein Gewehr mitgenommen?!

Sie hörte wie Ivan sein Gewehr nachlud und leise vor sich hinfluchte. „Die verdammten Kapitalisten müssen Polen mit Maschinengewehren ausgestattet haben. Wenn ich wenigstens wüsste, von wo aus er schießt.“

„Ich will nicht, dass Polen mir meine Gebiete nimmt!“, wimmerte Natalja. „Nicht so wie er sie sestra genommen hat. Ich will nicht auch so viel verlieren!“

„Sei still!“, herrschte Ivan sie an. Natalja mochte es nicht, wenn er in diesem scharfen Tonfall mit ihr sprach, aber in letzter Zeit war er dauernd so gereizt. Natalja biss sich auf die Unterlippe und schwieg.

Ivan feuerte in die Richtung, in der er Polen vermutete, was dem Kugelregen jedoch keinen Abbruch tat. Natalja fiel auf, dass Ivans Hände zitterten.

Schließlich ließen die Geschosse nach und eine beinahe unheimliche Stille breitete sich aus. Die beiden verharrten in ihrem Versteck und warteten ab. Natalja beobachtete, wie ihr Atem als weiße Wolke über ihren Kopf stieg.

„Ich glaube, jetzt ist es sicher“, murmelte Ivan und sie traten hinter dem Brunnen hervor. Natalja hielt in Erwartung eines erneuten Angriffs den Atem an, aber nichts passierte.

„Ich hasse Polen“, stellte Ivan fest und betrachtete Natalja dann, als hätte er eben erst gemerkt, dass sie neben ihm stand. „Bist du verletzt?“, fragte er und sie schüttelte den Kopf. „Gut. Dann gehst du jetzt sofort wieder zu...zu...“ „Zu Litauen“, half Natalja ihm aus. „Zu Litauen zurück. Und ich...werde...Verdammt! Ich kann mich...nicht konzentrieren!“ Er hielt sich den Kopf und Natalja umarmte ihn zaghaft. Ivan schob sie weg.

„Ich will, dass du zu Hause bleibst. Bei Litauen. Ich bin sicher, dass es in Zukunft mehr Kämpfe geben wird.“

„Dann will ich bei dir bleiben!“, widersprach Natalja. „Ich könnte dir helfen!“ Ivan schüttelte den Kopf. „Aber ich kann wirklich kämpfen! Ich muss nur darauf vorbereitet sein! Und ich brauche eine Waffe!“

Ivan schüttelte erneut den Kopf. „Ich will nicht, dass du mitkämpfst. Geh einfach zu Toris zurück.“

„Begleitest du mich?“, fragte sie, erntete aber wieder nur ein Kopfschütteln. Sie verschränkte die Arme. „Wie willst du dann sichergehen, dass ich tatsächlich zu Toris zurückkehre?“

Im Grunde wusste sie, dass sie sich unreif verhielt. Aber ihr Trotz war stärker als ihre Furcht und sie hatte noch nie einfach kleinbeigegeben.

Ivan murmelte irgendetwas vor sich hin, das wie „Kolkolkol“ klang und erwiderte dann: „Hör zu, ich habe keine Zeit für so etwas. Wenn du nicht zurückgehst, dann tust du es eben nicht. Toris wird schon selbst dafür sorgen, dass du zu ihm zurückkommst und wenn er dich an den Haaren zurückschleifen muss, soll mir das recht sein.“

Aber das würde er nicht, dachte Natalja triumphierend. Toris würde ihr gegenüber nicht gewalttätig werden. Er war in den paar Tagen, die sie bei ihm verbracht hatte, erstaunlich sanft und rücksichtsvoll gewesen, etwas was Natalja gar nicht gewohnt war. Wenn sie ihn gebeten hätte, sie zurück zu begleiten, hätte er das bestimmt getan.

Natalja erstarrte; hatte sie tatsächlich bevorzugende Gedanken über Toris gehabt?

Ivan hatte sich inzwischen einfach umgedreht und ging davon. Er ließ sie einfach zurück! Natalja schlang die Arme um sich und spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Langsam verließ sie den Platz- eilte durch die Stadt, in der sie immer noch Schießereien hörte, die ganze Zeit voller Furcht, sie könne Polen begegnen- und begab sich auf die Suche nach dem nächsten Bahnhof, von dem aus ein Zug sie zurück nach Vilnius bringen würde.

Sie wünschte sich, sie wäre nicht heimlich abgehauen und hätte Toris gesagt, wo sie hin wollte. Er hätte sie abholen können.
 


 


 


 

Feliks, mein Lieber Budapest, 05.03.1919

Ich hoffe, Du bist bei bester Gesundheit und schaffst es, Dich gegen die Kommunisten zur Wehr zu setzten.

Mit Bedauern musste ich zur Kenntnis nehmen, dass meine Unterstützung Dich nicht erreicht hat. Sei versichert, dass ich auf Deiner Seite stehe, jedoch gewährt Tschechien mir keinen Durchlass, so dass ich keine Truppen zu Dir schicken kann.

Des weiteren wünsche ich Dir alles Gute für die Zukunft. Ich selbst kämpfe hart daran, Rumänien, den Bastard, aus meinem Land zu vertreiben.

Mit freundlichen Grüßen, Elizabeta Héderváry
 

Feliks faltete den Brief zusammen und verstaute ihn in seiner Brusttasche, während er durch die Gänge hastete.

Mein Lieber, dachte er ein wenig spöttisch. Hatte dieses Flittchen nicht mit Österreich unter einer Decke gesteckt? Hatte sie nicht zugesehen, als sie ihn zerstückelt hatten?

Aber Feliks verdrängte diese Gedanken schnell wieder. Er wollte Rache an seinen drei Peinigern und nicht an Elizabeta. Genau wie er war sie seit dem Großen Krieg wieder in Freiheit und wenn Feliks nicht kurz zuvor Tschechien und seine Freundin bekriegt hätte, hätte er sogar Unterstützung von ihr erhalten. Nein, es gab keinen Grund, negative Gefühle gegenüber Elizabeta zu hegen.

In den dunklen Jahren der Unterdrückung hatte Feliks nie die Hoffnung aufgegeben, eines Tages wieder ein eigenständiges Land zu werden. Und endlich war dieser Traum Wirklichkeit geworden!

Es war interessant gewesen, zu sehen, was aus seinen drei Erzfeinden geworden war.

Russland, der immer so voller Stolz von seinem Zaren gesprochen hatte, hatte nun eben diesen zum Teufel gejagt und war nun dabei, sich die Gebiete seiner Schwestern einzuverleiben, was Feliks, der dieselben Pläne hatte, gar nicht gefiel. Es war einen Kampf wert und diesmal würde Feliks nicht verlieren.

Österreich dagegen, dieses große und mächtige Land, war in sich zusammen gesunken und hatte so ziemlich alles verloren. Gut so!

Und Preußen war im Schatten seines kleines Bruders verschwunden, der das riesige Reich, das sie gehabt hatten, zu Grunde gerichtet hatte und sich nun von der Entente herumschubsen ließ.

Die Zahl seiner Gegner war also erheblich gesunken.

Feliks stieß die letzte Tür auf und betrat sein Büro, in dem bereits zwei Männer auf ihn warteten. Der kleinere der beiden sprang auf und Feliks grinste ihn an.

„Raivis! Sag nichts. Du bist total gewachsen!“

Die kleine Nation lächelte stolz. „Das ist die Unabhängigkeit“, erklärte er.

Der zweite Mann, Francis Bonnefoi, erhob sich nun ebenfalls und Feliks lächelte ihn unsicher an. Er kannte Frankreich nicht allzu gut und wusste nicht, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Francis machte es ihm jedoch nicht allzu schwer. Er küsste ihn auf beide Wangen und sagte heiter: „Wie schön, dass wir uns endlich treffen können, mon cher.“

Feliks nickte ein wenig schüchtern.

Du bist auf dem Weg, deine Macht wieder aufzubauen, schalt er sich im nächsten Moment selbst. Zeig ein bisschen mehr Selbstvertrauen!

Die beiden sahen ihn erwartungsvoll an und Feliks räusperte sich. „Wie ihr wisst, befinde ich mich in einem Krieg mit Russland“, begann er. „Ich bin den Westmächten, die mir meine Unabhängigkeit versichert haben, immer noch sehr dankbar und ihnen, und auch der ganzen Welt zuliebe, werde ich verhindern, dass Russland uns seine Ideologie aufzwingt. Zudem gibt es ein paar Gebiete, die ich gerne übernehmen würde, Gebiete, die man mir vor Jahren genommen hat und die ich nun wieder einfordere. Für diesen Kampf bitte ich um Unterstützung.“

Feliks war recht stolz auf seine Wortwahl und tatsächlich nickte Raivis sofort. „Ich bin dabei“, sagte er und sah sich automatisch um, in der Gewohnheit eines jemanden, der jahrzehntelang nicht nach seiner Meinung gefragt worden war und nun Schelte erwartet, da er den Mund aufgemacht hat.

Auch Francis nickte mit einem kleinen Lächeln. „Du kannst dir westlicher Unterstützung sicher sein. Wir müssen nach Deutschlands Krieg aufräumen und können nicht zulassen, dass Russland seinem naiven Traum einer Weltrevolution nachjagt. Wir unterstützen bereits die Konterrevolutionäre in Russland, aber ich fürchte, das wird nicht ausreichen. Russland bedroht unsere natürliche Weltordnung und muss zum Schweigen gebracht werden.“

Feliks hob einen Daumen. „Keine Sorge. Ich sorge dafür, dass er nicht westlicher als Rostow kommt!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Historischer Hintergrund:
Der Polnisch-Ukrainische Krieg 1918.

Ich würde mich riesig über Kommentare freuen! Also schreibt mir ruhig eure Meinung dazu, Fragen, Verbesserungsvorschläge oder einfach eure Gedanken. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Freue mich wie immer riesig über Kommis!
Schreibt mir einfach, wie ihr es fandet! :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2013-11-19T19:22:33+00:00 19.11.2013 20:22
Okay... Das erklärt warum Natalya Ivan nicht mit beiden Händen fest gehalten hat.. Schon heftig wie ihr Bruder sie behandelt.
Ich kann mir Toris Haus richtig gut vorstellen. Im Grünen vielleicht mit einem kleinen Bach oder Teich im Garten. Himbeersträucher und man hört das Vogelgezwitscher aus dem anliegenden Wald.
Die Räume eher schlicht gehalten, vermitteln jedoch mit Kleinigkeiten eine angenehme Wärme. So wie Toris.

Das Kapitel war echt süß.
Du hast die Dialoge gut strukturiert und die Übergänge waren nahtlos.

LG
Purin
Von: abgemeldet
2013-11-16T20:48:58+00:00 16.11.2013 21:48
Super.
Eine mögliche Erklärung was bei Hetalias Oststaaten wohl im Jahr 1918/1919 abgegangen sein musste.
Katjuscha grade unabhängig und muss sich schon gegen viele andere mächtige Ostländer behaupten. Darunter ihr Bruder.

Ich hoffe im nächsten Kapitel geht es um Toris und Natalya.

Ich freu mich
LG


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