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Der Sekundenzeiger aus flüssigem Stickstoff

Eine Schneekugel im Globusherz
von

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Es dauerte kaum bis zum Abend, bis in der neuen Wohnung alles da war, wo es hinsollte. Man könnte meinen, es sei vorher geprobt worden. Dabei genügten ein detaillierter Plan im Kopf und nur eine geringfügige Umrechnung von Möbelstücken auf Oberflächenraum. Tyree wusste auf den Quadratzentimeter genau, wie viel Platz zum Bewegen blieb und welchen Prozentsatz an Boden Tische, Stühle und Schränke einnahmen.

Er räumte in den Kühlschrank, was sie auf dem Rückweg im Supermarkt eingekauft hatten, sortierte es nach Farbe der Etiketten. Er hasste rote Etiketten. Also hasste er Cola, die meisten Ketchups und Sonderangebote im Allgemeinen.

Hinter ihm schloss David den Fernseher an. Endlich gab es keine große Stereoanlage mehr, die zwischenzeitlich aufgedreht wurde und Tyrees Sinn für Raumkomposition zutiefst störte, trotzdem bestand er darauf, dass der Fernseher so im Zimmer platziert war, dass die Kabel auf keinen Fall aufeinander lagen und nicht länger als einen Meter reichten. Es war nicht ganz einfach, das Gerät so zu aufzustellen, dass es dabei noch Empfang hatte, doch David hatte Übung.

„Rohes oder gebratenes Ei auf das Bibimbap?“ Tyree ruckte die Pfanne mit dem zischenden Rindfleisch, die Hand verharrte vor dem obersten Kühlschrankfach. Er erhielt keine Antwort.

„David?“

David reagierte verspätet, fast verwirrt. Für einen Moment sah er Tyree zerstreut an. „Ah, was?“

Tyree fragte sich, ob es irritierend war, dass er nun wieder ‚David‘ statt ‚Dad‘ sagte. Er war selbstverständlich davon ausgegangen, dass alles wieder normal sein würde, jetzt, da sie wieder allein lebten. Wahrscheinlich brauchte Davids Gehirn nur etwas Zeit, um sich zu adaptieren. Dreizehn Monate stellten immerhin Synapsenverbindungen her, die sich nicht sofort wieder trennten.

Vielleicht hatte David auch gedacht, dass sie nicht zu diesem Zustand zurückkehren würden. Wenn das so war, verstand er wenig von Wahrscheinlichkeitsrechnung und damit seinem eigenen Fachbereich.

„Die Eier“, wiederholte Tyree geduldig. David schob mit staubigen Fingern seine Brille hoch. „Haben wir nicht eben welche gekauft?“

Ja, das hatten sie. Vorhin in der Bio-Abteilung des Supermarkts, weil die Eierkartons dort grüne Etiketten hatten. Tyree schloss leise den Kühlschrank und drehte die Herdplatte aus.

„Das haben wir wohl vergessen“, sagte er sanft. „Ich gehe welche holen.“

David kratzte sich an der Stirn und verschmierte Staub auf seinem Gesicht. Er hielt einen gelben Stecker in der Hand und schien die gelbe Steckröhre dennoch nicht zu sehen. „Ja… Ja, das wäre nett, wenn du das tätest, wenn du… Nimm deinen Regenschirm mit, bei dem Wetter.“

Tyree sah aus dem Fenster. Der Abendhimmel war orangerot und wolkenlos. „Okay.“

David nickte immer noch, seit er seinen Satz vorhin beendet hatte. „Ja… Bring ein paar mehr mit, für den Fall. Fran will sicherlich noch kochen.“

Tyree nahm den Regenschirm von der Garderobe. „Okay.“

David nickte jetzt dem Kabelsalat auf dem Boden zu, an dem ein paar dunkle Hundehaare festhingen. „Ja… Einverstanden. Gut. Das ist mein guter Junge. Danke, Ty.“

Tyree hängte den Regenschirm wieder auf und schloss die Wohnungstür auf. „Bitte, David.“

 

Tyree hatte immer in einer Schneekugel gelebt.

Es war nicht wirklich so, als hätte er als Kind eine besessen, zumindest erinnerte er sich an keine. Vielleicht hatte sie auch seiner Mutter gehört, wahrscheinlicher war noch, dass er sie schlichtweg an einem Ort gesehen hatte, an dem er öfter gewesen war. Wo man als Kind eben so war: in einem aseptisch riechenden Hinterzimmer, auf einem Stuhl, der so hoch war, dass Tyree auf der Kante sitzen musste, um mit den Füßen an den Boden zu kommen. Und seine Füße mussten auf den Boden. Es war vermutlich irgendwie traumatisch, auch wenn er sich damit nicht so sicher war. Draußen hatte es jedenfalls oft geschneit. Irgendwie war der Schnee mitgekommen, weil er vertraut war.

Als Tyree älter geworden war und man ihn David zugesprochen hatte, hatte er festgestellt, dass eine Schneekugel empfindlich war. Die meisten Menschen hielten sie nicht am Sockel, sondern am Glas, schmierten ihre Fingerabdrücke und ihren Atem darauf und schielten ungeniert in die Fenster des Miniatur-Häuschens hinein.

Aber David hatte einen Globus. Ein richtig altes Ding mit einem echten Holzfuß, ledrigem Papier und sogar einem kleinen Kompass oben auf der Kuppel. Wenn man den Kompass herauspulte, konnte man ins Innere schauen. Verstrebungen liefen dort auseinander, stabilisierten die Kugel. Es roch nach Staub und Firnis da drin, und es war dunkel und braun wie Pergament.

Es erschien wie der perfekte Ort, und Tyree bedauerte nächtelang, dass er nicht hineinkriechen konnte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er den Globus aufgeschnitten und sich darin niedergelassen, und dann hätte es noch schneien müssen, damit er ewig dort bleiben mochte.

Schließlich hatte es in Davids Wohnung einen Wasserrohrbruch gegeben, und der Globus war nicht mehr zu retten gewesen, letztendlich entsorgt worden, als er schimmelte. Tyree hatte festgestellt, dass es nicht so sehr schmerzte, wie er gedacht hatte; er hatte ja auch keine Schneekugel, also brauchte er den Globus auch nicht. Es steckte alles in seinem Kopf.

Und so ganz nebenbei fand die Therapeutin, dass Tyrees Fixierung auf Kugelkörper sehr vorteilhaft von seinem Innenleben sprach und sie sich somit von einer wöchentlichen Stunde mit dem kleinen Klugscheißer befreien konnte. Man beließ das Sorgerecht bei David – er war zwar Single und ziemlich zerstreut, aber er zweifelte die Vaterschaft nicht an, er hatte einen Job und eine Wohnung und verursachte keine Verwahrlosungserscheinungen oder Misshandlung. Im Gegenteil: in Anbetracht der Tatsache, dass David als Elternteil völlig ungeeignet war und Tyree irgendwo einen Dachschaden hatte, gaben sie ein bemerkenswertes Gespann ab.

Tyree hatte bald begriffen, dass der Schlüssel dazu, jeden seine unrühmliche Kindheit vergessen zu lassen, darin lag, nicht aufzufallen. Das Stipendium für die Columbia University war die einzige Ausnahme, weil das Schulgeld sonst nicht aufzubringen war und David es mit ungewöhnlich strikter Vernunft ablehnte, ein Darlehen dafür aufzunehmen.

Die Universität war ein erhabenes Bauwerk – oder vielmehr eine Ansammlung von Komplexen, die irgendwie erhaben wirkten. Als Tyree am nächsten Morgen darauf zuging, sah er nicht auf. Die Tage, in denen Cyrus ihn abholte, um sich auf dem Campus umsehen zu können, waren vorbei; jedes Mal war ihm anzusehen gewesen, wie sehr er sich einen Football wünschte, um auf dem gepflegten Rasen herumzutoben, vielleicht das eine oder andere Fenster einzuwerfen. Cyrus hatte für Erhabenheit nicht viel übrig, was Tyree in einer typischen Widerspruchsreaktion dazu gebracht hatte, diese Erhabenheit würdigen zu wollen.

Aber jetzt war das endlich Vergangenheit. Wenn David überfälligerweise in die Routine zurückgefunden hatte und aufhörte, morgens für vier Personen und einen Hund zu decken, war das alles begraben.

Warum klang das so nach Beerdigung? Es sollte nur ein Abschluss sein. Ty sah es eher so, dass diese dämliche Ehe mit ihrer Haltbarkeit einer Tüte Milch seinen Globus hatte planieren wollen, und nach ein wenig Rotieren hatte sich der Puderschnee in der Schneekugel wieder gelegt.

Was er nach wie vor nicht begriff, war warum David, der häufig geistesabwesende, aber vernunftgesteuerte David, in einer spontanen Aktion vor den Traualtar gestolpert war. Doch das war nicht so schlimm. Das Gehirn war ein extrem komplexes Organ, und nur ein winziger Bruchteil seiner Aktivitäten war dem Menschen bewusst. Also schrieb Tyree das als nicht weiter verständliches Synapsengewitter ab.

Er knirschte mit den Zähnen, als er ein Hundehaar in seiner Lunchbox fand.

 

Tyree machte in seiner Mittagspause immer einen Spaziergang. Und immer denselben Spaziergang mit derselben Menge Schritte, das war wichtig. Natürlich war schlechtes Wetter ein gewisser Faktor, der seine Statistik manchmal durcheinanderbrachte, schließlich wich man Pfützen aus – dafür hatte man weniger Gegenverkehr, der einen aus dem Takt brachte. Diese Abweichungen waren natürlich und ebneten sich gegenseitig zu einer Konstante ein.

Mit dieser unbestechlichen Logik und der Stringenz der Statistik hatte David mit der Leichtigkeit einer gelösten Algebra-Formel das Vertrauen des verdrehten Jungen erlangt, der selbst in der sanftmütigsten Sozialarbeiterin den Wunsch weckte, ihm eine Kopfnuss zu verpassen.

Soziopath. Und Fran dachte ernsthaft, das wäre für David ein Begriff.

Tyree hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und schritt zielstrebig die Gehwege ab, die den gepflegten Rasen unterteilten. Es regnete nicht, aber es war trotzdem kaum jemand draußen; das Wetter war kalt und diesig, und bald würde Nieselregen einsetzen. Die Raucher hatten sich unter das Vordach zurückgezogen, die Sportler in die Turnhalle. Tyree hatte seine Ruhe. Ein irregeleiteter Windzug spielte mit den Enden seines grünen Schals. Unter ihm wanderten die Betonplatten im gleichmäßigen Takt seiner Schritte, während er nach unten starrte.

„Du siehst voll aus wie Loki, Ty.“

Er setzte keinen Schritt aus. Solche Bemerkungen hatten es nicht verdient, seine Statistik zu beschädigen. Tyree reagierte nicht.

„Frierst du nicht?“

Schritt um Schritt.

„Der Weg ist gleich zuende.“

Und direkt um die Ecke ging er weiter.

„Ich hab‘ dir Mittagessen mitgebracht.“

Der Betonweg wurde ihm abgeschnitten. Tyree, der es hasste, von seiner Norm abzuweichen, bückte sich zähneknirschend unter der Eisenkette hindurch, die sich zwischen zwei Pollern spannte und die Studenten regelmäßig zum Seiltanzen herausforderte. Das nasse Gras, die übersättigte Erde schmatzte unter seinen Schuhen.

Cyrus sprang wie ein großer, blonder Schatten in einer feuerroten Jacke hinüber und landete schlitternd und spritzend im Rasen, leider ohne auszurutschen. Tyree, dem Schadenfreude fremd war, ging weiter, eine unappetitliche Sonate aus Sauggeräuschen hinter sich herziehend, die Cyrus zu einer Symphonie ausbaute.

„Hast du Lust, blau zu machen?“

Durchweg widerliches Geräusch. Zu allem Überfluss spürte Tyree, wie seine Schuhe durchzuweichen begannen. Er hasste Schuhe mit dicken Sohlen, und das schien immer einzuschließen, dass sie undicht waren. Als Konsequenz warf Tyree die Socken danach immer weg.

„Weißt du, sonst werde ich dich einfach in deine Vorlesung begleiten und dir die ganze Zeit auf die Pelle rücken und unsagbar dämliche Fragen darüber stellen, wie Spongebob unter Wasser grillen kann und woher Wonderwomans Titten diesen krassen Aufwärtstrend kriegen…“

„Die Rede hast du auf dem ganzen Weg hierher überlegt, oder?“, knurrte Tyree und vergrub seine Finger tiefer im Filzfutter seines Mantels.

„Sonst hörst du mir ja nicht zu.“

„Im Gegenteil, ich habe Mühe, dein Gebrabbel wieder auszublenden. Du hast die Edda niemals gelesen, dein widerwärtiger Bettvorleger hat mein Essen mit seinem Haar verseucht und nichts, was du sagst, könnte noch unsagbarer dämlich sein als das, was du gerade gefragt hast!“

Cyrus grinste und klemmte eine Zigarette in seinen Mundwinkel, kramte nach einem Feuerzeug in seiner Tasche. Obwohl er jünger war, schaute er ein unangenehmes Maß auf Tyree herab. Und vielleicht nicht nur physisch.

„‚Unsagbarer‘ gibt’s gar nicht.“

Tyree funkelte ihn ungnädig an. Dieses Gefasel hatte ihn aus dem Takt gebracht, und er hatte vergessen, seine Schritte zu zählen. Großartig.

„Ich weiß. Gratuliere zu deinem Erfolgserlebnis. Schwänzt du gerade?“

„Jup.“

„Dann geh verdammt noch mal zurück in deine Schule und lass dir den kläglichen Rest Bildung einhämmern, den man neben Wonderwomans Brüsten überhaupt in deinen Kopf zwängen kann.“

Cyrus grinste bloß und brannte die Spitze seiner Zigarette an. Rauch strömte zwischen seinen Lippen hervor wie Wasserdampf aus einer Hydraulikmaschine. So wie seine Mutter rauchte, war es nicht überraschend, dass er es auch angefangen hatte, doch etwas an dem versengten Gestank, der sich wie Teer über seine Nasenschleimhäute legte, ließ Tyrees Atem stocken.

„Und mach‘ das aus. Deine Sportlerkarriere wird sich von selbst beenden, ohne dass du Dreck in deine Lunge pumpst.“

Cyrus nahm einen demonstrativen Zug und pustete weißlichen Qualm in die feuchte Luft. Wie zerfasernder Schimmel, der eine eh schon faulige Atmosphäre überzog.

„Kann dir doch egal sein – du bist nicht mehr mein großer Bruder, Ty.“

Tyree blieb stehen. „Aber ich bin intelligenter als du.“

Cyrus feixte ihn an wie ein großer, dummer Verschnitt von Thor. Tyree hatte die Edda auch nicht gelesen, doch wenn er auf ein Hollywoodklischee zurückgriff, dann grundsätzlich mit mehr Stil.

„Und wie hilft dir das jetzt?“

Tyree überwand kurzerhand seinen Ekel, packte die Zigarette und warf sie in den matschigen Rasen, der ihre Glut löschte.

Sein Durchgreifen wäre eher gewürdigt worden, hätte Cyrus seine Aufmerksamkeit nicht eh auf zwei vorbeikommende Studentinnen gerichtet, die sich auf diese betont-dezente Weise unterhielten und ihm dabei Blicke zuwarfen. Ob sie wussten, dass er noch auf die Highschool ging? Sollten sie nicht beschämt ob ihrer Lüsternheit sein?

Päderastinnen.

Tyree machte einen Bogen um Cyrus, um zurück auf den Weg zu kommen. Grasfasern und Schlammwellen klebten an seinen Schuhen, und der Gedanke, das bis heute Abend zu ertragen, begann sich aufzutürmen wie der New Yorker Verkehr zur Stoßzeit.

Oder wie die Metaphern in seinem Kopf. Er war Tyree – er brauchte keine Sinnbilder, um irgendetwas zu verstehen, Cyrus war der Einzige, der seine trägen Hirnwindungen sonst nicht entkalken konnte. Und sogar dieser Primitivling hatte begriffen, dass sie nicht mehr Familie spielen mussten.

Cyrus packte ihn am Arm; seine kräftige, gebräunte Hand verschluckte diesen Arm beinahe, und für einen Moment starrte Tyree auf das Handgelenk, die fast unsichtbaren, blonden Härchen und den hellen Streifen, wo Cyrus beim Sport ein Schweißband trug. Für diesen Moment war er unsagbar wütend.

Er war intelligenter als Cyrus. Und der Trottel begriff nicht, wie viel.

„Ty!“

Da war wieder dieser flehende Tonfall von gestern mit einer Welt von Schmerz darin. David war nicht flexibel im Umdenken, aber Cyrus sollte es sein – an wie viel Stabilität konnte er sich mit sechzehn und einer Mutter, die zwanghaft in der Gegend herumheiratete, schon gewöhnt haben?

Er war nicht mehr Tyrees Problem. Das, und Tyree hatte darin versagt, ihn rechtzeitig als Problem zu erkennen.

„Lass mich los“, sagte er ruhig. Die Studentinnen waren langsamer geworden, stierten neugierig zu ihnen herüber. Cyrus hatte sie nicht vergessen, Röte von der Form faseriger Nelkenblüten kroch über seine Wangenknochen. Oder war es nicht die Verlegenheit? Sein Körper reagierte mit Adrenalin, und der Gedanke, dass die Hand auf seinem Arm vermutlich schwitzte, behagte Tyree nicht sonderlich.

„Können wir was essen gehen?“

In dem Tonfall hatte Cyrus sonst gefragt, ob sie bei den Hausaufgaben eine Pause machen konnten, damit er Cartoons im Fernsehen schauen, sich ein Sandwich machen oder einfach nur draußen herumrasen konnte – wissend, dass Tyree nachtragend war, wenn man eine Unterbrechung des Tutoriums einfach unterbrach, ohne ihn zu fragen.

Kalter Zorn senkte sich irgendwo in seiner Magengrube und ließ die Frage aufkommen, ob da noch Platz für Mittagessen war.

„Du willst, dass ich dich einlade“, schloss Tyree frostig.

Cyrus grinste ihn an.

„Sagtest du nicht, dass du etwas zu essen mitgebracht hast?“

Das Grinsen welkte an den Rändern etwas.

„Du isst nie etwas, das ich gemacht habe!“

Und das aus gutem Grund, da Cyrus nur auf die natürliche Bindung von Ketchup vertraute, um zwei Toastscheiben aneinander zu halten. Es war kein Wunder, dass Fran ihm immer noch das Lunchpaket machte – anders ließ sich eine Mangelernährung nicht vermeiden.

„Und?“

„Ich hab‘ es einem Obdachlosen gegeben.“ Cyrus klang zufrieden.

„Der hat es doch nicht etwa gegessen.“ Tyree formulierte es gar nicht erst als Frage. Die Dimension von Grausamkeit, einen Menschen den Matsch aus Ketchup, Toast, Corned Beef, Gewürzgurken und Mozzarella essen zu lassen, den Cyrus bevorzugte, traf sogar ihn unvorbereitet. Schon bei dem Gedanken geriet sein ohnehin empfindlicher Magen ins Schlingern.

Cyrus grinste ihn daraufhin blöde an. Er grinste den ganzen Tag, wenn man ihn ließ, doch das ‚blöde Grinsen‘ war etwas, das er seiner Gesichtsmuskulatur nur dann aufzwang, wenn er unsicher war und dachte, dass niemand es merkte. Durchsichtig, aber eine gute Strategie.

„Äh… Er hat es seinem Hund gegeben.“

„Also nur Sachbeschädigung und nicht vorsätzliche Körperverletzung.“

„Ty…!“

„Gehen wir.“

 

Das ‚Garden of Glee‘ führte nicht nur den Namen eines Mittelklasse-Puffs, es hatte auch permanent grinsende Mitarbeiter, deren Grimasse grotesk an einen Wundstarrkrampf erinnerten, sondern auch spiegelglatt gewischte Tische und Korbstühle, die bedächtig unter einem nachgaben und dabei ein Geräusch abgaben, das man allgemein als vulgär betrachtete und das Cyrus ein präpubertäres Kichern entlockte. Mit der ihm eigenen geistigen Reife taufte er das Lokal prompt auf ‚Garden of Flatulence‘ um.

Wenig später schaute er entmutigt auf das Sammelsurium grünlich-gelber Sprossen hinab, das sich auf seinem Teller versammelte, um dort einen hoffnungsvollen kleinen Urwald zu bilden. Das bisschen weißlicher Soße, das daraus hervortropfte, war nicht gerade dazu angetan, dem Tellerinhalt das Attribut ‚essbar‘ zu verleihen.

Tyree lud Kressesprossen auf seine Gabel, überprüfte sie auf mögliche Ausläufer der widerlichen kleinen Wurzeln und schob sie sich dann in den Mund. Cyrus‘ zunehmend gequälte Miene ignorierte er.

„Echt jetzt? Dieses… Gestrüpp?“

„Wenn ich dein Essen bezahle, wähle ich es auch aus.“

„Das Zeug ist teurer als eine ganze Pizza!“

„Dann“, erwiderte Tyree eisig, „weißt du diese Geste sicher zu schätzen.“

Cyrus starrte ihn einen Moment länger an wie Mister Muffin, wenn er um Essensreste am Tisch bettelte, wechselte daraufhin klugerweise zu einer Märtyrermiene um und nahm seine Gabel auf. Er stopfte einen Schub Sprossen so glanzlos in seinen Mund, dass Tyree den Blick wieder hob und ihn mit so viel metaphorischem flüssigem Stickstoff besprühte, dass er an Ort und Stelle einfrieren und zerspringen hätte müssen.

Cyrus grinste verlegen und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Tyree reichte ihm mit spitzen Fingern eine Papierserviette.

„Alister sagt, dass man sich heutzutage mit den Lebensmitteln eh vergiftet und deswegen sein Leiden nicht länger als nötig herauszögern sollte.“

Tyree brauchte keine Geringschätzigkeit zu heucheln und spießte ein Stück Gurke auf. „Dann ist Alister offensichtlich Pharmavertreter.“

„Tätowierer. Der erste Ex meiner Mom.“

„Lernst du die etwa auswendig? Kein Wunder, dass deine Speicherkapazität erreicht ist.“

Es war eigentlich eine unnötige Bemerkung, ein kleiner, boshafter Stich, doch Cyrus schien ihn nicht wahrzunehmen. Der Gedanke, dass Fran ihm erklärt hatte, sein ehemaliger Patwork-Bruder sei ein bisschen weich in der Birne und daher nicht so ganz ernstzunehmen, gefiel Tyree gar nicht.

„Er ist cool. Er würde mich tätowieren, aber Mom sagt, sie zeigt ihn wegen Körperverletzung an, wenn er’s tut. Also muss ich warten, bis ich volljährig bin.“

Tyree trank einen Schluck ökologisch gefiltertes Wasser, das haargenau schmeckte wie Leitungswasser. „Entzückend.“

„Hat dein Dad keine Exfrauen?“

Das Konzept unbegrenzter Partnerschaft musste Cyrus komplett fremd sein. Tyree präsentierte ihm ein derart künstliches Lächeln, dass der ‚Garden of Glee‘ dafür eklatant an ökologischer Nachhaltigkeit verlieren müsste, denn es war garantiert nicht biologisch abbaubar. Es war… eher wie Giftmüll.

„Verblüffend, nicht wahr?“, schnarrte er beißend.

Cyrus mampfte knirschend etwas Bockshornklee. „Aber seine-“

Mindestens dreißig Mal kauen und herunterschlucken, vorher machst du gefälligst nicht den Mund auf.

Der Anblick von halbzerkleinertem Grün, Soße und Speichel brachte Tyree jäh auf den Gedanken, seinen Verdauungstrakt zum nächstmöglichen Zeitpunkt abzuschaffen und sich intravenös zu ernähren.

Cyrus würgte den Klee mit einem Schluck Wasser herunter und räusperte sich. Er hatte sein Sortiment an Ballaststoffen und Vitaminen größtenteils in sich hineingeschaufelt, während Tyree anfing, darin herumzustochern.

„Seine Nummer ist doch noch dieselbe, oder?“

„Für weitere Formalitäten den Scheidungsanwalt ansprechen.“

„Ich mein’s ernst, Ty!“

„Natürlich tust du das.“ Tyree legte seine Gabel mit einem leisen Klirren hin und starrte Cyrus durchdringend an. „Und wenn ich dich jetzt richtig verstehe… Und korrigiere mich zum ersten und letzten Mal in deinem Leben, wenn ich mich geirrt haben sollte… Du fragst nach Davids Nummer, um mit ihm in Kontakt zu bleiben.“

Cyrus sammelte die restlichen Sprösslinge auf und aß sie mit den Fingern. „Deine auch. Wenn du eins hättest, nicht nur den Pager.“

Tyree nickte bedächtig. „Du gehst davon aus, dass dieses soziale Verhältnis Bestand haben kann.“

„Mann, ich will deinen Dad nicht heiraten, ich will ab und zu mit ihm reden. Und mit dir.“ Cyrus runzelte die Stirn und zeigte damit zum ersten Mal so etwas wie Widerspruchsgeist. Gut so. Seine ewige Unbeeindrucktheit hatte angefangen, Tyree ernsthaft zu reizen.

„So wie mit den anderen Exmännern deiner Mutter also.“

„Ja. Nein! Also… Nicht genauso.“ Cyrus seufzte und fuhr sich durch sein üppiges blondes Haar, das ihm, wäre er weiblich gewesen, ganz allein das Image einer Sexgöttin verschafft hätte. „Alter, ist das peinlich“, stöhnte er.

Tyree aß ein paar Sojasprossen. Es gab Aussagen, die kommentierte man nicht.

„Ich meine… Es war noch nie so.“

Tyree sah nicht auf, um kein Interesse zu signalisieren. Paradoxerweise schien es Cyrus jedoch ohne seinen direkten Blick leichter zu fallen, sich zu formulieren.

„Die Männer, die Mom heiratet, die hatten noch nie…“

„Eine ernstzunehmende Beziehung? Näheren Kontakt zu einer Frau? Sex?“ Anders konnte Tyree sich nicht erklären, wie man einer Frau erlag, die zwanghaft zum Heiraten neigte. „Oder die Fähigkeit, Nein zu sagen?“ Was auch eine Möglichkeit war, wenn Fran jedes Mal den Heiratsantrag machte. Was sie vermutlich tat.

„Eigene Kinder!“, platzte Cyrus mit nahezu überschlagender Stimme heraus, die ihnen einbrachte, dass der gesamte ‚Garden of Glee‘ sie neugierig und völlig unverhohlen angaffte.

„Herzlichen Glückwunsch. Jetzt denkt jeder sprachkundige, nicht-taube Mensch im Umkreis, wir wären ein schwules Paar mit einem Kinderwunsch.“ Tyree pfählte etwas Brunnenkresse. „Wenn wir Erbgut weitergeben, dann definitiv meines.“

„Du raffst es nicht, oder?“

„Wir können es ja nach dir benennen. Doch…“ Tyree quetschte die Kresse zwischen Gaumen und Zunge ein. „… ich ‚raffe‘ es sehr wohl.“

Das Grünzeug in seinem Mund gewann etwas Bitteres, das entweder auf akute Verdorbenheit hindeutete oder auf eine dumme, psychosomatische Illusion seines Körpers, eine gustatorische Fehlinterpretation.

Denn damit wallte alles auf, was sich schon in dem Moment in ihm abgesenkt hatte, in dem David ihn verwirrt ansah und ihn ‚Ty‘ nannte und es sich wie ein verdammter Verrat anfühlte. Tyree versuchte es herunterzuwürgen, doch mitten im Versuch gab er auf, weil es sich so kalt ausbreitete, dass es ihn von innen einzufrieren schien. Noch viel kälter als Eis. Wie flüssiger Stickstoff.

„Fran hat zum ersten Mal einen Mann geheiratet, der einen eigenen Nachkommen hatte, was nicht mehr heißt, als dass er seinem biologisch eingebauten Fortpflanzungstrieb gefolgt ist. Und daraus hast du abgeleitet, dass David… auch nur irgendeine Ahnung davon hat, was es heißt, ein Vater zu sein. Dass du all die Dinge von ihm verlangen kannst, die man gemeinhin unter den Aufgaben eines Vaters zusammenfasst, all diesen… Kitsch, diese Idiotie, die einschließt, dass er zu deinen Sportfesten kommt, dass er sonntags mit dir Football spielt und weiß, wann er dir etwas Geld für’s Kino zusteckt und dir seinen Wagen überlässt. Dass David wüsste, wie er mit deinen tausend kleinen Gefühlsumschwüngen umgehen soll, ohne jeden davon gleichbleibend ernst zu nehmen und diesen Ansturm von Widersprüchlichkeiten nicht als unlösbares Problem zu betrachten, sondern als die Summe deines Charakters, die er zu akzeptieren hat.“

Tyrees Stimme nahm etwas gänzlich Unerwünschtes, Heiseres an, als würden seine Stimmbänder überfrieren und spröde werden wie eine Starkstromleitung bei hartem Frost. Er bleckte die Zähne und war überrascht, dass seine Lippen nicht aneinander festgefroren waren.

„Du hast Dinge von David gefordert, die er niemals erfüllen kann, und ihn erbarmungslos damit erdrückt. Deswegen, und nur deswegen, ist diese Ehe vor die Wand gefahren, und das ist allein deine Schuld!“

Seine Lungen arbeiteten schnell, heftig, mehr als er es wollte, der grünliche Brei aus Sprossen und Gemüse drohte, auf der Stelle Kehrt zu machen und durch den Vordereingang abzureisen. Seine Kehle schmerzte, und für einen Moment übernahm die instinktive Angst, beim Erbrechen zu ersticken. Tyree schluckte trocken gegen den Impuls und stieß den knatschenden Korbsessel zurück, irgendein rationaler Gedanke kämpfte sich zu ihm hindurch und erinnerte ihn, dass er noch nicht bezahlt hatte. Er würde Cyrus nur zu gern auf der Rechnung sitzen lassen, doch etwas in ihm, das von sich behauptete, Genugtuung zu sein (und sich nicht so anfühlte) lehnte das ab. Fran mochte zurückhaltend mit Forderungen sein, was David anging, aber für ihn galt das sicher nicht. Und er wollte sie nicht wiedersehen.

Tyree zog irgendeine Art von Geldschein aus seiner Brieftasche und warf ihn auf den Tresen, bevor er sich nach draußen quetschte.

Mittlerweile nieselte es tatsächlich. Er hätte gern behauptet, dass es dieses Wetter in ihm nicht gab, aber so musste der Globus sich beim Wasserrohrbruch gefühlt haben.

„Tyree!“

Seit sie einander vorgestellt worden waren, hatte Cyrus ihn nie bei seinem vollen Namen genannt. Es fiel ihm nicht schwer, seinen älteren Ex-Bruder einzuholen – Tyree hätte außerdem gern behauptet, dass das auch nicht weiter anspruchsvoll war, immerhin war er nicht in würdeloses Rennen verfallen, Fitness spielte also keine Rolle. Bloß, dass er durchaus gerannt war und Cyrus mühelos nachkam, was gleich doppelt demütigend war.

Tyree stopfte die Hände in die Taschen und bog in die nächstbeste Abzweigung mit etwas Fläche ein; ein Kinderspielplatz, wie sich herausstellte. Trotzdem schlüpfte er durch das Tor im Maschendrahtzaun und kassierte die irritierten Blicke der paar Mütter, die sich mit ihren widerlichen kleinen Keimschleudern hier versammelt hatten.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Cyrus knisternd etwas in seine Hosentasche stopfte – Rückgeld vermutlich – und mit den Lippen einen unsichtbaren Zigarettenfilter zusammenpresste. Zum zweiten Mal heute schnitt er Tyree den Weg ab, indem er sich vor ihn stellte, und zugunsten eines angeschlagenen Kreislaufs, eines unguten Gefühls im Magen und den schwarzen Kringeln vor seinen Augen umrundete Tyree ihn nicht sofort. Er blieb stehen, atmete, seine Innereien fühlten sich kein bisschen wärmer an. Nach wie vor gefriergetrocknet.

Cyrus zog die Nase hoch. „Heulst du?“

„Nein“, zischte Tyree gallig. Das sah man doch, das hörte man doch, und allein der Gedanke, warum er losheulen sollte wie eine kleine-

„Gut.“

Cyrus holte aus und rammte seine Faust gegen Tyrees Nase.

Die Welt machte eine beeindruckende Verrenkung, als hätte man die Schneekugel plötzlich… auf die Seite geworfen. Tyree nahm entfernt wahr, wie Schmerz in seinem Gesicht explodierte und eine exorbitante Menge Blut plötzlich über seine Haut schoss, während sein Hinterkopf mit dem Beton des Spielplatzes kollidierte. Alles um ihn drehte sich, obwohl er sich höchstwahrscheinlich nicht bewegte, und es tat alles so scheiße weh!

Und dann entschied die Welt, dass sie diese Erfahrung noch schmerzhafter machen wollte.

„Oh mein Gott! Oh mein GOTT!“

„Mommy, er ist tot!“

„Maria, ruf‘ die Polizei-… Sie Mörder!“

„Ach, halten Sie die Fresse“, mischte sich Cyrus‘ knurrende Stimme darunter. „Seine Mutter hat gesagt, ich soll das tun.“

„Das ist echtes Blut! Das ist echtes Blut, oder?“

„Ein Überfall!“

„Ich will nicht sterben, Mommy!“

Tyree stöhnte und schaffte es, eine Hand an sein Gesicht zu heben. Wider Erwarten war seine Nase noch vorhanden, auch wenn sie sich anfühlte wie ein blutiger Brei. Er musste sich aufrichten, damit das Blut nicht womöglich in seinen Magen lief, aber… die Nervenbahnen hinter der Nase waren so direkt mit dem Gehirn verbunden, dass ein Schlag dorthin immer Betäubung erzeugte. Er schmeckte Blut und hätte sich am liebsten übergeben, wollte jedoch dringend die Frage vermeiden, ob das etwa echte Kotze war.

Cyrus‘ Gesicht tauchte über ihm auf, auch wenn es verschwommen und schwankend erschien.

„Heulst du?“

Tyree schaffte es, einen Ellbogen aufzustemmen. „Nein“, nuschelte er.

Cyrus hob die Faust. Die versammelten Mütter kreischten entsetzt – und ein kleines bisschen entzückt über so viel rohe Gewalt im frühen Nachmittagsprogramm – und irgendetwas in mauvefarbenem Cord warf sich auf Cyrus.

„Er liegt doch schon am Boden!“

Und seit wann war das ein Boxkampf? Tyree vermisste sein Handtuch.

„Verpissen Sie sich endlich!“, brüllte Cyrus zurück. Er packte Tyree am Kragen und zerrte ihn weiter in die Vertikale, wodurch die Umgebung erneut ruckelnd verschwamm.

„Heulst du?!“

Es bestand eine gewisse Regelmäßigkeit. Tyree versuchte, seine zerfasernden Gedanken einzufangen und schloss die Augen. Seine Nase war ein einziger Schmerz, und Blut tropfte seine Unterlippe herunter. „Ja“, krächzte er matt. „Ich heule.“

Er konnte nicht einmal beschwören, dass es nicht tatsächlich stimmte.

Sein Bewusstsein trübte sich, aber es kam zumindest kein neuer Schmerz. Der Nieselregen kühlte sein Gesicht ein wenig, und der schneidende Druck seines Kragens in seinem Nacken ließ nach. Ein nasses Taschentuch, seinem Geruch nach mit kalkhaltigem Trinkbrunnenwasser getränkt, legte sich auf sein Gesicht.

Tyree spürte das Weiß über sich mehr, als er es sah. Jäh verzerrte sich sein Gesicht, sodass greller Schmerz in seiner malträtierten Nase wütete, und er schnappte keuchend nach Luft. Etwas Anderes, genauso heiß und widerwärtig wie Blut, zwängte sich unter seinen Lidern hindurch.

Er hatte es immer besser gewusst als Cyrus und Fran, und trotzdem hatte er David an diese zum Scheitern verurteilte Familie verloren.

Jemand fasste ihn behutsam unter den Armen, ein Hauch von altbackenem Parfüm kam an dem Geruch von Blut und Asphalt noch vorbei. Tyree brachte zitternd seine Beine unter sich, das Taschentuch klebte an seinem Gesicht fest. Er ließ sich führen, als die Kante einer Bank sich in seine Kniekehlen drückte, sank er erleichtert darauf.

„Ich rufe jetzt die Polizei“, verkündete eine weibliche Stimme, diesmal entschlossener und weniger hysterisch.

Tyree zog das aufgeweichte Taschentuch vorsichtig an seinem Gesicht herunter, versuchte Blut, Rotz und Tränen abzuwischen, ohne Druck auszuüben. Er öffnete die Augen und hatte nicht das Gefühl, dass es viel brachte.

Cyrus streckte die Hand aus und drückte den Daumen kurz an Tyrees Nasenbein; dieser unterdrückte ein gepeinigtes Aufjaulen mit mehr Knappheit, als ihm lieb war.

„Nicht gebrochen“, stellte Cyrus fest – eine der versammelten Mütter stieß ihn grob zurück. „Was denken Sie sich eigentlich?!“

„Er ist mein Bruder!“, entgegnete Cyrus gereizt, klang jedoch schon mehr wie der treudoofe Goldjunge, der von älteren Frauen leicht zur Zerknirschung zu bringen war. „Haben Sie Ihren Bruder nie geschlagen?“

Die Mutter musterte ihn mit eisiger Verachtung. „Nein.“

„Ich schon!“, ließ sich irgendein aufsässiger Bengel aus der hintersten Zuschauerreihe vernehmen. Wildes Gezischel war die Folge.

Tyree atmete langsam durch die Nase. Selbst das tat scheußlich weh, und alles dort roch nach Blut. Er brauchte seinen Hemdkragen nicht anzusehen, um zu wissen, dass die Flecken da waren, und die Stellen, wo er rücklings auf den Boden aufgeschlagen war, bildeten eifrig Blutergüsse. Wenigstens hatte seine Nase aufgehört zu bluten, und auch der Sturz auf den Beton schien keine Gehirnerschütterung verursacht zu haben.

Für die kurze Zeit, die er brauchte, um Inventur in seinem Körper zu machen, traten die Geräusche in den Hintergrund. Jetzt kehrten sie zurück: aufgeregte Stimmen, die sich größtenteils mit Cyrus beschäftigten und ihn ausschimpften, oder auch ihre Kinder, oder auch einander. Die Aufregung darin, der Spaß. Fran hätte das gehasst. Und David hätte gar nicht gewusst, was er hätte sagen sollen.

In jedem Fall hätten beide von ihm erwartet, dass er etwas tat.

Tyree setzte sich etwas gerader hin und stellte fest, dass er von seinem Publikum weitgehend vergessen worden war, stellte Cyrus sich doch als lohnenderes Opfer heraus. Er würde einknicken – so wild entschlossen er auch gewesen war, diesen Fausthieb zu setzen und völlig hinter der Aktion zu stehen, das alles überschwemmte ihn.

Es löste ein abruptes Begreifen in Tyree aus. Eines von der Sorte, die unangenehm ist, aber man weiß, dass sie sein müssen.

„Gehen wir.“

Seine Stimme klang trocken und furchtbar nasal, was jeden dramatischen Effekt ruinierte. Doch er war laut genug, um gehört zu werden. Cyrus richtete den Blick auf ihn, verwirrt, als hätte er geglaubt, dass Tyree in der Zwischenzeit in Ohnmacht gefallen war.

„Wohin?“, stellte er die obligat dämliche Frage und machte es Tyree damit noch schwerer.

„Weg“, näselte Tyree, der es hasste, unkonkrete Dinge zu sagen. „Bevor die Polizei dich wegen öffentlicher Randale festnimmt, du Idiot.“

Das schien Cyrus zwar einzuleuchten – vor allem, weil der Spielplatz eine Handvoll Zeuginnen beherbergte, die Stein und Bein schwören würden, dass ihren Kindern großer mentaler Schaden widerfahren war – doch er rührte sich nicht. Offenbar begriff er nichts.

Das, oder er war erheblich berechnender, als Tyree ihm zugetraut hatte.

„Ja… Wir gehen deine Scheißpizza essen.“

„Mom, er hat Scheiße gesagt!“

Tyree sah nicht hin, um zu bewerten, ob Cyrus überrascht war oder nicht. Er stemmte sich hoch, wobei sein Körper ihn emsig daran erinnerte, wo er Blessuren erlitten hatte, und noch immer spürte er verkrustetes Blut auf seiner Haut. Es wäre ein guter Moment gewesen, um es sich anders zu überlegen, doch wenn es dafür wieder eine Art Gefühl gab, kam es jetzt nicht.

Eine der Mütter sah ihn befremdet an – sie hielt ihr Smartphone noch in der Hand. „Das ist nicht Ihr Ernst. Wenn Sie ihn nicht anzeigen…“

Ausgerechnet diesen Zeitpunkt erwählte ein Verkehrspolizist, um die Sicherheit des örtlichen Spielplatzes zu überprüfen. Tyree sah ihn nicht, doch er sah sehr wohl den Ausdruck blanker Panik auf Cyrus‘ und den von Triumph (oder wenigstens Beruhigung) auf dem Gesicht der Frau. Die Kinder rissen auf geradezu übertriebene Weise die Augen auf.

Navy CIS in New York, ohne dass man überhaupt den Fernseher einschalten musste.

„Ma’am, ist alles in Ordnung?“

Tyree biss die Zähne zusammen. Angesichts der Menge gerinnenden Blutes auf seinem Gesicht war er der Meinung, dass er es verdiente, diese Frage gestellt zu bekommen – oder sah er wie die regelmäßige Klientel dieses Spielplatzes aus, das gerade mit Überschlag von der Rutsche gedonnert war?!

Ein pflichtbewusster Officer materialisierte sich neben der mauvafarbenen Frau, die Cyrus‘ kräftigen Arm mit ihren lilafarbenen Fingernägeln sicher festgeschraubt hatte, und starrte auf Tyree herunter.

Nicht zu fassen.

Der Officer streckte die Hand aus, um Tyrees Gesicht vorsichtig zu drehen, vermutlich um festzustellen, ob dieser eine Notaufnahme nötig hatte – die Tatsache, dass er auf seinen eigenen Beinen stand, wenn auch wacklig, schien da keinen Anteil zu haben. Tyree mochte es nicht, wenn man ihn anfasste, und heute hatte man ihn schon genug für den ganzen Monat betatscht.

Um das einzudämmen, war Tyree alles recht.

„Ist das-“

Die Gottlosen hatten wirklich keinen Frieden.

„Echtes Blut, ja. Und HIV-positiv.“

Der Officer riss seine Hand mit einem Ausdruck von Ekel zurück, bevor er Tyree berührt hatte, und die Mütter samt Kindern teilten sich vor ihm wie das Rote Meer. Wenigstens das machte Spaß.

„Und jetzt lassen Sie bitte das Neuron los.“

Er deutete des Effekts halber auf Cyrus, und die Frau warf ihm einen entsetzten Blick zu. Cyrus wirkte eher verwirrt, doch seine moderaten Schauspielfähigkeiten erlaubten ihm immerhin, betroffen dreinzuschauen. Als sei das Brechen einer Nase eine anerkannte Therapie für irgendetwas.

„Oh Gott, ist er auch infiziert?!“

„Jesus wird mich heilen!“, platzte Cyrus mit kurzzeitig überschlagender Stimme heraus und tat das, was er sich unter einer Bekreuzigung vorstellte – das hieß, er fuchtelte mit seiner freien Hand vor der Brust herum und sah allgemein ziemlich obszön dabei aus. Die Frau in Mauve nahm sicherheitshalber Abstand.

Der Officer starrte Cyrus an. Cyrus starrte Tyree an. Tyree starrte in den Himmel.

„Können wir jetzt bitte einfach wegrennen?“, fragte er ihn. Den Himmel, aber der neigte nicht zum Antworten, egal was die Kirche behauptete. Wahrscheinlich fühlte Jesus sich ohnehin gerade etwas gekränkt, und Tyree konnte es ihm nicht mal verdenken.

Cyrus sah kurz in die Runde; Frans Erziehung war eisern. „Sie entschuldigen uns“, sagte er zu der allgemeinen Befremdung, packte Tyree an den Oberarmen und schob ihn wie einen Einkaufswagen durch das Tor im Maschendraht.

„Mommy, er wird entführt!“

„Ich will nicht sterben!“

Am Ende rannten sie also doch.



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