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Ich bin anders

von

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Besessen

Vielleicht merkt man es mir nicht an.

Nicht, wenn ich so überlegen über die Brillengläser auf meiner Nase zu dir herabsehe. Wenn ich dir eine intelektuelle Frage stelle und eine eloquente Antwort erwarte. Wenn ich mit meinen Händen über meinen glattgebügelten Stiftrock streiche, obwohl keine einzige Falte zu sehen ist.

Vielleicht merkt man es mir nicht unbedingt an, aber ich glaube an die Magies des Moments.

Das ist keine Alltagszauberei, kein Kinder-Hokus-Pokus von dem ich spreche. Es existiert und ist genauso real wie der Mundgeruch am Morgen nach einer durchzechten Nacht beim All-You-Can-Eat-Dönerfritzen um die Ecke. Manchmal sind diese Momente auch genauso unangenehm...

In diesem Fall jedoch, in dem Moment, von dem ich dir gerne berichten will, war es eine schöne Magie, die am Werke war. Eine romatische, vielleicht zum Kitsch neigende Magie. Eine Magie, die einen ganz unbedeutenden in einen wunderschönen Moment verwandelt hat.
 

Wie du jetzt hier sitzt, vor mir am Schreibtisch, ein Bein über das andere geschlagen und mit diesem kecken Funkeln in deinen Augen, habe ich dich nicht zum ersten Mal gesehen.

In Wahrheit kenne ich dich. Ich kenne dich schon sehr lange und sehr gut.

Du liebst deine Mutter über alles. Dein Vater ist dir das größte Vorbild. Dein Hund dein bester Freund, mit dem du jeden Sonntag laufen gehst.

Du bist stets freundlich und zuvorkommend, trägst dieses Lächeln auf den Lippen, mit dem dir niemand wiederstehen kann.

Du hast viele Freunde, kaum Neider, weil dir alle Menschen, denen du begegnest, nur gutes wollen.

Du bist ein regelrechter Held.
 

Und für einen kleinen Moment warst du auch mein Held.

Mein persönlicher Held.

Mein.
 

Dieser Moment, dieser magische Augenblick, den ich meine, hat mir damals die Augen geöffnet.

Ich weiß nicht mehr recht, ob es der Schock war, der mich hat zu dieser Erkenntnis kommen lassen, aber du warst der Auslöser für meine Verwandlung.

Mein Inneres begehrte auf, wollte an Ort und Stelle zerspringen und ein unlösbares Puzzle aus tausend winzigen Splittern bleiben.

Aber als du mich auffingst, ich deine Hand an meiner spürte, gefolgt von dem festen Ruck, der mich durchschüttelte; als du mich an deine Brust zogst, deine starken Arme mich fest im Griff hielten und an dich pressten; als du liebevoll tadelnd in mein Gesicht sahst, die hohe Stirn von Sorgenfalten zerfurcht, wusste ich sofort, dass ich dir ganz und gar und für den Rest meines Lebens verfallen sein würde.
 

Du erinnerst dich bestimmt nicht mehr.

Aber dafür erinnere ich mich. An jedes kleinste Detail.

Deine Haare waren noch nicht so grau meliert. Du sahst noch so jugendlich aus, obwohl du damals schon 41 warst.

Ich lief meinem Ball hinterher. Meinem kleinen Spielzeugball, violett mit weißen Punkten drauf. Mein Lieblingsspielzeug.

Meine Eltern saßen auf einer der Parkbänke, wähnten mich in Sicherheit auf dem Spielplatz bei den anderen Kindern. Dachten wahrscheinlich, ich rutschte, rutschte mir den Hosenboden wund, solange bis mein Kleidchen gerissen war. Oder saß auf der Schaukel, versuchte immer weiter hoch zu kommen, zu den Vögeln, den hübschen Piepmatzen oben im Himmel.

Ich spielte aber viel lieber mit meinem Ball. Er sprang immer weg. Weiter weg vom Spielplatz. Er rollte immer weiter. Wurde hier von einem Fuß getreten, dort von einem Hund angestoßen. Ich lief ja schon so schnell ich konnte, so schnell wie mich meine Beinchen tragen konnten.

Fixiert auf den Ball.

Übersah die Menschen, die Bäume, die Straße.

Ich übersah die Straße.

Und alle anderen übersahen mich.
 

Außer du.
 

Ich schrie auf.

Ein spitzer, hoher Schrei, als ich auf einmal nach hinten gerissen wurde.

Ich schrie, weil ich so überrascht war. Und dann weiter, weil ich meinen Ball aus den Augen verloren hatte.

Aber kaum, dass ich in deine Augen schaute, war der Ball vergessen und der Schrei verstummt.

„Alles in Ordnung, kleine Lady?“

Neben dir bellte ein Hund. Du setztest mich wieder ab.

„Warum rennst du denn einfach auf die Straße? Das macht man aber doch nicht.“

Deine Augen. Ich war fasziniert. Kristallblau und so klar.

„Ich bringe dich besser wieder zu deinen Eltern.“

Du brachtest mich zurück. Ich lief still an deiner Hand laufend mit dir zurück. Ich nahm alles davon in mir auf. Deine Stimme, deine Wärme, dein Alles.

Ich vergaß dich nie. Vergaß diesen Augenblick nie. Die Magie, die ihn durchströmte.
 

Heute sitzen wir hier, du und ich, einander gegenüber.

Vorhin haben wir es auf der Toilette miteinander getrieben. Wir treiben es häufig. Hinter dem Rücken der anderen Kollegen, hinter dem Rücken deiner Frau und deiner Kinder.

Für dich bin ich nur eine dieser leicht zu vögelnden Mädchen, die dir Abwechslung verschaffen. Die dich jung fühlen lassen.

Für dich bin ich wie ein Spielzeug.
 

Wie ein Ball, violett mit weißen Punkten.

Du fixierst mich.

Du übersiehst alles andere neben mir.
 

Ich bin nicht wie deine anderen Spielzeuge.

Für mich rennst du auf die Straße und nur ich sehe dich.
 

Ich bin besessen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hatte die Idee einer wahnsinnig zurechtgezupften Frau, von der man nicht unbedingt annimmt, dass sich ihr Weltbild durch etwas Vorbestimmtes leiten lässt.
Wie von selbst entstand diese Person in meinem Kopf, die - wie ich im Übrigen - an die "Magie des Moments" glaubt. An Augenblicke, die entscheidend sind für das weitere Leben.
In ihrem Fall ist das ganze in eine Extrem geraten, das sie nie wieder losgelassen hat. So sehr lebt sie mit dieser Einstellung, dass diese Besessenheit, die von ihr Besitz ergriffen hat, nicht mehr loslässt.

Als ich den Text beendet hatte, musste ich an die Frau denken, die in Stefan Zweigs Novelle "Brief einer Unbekannten" beschrieben wird. Ich denke, meine Protagonistin aus Kapitel 1 und die Frau aus Zweigs Novelle gleichen sich in ihrer unterwürfigen Besessenheit zu einem Mann sehr stark, wobei ich diese Ähnlichkeit beim Schreiben nicht direkt beabsichtigt habe. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  DemonhounD
2013-07-02T12:41:39+00:00 02.07.2013 14:41
Wow! Was für ein Schreibstil, was für eine Story... ich bin wirklich sehr sehr sehr begeistert davon. Du schreibst hier eine Geschichte, die man so in der Form hier oft liest, nur was ich hier sehr individuell finde ist, dass du dich nicht auf irgendeinen inneren Konflikt beschränkst, sondern den Hauptcharakter seine Tat auch noch gut finden lässt, obwohl die meisten um sie herum, einschließlich mir es sicherlich falsch finden würden.
Du schaffst es allerdings auch gleichzeitig die Figur so natürlich und schön herauszuarbeiten, dass sie trotzdem extrem glaubhaft rüberkommt und das ist wirklich etwas Besonderes. Die Geschichte hat es mir ziemlich angetan! Ich bin begeistert!

Ein Schreibfehler:
Du hast viele Freunde, kaum Neider, weil dir alle Menschen, denen du begegnest, nur gutes wollen.
(... nur Gutes... ich kann mich auch täuschen... aber ich glaube das gehört groß. ;-) )

Danke fürs zeigen!
Hab dich! Du bist dran!


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