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Bump.

von

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Traumgespinnst

Rennend. Immer und immer wieder rennend. Nie hatte ich einen Traum, in dem ich auch nur einmal stillstand.

Was sollte all das Rennen bezwecken? Würde es mir je dabei helfen, meine Visionen und Träume zu realisieren...?
 

Fremde Menschen. Immer und immer wieder sind sie um mich herum. Ich kenne sie nicht, doch ich scheine ihnen nur allzu bekannt zu sein. Sie lächeln, sind fröhlich und ausgelassen. Und einer von ihnen.... näherte sich mir immer wieder vertraut an.
 

Es sind Dinge, die ich nicht zuordnen kann, Dinge, die mich verwirren und verunsichern. Weil es nicht einmal Jack ist, der neben mir steht. Weil sie nicht das taten, was ich gerade tue. Sie waren aktiv. Und das beängstigte mich.

Ich begann mich zu fragen, ob ich das auch war, vor meinem Sturz. Ob ich wirklich rebelliert hatte. Und ob ich....nicht sogar eine Kriminelle war.

Wie sehr ich es auch versucht hatte.... ich bekam darüber niemals ein klares Bild in meinen Kopf.
 

****

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich mich immer noch gut an meinen Traum erinnern oder besser gesagt an die Fetzen aus Traum und ehemaliger Realität. Sie waren wirr, so wie sie es immer waren, und doch hatte ich den Eindruck, meinem alten Ich damit etwas näher gekommen zu sein.

Ich... hab Angst...., das dachte und fühlte ich in diesem Moment. Ich wusste nicht, wie ich mit all diesen Eindrücken klarkommen sollte und so kam es, dass ich kaum dass ich wach war, unter Kopfschmerzen litt. Ich atmete tief ein und aus und versuchte mich so zu beruhigen. Es waren Träume. Träume, die sich real anfühlten. Sonst nichts....! Irgendwann wird sich alles klären, dachte ich mir und rieb mir müde den Schlaf aus den Augen – und erschrak ungewollt. Ich hatte Jacks Arm gestreift, der auf meiner Taille ruhte und blickte direkt in sein Gesicht. Es war nicht einmal fünfzehn Zentimeter von meinem entfernt. Hätte ich nicht gesehen, dass er noch schlief, hätte ich ihn vor Verwunderung wohl direkt angeschnauzt... und das, obwohl mir nur wenige Sekunden später wieder dämmerte, weshalb er so nah bei mir war. Mein Blick heftete sich an seine geschlossenen Augen. Ich war ihm wirklich ein gigantischer Klotz am Bein und trotzdem kümmerte er sich so liebevoll um mich. Ich kannte Jack mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er hilfsbereit war. Und doch war ich jedes Mal aufs Neue überrascht darüber, wie sehr er sich für mich aufopferte.

Ich wollte es nur denken, doch stattdessen hatte mein Körper Lust, es zu flüstern: „Warum...tust du das..?", und die Frage verklang im Raum.

Ich schob es auf meine Krankheit, meinen kratzenden Hals und meine Kopfschmerzen, dass ich das Verlangen spürte, mich noch einmal an ihn zu lehnen. Es war zögerlich, und doch hatte ich es nicht bereut. Ich lehnte meinen Kopf in seine Richtung, legte meine Hand zaghaft an sein Hemd und ballte eine leichte Faust. Mein Kopf schmerzte und wurde durch das Pochen meines Herzens nur noch weiter zum Pulsieren angestachelt. Und trotzdem.... schaffte es seine Nähe, mich zu beruhigen. Als wäre eine Last von mir gefallen, schloss ich meine Augen. Ich wollte die Eindrücke, die ich wahrnahm, auf mich wirken lassen. Seinen kalten, trockenen Rauchgeruch, seinen konträr warmen Körper, sein raues, aber irgendwie schönes Gesicht. Ich konnte seinen feinen Bart an meinen Haaren spüren und seufzte noch einmal. Es fühlte sich so besonders an, ich wollte es nicht mehr missen.
 

Kurze Zeit später musste ich wohl wieder eingeschlafen sein, denn ich hatte einen weiteren, kurzen und klaren Traum.
 

„Wer weiß das schon..."
 

Meine Augen öffneten sich. Ich lag in dem großen Bett, eingehüllt in viele warme Decken. Ich lachte trocken, nüchtern über meine eigene Naivität.

Die andere Hälfte des Bettes war leer. Jack lag nicht mehr neben mir.

Den Geräuschen nach zu urteilen, werkelte er in der Küche herum. Ich raffte mich auf und versprach mir selbst, ihm zumindest an diesem Tag eine Hilfe zu sein.
 

****

Nur wenige Minuten nach dem Aufstehen hatte ich mich in die Küche begeben und Jack begrüßt. Er sah müde aus – entgegnete jedoch, dass auf mich das Gleiche zutraf und lachte darüber. Ich hatte tatsächlich riesiger Augenringe und verhältnismäßig kleine Augen- was wohl meinem kleinen Heulkrampf zu verdanken war. Es beruhigte mich, dass er trotz allem gute gelaunt war und vor allem, dass er mich nicht noch einmal darauf angesprochen hatte. Ich setzte noch einmal heißes Wasser auf, dann folgte ich Jack aus der Küche, bog jedoch in Richtung Bad ab und verschloss die Tür. Nach einem kurzen Bad-Aufenthalt fühlte ich mich frischer und zunehmend wacher, was unter Anderem daran gelegen hatte, das ich mir gut drei Mal kaltes Wasser ins Gesicht geworfen hatte. Ich band mir meine Haare zu einem geknäulten Dutt zusammen und setzte mich dann mit meinem frisch aufgebrühten Instant-Kaffee in das Wohnzimmer.

Jack tippte ein paar Minuten lang auf seiner Tastatur herum, dann rollte er sich mit seinem Stuhl zu mir an den Wohnzimmertisch.

„Und..? Was macht der Hals?"

„Geht schon wieder. Der Kaffee wirkt Wunder.", begann ich zu scherzen. Jack grinste kurz, dann winkte er mich zu sich. Ich lehnte mich etwas über den Tisch und wurde von seiner Hand überrascht, die er auf meiner Stirn abgelegt hatte.

„Na, das fühlt sich doch schon besser an. Ganz fit biste wohl nicht, aber das wird schon wieder, wenn du brav bleibst."

„Mir bleibt ja nichts anderes übrig.", meinte ich sarkastisch und tippte seine Hand leicht an, um ihm zu versichern, dass seine Fürsorge nicht nötig war. Er zog sie zurück, legte den Kopf leicht schief und starrte mich eine ganze Weile lang an. Es war mir unangenehm, aber ich sagte nichts weiter dazu. Ich wusste eh, dass er nur darauf wartete, dass ich zugab, dass mein Hals eigentlich wie sonst was kratze und ich mich am liebsten wieder ins Bett verkriechen würde. Aber den Gefallen wollte ich ihm – ihm zuliebe – nicht tun.

Stattdessen sah ich auf den Monitor hinter ihm und begann ihn, mit den Nachrichten abzulenken: „Weißt du, was da schon wieder los ist?“, woraufhin er sich um drehte und den Bildschirm kurz musterte.

„Heut' morgen sind wohl schon wieder ein paar von diesen komischen Möchtegern-Revolutinonären aufgetaucht. Die machen grad ganz schön Randale. Im Funk meinten sie, dass überall Bullen patrouillieren... die haben heut' noch irgendwas vor, ich weiß nur nicht, was...“

„Wie kommt's, dass du dir da so sicher bist?“

„Naja, ich hab sie ausgewertet.“, zischte er dann, beugte sich nach unten und kramte eine vollkommen zu-markierte Karte der Stadt aus. Für mich sah das meiste davon nach einer missglückten Edding-Linie aus, aber Jack sollte mich gleich eines besseren belehren.

„Das sind die Orte, an denen sie Leute überfallen haben oder Anschläge verübt haben.“, die Linie mündeten alle in ein Ziel, nämlich die Lawrence-Lane, die zwei Straßen von hier entfernt gewesen war.

„Ist da nicht direkt ein Police Departement...?“, fragte ich überrascht und luxte ihm die Karte für einen Moment ab. All die Orte, an denen diese Leute für Unruhe gesorgt hatten, waren meist öffentliche Orte oder sichere Zonen, die den Schutz der Stadt gewährleisteten.

„Ich versteh' das nicht. Wenn diese Typen die Stadt von den Leuten befreien wollen, die sie verhunzen wollen, warum gehen sie dann immer wieder auf Zivilisten und Bullen los..? Das zieht die Runner doch immer weiter in den Abgrund und schadet unserem Ruf...“, Jack nickte und stütze seinen Kopf in die Hand. Mit seinen Fingern fuhr er die Linien noch einmal ab.

„Der Mist ergibt auch sonst keinen Hinweis auf irgendwas. Was auch immer sie tun, sie schaden sich nur selbst damit, aber nich' mal das scheinen die zu raffen.“

„Aber was wenn.....“

„...Was wenn...?“, wiederholte er neugierig. Ich hielt einen Moment inne. Das alles kam mir so bekannt vor, als hätte ich diesen Moment schon einmal erlebt. Es war noch krasser, als ich es bei meinen sonstigen De ja-Vus wahrgenommen hatte.

„Jack.“, hauchte ich nur und sah ihn an. „Das ist es doch gerade! DAS ist es, verstehst du?!“

„Nein, tu' ich nicht, also klär' mich mal auf.“

„Sie wollen die Runner in den Abgrund ziehen! Das ist alles nur eine Finte! Sie geben sich als Runner aus, die sich gegen die Polizei stellen, dabei sind es abgerichtete Maulwürfe...! Es … es sind...“, vor lauter Schock glitt mir die Karte aus der Hand.
 

Da war es plötzlich, ganz deutlich.
 

Mein Traumgespinst entpuppte sich als Schlüssel. Der Typ, an dessen Gesicht ich mich nicht erinnern konnte, der aber immer in ein und derselben Szenerie in meinen Träumen auftauchte: Eine Umarmung, eine Richtung und schließlich die Trennung. Aber es ist keine friedliche, sie ist bedrohlich, und jagt mich jedes Mal aus der Traumwelt heraus.
 

Ich griff nach Jacks Hand.

„Es sind alles Ikarus-Leute.“, sagte ich dann wie benebelt.

Jacks Gesichtszüge entgleisten für einen Moment. Ich stand auf und lief zu ihm herum: „Verstehst du nicht?! Sie schüren den Hass unter den Runnern und zeigen ihnen die falschen Ziele, die falschen Personen auf, weil sie wissen, dass sie die Stadt so unter Kontrolle bekommen! Wenn immer mehr Runner gewaltsam handeln...!“

„...Kriegen die Hunde die Befehle, die sie brauchen, um die Stadt endgültig von uns Runnern zu befreien.... Verdammt!“, in seinen Augen loderte plötzlich die Erkenntnis. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich halb ungewollt durch.

„Wie bist du nur darauf gekommen?! Nich' mal Kairo hat das vermutet! Das ist doch-“

„Ich hab's geträumt.“, sagte ich dann und dachte nicht über die Bedeutung meiner Worte nach. Weder er noch ich sagten darauf etwas. Ich ließ meinen Kopf nach unten Baumeln und drückte ihn dann langsam von mir weg. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sich seine Miene anspannte.

„Venuum.“

„Ich häng' da mit drin.“

„Venuum, laber keinen Scheiß..!“

„Überzeug' mich vom Gegenteil!“, presste ich dann hervor und schüttelte den Kopf. „Jetzt ergibt das alles einen Sinn! … Wieso sollten sie sonst auf mich geschossen haben, wenn nicht, weil ich das verraten wollte?!“

„Aber du bist keine von ihnen!“, sagte er ernst und suchte meinen Blickkontakt, den ich weiterhin abblockte. Ich hielt mein Gesicht in den Händen und taumelte vor lauter Verwirrtheit in Richtung Flur. Gerade als ich an der Türschwelle angekommen war, schreckte ich auf. Jacks hatte mich eingekesselt und seinen Arm gegen die Wand gestemmt.

„Sieh' mich an.“, flüsterte er scharf und mein Körper erschauderte für einen kurzen Moment. Meine Hände sanken langsam nach unten, doch ich schaffte es nur mühsam, seinem zermürbenden Blick Stand zu halten. Er war so dicht an mir, dass ich Teile meiner Selbst in seiner Iris sehen konnte. Mein Atem ging vor lauter Nervosität etwas schneller, ich gab mir alle Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die gesamte Situation unter Druck setze. Ich folgte nur fast automatisch den kurzen, musternden Bewegungen, die in seinem Blick lagen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er etwas in mir sah, von dem ich nicht einmal ahnte, dass es in mir steckte.

„...Warum bist du dir nur bei allem so sicher....?“, murmelte ich mit gesenktem Blick und fühlte, wie er noch ein Stück an mich heran rückte. Ich hatte mir selten so sehr gewünscht, dass mein Herz zu schlagen aufhörte, wie in diesem Moment. Seine Haltung verlor allmählich etwas von ihrer bedrohlichen Spannung.

„...Ich bin's einfach.“, konnte ich ihn sagen hören. „...Nenn' es Ego... Oder die Tatsache, dass ich in fast acht Wochen gelernt hab', dass du kein schlechter Mensch bist. Egal, wer du damals warst... die Venuum, die ich kennen gelernt hab', ist aufopfernd und mitfühlend...“

„...“, ich konnte darauf nichts sagen. Seine Worte rührten mich und das wollte ich nicht. Ich wollte nichts von all dem. Ich hatte das alles nicht verdient. Jack schien darauf zu bestehen, dass ich mich seiner Theorie ergab, den er ließ seinen Kopf nur wenige Sekunden später auf meinem nieder. Und da kam es wieder auf. Das nostalgische Gefühl, dass mich jedes Mal übermannte, wenn ich seinen Geruch wahrnehmen konnte. Er haftete so fest in seiner Kleidung, an seiner Haut, seinen Haaren. Ich sah zu ihm hoch und war wie benebelt von seiner Präsenz. Ich war so abgelenkt, dass ich kaum mitbekam, wie sein Kopf von meinem sank, meine Stirn streifte und so nur noch um Haaresbreite von meinem entfernt gewesen war. Immer noch weit genug, dass ich mich ihm annähern musste, um ihm zu zeigen, dass ich ihm glaubte und verdammt, mir stieg das Blut nur so in den Kopf.

Es dauerte, bis ich mich traute, ihm so nahe zu kommen. Meine Hand fuhr die Wand herauf, so lange, bis sie auf der Höhe seiner Brust angekommen war. Ich legte sie an sie und fühlte zum ersten Mal die Muskulatur, die sich darunter verbarg. Sein kräftiger Atem drückte sie gegen mich, sodass es mir fast möglich war, seinen Herzschlag zu fühlen. Jacks Blick ruhte nach wie vor auf mir. Kaum, dass meine Hand an seinem Hals angekommen war, wurde er schmäler und weicher. Ich spürte die feine, sanfte Haut an seinem Hals, bis hin zu seinem Kiefer, der in seinen kurzen Drei-Tage-Bart gehüllt war. Er war rau, so wie ich es von ihm gewöhnt war. So rau und stachelig... ganz anders als seine Wange. Sie war so weich – und kaum, dass er seinen Kiefermuskel zum Schlucken angespannt hatte, hart wie Stahl. Meine Hand begann etwas zu schwitzen, aber Jack schien das nicht ansatzweise zu interessieren. Er hatte seine Augen schließlich ganz geschlossen und sich an meine Hand gekuschelt. Scheiße..., fuhr es mir in den Kopf. Dass aus einem Tiger wie ihm so eine zahme Katze werden konnte, war ich nicht gewöhnt. Ich legte schlussendlich auch meine andere Hand an ihn, in seinen Nacken und zog ihn dann fast geistesabwesend den letzten Zentimeter an mich heran, den es noch gebraucht hatte, um seine Lippen berühren zu können. Er erwiderte das Ganze ziemlich schnell drückte meinen Kopf an die Wand, während ich sein Gesicht in meinen Händen hielt. Er schmeckte so rauchig, wie ich es erwartet hatte, und doch komplett anders. Ich schloss schließlich auch meine Augen, öffnete sie jedoch nur wenige Sekunden später wieder, um meinen Gleichgewichtssinn nicht zu verlieren.

Jack grinste während er mich küsste. Das spürte ich mehr als deutlich. Dieser alte Schürzenjäger!, dachte ich und ärgerte mich noch mehr darüber, dass mein Gesicht wahrscheinlich schon hoch rot angelaufen war.

„Lach' gefälligst nicht, du Vollidiot...!“, zischte ich, auch wenn ich echt nicht wirklich aggressiv klang.

„Ich bin nur überrascht.“, flüsterte er neckend. „Ich hätt' nicht erwartet, dass du dich drauf einlässt.“

„Pah!.... Als ob ich groß 'ne Wahl gehabt hätte...!“

„Die hattest du, Süße, die hattest du.“, erwiderte er nur und strich mir eine Haarsträhne hinter mein mehr als rotes Ohr. Es brachte sowieso nichts, im Paroli bieten zu wollen. Stattdessen seufzte ich nur, klammerte mich ein bisschen an sein Hemd und ließ mich an ihn heran fallen. Er strich mir daraufhin über den Kopf und drückte mich an sich.

„...Danke für's Ablenken.“, meinte ich dann.

„Du wirst seh'n, die Scheißkerle werden auffliegen. Wird endlich Zeit, dass in diese verdammte Stadt mehr Ruhe einkehrt. Dank deiner Erinnerung ist das vielleicht endlich machbar.“

„Aber es gibt so viele von ihnen...“

„Na und? Wir Runner sind denen doch bei Weitem überlegen.“, Jack klang sehr von sich und seinem Vorhaben überzeugt. Auch wenn ich mir in dem Moment noch sehr den Kopf darüber zerbrach, ob das alles klappte, wusste auch ich, dass es zumindest eine unglaubliche Möglichkeit war.
 

Nach unserem kurzen sentimentalen Einbruch fiel unser Leben relativ schnell wieder in sein altes Muster zurück. Ich schlenderte auf Jacks Anforderung hin mit einer Decke um mich gewickelt durch die Wohnung und starrte aus dem Fenster, mit einer Tasse heißem Wasser in der Hand. Es war besser als der rauchige Kaffee, den ich sonst so trank, auch wenn es wirklich nichts außergewöhnliches war. Aber es linderte das Kratzen im Hals und lenkte mich zudem von Jack ab. Der hatte in der Zwischenzeit bei Kairo angerufen und sie über meine Theorie informiert.

Mein Blick wandte sich von Jacks Schatten, der sich an der Flurwand abzeichnete, wieder zum Fenster hin. Am Himmel waren kleine Wolken aufgezogen. Das Wetter schwenkte also um. Eigentlich sollte mich das wohl kaum interessieren, aber seit dieses eine Puzzleteil aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war, wartete ich nur darauf, dass die Fake-Runner aktiv wurden und ihr Ding abzogen. Denn wenn es so weit war, würden wir eingreifen – ich würde es zumindest tun, egal, wie meine Kondition gerade war. Und angesichts dessen war mir ein aufkommender Regenschwall ein Dorn im Auge.

„Was denkst du denn schon wieder nach?“, konnte ich Jack schließlich vom Eingang des Wohnzimmers fragen hören.

„Geht dich gar nichts an.“, antwortete ich nur und zeigte mit einem Wink auf das Telefon in seiner Hand.

„Was hat Kairo gesagt?“

„Sie war ähnlich überrascht wie ich über das Ganze. Aber für den Fall, dass es schnell gehen muss, wenn wir die Arschgeigen fassen wollen, hat sie einen ihrer Kerle auf Abruf für uns bereit gestellt. Mehr kann ich wohl auch echt nich' von ihr verlangen.“

„Gut zu wissen. Sie ist wirklich hilfsbereit.“

„Das ist sie.“, entgegnete er und hockte sich auf seinen Stuhl. „Aber das wird uns nicht reichen.“

„Was meinst du?“, fragte ich ihn.

„Wir brauchen einen Politiker.“, Wie bitte?, fuhr es mir durch den Kopf. Er griff nach einer alten, mit Kaffeerändern besudelten Zeitung und schmiss sie zu mir herüber. Daraufhin stellte ich das heiße Wasser auf der Fensterbank ab und griff nach ihr. Auf dem Titelblatt war der Nachfolger des ermordeten Bürgermeisterkandidats Pope zu sehen, Ryan White. Er war dafür berühmt, die Stadt wie sein toter Vorgänger zum Positiven wenden zu wollen, ein Mann mit ehrlichen Absichten. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, kaum, dass ich sein Bild gesehen hatte.

„Denkst du wirklich, dass wir so ohne Weiteres an ihn herankommen..? Hast du schon vergessen, was mit Pope passiert ist?“

„Natürlich nicht.“, schnauzte er zurück. „Aber Runner alleine können keine Grundlage schaffen, auf der man politisch aufbauen kann, dazu ist unser Ruf nach wie vor viel zu schlecht. Wir müssen versuchen mit ihm in Kontakt zu treten, nachdem wir die Ikarus-Typen haben auffliegen lassen. Wenn wir das geschickt anstellen, wird die Masse endlich seh'n, wie verkorkst und korrupt diese Stadt ist und dann werden die sich um 'nen Typen wie White reißen.“, das klang zwar alles mehr als plausibel, aber ich konnte mir noch immer nicht vorstellen, dass wir all das schafften, ohne, dass White vielleicht auch noch in das Fadenkreuz dieser Schweine geriet. Jack schien mir meine Bedenken wie immer anzusehen. Er kam zu mir zum Fenster rüber und setzte sich zu mir.

„Ich weiß selbst, dass das nich' gerade leicht wird, aber es wird werden.“

„Mhm...“, murmelte ich nur. Daraufhin hatte er seinen Arm um mich gelegt und ließ ihn nun entspannt auf meiner Schulter baumeln.

„Was muss ich'n noch tun, um dir Selbstvertrauen einzuimpfen, hm?“, fragte er dann, und zwischen seinen Augenbrauen zeigte sich diese typische Falte, die immer zustande kam, wenn ich ihn den letzten Nerv kostete. Lass' mich gesund werden, fuhr es mir durch den Kopf. Lass' mich nicht so viel Blödsinn anstellen und vor allem... zeig' mir, dass es das wert ist.

Keines dieser Worte hatte meinen Mund verlassen, aber trotzdem wollte ich, dass er mir eine Antwort darauf lieferte. Ich schnippte gegen seine Hand, die wie leblos an meiner Schulter lag und zog seine schmalen Finger lang. Mein Schädel war ein einziges Wirrwarr und weder unsere jetzige Strategie noch seine Nähe zu mir waren mir dabei eine Hilfe, dieses Knäuel aus Gedanken loszuwerden. Also ließ ich meinen Möchtegern-Frust an seiner Hand aus, auch wenn dieser Spaß nur von kurzer Dauer war. Irgendwann hatte Jack meine Hand gepackt und meine Finger mit seinen umschlungen. Dass er dabei so ruhig blieb, machte mich verlegen und nur noch nervöser.

„....Ich mag den Mond nicht.“

„Wie?“

„Ich mag den Mond nicht. Weder den Mond, noch die Sterne oder die Nacht an sich.“, konnte ich ihn dann wie aus dem Nichts sagen hören. Er sagte es nur so vor sich hin, als würde er gar nicht wollen, dass ich das hörte.

„Ich hass' die Dunkelheit. Wenn man im Dunklen rennt, kommt einem alles schneller vor. Aber man wird auch unachtsam und baut Mist...“

„...Schläfst du deswegen Nachts so unruhig..?“

„Vielleicht.“, entgegnete er. Er sah mich kurz an, dann blickte er wieder auf seine Beine herunter.

„Ich mag auch keinen Alk. Nichts in der Richtung. Eigentlich.... hass' ich meine Kippen am meisten -“

„Warum sagst du mir das?“, und vor allem: Meinte er das ernst? Ich sah ihn nicht einen Tag ohne Zigarette und Jack war wirklich nicht der Typ Mensch, der sich vom einen Tag auf den anderen zum Nichtraucher bekennen würde. Als ich ihn noch einmal ansah, erwiderte er meinen Blick und lachte trocken.

„Weil's wichtig ist.“

„Wofür?“

„Für deine Motivation. Ich hab' dir doch mal das Grab meines Kumpels gezeigt... der da am Gebäude runter gesegelt ist.“, ich nickte kurz. „Er ist abgekratzt, weil ich gesprungen bin. Und weil ich die Kante von dem Gebäude nicht hätte greifen können. Vielleicht... vielleicht war's ein Reflex, ich weiß es nicht. Aber er hat mich einfach gepackt und nach hinten gezogen und fiel anstelle von mir nach vorne.“

„Das-“, mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich hätte nie gedacht, dass Jack schon jemals so Nah am Abgrund gestanden hätte. Klar, er war ein Angeber und Überheblich, aber er wusste, wann er aufpassen musste. Das hatte ich zumindest bis zu diesem Zeitpunkt immer gedacht.

Seine Miene verzog sich noch einmal und das Lächeln wisch von seinen Lippen, obwohl ich wusste, dass er sich Mühe geben wollte, es nicht entfliehen zu lassen.

„Damals hab' ich ihn immer ausgelacht. Er hatte nonstop 'ne Kippe im Mund und wir alle haben gewettet, dass er an dem verdammten Rauch erstickt. Aber er ist nicht daran verreckt, sondern an meiner Dummheit. Er hätte sich locker fangen können, wenn er mehr Ausdauer gehabt hätte. Aber die Kippen haben seine Lunge übel verwüstet. Das ist der Grund, warum er, als ich mit meinem Arsch auf dem Trockenen saß, vor mir abgerutscht ist und keine Chance hatte, sich zu fangen. Mich hoch zu hieven... war einfach zu viel.“, er stoppte kurz. Mir schnürte es die Kehle zu, während er sprach. Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass ich je so viel über ihn erfahren würde. Ich drehte mich etwas mehr in seine Richtung. Sein Atem ging schwerer und er räusperte sich, bevor er weiter sprach.

„Er hätte mich nicht retten müssen, aber er hat's ohne zu zögern getan. Ich weiß, dass es meine Schuld ist. Und weil er nicht seinen versoffenen, dreckigen Rauchertod sterben konnte, den wir alle uns so sehr für ihn gewünscht hatten... warte ich jetzt drauf, dass ich irgendwann mit verkalkten Arterien tot im Stuhl sitze und in die verdammte Hölle absteige, wo ich hingehör'.“, als er sich zu mir drehte, stockte mir der Atem. Er zog mich mit seinem Arm noch näher an ihn heran, es tat fast weh, aber ich war wie starr vor Schreck und fühlte, wie meine Fingerspitzen kalt wurden, als ich mich an seiner Brust abstützte. „Tja, du wolltest mal wissen, wieso ich nich' mehr renne, jetzt weißt du's.“, konnte ich ihn an meinem Ohr flüstern hören. „Es ist weit ausgeholt, aber das war's wert. Weil ich weiß, dass es dir das verdammte Selbstvertrauen bringt, das du brauchst, Kleine.“

„W-Wie kommst du darauf, dass mich das ermutigt?“, flüsterte ich wie heiser. Seine Wange kratze an meiner und ich konnte mich nicht aus seinem Griff befreien. Ich versuchte es aber auch nicht weiter. Ich wusste, dass er nicht wollte, dass ich ihn so verletzlich sah und ich wusste nicht mal selbst, ob ich das wollte. Stattdessen musste ich mir Mühe geben, nicht nervös auf zu zucken, denn bevor er fortfuhr, krabbelte er mit seiner Hand von meiner Hüfte unter meinem Shirt bis rauf zu meinem Nacken. Ich spürte seinen gesamten Arm auf meinem Rücken und die Hitze in meinem Kopf verteilte sich in meinen ganzen, nervösen, verwirrten Körper.

„Wenn du das nämlich gebacken bekommst und das alles mit mir durchziehst, hör' ich für dich mit dem Rauchen auf.“, hauchte er, und meine Augen weiteten sich augenblicklich. Jetzt riss ich mich doch von ihm los, packte ihn an den Schultern und blickte in sein Gesicht. Seine Miene war ernst und bitter, aber seine Augen glänzten melancholisch im dunklen Zimmerlicht. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Ich seufzte stoßartig, konnte mir ein verzweifeltes Grinsen nicht verkneifen, und fragte ihn dann, während mein Kopf auf seine Schulter sank: „Das ist es dir wert...? Das ist'n hoher Einsatz, Jack.“

„Wenn du's nicht wärst, würd' ich das nicht sagen. Weil keine außer dir es schaffen kann. Wenn du dich nur zusammen reißt und deinen kleinen süßen Arsch dazu bewegst, um aktiv zu werden.“

Aktiv...., also genau das, wovor ich mich in meinen Träumen so sehr gefürchtet hatte. Wieder spürte ich seine Hand an mir, diesmal jedoch fuhr er sachte über meine Wange. Er hob mein Gesicht leicht an, um den Blickkontakt zu mir beibehalten zu können.

„Ich weiß, du erinnerst dich an nicht viel aus deinem Leben. Du hast eigentlich keinen Grund, den ganzen Scheiß zu richten, aber das wär' doch 'n schöner Ansporn, oder..? Eine komplett rauchfreie Bude.“, mir lag ein ebenso bitteres Lachen auf den Lippen, wie es bei ihm zuvor der Fall gewesen war. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn.

„Wenn du nicht verkalkt und tot auf deinem Stuhl abkratzt, sondern weil ich dich ins Jenseits befördern kann, ist mir das viel mehr wert..!“, zischte ich und lachte. Niemand außer ihm hätte mich je auf so verrückte Art dazu bewegen können, meiner Angst ins Gesicht zu sehen. Es war zwar eigentlich nicht lustig, aber es war absurd, und das rechtfertigte mein Gelächter zutiefst. Und es rechtfertigte auch seines, denn sein Ansporn für mich war nichts weiter als eine getarnte Rettungsaktion für sein verzweifeltes, abgefucktes Selbst. Dieses beschissene Dasein, in das ich mich wahrscheinlich schon seit einiger Zeit, ohne es richtig gemerkt zu haben, verliebt hatte.



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