Scarlet Centipede
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Kurz nach den Vorfällen im Wald des Schreckens während des Chūnin-Examens passiert ein neues Unglück. Ein provisorisch zusammengestelltes Team noch nie dagewesener Schlagkraft wird formiert, um das fatale Missgeschick schnellstmöglich zu beheben.
... Mehr oder minder.
E I N S
Zweiundsiebzig D-Rang. Sechsundachtzig C-Rang. Dreihundertachtundneunzig B-Rang. Neunundachtzig A-Rang. Zwei S-Rang. Eine Summe von sechshundertsiebenundvierzig Missionen. Keine davon hatte sie so sehr gehasst wie diese.
Mitarashi Anko war Tokubetsu Jōnin! Eine verdammt gute noch dazu! Und Hiruzen Sarutobi, dieser gewiefte kleine Schwerenöter, hatte sie mit Dangos bestochen, sich diesem Sonderauftrag anzunehmen. Zusammen mit einem Spezialteam. Einem Haufen fauler Tölpel! Wie sehr sie diese Woche hasste. Jedes Jahr vor den Auswahlprüfungen der Chūnin, deren Gastgeber dieses Dorf war, spielte Konohagakure no Sato verrückt. Egal wohin man sah, nur Verrückte. Verrückte Genin, verrückte ANBU, verrückte Zivilisten, verrückter Hokage. Verrückt! Seit dem Vorfall vor einer Woche, bei dem Orochimaru den letzten Spross der Uchihas mit seinem Ten no Juin gebrandmarkt und beinahe einige Genin umgebracht hatte, schrillten alle Alarmglocken dunkelrot, statt bloß durchzudrehen. Konoha befand sich im Ausnahmezustand. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Orochimaru sich erneut im Wald des Schreckens zeigen würde—immerhin hatte er sein temporäres Ziel erreicht—das hielt Hiruzen allerdings nicht davon ab, seine stärksten Eliteninja auszuschicken, um einen beschissenen. roten. Tausendfüßler! zu suchen.
Anko seufzte rau. Sie hatte vergessen zu frühstücken, nachdem der Sandaime sie ihrem Team zugewiesen und buchstäblich aus seinem Büro geworfen hatte. Hätte einer seiner Assistenten nicht die Freundlichkeit besessen, Anko vor ihrem Aufbruch einen kurzen Überblick zu verschaffen, hätte sie nicht einmal gewusst, wieso sie dieses…dieses…Insekt…finden mussten.
"Aburame wäre ein passenderer Partner gewesen. Egal welcher davon", erklärte Kakashi, der mit seinem Sharingan die Umgebung röntge. Mit seinem normalen Auge schielte er in die aktuellste Ausgabe des Icha Icha Paradise, das einige neue Anzüglichkeiten enthielt, die—wenn auch nicht namentlich beweisbar—eindeutig auf jemandes Vorzüge abzielten, die der Autor zu kennen schien. Nicht, dass Anko es gelesen hätte.
Sie räusperte sich und sah gen Himmel. "Nur leider ist keiner von ihnen verfügbar. Sag mir bitte noch einmal, wieso wir dieses Vieh finden müssen, sonst glaube ich es nicht."
Asuma sprang von einem der höhere gelegenen Äste herab und landete leichtfüßig neben ihr. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Iryōnin so leichtsinnig sind. Wenn sie schon mit Orochimarus Jutsus an einem Tier experimentieren, sollten sie es wenigstens über Nacht sorgfältiger wegschließen."
"Sie waren saumselig; das dürfen wir jetzt ausbaden", raunte Anko. Wie sollten sie einen Käfer in einem riesengroßen Trainingsgelände finden? "Selbst wenn, was ist an diesem Ding so gefährlich? Kaum jemand wird es finden."
"Aber wenn", nahm Kakashi an, "könnte er mit einer Extraktion des Chakras einige sehr wichtige Informationen erhalten, die wir lieber für uns behalten. Ich wäre auch lieber irgendwo anders, zum Beispiel bei meinem Schüler, den ich für die Finalrunde vorbereiten muss, aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Wenn Sandaime-sama dieser Mission Priorität zugewiesen hat—"
"Jaja." Anko winkte ab. Wenn hätte wäre könnte, bräuchte sie nicht hier zu stehen. "Wo ist eigentlich Gai?"
Asuma sah sich über seine Schultern nach hinten um. "Jetzt da du es erwähnst, er war seit Stunden nicht mehr hier."
"Stunden", raunte sie. Seit Stunden suchten sie einen Käfer! Seit Stunden suchten sie einen Käfer! Sie konnte sich nicht einmal entscheiden, wo sie die Intonation zur Validierung dieser Ungeheuerlichkeit setzen sollte.
"Finde dich langsam damit ab, Anko, sonst bekommst du Falten", riet Asuma ihr. "Suchen wir lieber Gai, der ist leichter zu finden. Leider."
Sie brauchten nicht lange zu suchen; Maito Gai in seinem vollen Glanze schien nur auf den richtigen Moment gewartet zu haben, um einen heroischen Auftritt hinzulegen. Vom höchsten Wipfel einer Tannenbaums sprang er herunter in die Mitte des Dreiecks seiner temporären Kameraden. In seiner in einer Siegespose nach oben gestreckten Hand hielt er etwas langes, dünnes Rotes.
"Seht, was ich gefunden habe!", triumphierte er mit einem Lächeln, das all seine weißen Zähne zeigte. Wie gerne hätte Anko ihm einen davon ausgeschlagen. Oder mehrere. Seit dem frühen Morgen kam er alle paar heiligen Zeiten mit einem neuen Objekt an, das der Zeichnung des gesuchten Tausendfüßlers minimal ähnlich sah. Jetzt war der späte Nachmittag angebrochen und er hatte es immer noch nicht kapiert.
"Gai, wie oft soll ich es dir noch sagen?!", fauchte Anko. Sie ging stapfenden Schrittes auf ihn zu und riss ihm den Draht aus der Hand. "Tausendfüßler! Tau-send-füß-ler! Nicht Ast, nicht Made, nicht Faden und schon gar nicht Schuh! Solange dein Fund keine tausend Füße hat und damit kriecht, ist er irrelevant!"
Er reckte einen Daumen in die Luft, unberührt von ihrer Raserei. "Die Kraft der Jugend wird uns leiten! Mit der Reinheit unsrer Herz—"
Noch Jahre später beschwor Mitarashi Anko, dass sein Gesicht bei dieser Gelegenheit in ihre Faust gestoßen war, nicht umgekehrt. Wer auch immer wahr sprach, es änderte nichts an der Tatsache, dass er auf dem dreckigen Erdboden lag und sich sein Auge rieb, das bald anschwellen würde. Dabei hatte sie nicht einmal mit voller Kraft zugeschlagen.
"Immer mit der Ruhe, Anko." Kakashi legte eine Hand auf ihre bebenden Schultern. Unter seiner Maske zeichnete sich ein schales Lächeln ab. "Ich werde uns Hilfe holen." Indem er in die Knie ging und sich in den Daumen biss, beschwor er sieben seiner besten Hunde, denen er eine Handvoll jener Erde unter die Nase hielt, die er aus dem Terrarium des Tausendfüßlers mitgenommen hatte. "Sucht", befahl er.
"Wir teilen uns auf", entschied Anko. Sie war zwar die Rangniedrigste dieser Gruppe, das hielt sie aber nicht davon ab, den Feldwebel herauszukehren. "Kakashi, du nimmst Norden. Asuma, Westen. Gai, Osten. Ich knöpfe mir den Süden vor. Um Mitternacht treffen wir uns wieder hier. Das Signal für den Notfall kennt ihr?"
Ihre männlichen Kollegen nickten einheitlich erst ihr zu, dann sich selbst. Im nächsten Wimpernschlag waren sie in alle Himmelsrichtungen verteilt.
#
Maito Gai. Das klang wie mächtiger Kerl. Nun, er war mächtig.
"Mächtig nervtötend." Anko zog ihren Mantel enger um sich. Sie kannte Gai noch aus ihrer Akademiezeit. Er war nur um zwei Jahre älter, aber schon damals war er neben Sarutobi Asuma als Wunderkind gehandelt worden. Wie sie das hasste. Diese ungerechte Verteilung humaner Ressourcen, diese Fokussierung auf ein paar Kinder, die angeblich überdurchschnittlich großes Talent besaßen. Gai war gefördert worden, bis er zu dem geworden war, was er heute war: ein angesehener Jōnin. Einer der besten.
"Und so unglaublich nervtötend!", beharrte sie. Es war unfair, wie wenig man sie selbst beachtet hatte, wo anderen Kinder jedwede Gönnerschaft zuteil geworden war. Es war schon immer so gewesen. Auf der einen Seite standen die Talentierten. Kurenai, Asuma, Kakashi, Gai. Alles drehte sich um sie. Dann gab es noch den Rest. Hayate, Genma, Aoba; die Liste war nahezu endlos und schloss bei Anko. Man kannte ihre Vergangenheit.
Plötzlich jagte ein Schauer scheinbar grundlos ihre Wirbelsäule herab. Ihr Herz raste, kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Erst im nächsten Augenblick realisierte sie das Geräusch, das sie alarmiert hatte.
"Nur ein Tier", beruhigte sie sich selbst, die Hand fest auf die Brust gepresst. Dass ein schlichtes Knacksen des Unterholzes eine autonome Panikreaktion diesen Ausmaßes auslösen konnte, wenn auch nur kurz und kontrollierbar, machte ihr sogar noch mehr Angst. Ihre Eingeweide krampften angesichts der Erinnerungen an die Konfrontation vor ein paar Tagen, die diese übersteigerte Alarmbereitschaft verursacht hatte. Es würde Wochen dauern, bis ihre Sinne wieder ihr normales Level erreicht hatten. Bei jedem kleinsten Geräusch zusammenzuzucken, war keine Dauerlösung. Nicht, wenn sie alleine und deckungslos war.
Der Krampf ließ nach, ihr Puls ging in seinen regulären Zustand zurück, bloß das klamme Gefühl in ihrer Magengegend blieb. Anko schauderte.
Je schneller sie das Biest gefunden hatten, desto besser. Es war alles nur die Schuld der Iryōnins. Wenn sie nicht so nachlässig mit etwas derart Gefährlichen umgegangen wären, müsste sie jetzt nicht durch diese dunkle Buschlandschaft streifen. Nein; es war nicht nur die Schuld der Mediziner. Hätte Orochimaru dem Uchiha-Jungen nicht dieses Siegel verpasst, wären sie niemals in der Lage gewesen, einen Teil des Jutsus aus dem Mal zu ziehen, dessen Fragmente sie jetzt an diesen Viechern erprobten. Es war seine Schuld.
Orochimarus.
Ein zweites Knacken ließ sie hellhörig werden. Diesmal hatte sie ihren Angstreflex besser unter Kontrolle, sodass sie sich auf die Richtung konzentrieren konnte, aus der es gekommen war. Nie und nimmer war das ein Tier.
Ein Kunai im Anschlag, schmiegte sie sich an einen breiten Baumstamm, der ihr ausreichend Deckung gab; gerade noch rechtzeitig, um vor den Blicken zweier Männer geschützt zu sein, die aus dem östlichen Dickicht stolperten.
"War es hier?", fragte der eine leise. Anko musste einen Teil ihrer Deckung aufgeben, um ihn von ihrem Versteck aus hören zu können. Die Männer—eindeutig Ninjas—waren glücklicherweise viel zu sehr damit beschäftigt, im Schutz der Nacht nach etwas Ausschau zu halten. Zwei gegen eine, das war den Häschern gegenüber nicht unbedingt fair. Sie hatten es mit einer Tokubetsu Jōnin zu tun.
Nicht übermütig werden, Anko, mahnte sie sich selbst zur Vorsicht. Ihre Finger schlossen schmerzvoll fest um den Griff ihres Dolches. Fester, als nötig, um ihn sicher zu halten. Sie war nur eine Kunoichi. Nur eine. Sie waren zu zweit. Sie war es zwar gewohnt, auf ihren Missionen alleine zu kämpfen, doch das bedeutete trotz allem den gegnerischen Mengenvorteil.
"Ich kenne diese Lichtung. Irgendwo in dieser Umgebung müsste es sein", versprach der andere. Sie steckten mit Fingerzeig auf einzelne Markierungspunkte einen Suchradius ab, in dem sie sich aufteilten. Deckungslos.
Anko sah ihre Chance. Diese Ninjas trugen Hitai-ate mit ihr gut bekannten Symbolen. Noch einmal würde sie nicht kuschen.
Den Griff um ihren Kunai festigend, trat sie aus dem sicheren Versteck. Lautlos wie eine Katze schlich sie an den Rand der kleinen Lichtung, an deren gegenüberliegenden Grenze die beiden Otonin in gebückter Haltung wahllos das Gebüsch durchforsteten.
"Was sucht ihr?", blaffte sie die beiden an, ihr gesamtes unterdrücktes Chakra als Warnung in einer einzigen großen Welle über die Lichtung ausschüttend. "Redet!"
Die beiden Männer fuhren auf, zwei Shuriken und ein Katana umklammert, und festigten ihren Stand. Sie wollten also die harte Tour. Das konnten sie haben.
Anko machte einen kleinen Schritt zur Seite, um den herannahenden Wurfsternen auszuweichen. Sein Ziel war beeindruckend, das musste sie dem größeren der beiden neidlos zugestehen. Doch mehr als Chūnin konnten die beiden angesichts ihrer vergleichsweise niedrigen Chakraniveaus nicht sein. Fußvolk. Orochimarus Abschaum.
Der kalte Schauer von vorhin pflanzte sich beim Wiederhall dieses Namens ihren gesamten Rücken entlang hinab fort. Nur mit Mühe konnte sie ein verräterisches Schaudern unterdrücken. Schwäche zu zeigen war der erste Schritt zur Niederlage. Doch sie hatte gezögert. Ihre Zurückhaltung hatte der kleinere Otonin mit dem Katana zu seinem Vorteil genutzt. Mit der Klinge voran, preschte er auf sie zu; lautlos. Das bedeutete, er wusste oder vermutete Verbündete ihrer Seite in der Nähe. Anko hatte Mühe damit, den Schwerthieb angemessen zu parieren. Die Fläche ihres Kunais war zu klein, um genügend Halt zu bieten. Indem der Otonin seine Balance verlagerte, schlitterte sein scharfes Schwert ihren Dolch entlang, bis es freie Bahn hatte.
Anko spürte heißes Blut ihre Wange hinabfließen. Geschockt von dem Treffer, taumelte sie zurück. Was war los mit ihr? Wieso waren ihre Gliedmaßen so schwer? Ihr Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen! Der zweite Otonin setzte seinem Partner mit drei neuen Wurfsternen nach. In gekonnter Präzision schossen sie auf ihr Ziel zu. Wenn sie sich nicht gleich unter den Geschossen hinweg ducken konnte—
Ein Klirren ertönte und die Shuriken fielen wie tote Fliegen zu Boden. Neben ihr spürte sie plötzlich eine bekannte Chakrapräsenz, deren Besitzer sie ruppig zur Seite zog, um sie vor einem neuen Angriff zu retten.
"Verdammt, Anko, was ist los mit dir? Komm zu dir, Mädchen!"
Das rüttelte sie wach. Mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen schlug sie auf den Baumstamm neben ihr ein, sodass ein Teil der Rinde bröckelte. "Nenn mich nicht Mädchen!", brüllte sie aufgrund Gais anmaßendem Kosenamen. Mit einer flüssigen Bewegung warf sie zwei Kunai auf die beiden Otonin. "Was tust du überhaupt hier? Weißt du nicht, wo Osten ist?"
"Ich bin kein Kompass!", verteidigte Gai sich. Seine buschigen Augenbrauen tanzten fröhlich über seinen leuchtenden Augen. Er war nicht der Typ, der einen guten Kampf verschmähte. "Lass uns siegen, mit der Kraft der Ju—"
Anko kniff seine Lippen im Sprechen zusammen, sodass der letzte Teil des Satzes in nasalem Lispeln unterging. "Sprich das zu Ende und ich trete dir in den Arsch, Augenbraue!" Gai nuschelte etwas, das wie Einverständnis klang und sie ließ ihn los. Die Otonin hatten sich während ihrer Szene aus dem Staub gemacht. "Klasse gemacht, sie sind weg!"
"Wir finden sie mit der Aufrichtigkeit einer jungen Wildbl—"
"Halt einfach deine Klappe!" Sie rammte ihm als stumme Warnung den Ellenbogen in den Bauch und nahm die Verfolgung auf, Gai direkt hinter ihr. Vorhin hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, alleine gegen zwei zu kämpfen. Wie viel lieber wäre ihr das gewesen, als an der Seite eines nicht erwachsen werden wollenden Shinobi durch das Dickicht zu hetzen. Die Spur der Shinobi war jedenfalls nicht schwer zu verfolgen. Von perfekter Chakraunterdrückung waren sie weit entfernt.
"Da vorne sind sie!", schrie Gai, jede Chance auf einen Überraschungsmoment verprassend. Er beschleunigte sein Tempo auf eine Geschwindigkeit, der Anko nicht nachkam. Ärgerlich auf seinen Rücken starrend, versuchte sie, nicht zu weit zurückzufallen. Sie hatte niemanden gesehen, doch Gais Gespür für menschliche Signaturen war nahezu untrüglich.
Als sie aufgeholt hatte, prallte sie beinahe gegen Gais breiten Rücken. Er war auf einer zweiten Lichtung nahe dem Ende des Trainingsgeländes hinter einer dichten Böschung zum Stehen gekommen. Die beiden Otonin lagen regungslos in der Mitte der Schwende, die von zwei umgefallenen Baumstämmen an ihrer Westseite begrenzt wurde.
"Was ist—" Ihre Stimme versagte. Dort, nur drei dutzend Meter von ihr entfernt, höhnisch auf dem toten Stamm thronend, blickte Orochimaru auf sie herab. Seine lange Zunge leckte über seine Lippen und alles, was sie rund herum dazu erwischen konnte.
"Anko. Ch-a-n~", hauchte er. Es war so leise, so bedrohlich. Als er ihren Namen sprach, gaben ihre Knie nach und sie fiel vornüber zu Boden. Nur mit Mühe konnte sie sich auf ihre Handfläche stützen. Ihr vor Schreck starrer Blick wanderte zu dem Schlangenmenschen. Er war nicht das einzige, das ihr Angst machte. Neben ihm standen an die zwanzig Otonin.
"Zu viele", wisperte sie.
"Reiß dich zusammen, Anko", zischte Gai. Er versuchte sie auf zu zerren, doch ihre Beine fühlten sich lasch an wie zu weich gekochte Teigwaren. Auf grauenhafte Art zerkochte Teigwaren. Er hatte vor einer Woche damit angefangen, sie in heißes Wasser zu tauchen. Jetzt waren sie gar. Diese Schutzlosigkeit trieb die blanke Panik in ihr hoch. Gai konnte nicht gegen alle gewinnen.
"Or—Oro…" Sie versuchte seinen Namen zu sagen, um ihm die Surrealität zu nehmen. Sie brachte es nicht über sich. Er hatte sie missbraucht, geschändet, betrogen und am Schluss für seine niederträchtigen Zwecke manipuliert. Und vor wenigen Tagen hätte er sie fast getötet. Der Hokage hatte ihr angeboten, sie für einige Wochen aus dem aktiven Dienst abzuziehen, um ihr Zeit zu geben, sich zu fangen. Sie hatte abgelehnt. Aus Stolz, der ihr heute zum Verhängnis werden konnte.
"Verschwindet aus diesem Wald!", rief Gai. Seine tiefe Stimme hallte drohend über den Kahlschlag hinweg, der bei der Chūnin-Auswahlprüfung vor acht Jahren während eines berauschenden Kampfes zwischen Uchiha Itachi und seinem Gegner zustande gekommen war. Das Totholz, das damals entstanden war, lag heute noch da.
Niemand wird deine Leiche beseitigen. Wie das Totholz.
Anko erschrak, als sie seichte Stimme in ihrem Inneren verheißungsvoll säuselte. Es war nicht ihre, es konnte nicht ihre sein! Egal wie sehr sie gelitten hatte, wie sehr sie in die Enge getrieben worden war, Sterben war niemals eine Alternative gewesen. Sie durfte es jetzt nicht werden. Wo war ihre Stärke, die sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war? Das Mal in ihrem Nacken begann schmerzhaft zu brennen, sodass sie ein Stück weiter in sich zusammen sank und gequält aufkeuchte.
Ein Kampfschrei riss sie in eine Realität zurück, in der Gai vorangejagt war. Mit schutzloser Direktheit gegen seine Feinde. Anko musste ihm helfen! Sie musste ihm beistehen, irgendwie! Es waren zu viele Otonin für einen Jōnin! Ihre schiere Überzahl stürmte ihm entgegen, nur Orochimaru blieb seelenruhig auf seinem hölzernen Thron stehen und starrte sie mordlüstern an. Seine weit aufgerissenen gelben Augen verursachten einen noch nie dagewesenen Horror in ihrem Inneren.
Die kämpfenden Fronten vermischten sich zu einem schmähenden Bild grotesker Verzerrung. Sie sah durch das blutige Chaos hindurch, in dem Gai um sein Leben kämpfte, direkt auf Orochimaru, dessen Blick fest mit dem ihren verkeilt war. Als hätte er sie hypnotisiert. Sie konnte nicht wegsehen. Nur am Rande bekam sie ein buntes Leuchten am Nachthimmel mit, das sie nicht einordnen konnte. Dann machte der Sannin den ersten Schritt auf sie zu.
Entsetzen kroch ihren Hals hinauf und unterdrückte jedes Wort, das sie ihm sagen wollte. Sie wollte schreien, dass er sie nicht töten würde; dass sie stark war; kein Laut entwich ihrer Kehle. Nicht ein Ton, außer schmerzhaftes Zähneklappern. Er hatte sie. Nur noch ein paar Meter trennten sie vom sicheren Tod, der in stoischem Genuss unberührt durch die Reihen seiner Shinobi ging, als wäre er ein Geist. Sie würde sterben, wie sie geboren worden war.
Einsam. Verlassen. Alleingelassen von der Welt, wisperte die schmeichlerische Stimme. Sie hatte recht. Anko kannte nichts anderes als das Leben der Separation. Egal wie sehr sie sich auch angestrengt hatte, Mitarashi Anko war anders. Gebrandmarkt für ihr Leben, angeprangert als vormalige Schülerin eines abtrünnigen Geistesgestörten. Vielleicht war es besser, einsam zu sterben. Niemand würde sie vermissen. Sie wären nur erleichtert.
Wieso kämpfst du dagegen an, untröstliche Seele? Lass dich treiben. Sieh dir diesen Mann an, der vor dir kämpft. Er ist wie alle anderen. Wenn er sein Leben retten könnte, indem er das deine opfert, würde er es ohne Zögern tun. Wer würde ihm auch Vorwürfe machen? Wer würde dich vermissen?
Anko spürte heiße Tränen in ihr aufsteigen; die die Barrieren der starren Panik nicht überwinden konnten. Sie steckten irgendwo zwischen Wahrheit und Lug, zwischen Glauben und Wissen. Die Stimme hatte recht…
Orochimaru hatte die letzte Distanz überwunden und blieb aufrecht vor ihr stehen. Mit seiner eiskalten Hand strich er ihr übers Haar, ihre Stirnfransen entlang, ihr Gesicht hinab und stoppte bei ihren Lippen, über die er seinen Daumen gleiten ließ.
"Meine liebe Anko", schmeichelte er in gewohnter Gehässigkeit. Seine Stimme brannte sich bis in die Tiefen ihres Knochenmarks ein. Er sollte endlich zuschlagen, dieser Bastard! Es hinter sich bringen, anstatt eine Show daraus zu machen!
"Tu es!" Es waren die ersten Worte, rau und verzweifelt, die sie in seiner Gegenwart erbrach und sie bettelten damit um Erlösung. Die Tränen drangen aus ihren Augen, die Orochimaru taxierten. Ihr Körper zitterte, ihre Lippen bebten, alles in ihr wehrte sich gegen den unvermeidlichen Tod, der auf sie wartete. Verzweiflung überschlug sich mit Ressentiment, Hass mit Resignation in ihrer Brust, die zu platzen drohte.
Von der Ferne konnte sie Gebrüll hören. Eine vertraute Stimme, die sie rief. Nein, nicht sie. Nur ihren Namen. "Kümmere dich um Anko!", schrie jemand, der sich vertraut anhörte. Plötzlich war jemand an ihrer Seite und presste sie fest gegen seine Brust. Orochimarus Silhouette stand wieder dort, wo sie am Anfang gestanden hatte, weit weg auf dem Baumstamm hinter dem Kampffeld.
"Anko!", brüllte jemand. "Anko! Sieh mich an, Anko!"
Sie spürte Druck gegen ihre Schultern und blickte in ein verschwommenes Gesicht, das vor ihr auftauchte. "Nein!", kreischte sie mit brüchiger Stimme. Sie sank in sich zusammen, nur von zwei starken Armen vor dem Schmutz des Waldbodens bewahrt. Dabei war der Schmutz in ihren Gedanken viel schlimmer. "Töte mich! Töte mich endlich!"
"Niemand tötet dich, solange ich da bin!" Das wütende Brüllen schlug gegen die Blase, in der sie sich befand, und verursachte einen Riss. Sie hielt erschrocken inne. Diese Stimme war anders als jenes unterschwelliges Säuseln, das ihr das Gefühl der Einsamkeit eingeimpft hatte.
"Ich will nicht alleine sein", wisperte sie.
"Du bist nicht alleine, Anko, vertrau mir, es wir alles gut. Ich weiß, du willst es nicht hören, aber lass die Reinheit deines Herzens über die Dunkelheit der Welt siegen!" Die tröstenden, wenn auch aberwitzig überkaschierten Worte sprengte die Wand zwischen ihr und der Realität. Ihr erster Blick galt dem Baumstamm. Er war leer. Ihr nächster wanderte zu dem Ninja, der vor ihr kniend ihre Schultern gepackt hatte und sie zwang, ihn anzusehen. Ihren Tränen freien Lauf lassend, warf Anko sich gegen Gai, der seine Arme schützend um sie schloss. Sie fühlte Erleichterung über ihr Herz schwappen, die alle Verzweiflung hinweg schwemmte. Es war ruhig um sie geworden, der Kampf war vorbei. Nicht nur der auf dem Schlachtfeld.
Immer noch weinend, krallte Anko ihre Finger in die Weste des Mannes, der sie hielt. "Wenn du das hier jemandem erzählst", fauchte sie weinend, "bringe ich dich um." Sie schniefte und wischte ihre Tränen am Stoff seiner Weste ab. Gai entließ sie aus seiner engen Umarmung. Er lächelte sie strahlend an. Das würde er ihr sowas von vorhalten. Bis ans Ende ihrer Tage.
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Es dauerte keine Minute, bis Kakashi und Asuma aufgeräumt hatten. Anko bemerkte ihre beiden Teamkameraden erst, als sie direkt neben ihr standen und ihr synchron auf die Beine halfen.
"Wie habt ihr uns gefunden?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, doch sie fühlte sich stark genug, um alleine stehen zu können.
"Gai hat das Notsignal in die Luft geschossen", erklärte Kakashi. "Es dauerte nicht lange, um eure exakte Position zu lokalisieren. Die Otonin, die Gai zuerst erledigt hat, haben eine signifikante Spur hinterlassen."
"Sie haben etwas gesucht."
Asuma zog zeitgleich mit einer neuen Zigarette eine kleine Eprouvette aus seiner Brusttasche. Er schwenkte das Gläschen, um die durchsichtige Flüssigkeit sichtbar zu machen. "Jemand von Orochimarus Gefolgsleuten hat es wohl während der Prüfung hier verloren. Wir wissen noch nicht, was es ist, aber es muss ihm wichtig genug gewesen zu sein, um seine Schergen danach zu schicken."
"Du meinst, um persönlich danach zu suchen", korrigierte Anko. Der Schauer, der ihr dieses Mal über den Rücken lief, war ein Schauer der Erleichterung. Und Verwirrung. Ihre männlichen Kameraden zogen die Stirn kraus.
"Orochimaru war nicht hier, Anko."
Sie sog scharf die kalte Nachtluft ein. "Was…natürlich war er hier. Er stand vor mir! Er hat—"
"Als ich die beiden Späher ausschaltete", mutmaßte Gai, "muss ich eine Falle ausgelöst haben, bestehend aus einer Genjutsu. Kein Sannin war auch nur in der Nähe des Trainingsgeländes, Anko."
"Gen…jutsu?", hauchte sie. Ihre Wangen wurden rot und heiß vor Zorn und Scham. Dieser arrogante Bastard hatte sie reingelegt! Und sie hatte es nicht durchschaut! Verlegen räusperte sie sich. "Wie auch immer, gute Arbeit, Männer. Wir sollten Sandaime-sama Bericht erstatten."
"Hast du nicht etwas vergessen?" Kakashi tätschelte beiläufig Pakkuns Kopf. "Wir konnten den Tausendfüßler noch nicht finden."
Anko biss sich auf die Lippen. Er hatte recht. Die eigentliche Mission war noch nicht erfüllt und da sie oberste Priorität hatte, durfte sie nicht ohne weiteres abgebrochen werden. Sie setzte ein Lächeln auf. "Dann lasst uns an die Arbeit gehen. Das Biest wird sich nicht von alleine zeigen! Aber diesmal", die zwinkerte Gai verschwörerisch zu, "suchen wir zusammen."
Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, ging sie grinsend voran, zielstrebig in eine zufällige Richtung wandernd. Dieser Auftrag war nicht das allerbeste, das ihr hatte passieren können, aber zumindest musste sie ihn nicht alleine ausführen.
Immerhin hatte sie so etwas wie halbwegs akzeptable und nicht peinliche Freunde.
Mehr oder minder.