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Federschwingen

von

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„Alle da?“, wunderte sich Nathan amüsiert, als er mit Kyrie am Treffpunkt erschien – natürlich waren sie wieder die Letzten, immerhin war Nathan dabei. „Letzte Woche gab es ja einen gewaltigen Ansturm.“ Er grinste.

Sie hatten zuvor schon trainiert, da Kyrie ja sowieso nichts zu tun gehabt hätte und auch Nathan sich immer den ganzen Mittwoch frei hielt. Also hatten sie gestern entschieden, dass er sie früh abholen würde, um sich zuvor schon vorbereiten zu können.

Liana sprang auf und umarmte Kyrie. „Kyrie! Du bist in Ordnung“, rief sie erfreut, „Ich bin so froh. Weißt du, wir haben uns jetzt ja schon lange nicht mehr gesehen. Immerhin war ich letzte Woche nicht da.“ Sie ließ sie los. „Ich musste nämlich mit einer Freundin einigen Gerüchten folgen – da dachte ich, dass ihr euch derweil zu viert vergnügen könntet. Unterwegs bin ich dann aber Thierry begegnet, der genau an dem Mittwoch seine Trainingseinheit nicht ausfallen lassen konnte, weil nämlich Gula beim Siegerteam war und ihnen Tipps und Tricks gegeben hat und sogar mit spielen hat lassen.“ Sie wirkte hellauf begeistert und gestikulierte wild hin und her. Das Glitzern in ihren Augen schien ihre Atmung zu ersetzen – viel Luft konnte sie nicht holen, so schnell und durchgehend wie sie sprach! „Aber Gula hat auch uns sehr gut in den Kram gepasst – also haben wir ihn bis nach dem Spiel abgepasst, um ihm Fragen zu stellen. Er hat allerdings geblockt, weshalb wir die ganze Zeit eigentlich verschwendet hatten und unsere Suche dann ein erfolgloses Ende genommen hat - am Freitag! Manchmal vergeht die Zeit einfach zu schnell.“ Sie lachte.

Kyrie zwang sich dazu, ebenfalls zu lachen – aber mehr aus Verzweiflung. Es fiel ihr schwer, die Informationen in eine Ordnung zu bringen, da so viel und so schnell auf einmal auf sie eingeredet wurde. Aber Nathan wirkte zum Glück in etwa genauso verwirrt.

„Damit ist die Geschichte aber noch nicht vorbei“, nahm sie den Faden gerade wieder auf, als Kyrie zu einer Antwort ansetzen wollte, „Immerhin habe ich auch noch Deliora getroffen, die mir dann gesagt hat, dass es schon Freitag war, weil ich sie gefragt habe, weshalb sie noch nicht beim Mittwochstreffen sei, woraufhin sie gesagt hat, dass sie da keine Zeit gehabt habe, weil eine riesige Bestellung neuer Werke eingegangen war – zufälligerweise über das Thema, zu dem ich recherchiert habe! Nämlich zum sagenumwobenen Verschwinden Luxurias!“

Und plötzlich richteten sich alle Blicke auf sie.

Nein, nicht auf sie … auf Nathan.

Also schaute Kyrie auch einfach zu ihm. Und er wirkte unangenehm berührt.

„Deliora“, sagte er, als der Engel ihn ebenfalls belastend anschaute, „Du kennst das doch – das Ding mit der Geheimhaltung und …“

„Was könnte es sein, das uns das Recht nimmt, in Erfahrung zu bringen, was vor sich geht?“, fuhr Liana ihn böse an, „Wir wollen in einer geschützten Umgebung leben – solange ihr Todsünden das hinbekommt, kümmern wir uns nicht darum. Was also beunruhigt euch so, dass ihr euch nicht öffentlich zu ihrem Verschwinden äußert? Acedia verschwindet doch auch immer wieder für lange Zeit – was macht Luxurias Verschwinden so geheimnisvoll?“, wollte sie wissen, „Oder Superbia! In seinen tausend Jahren Amtszeit war er zweihundert Jahre lang verschwunden!“

„Achthundert Jahre Amtszeit“, verbesserte Deliora sie, „Aber die zweihundert stimmen.“ Alle wirkten vorwurfsvoll.

Kyrie verstand es aber einfach nicht.

„Gula hat auch ziemlich nervös gewirkt, als er mit uns gesprochen hat“, erklärte Thierry, „So als würde er sich verfolgt fühlen!“, fügte er noch bekräftigend hinzu. Plötzlich senkte er allerdings die Tonlage und wirkte ungemein – und ungewohnt – besorgt: „Sag – geht im Himmel ein Abtrünniger um?“

Erstickte Laute drangen von Liana und Deliora her, als hätten sie wirklich einen riesigen Schock erlitten, als hätte er etwas angesprochen, das sie nie erwartet hätten.

Kyrie hatte bloß ein ungutes Gefühl im Magen. Die Atmosphäre war so ungewohnt ernst, dass sie sich beinahe schon deshalb sorgte … Und die Bezeichnung „Abtrünniger“ verbesserte das Gesamtbild keineswegs …

Sie blickte zu Joshua. Wie immer konnte sie keinerlei Emotion aus seinem Gesicht ablesen. Absolute Kühle umgab ihn. Er musste sehr gut gelernt haben, seine Gefühle hinter dieser Maske zu verstecken … Sie fragte sich, was ihn dazu gezwungen hatte …

Plötzlich erwiderte er ihren Blick. Gefühllos.

Sie wunderte sich, weshalb er letzten Mittwoch nicht da war – doch wandte sie sich wieder dem Geschehen neben sich zu. Joshua ließ doch nie eine Gelegenheit aus, bei Nathan zu sein … Und Nathan hatte es sich auch gar nicht so richtig anmerken lassen, ob es ihn betrübte oder nicht – er hatte einfach … trainiert …

Sie kannte ihren Lehrmeister wirklich schlecht … Es hätte nie etwas zwischen ihnen funktionieren können, wenn sie so uneinfühlsam war – und die ganze Hintergrundinformation, die ihr zu seiner Geschichte gefehlt hätte … die ihr teilweise immer noch fehlte … Nein, sie waren nur für die Beziehung Lehrer-Schüler bestimmt – alles andere wäre eine Farce.

Nathan ließ sich mit der Antwort reichlich Zeit. Sein Mund zuckte hin und her, als wolle er antworten – aber als bekäme er kein einziges Wort heraus. Diese Verschwiegenheitspflicht schien ihn richtig zu quälen.

Doch dann ertönte seine Stimme: „Wir … wissen es selbst nicht …“ Plötzlich stockte er. „Wir“, wiederholte er abfällig, beinahe amüsiert, „Ich meine – die Todsünden.“ Er schaute durch die Runde. Sorge sprach aus seinem Blick. „Luxuria ist nicht wie Acedia oder Superbia, sie ist mehr wie Gula – zuverlässig, pünktlich, fleißig und immer bestrebt, Probleme zu lösen.“ Sein Blick blieb in Deliora hängen. „Wie sie etwa.“ Er nickte in ihre Richtung. „Letzten Mittwoch bist du nicht aufgetaucht – wir haben uns keine Sorgen gemacht, weil jeder einmal ausfallen kann. Vielleicht auch zweimal.“ Er zuckte mit den Schultern. „Bei Engeln wie dir ist drei vermutlich die Grenze.“ Danach wandte er sich zu Kyrie. „Oder als du nicht da warst – wir waren uns ziemlich sicher, dass es etwas Wichtiges hat sein müssen, das dich abhält – du bist zu pflichtbewusst, um einfach so fernzubleiben.“ Ein kurzes Grinsen schlich auf seine Lippen. „Liana, Thi und ich sind da wieder eine ganz andere Partie. Wenn einer von uns sich – unter normalen Umständen -…“ Er wandte sich mit diesem Einwurf wohl betont an Kyries Situation, weshalb sie sich unbehaglich fühlte … Nur wegen ihr war er so pflichtbewusst … Aber … war das nicht eigentlich etwas, was jeder Assistent sein sollte? Eine perfekte Unterstützung für den Vorgesetzten?

„… für zwei, drei Monate – oder gar Jahre – nicht mehr blicken lassen würde, so würde das in der Umgebung keinerlei Aufsehen erregen. Es wäre normal“, beendete er diesen Gedanken.

Deliora nickte zustimmend.

„Luxuria ist aber in all ihren vierhundert-weiß-ich-was Jahren noch nie zu spät gekommen. Immer pünktlich“, erklärte er, „Und plötzlich fehlt sie. Tage. Wochen. Mittlerweile zwei Monate. Ohne Spur, ohne Nachricht – ohne ersichtlichen Grund.“ Er verschränkte die Arme. „Besorgniserregend bei ihr, was bei Acedia einfach Normalzustand wäre“, fügte er hinzu – und dann stockte er wieder. Er kämpfte sichtlich damit, ihnen weitere Informationen zukommen zu lassen. Letztendlich seufzte er. „Gut … Es gibt unter den Todsünden zwei Parteien – diejenigen, die daran festhalten, dass Luxuria sich einfach eine Auszeit nimmt und zurückkehren wird – und die anderen, die an ein Verbrechen glauben. Vielleicht wirklich an einen Abtrünnigen. Vielleicht ein Racheengel.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung.“

Liana stieß geschockt die Luft aus. Thierry verschränkte die Arme merklich erschaudernd. Deliora trat einen Schritt zurück und starrte geschockt zu Nathan. Sogar Joshua runzelte die Stirn. Also wusste auch er nichts davon …

Kyrie verschränkte einfach weiterhin die Arme. Es klang … schlimm … Was konnte denn stark genug sein, um eine Todsünde zu entführen? Abtrünniger Racheengel klang ja nicht gerade wie der freundliche Nachbar …

„Also tun sie nichts dagegen“, schlussfolgere Deliora langsam, „Weil es keine Mehrheit gibt. Drei-Drei.“

Nathan nickte. „Richtig kombiniert. Darum hört ihr auch nichts davon – sie haben keine Ahnung, was für Schritte sie setzen sollen. Luxuria hatte noch keinen Assistenten, weil sie ja noch mindestens vierhundert Jahre Amtszeit vor sich hätte. Niemand hätte mit einem Verschwinden gerechnet.“

Alle Engel schauten betroffen drein. Sie schienen die komplette Tragweite zu verstehen.

„Luxuria …“, murmelte Kyrie ohne groß darüber nachzudenken, „… es waren Sieben Todsünden, als sie mich geholt haben …“

Nathan sah zu ihr. Er nickte. „Ja, sie ist kurz nach deinem Aufstieg zum Halbengel verschwunden … Die wunderschöne Frau mit dem langen blonden Haar, falls du dich erinnerst.“ Er brach kurz ab. „Das war auch das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“

„Ich habe bis auf Gula keine Todsünde mehr gesehen, seit … keine Ahnung … Ja, seit der Einsetzung von Gula.“, fügte Thierry hinzu, „Wenn man keine Probleme macht, dann sieht man die Todsünden auch nicht. Die unteren Ränge treffe ich viel häufiger – wenn jemand mal wieder behauptet, man hätte ihn unfair getreten oder so.“

Liana nickte. „Gula jetzt diese beiden Male, dann bin ich Invidia vor ein paar Jahren einmal begegnet und dazwischen Superbia. Luxuria schon nicht mehr, seit sie ein Assistent geworden ist.“ Sie lachte. „Diese kecke Blondine, mit ihrer rothaarigen Freundin!“

„Du kanntest Acedia noch vor der Einsetzung zur Todsünde?“, wunderte sich Nathan. Er wirkte ehrlich überrascht.

Sie blinzelte ihn verwirrt an. „Das habe ich dir bestimmt schon einmal erzählt. Spätestens, als du zum Assistent geworden bist.“ Ihre Stimme flachte ab. „Aber da hattest du ja andere Sorgen.“

Er nickte. „Gut zu wissen … Heißt das … du … Diese Untersuchung!“ Er wirkte beinahe schockiert. „Du suchst nach Luxuria?“

Sie stemmte die Arme in die Hüfte. „Und ob! Wenn Eure Obrigkeit dazu nicht in der Lage ist, dann tut es das Bodenpersonal!“

„Wart ihr … Freunde?“, wollte Nathan wissen. Er wirkte angespannt.

„Na ja, nicht wirklich – mehr gute Bekannte“, schwächte sie ab, „Ich bin zu jung, um wirklich ihre Freundin gewesen sein zu können – aber sie und Acedia haben mich durch den Zyklus gebracht.“ Sie lachte. „Die beiden waren wie Schwestern – unzertrennlich! Bis … auf diese eine Uneinigkeit, aber …“ Sie winkte ab. „Das sollte man ruhen lassen.“

„Was?“, fragte Nathan aufgeregt nach. Er trat auf Liana zu. „Bitte, sag es mir – sag mir was …“

Sie hielt ihn mit ihren Händen auf Abstand. „Stopp. Das ist Privatangelegenheit.“

„Wie alt ist Liana eigentlich?“, flüsterte Kyrie Deliora zu.

Diese zuckte mit den Schultern. „Frag das nicht zu laut. Man fragt Damen nicht nach dem Alter.“

„Kanntest du die alten Todsünden auch noch?“, wollte Kyrie interessiert wissen.

Deliora lachte. Dann antwortete sie laut: „Nathan, du hast die Erklärungen wirklich nur unzureichend durchfließen lassen! Ihr mangelt es an akuter Allgemeinbildung.“ Sie zwinkerte Kyrie zu. „Es gibt keine vorherigen Todsünden. Es gibt bloß die Todsünden.“

Kyrie blinzelte verwirrt. „Was?“

„Die Todsünden gehen nahtlos ineinander über – der Geist der Todsünden bleibt erhalten. Sie legen ihre Namen für immer ab und werden zur Todsünde. Und darum gibt es kein Vorher und Nachher.“ Deliora wirkte amüsiert – vermutlich durch ihr Unverständnis.

Nathan mischte sich ein: „Verschon sie mit dieser Theorie, die habe ich mit Absicht ausgelassen – sie ist unverständlich, wenn man nicht damit aufwächst. Man merkt, dass du noch nie auf der Erde warst.“

Deliora verzog beleidigt ihr Gesicht, sagte aber nichts.

„Entschuldigt mich bitte, ich muss Liana kurz entführen“, fügte Nathan dann hinzu – und verschwand mit dem Engel in eine Richtung.

Kyrie schaute ihm nach. Und plötzlich kehrte die Kälte zurück, die immer kam, nachdem Nathan ging. Diese Einsamkeit … Diese … Angst.

Sie schaute sich panisch um. Würden Thi, Deliora und Joshua reichen, um sie zu beschützen? Würden sie sie beschützen? Sie waren nicht dazu verpflichtet, also … Aber … Sie waren doch Freunde, oder? … Nein! Das war falsch … Sie … Sie musste für sich selbst sorgen können! Aber … das konnte sie nicht.

„Er hat recht“, mischte Thi plötzlich wieder mit, „Kyrie, ich will zu dir nach Hause!“

Sie schaute ihn schockiert an, weil er sie aus der Gedankenwelt gerissen hatte, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Was?“

„Du hast doch gesagt, dass wir einmal mit dir auf die Erde können, oder?“, fragte er – unsicher? – nach.

Sie ordnete schnell ihre Gedanken. Dann erkannte sie die Botschaft dahinter – und plötzlich war die Kälte durch Wärme ersetzt. Sie starrte ihn erfreut an. „Ja – ja natürlich! Wann?“

„Ich will da auch mit“, sagte Deliora dann sofort, „Aber … heute ist schlecht und nächster Mittwoch genauso.“

„Übernächste Woche habe ich einen Wochentrainingskurs im Fechten“, erklärte Thierry dann, „Da kann ich auch nicht.“

„Wie wäre der letzte Mittwoch in den Ferien?“, schlug Kyrie vor.

Sie traf auf Unverständnis.

Bei diesen verständnislosen Gesichtern begann sie kurz zu lachen – es sah einfach zu komisch aus! Aber … Sie räusperte sich, um sich wieder zu fangen. „In drei Wochen. Also in drei Mittwochen?“

Thi und Deliora stimmten erfreut zu – Joshua nickte.

Also kam Joshua auch mit! Das hörte sich ja toll an.

Diese Engel. Bei ihr zuhause. … Hoffentlich würde das gut gehen.
 

„Bitte, ich muss wissen, was damals vorgefallen ist“, drängte Nathan auf Liana ein. Sie standen abseits der anderen – soweit, dass er sie kaum mehr sehen konnte. Er wusste, dass er Kyrie eigentlich nicht alleine lassen sollte, aber … Er vertraute seinen Freunden soweit, dass sie für diese kurze Zeit auf sie achten konnten.

Sie stellte sich stur vor ihn, schüttelte abweisend den Kopf und verschränkte felsenfest die Arme. „Nein. Nein. Nein.“ Sie sah ihn tadelnd an. „Staatsgeheimnis.“

„Aber …“, begann er mit seiner Entgegnung, doch sie entwaffnete ihn sofort mit einer Erläuterung ihrer Aussage.

„Luxuria hat mich damals gebeten, nicht darüber zu reden – und so werde ich das auch beibehalten“, gab Liana zurück.

„Ich hätte euch gar nichts von der Sachlage erzählen sollen“, keifte er sie an.

„Ich helfe dir jetzt ja“, blaffte sie zurück.

„Ich muss aber alles wissen, um es Acedia zu erzählen!“, bellte er beinahe wütend.

„Sie weiß es doch schon längst!“, schrie sie ihn an.

„Dann soll sie es mir sagen!“, zischte er erbost.

„Dann rede doch mit ihr und hör auf, mich anzuschreien!“, fuhr sie ihn an.

Plötzlich starrten sich beide mit hochrotem Gesicht an. Und im selben Moment ertönte ein Lachen aus beiden Mündern. Und sie lachten. Lachten, was das Zeug hielt.

Als sie sich beruhigten, ergriff Liana wieder das Wort: „Also – das ganze hängt mit Acedia zusammen. Du weißt doch, dass Luxuria, Acedia und Ira in etwa gleich alt sind, oder? Sie haben zusammen den Zyklus verbracht.“

Nathan nickte. „Ja, das ist mir bekannt“, meinte er, „Und weiter?“

„Man fragte sich, weshalb drei so starke Engel in so kurzer Zeitspanne geboren worden sind, aber es hat nie eine Antwort darauf gegeben. In diesem Jahrgang gab es sowieso ziemlich starke, aber sie waren die stärksten. Es war also absehbar, dass einer von ihnen zum Assistenten werden würde“, begann Liana ihre Erklärung.

Nathan kombinierte: „Also ist ein Machtkampf zwischen ihnen ausgebrochen und … Nein, das ist blöd.“

„Sei still und hör mir zu“, befahl sie ihm, ehe sie ruhig erklärte: „Sie sind Freunde geworden und haben als Dreiergespann alles durchgezogen, was Freunde eben so taten – bis an den Tag, an dem wirklich eine Todsünde gekommen war, um eine von ihnen zu erwählen.“

„Und dann?“, hakte Nathan nach, als es so wirkte, als wolle Liana an der Stelle aufhören.

„Na ja – wie Freundschaften eben so waren. Acedia ging, um Assistent zu werden und vernachlässigte ihre Freunde total.“ Der vorwurfsvolle Ton war nicht zu überhören. „Und irgendwann unternahmen sie nichts mehr gemeinsam. Dann sind die anderen beiden ebenfalls nacheinander berufen worden – und die Freundschaft war zerbrochen. Ob sie jetzt als Todsünden wieder Freunde wurden, weiß ich aber nicht. Sie haben auch alle den Kontakt zu mir abgebrochen.“ Liana wirkte betrübt.

Ihm war nie klar gewesen, dass Liana mit anderen Assistenten ebenso befreundet gewesen war … Dass sie diese Trennung bereits durchlebt hatte … dass …

„Es … tut mir leid …“, murmelte er, „Ich … will dich nicht noch einmal so verletzt sehen …“

Sie schaute ihn kalkulierend an.

„Ich hoffe, dass wir auch Freunde bleiben können, wenn ich – falls ich – einmal zur Todsünde werde.“

Sie lächelte. „Danke, Nathan – deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel.“

Er legte seinen Arm um sie und drückte sie fest. „Ich wusste nicht, dass …“

„Schon in Ordnung“, meinte sie leise, „Ich weiß doch, was du für andere Probleme durchzustehen hast … Aber wisse, dass wir deine Freunde sind und dir immer helfen werden – egal wie hoch oben die Probleme gelagert sind. Gemeinsam erklimmen wir sie.“

„Danke.“ Er lächelte fröhlich.
 

„Kennst du eigentlich andere Engel, die auf der Erde leben?“, wollte Kyrie von Liana wissen.

Sie schaute sie verständnislos an. „Na ja, ich kenne einige der Dauersitzer, wie zum Beispiel Chimära und Samuel oder Raphion, Myrrhe und Kin“, antwortete sie unsicher, „Meintest du das?“

Jetzt blinzelte sie perplex.

„Chimära und Samuel waren meine Eltern“, flüsterte Nathan ihr ins Ohr, „Weißt du noch?“

Plötzlich verstand sie. „Ah!“, machte sie, „Ja, natürlich – aber … andere Engel, die einfach zum Spaß und ohne Rang und Aufgabe die Erde besuchen“, erläuterte sie ihre Frage.

Liana lachte kurz auf. „Sie sind selten, aber natürlich kenne ich sie.“ Dann lächelte sie spitzbübisch, „Wieso? Hast du einen hübschen Engel gefunden?“

Sie nickte. „Ja, ich denke, dass der Sänger einer Band ein Engel sein könnte.“

Liana stockte kurz, „Ja, das ist gut möglich …“ Dann lachte sie triumphierend auf. „Wenn wir auf der Erde sind, dann zeigst du ihn mir einfach, dann kann ich es dir genau sagen!“

Kyrie lächelte. „Ja, natürlich, das mache ich!“

„Also in drei Mittwochen“, murmelte Nathan vor sich hin. Dann wandte er sich Kyrie zu, während er ein Stück Licht aß. Sie saßen wie immer im Café und tratschten. „Wann besuchen wir eigentlich Mirabelle?“

„Wann kannst du mir trainingsfrei geben?“, stellte Kyrie die Gegenfrage.

„Apropos!“, rief Nathan plötzlich aus, „Thierry, Liana, Deliora und Joshua!“ Er schaute alle vier bedeutungsvoll an. „Rückt kurz zu mir.“ Alle vier taten wie geheißen.

Kyrie beobachtete sie dabei. Als die vier so zusammentraten und tuschelten fühlte sie sich beinahe ausgeschlossen. … Worüber sie wohl sprachen? Vielleicht über ihr Training. Hatte Nathan ihnen ihr Ziel noch nicht gesagt? Oder stellte er ihr jetzt Hindernisse? Oder ging es um etwas ganz anderes?

Gedankenversunken aß sie ein Stück Licht.

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Schockiert fuhr sie herum – und starrte bloß in Nathans zu strenges Gesicht.

„Jetzt hast du mich erschreckt“, murmelte sie.

„Trainingseinheit beginnt jetzt“, erklärte er – und plötzlich regnete es Schwerter.
 

Nathan beobachtete Kyrie dabei, wie sie den Attacken auswich. Seine Freunde taten es, wie geheißen – sie attackierten manchmal gleichzeitig, dann wieder einzeln. Ihr Ziel war es, Kyrie nicht zu verletzen, da ihnen das ansonsten Probleme eingebracht hätte – und Kyries Ziel war es, nicht verletzt zu werden, zu blocken und selbst anzugreifen.

Bei Kyries Selbstbewusstsein war es nicht verwunderlich, dass sie in diesem Kampf ihr Bestes gab. Sie rechnete damit, dass Liana, Deliora und Joshua ihre Lebenszeit mit Training verbracht hatten – sie konnte nicht wissen, dass Deliora sich von Anfang an auf Erschaffen und Auflösen konzentriert hatte, sodass ihre Schwertkampffähigkeiten auf Anfängerniveau ruhten. Sie konnte nicht wissen, dass Liana dem Schwertkampf beinahe zur selben Zeit wie Nathan den Rücken gekehrt hatte – und dass Joshua bereits im Zyklus bewiesen hatte, dass er kein Talent zum Führen eines Schwertes besaß.

Darum hatte er Joshua als Kyries Ziel ausgewählt – sie würde denken, dass sich in ihm ein versteckter Meister verbarg, sodass sie ihr Ziel nie erreichte. Irgendwie wirkte es auf ihn so, als hätte Kyrie in ihrem Lehrmeister ein Feindbild entdeckt – als wollte er sie ewig bloß trainieren lassen.

Nachdem er nicht wusste, wie gut Xenons Leute waren, konnte er auch schlecht beurteilen, wann ihr Training zu Ende war – doch wenn sie Joshua besiegte, dann würde das zumindest ihr Selbstvertrauen stärken. Vor allem, wenn sie dachte, dass er ein großer Gegner wäre.

Heute würde dieser Tag sein.

Er hatte Liana und Deliora aufgetragen, auf sie so einzudreschen, wie es ihnen - mit ihrer Unfähigkeit zu kämpfen - möglich war, ohne jemanden zu verletzen. Das war dann die Aufwärmphase, in der sie ihre gerade angesammelte Energie verbrauchte, um das wahre Schlachtfeld zu simulieren.

Sie war noch zu ungeübt, um ihre Kräfte richtig einzuteilen. Nach einiger Zeit würde Thierry hinzukommen. Sie würde den Kräfteunterschied sofort merken und sämtlichen Mut verlieren. Sie würde wohl schlussfolgern, dass er es der Stärke nach richtete – also dass Joshua als der Stärkste von ihnen antreten würde.

Und wenn sie dann kurz vor dem Aufgeben wäre, sobald Joshua den Ring betrat, würde sie durch ihre Sturheit weiterkämpfen und ihn besiegen. Und dann endlich glücklich sein und gerne weiter kämpfen. Hoffentlich würde sie dadurch ihren verfluchten Unmut verlieren.

Er blieb immer in ihrer Nähe, um sie nicht zu beunruhigen, auch wenn das der wahren Situation natürlich nicht entsprach. Joshua und Thierry hielten sich derweil versteckt.

Deliora und Liana hatten es geschafft, sie vom Café wegzulocken – auf eine freie Kampffläche.

Bisher schlug sie sich ganz gut. Mal sehen, wie lange das noch so bleiben würde. … Na ja, ganz gut war vielleicht untertrieben. Sehr gut – aber Deliora und Liana hatten keine Ahnung von Taktik. Und mittlerweile war Kyrie darin geübt, seine Attacken ziemlich gut abzuwehren und gegen seine Nachahm-Attacken entwickelte sie auch langsam eine Strategie.

Eigentlich war er doch ganz stolz auf seine Schülerin. Sehr stolz sogar.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, anlässlich zum dritten Jahr des Online-Seins gibt es (fast) pünktlich ein Kapitel!! :3
Aber heuer ist ein Schaltjahr, also ist der Tagunterschied wohl begründet!!

Wer es nach drei Jahren noch immer liest, dem danke ich hiermit herzlich <3
Und natürlich denjenigen, die sich wirklich durchschlagen, auch!!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen

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