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Ich werde auf dich warten

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Ich werde auf dich warten

„Du hast ja keine Ahnung!“, brüllte Melanie stinksauer.

„Und ob ich Ahnung habe!“, schrie ihre Mutter zurück. Hier flogen gerade ziemlich die Fetzen. „Ich bin ein gutes Stück älter als du, junge Dame! Und ich sage, du fliegst nicht mit auf die Philippinen! Solange du die Füße unter meinem Tisch hast ...“ Weiter kam sie nicht, dann scherbelte die Tür unmissverständlich ins Schloss. Melanie hatte die Wohnung verlassen. Auch die Haustür flog lautstark ins Schloss, dann hörte man sie draußen durch den knirschenden Schnee davonstapfen.
 

Ihr standen Tränen in den Augen, als sie ihren Reißverschluss bis zur Nase hochzog und dann die Hände in die Taschen stopfte. Was bildete ihre Mutter sich bloß ein? Sie war 21 Jahre alt, in diesem Alter durfte sie doch wohl ihr Urlaubsziel schon selber bestimmen, oder? Und die Philippinen waren ja nun echt kein ungewöhnliches Reiseland. Nur weil ihre altmodische Mutter Angst vor Sextourismus hatte. Es war ja nun nicht so, daß sich Melanie dort in den Rotlichtvierteln rumtreiben wollte.

Überhaupt, warum fand ihre Mutter eigentlich prinzipiell immer alles blöd, was sie tat? In letzter Zeit trennten sie sich in regelmäßigen Abständen im riesigen Streit und mit schlagenden Türen. Sie musste sich dringend eine eigene Wohnung suchen und daheim ausziehen, dachte Melanie verbittert.

Gedankenlos und wegen ihrer Wut völlig abgelenkt stapfte sie kopflos über die Straße, ohne nach Autos zu schauen. Erschrocken blieb sie stehen und riss die Augen auf, als riesige Scheinwerfer neben ihr auftauchten ...
 

... dann ...
 

... Schwärze ...
 

Als Melanie wieder zu sich kam, hing sie in der Luft und schaute auf ihren eigenen Körper herunter, der vor einem LKW auf der Straße lag. Von der anderen Seite tauchte gerade mit Tatü-Tata der Krankenwagen auf. Die Türen flogen auf und spuckten mehrere Rettungsassistenten aus, die sich hecktisch auf sie stürzten.

Sie war tot, wurde ihr klar. Aber seltsamerweise berührte sie das nicht ansatzweise so sehr, wie es vielleicht gesollt hätte. Nun, wenn sie tot war, dann war es eben so. Sie fragte sich noch, wer jetzt für ihr Meerschweinchen sorgen würde. Aber eigentlich war das kein wirklich präsentes Problem. Das musste sie ja nun nicht mehr kümmern. Eine Weile sah sie noch zu, wie die Sanitäter ihren Körper aus dem dicken Winteranorak schälten und den Defibrilator anschlossen. Einer drückte ihr eine Beatmungsmaske ins Gesicht und begann, Sauerstoff in ihre Lungen hineinzuzwingen. Der Fahrer des LKW´s saß verstört und völlig fertig etwas abseits auf dem Bordstein, mitten im Schneematsch, und vergrub das Gesicht in den Händen. Aber auch den betrachtete Melanie ohne irgendeine Emotion damit zu verbinden.
 

Melanie wandte sich von der Szene ab und sah sich um. Mit den Augen einer vom Körper losgelösten Seele sah die Welt völlig anders aus. Sie nahm Strahlungen, Schwingungen und Gerüche wahr, die sie vorher noch nie bemerkt hatte. Die Straßenlaternen strahlen in so unglaublich vielen Farbnuancen, fast regenbogenartig. Ein schaulustig herumstehender Passant hatte ein Handy in der Hand, von dem lila Funkwellen deutlich sichtbar wegwogten. Sie roch, daß heute eine Pferdekutsche durch diese Straße gefahren war, schon etwas länger her, wohl in den Morgenstunden. Sie bemerkte die unterschiedlichen Farben, in denen die Auras der Menschen leuchteten. Die Sanitäter umgab ein hecktisches, pulsierendes Orange. Sie waren aufgeregt, sich ihrer Sache aber sicher. Die Aura des LKW-Fahrers zeichnete sich durch ein monotones Weiß aus. Er war kurz davor, in einen Schockzustand zu fallen. Die sich langsam ansammelnden Gaffer zierte ein wildes Gewirr aus intensiven Grün-, Blau- und Türkistönen. Begeisterung und Aufmerksamkeit. Widerlich.

Melanie entdeckte über sich ein helles Tor aus Licht, das sie sofort unglaublich interessant und anziehend fand. Kurzentschlossen schwebte sie auf das Lichtquadrat im Himmel zu und fühlte sich auf halbem Weg regelrecht gezogen. Erschrocken wollte sie anhalten und umkehren, konnte aber nicht. Sie wurde wie von einer unsichtbaren Macht unbarmherzig in das Licht hineingezerrt, immer schneller. Geblendet wandte sie den Blick ab und riss die Hände hoch.
 

Der erwartete Einschlag oder Durchbruch oder was auch immer sie erwartet hatte, blieb aus. Vorsichtig sah sie wieder auf und fand sich auf einer grünen Wiese wieder. Neben ihr zog ein klarer Bach dahin, an seinen Ufern standen mehrere üppige Trauerweiden, deren lange Girlanden bis ins Wasser hingen. Das Gras war saftig und die Luft frühlingssüß. Eine idyllische Landschaft, die völlig menschenunberührt wirkte.

Mitten auf der Wiese stand ein Junge in Jeanshose und halb offenem Hemd. Er hatte die Daumen in die Hosentaschen eingehakt und schaute ihr entgegen, als würde er auf sie warten. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Die Nase ... nein, sein ganzes Gesicht ... und als er sie anlächelte, kam ihr auch dieses Lächeln unglaublich vertraut vor. Klar! Aus dem Badezimmerspiegel. Das war IHR Gesicht! Nur eine Nuance männlicher.
 

„Hallo, Merle.“, meinte er mit sympatischer, warmer Stimme, die ihr direkt ins Herz ging. Und irgendwie wunderte es sie auch nicht, daß er sie beim Namen beziehungsweise sogar Spitznamen nannte. Er schloss sie in die Arme wie ein lange gemisster Freund, und sie erwiderte die Umarmung instinktiv.

„Was machst du für Sachen, Merle? Deine Zeit ist noch nicht abgelaufen.“, erklärte er ruhig und lächelte dann über ihr dummes Gesicht.

„Wer bist du?“, wollte Melanie leise wissen, obwohl sie die Antwort, tief in ihrem Herzen, schon kannte. Sie musste es einfach von ihm bestätigt hören.

„Ich bin Lian. Dein Bruder.“

„Du bist in meinem Alter ...“

„Wir sind Zwillinge, Merle. Wir waren uns schon im Mutterleib so nah verbunden wie jetzt. Ich habe mich schon die ganze Zeit riesig darauf gefreut, dich wiederzusehen. Aber du bist zu früh, hörst du? Du musst zurück!“

„Warum bist du hier, Lian? Warum hast du nicht dein Leben an meiner Seite gelebt?“

Er zuckte kurz ratlos mit den Schultern, um die Zeit bis zur Findung einer logischen Antwort zu überbrücken. „Es war nicht genug Aufgabe für uns beide da. Einer musste gehen. Da habe ich dir den Vortritt gelassen und in Kauf genommen, bei der Geburt zu sterben.“

„Was meinst du mit <genug Aufgabe>? Warum hat Mutter mir nie von dir erzählt?“ Langsam quollen Melanie Tränen in die Augen.

„Ich meine die Lebensaufgabe. Dein Schicksal, deine Bestimmung. Du kannst es nennen, wie du willst. Jeder Mensch hat eine Aufgabe, die er in seinem Leben erfüllen muss. Die Schwierigkeit liegt aber darin, diese Aufgabe erstmal zu finden.“

„Kennst du meine <Aufgabe>?“

„Sicher. Aber die kann ich dir natürlich nicht verraten.“, lachte Lian. Dann wurde er wieder nachdenklich. „Mutter hat dir nie von mir erzählt, weil sie es selber nie richtig verarbeitet hat. Sie ist nie ganz darüber hinweggekommen, mich verloren zu haben. Deshalb überbehütet sie dich auch so, aus Angst, daß dir auch noch was zustoßen könnte. ... Merle, du musst aufhören, immer so viel mit ihr zu streiten, du tust ihr wirklich weh damit. Sie meint es nur lieb, auch wenn es dir manchmal wie Zwang oder Einschränkung vorkommt.“

Melanie senkte den Blick. „Ich weis. ... Aber es fällt mir so schwer, aus ihren Bevormundungen die Liebe herauszuhören. Sie übertreibt es so maßlos.“

„Sicherlich. Du aber auch.“, lächelte Lian.

Sie sah ihm wieder in die Augen. „Ich werde mich bessern, okay?“

„Tu das, Merle. Tu das.“
 

Kurz herrschte Schweigen zwischen den beiden. Schweigen, während sie sich einfach nur anschauten. Melanie nahm mit jedem Augenblick deutlicher die Ähnlichkeit wahr. Er hatte die gleiche Augenfarbe wie sie. Die gleichen frechen Sommersprossen. Wie sie selbst kam er ganz nach ihrem Vater.

Lian strich ihr geradezu liebevoll über die kupferroten Haare. „Du bist schon zu lange hier. Du musst zurück, hörst du?“, beschloss er mit einem warmen Lächeln.

„Aber ich will nicht. Da unten wartet nichts auf mich. Nur Mutter, mit der ich mir ständig die Köpfe einschlage.“ Ein leichter Wasserrand bildete sich in ihren Augen, als würden sie gleich weinen. „Ich will bei dir bleiben, Lian. Je länger ich dich ansehe, desto weniger will ich dich wieder gehen lassen.“

„Wir sehen uns wieder. Ich werde auf dich warten, versprochen.“

Melanie fühlte sich plötzlich mit langsamer aber brachialer Macht weggezogen. „Lian! Nein!“ Panik lies ihre Gedanken kurz unkoordiniert durcheinanderwirbeln. Sie würde ihn verlieren! Sie durfte hier nicht weg! Da war noch zu viel, was sie ihm sagen wollte. Zu viel, was sie noch von ihm wissen wollte!

Der junge Mann hielt ihre Hand solange er konnte, aber letztlich trennte die größer werdende Entfernung ihre Fingerspitzen von seinen. „Vergiss mich nicht.“, hörte sie ihn noch sagen, dann schwanden ihr die Sinne im heller werdenden Licht.
 


 

Dröhnende Kopfschmerzen und eine plötzliche Schwere holten Melanie in die Realität zurück. Und ein leises Weinen und lautstarkes Schnäuzen neben ihrem linken Ohr. Es klang ein wenig wie ihre Mutter. Müde und schwerfällig versuchte sie die Augen aufzublinzeln und den Kopf zu drehen. Erst dabei fiel ihr auf, daß ihr nicht nur der Kopf sondern so ziemlich alles wehtat.

Ein Keuchen. „Merle? Merle! Oh Merle, du bist wieder wach! Du bist wach!“

Ja, das war ihre Mutter. Melanie wollte genervt sagen, daß sie sich wieder einkriegen sollte. Aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie fühlte sich elend.

„Merle, wie geht es dir? Kannst du mich hören? Ich hatte solche Angst um dich!“

„Hm.“, machte sie nur matt und griff sich langsam an die Stirn. Die erwartete Strafpredigt blieb irgendwie aus. Hätte ihre Mutter jetzt nicht fragen sollen, was ihr einfalle, und ob sie nicht beim Überqueren der Straße nach Autos schauen würde, und überhaupt, was sie ihrer armen alten Mutter denn noch alles antun wolle? Nichts dergleichen kam über ihre Lippen. Nur ein Seufzen der Erleichterung.

Melanie öffnete die Augen und sah ihre Mutter an. Unschlüssige Wortlosigkeit schwebte zwischen ihnen. Keine von beiden wusste recht, was sie sagen sollte.

„Es tut mir leid.“, krächzte Melanie schließlich. Ihr Hals war von den Medikamenten furchtbar trocken. „Tut mir leid, daß ich dir immer solche Sorgen mache.“

Ihre Mutter beugte sich mit einem traurigen Lächeln nach vorn und legte ihre Stirn auf die ihrer Tochter. „Es ist paradox. Menschen müssen sich immer erst verlieren, um zu verstehen, wieviel sie einander bedeuten.“

„Ich soll dich von Lian grüßen ...“

Ihrer Mutter blieb der Mund offen stehen. Ihr Kopf ruckte wieder hoch. „Wo ... woher weist du von Lian?“, wollte sie heißer wissen und ihr stiegen schlagartig wieder Tränen in die Augen.



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