Zum Inhalt der Seite

Das rote Tuch

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Noah

Noah Cross.

Der Name von Karim's Freund und man möchte meinen, es wäre nur ein einfacher Name eines 20-jährigen Mannes aus der Gegend. Was in Malik die Alarmlocken hatte aufläuten lassen war nicht der englische Nachname dieses Kerl gewesen – denn in Jerusalem prallten viele, verschiedene Nationen auf engstem Raum aufeinander und nicht alle Engländer oder Franzosen waren Templer – sondern sein Vorname war es, der ihn äußerst skeptisch stimmte.

Malik verengte die braunen Augen angestrengt, als er in einer der schmalen Seitengassen der 'heiligen Stadt' verschwand. Beinah geräuschlos bewegte er sich gerade durch diese, durch finstere Ecken der vielen Häuser, die im Sonnenuntergang lange Schatten warfen, und hielt schlussendlich vor einer langen Leiter, die auf die Dächer Jerusalems hinauf führte. Ein nicht besonders eleganter Aufstieg für einen geschulten Assassinen, doch leider der Einzige, der einem Mann mit nur einem Arm blieb. Leise murrte der 25-Jährige, als er nach der ersten Leitersprosse fasste.

Woher kannte Malik 'Noah' bloß? Woher? Warum war er gestern kaum merkbar zurück gezuckt, als Karim ihm diesen Namen auf neugieriges Nachfragen hin und verlegen unter vier Augen zugewispert hatte?

Noah. Noah.

Der vorsichtige Dai sah, am Hausdach angekommen, verstohlen um sich und nahm im Rücken eines entfernten Wachpostens, der ihn nicht bemerkte, locker Anlauf. Sein schwarzer, langer Mantel flatterte hinter ihm her, als er loseilte und es wirkte so, als würden ihn Sekunden später zwei weite Krähenflügel über die nah beieinander liegenden Dächer der zwielichtigen Stadt tragen. Auf leichten Sohlen stieß sich Malik von Dachkanten ab, landete sicher auf nächstgelegenen Flachdächern und fühlte, wie ihm die laue Abendluft durch die dunklen Haare und die vielen Stofflagen seiner schweren Uniform strich. Es fühlte sich beinah so an wie Fliegen... so ähnlich, wie die Sprünge von hohen Türmen oder Kirchturmspitzen damals; Sprünge, die der junge Kartograf ob seines fehlenden Gliedmaßes und dem damit verlagerten Gleichgewichts nie mehr gewagt hatte. Er hatte es schon fast vergessen wie es war sekundenlange im freien Fall zu stürzen, hatte das unvergleichlich hoch wallende Adrenalin dabei und die Erinnerungen an das Gefühl des Glücks über solch einen gelungenen Sprung... verdrängt. Er wusste kaum mehr wie das frische Stroh roch, in dem man dabei landete, wie es einem sanft über die Haut kratzte, ein wenig stach und in wirren Haaren hängen blieb.

Und er würde all dies auch nie mehr empfinden. Es war schon schwer genug gewesen die sichere Balance auf Balken und schmalen Vorsprüngen wieder zu erlangen und das Reiten neu zu erlernen. Malik hatte nicht solch einen riesengroßen Kampfgeist, um sich noch einmal einem unsicheren Versuch von einem Turm zu stürzen hinzugeben. Denn, er war sich sicher, solch eine Aktion wäre ähnlich sinnvoll wie all seine bisher verpatzen Anläufe wieder Klettern zu wollen. Ja, er sollte es lassen, sich mit seinem Handicap abfinden.
 

Ein Armbrustbolzen, der knapp an seinem Ohr und damit an seinem gedankenversunkenen Schädel vorbei sirrte, riss den unsteten Malik wieder aus seinen trüben Gedanken. Er warf einen schnellen Schulterblick in die Richtung, aus der das lange Geschoss gekommen war und hielt in seinem bisher unbemerkten Lauf über die schwer bewachten Dächer Jerusalems inne. Sich sofort seine verschwommene Adlersicht herbei blinzelnd fasste er instinktiv nach einem der kleinen Wurfmesser in seinem Gürtel und holte damit aus. Der, im orangen Schein der untergehenden Sonne aufblitzende, scharfe Stahl schnitt so schnell durch die schwüle Luft, dass der anvisierte Wachmann - keine zweihundert Meter weiter - es nicht einmal mehr schaffte seine Schusswaffe nachzuladen. Das geworfene Messer traf ihn frontal, raubte dem stechend rot Glimmenden zuerst die Sicht auf einem seiner entsetzten Augen und schließlich auch das Leben. Es ging schnell. Seine Flamme im wabernd grauen Blickfeld des unruhigen Dais erlosch noch bevor er leblos zu Boden sank und Malik rümpfte die Nase leicht; so, als hätte er etwas besonders Ekelerregendes gerochen.

Ein Ansturm weiterer roter Lichter blieb zum Glück aus, hatte das Erste von ihnen auch keine Gelegenheit mehr dazu gehabt nach Verstärkung zu rufen. Und so schüttelte der flach durchatmende Malik seine körperliche Anspannung und gleichsam auch sein besonderes Sehen wieder mit einem kurzen Kopfschütteln ab.

Bei Allah... warum war er seit dem geheimen Gespräch über Karim's neue Liebschaft so dermaßen nervös?

Der schnaubende Mann kniff ein Auge eines kurzen, ziehenden Kopfschmerzes, der Adlersicht wegen, zusammen und rieb sich eine Schläfe ehe er weiter eilte, als wäre gerade eben nichts geschehen. Katzengleich sprang er auf den nächsten, weiter weg gelegenen Vorsprung zu und kam gerade noch mit den Zehenspitzen an der schmalen Dachkante auf, rollte sich in einer fließenden Bewegung ab und atmete schwer durch.

Er musste mit dem Informanten reden. Dringend.
 

II
 

„Noah Cross?“ der betagte Informant Jerusalems wirkte nachdenklich und runzelte die Stirn, als er an seinem halbvollen Wasserglas nippte und den unruhigen Malik dabei beobachtete, wie dieser suchend in alten Aufzeichnungen blätterte.

„Der Vorname ist hebräisch, der Nachname englischer Natur. Doch das heißt nicht, dass er zu den Templern gehört. Das vermutest du doch, Dai?“

„Ich... bin mir nicht sicher. Aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache...“

„Verstehe. Sollte er tatsächlich zu dem Orden gehören, dann wurde er wohl nicht aufgezeichnet. Er steht in keinem der Bücher. Weder als Lebender noch als Toter.“

Nicht aufgezeichnet?“ brummte der gereizte Malik pikiert und sah von dem staubigen Papierstapel vor sich auf „Wenn er einer von denen ist, wurde er aufgezeichnet und wir haben die Notiz bloß übersehen – oder er ist einfach noch nicht lange hier. Uns-... mir entgeht nichts, mein Lieber, alles, was in meiner Stadt passiert, passiert unter meiner Beobachtung oder der meiner Männer; euch!“.

„Ich verstehe, dass es dich nicht froh stimmt, dass sich deine Vermutung nicht bewahrheitet, Dai... aber denkst du nicht, dass du zu viel in den Namen hinein interpretierst?“ der alte Informant wirkte kritisch und hatte es schon lange aufgegeben den Sorgen des bangen Büroleiters folgen zu wollen.

„Nein. Irgendwas in mir sträubt sich gewaltigst gegen diesen Noah und ich werde herausfinden was. Nachdem die Bruderschaft noch nicht neu geordnet ist, habe ich ohnehin nicht viel zu tun. Ich erledige das selbst.“

Selbst? Wir haben einige gute Männer, die sich um die Informationsbeschaffung kümmern. Sie werden dir umgehend Bericht erstatten sobald sie einen Hinweis finden.“

„Ich finde Hinweise schneller, glaub mir. Und es ist dringend. Dieser Kerl, Noah Cross, steht mit Karim in Verbindung und wir beide wissen, wie offenherzig und grenznaiv der Geselle ist. Wenn er einem Templer gegenüber etwas über den momentanen Zustand der Assassinen ausplaudert, haben wir ein Problem.“ meinte Malik verstimmt und verengte die braunen Augen etwas, als er sich hektisch erhob. Seine flache Hand schlug er, seinen Worten Nachdruck verleihend, auf den Notizenstapel vor sich „Ich bin nicht erpicht auf einen weiteren Besuch dieser Dreckskerle! Weder in meinem Büro noch in Masyaf!“.

Ja, es hatte schon bei weitem genügt, dass die dreckigen Templer vor Wochen in sein kleines Zuhause eingebrochen waren und ihn in einer nächtlichen Aktion verschleppt hatten. Verschle-

Nein, Moment.

Moment!

Urplötzlich weiteten sich Malik's schmale Augen wieder und fixierten den irritierten Informanten völlig entrüstet. Für wenige Wimpernschläge lange erstarrte der Dai komplett und vergaß sogar darauf zu atmen. Seine Gedanken rasten so schnell, dass er ihnen kaum hinterher kam.

Noah.

Ja, er hatte den Namen in der Tat schon einmal gehört, doch sein Unterbewusstsein hatte es verdrängt. Verdrängt wie so viele andere Eindrücke seiner fürchterlichen Gefangenschaft unter dem Orden, der das rote Kreuz als Zeichen trug:
 

Malik schien die drängende Dame überhört zu haben, flüchtig streifte sein apathischer Blick das rote Templerkreuz auf ihrem weißen Wappenrock. Die lieblose Hand im schwarzen Haar des jungen Kartografen packte fester zu, um die ruppigen Worte der Frau zu unterstreichen. Drohte sie Malik indirekt? War sie wütend? Wo waren sie hier?

„Wo ist es, Assassine?“ knurrte die Gerüstete dem 25-Jährigen mit einem... so bekannten, westlichen Akzent in ihrem Ton entgegen, beugte sich dabei etwas näher zu seinem verdreckten Gesicht herab. Sie redete wie Altaïr. Hatte die selben Augen wie er. War sie Engländerin? Ah, sie roch angenehm. Passte nicht zu ihrem soldatischen, mannhaften Verhalten. Der junge Dai verengte die vom Fieber glasigen Augen schwach.

„Du warst damals dort. Du hast es mit dir genommen nachdem du all unsere Männer getötet hast.“ herrschte die seltsame Templerin und rümpfte die hübsche Nase bei dem Gedanken an das Ausgesprochene angewidert „Also wo ist es?Sprich!“.

Malik schwieg. Doch nicht, weil er sie nicht verstand. Sie hatte zwar einen starken Akzent, doch ihr Arabisch war beinahe makellos. Sie musste eine Art Gelehrte sein, wissbegierig und klug. Es gab nur wenige Frauen, die Fremdsprachen so flüssig beherrschten wie sie. Sie hatte innerhalb des Templerordens wohl einen hohen Rang inne, ungewöhnlich für eine Dame. Doch es machte sie zu einer potenziell gefährlichen Zeitgenossin; bestimmt musste sie sich innerhalb der vielen Männer des Ordens stets beweisen, um ernst genommen zu werden. Selbstbewusste Frauen hatten es nicht leicht. Ein kühles Lächeln kräuselte die trockenen Lippen Maliks, als er wieder verschwommen zu der Schimpfenden aufsah „Ha.“.

Die Reaktion der pikierten Templerin kam wie erwartet: Sie schnalzte verärgert mit der Zunge und ließ Malik's Kopf ruckartig los, stieß jenen dabei ein wenig von sich fort, als wäre der gefesselte Mann ein dreckiges Stück Abfall, das man eigentlich gerne loswerden würde.

„Ich glaube er versteht mich nicht, Noah.“ schnaubte sie, als sie damit anfing in dem kleinen, bedrückenden Raum nervös auf und ab zu gehen. Immer wieder trafen ihre stechenden Augen den Gefangenen. Gut, dass Blicke nicht töten konnten. Wobei... wenn Malik an das Kommende dachte wären Augen, die seinen Körper in diesem Moment tödlich aufspießten wohl erträglicher als- ja, was würde man mit ihm machen, wenn er nicht redete? Ihn foltern, bis er die Templer nach Masyaf lockte? Der Schwarzhaarige biss die Kiefer so fest aufeinander, dass es schmerzte und ließ sein brummendes Haupt wieder sinken. Seine ausdruckslosen Augen fingen dabei seine schmutzigen, nackten Füße ein bevor sie sich wieder schlossen.
 

„Du sollst was essen. Die bringen mich um, wenn ich dich verhungere.“ drang es dumpf und so... falsch an Malik's Ohren. Seine Lippen öffneten sich um ein Stück; doch nicht etwa, um dem gefüllten Löffel vor seinem Gesicht Einlass zu gewähren. Der kratzenden Kehle des versehrten Kartografen entkam ein tiefes, schmerzliches Ächzen und er öffnete die Augen. Gerötet sahen sie einem jungen, blonden Mann entgegen – es war derjenige, der ihm die Decke gegeben hatte. Die Decke. Wo war sie hin?

„Na los.“ drängte der Templer unbeholfen und setzte Malik das Essbesteck an die halb geöffneten, rissigen Lippen. Wie im Delirium schlug der Assassine schwerfällig zu; kraftlos, doch stark genug, um den gefüllten Löffel vor sich in einem kleinen Bogen fort zu schlagen. Der Mann mit den hellen Augen bei ihm schnaubte entnervt, zeigte aber erstaunlich viel Geduld für Typen seines Schlages. Wieder redete er auf Malik ein und erst in diesem Moment fiel dem benebelten Kartografen auf, dass er die Stimme und Erscheinung des Anderen kannte. War das hier dieser Noah?
 

Nein.“ entkam es der engen Kehle des erschrockenen Dais, als er sich nur allmählich wieder aus seiner Starre löste. Der Informant beäugte ihn mittlerweile beinahe schon argwöhnisch, fragte ihn auf ein Neues was los sei. Doch er bekam keine Antwort, denn Malik hastete aus dem Gebäude, bevor der Alte seine besorgte Frage überhaupt zu Ende sprechen konnte.
 

III
 

Mit einem Mal war es ihm schmerzlich bewusst geworden. Alles. Noah war diese... rechte Hand der Templerfurie aus dem Kerker! Die laute Frau und Doppelgängerin de Sables, die auch Altaïr nach seinem ersten, missglückten Anschlag auf den Templer-Meister erwähnt hatte und an die sich der traumatisierte Malik ebenso wenig hatte erinnern können wie an ihren blonden, englischen Gefolgsmann. Doch nun, ja, nun erinnerte er sich! Es war so, als hätte sich die Tür zu einem verborgenen Hinterstübchen in seinem verblendeten Geist geöffnet und nun rasten seine furchtsamen Gedanken so schnell wie der Wind, der die ersten kleinen Regentropfen vom wolkigen Himmel über Jerusalem blies.

Es bestand kein Zweifel: Noah Cross war ein Templer! Und vermutlich nicht nur irgendeiner sondern ein Vertrauter der offenbar mächtigen Frau in Rüstung. Was war er wohl? Wie hoch oben stand er in der Hierarchie des Ordens? Und warum, um Himmels Willen, hatte er mit Karim zu tun??

Der quirlige Geselle hatte erwähnt Noah bereits länger zu kennen. Hatte er ihn etwa während seiner eigenen Gefangenschaft, kurz vor der geplanten Hinrichtung durch Majd Addin, getroffen?

Und die größte aller Fragen war: Warum, um alles in der Welt, 'liebte' Karim diesen Mann??

Malik kam auf sicheren Füßen auf einem der höher gelegenen Dächer – und im letzten Schein der untergehenden, wolkenverhangenen Sonne - zum Stehen und hielt kurz inne, um sich eine Verschnaufpause zu gönnen. Sich mit besorgter Miene an einen der kleinen Dachgärten lehnend fuhr sich der Mann mit der Handfläche über die Stirn und atmete tief ein. Ein dicker, warmer Regentropfen fiel ihm auf die Wange und zog einen schmalen Rinnsal daran hinab; Malik beachtete ihn und das allmählich aufziehende Schlechtwetter nicht sondern war gedanklich einmal wieder ganz woanders...

Konnte es sein... konnte es etwa sein, dass Karim nicht der war für den der stutzige Kartograf ihn hielt?

Der Ausdruck im Gesicht des verwirrten 25-Jährigen verfinsterte sich zunehmend.

Gehörte Karim etwa zu den Templern? Hatte er das Assassinenbüro vor Wochen verraten und die Rolle des braven Gesellen nur gespielt? Hatte er Malik etwas vorgemacht?

Nein... oder? Hätte er das, dann hätte er den genauen Namen seines Freundes Noah nicht verraten. Er hätte nicht auf das Büro Acht gegeben während der zuständige Dai im bedrohten Masyaf zu tun gehabt hatte. Das hätte er doch nicht?

Verdammt...

Wer oder was war Karim nun tatsächlich? Wusste er über Noah's Berufung Bescheid? Und wenn ja: Warum hatte er Malik nichts gesagt, ihn nicht gewarnt?
 

Zögerlich - und zuvor noch den Positionswechsel einer aufmerksamen Wache auf dem gegenüberliegenden Dach abwartend - kletterte der hin und her gerissene Malik schließlich über eine marode Leiter wieder gen Erdgrund, um seine Suche nach seinem dummen Gesellen, dem er wohl nicht mehr so wirklich vertrauen konnte, unten fortzusetzen. Der Sehsinn, den er in seiner Jugend von Altaïr gelernt hatte, half ihm zwar, doch der bewanderte Dai kam nicht umhin, um auf gewöhnlichere Methoden eines Kontaktmannes zurückzugreifen: Er begab sich so unscheinbar als möglich und mit tief in das Gesicht gezogener, weißer Kapuze auf den weiten Marktplatz. Die vielen Verkaufsstände schlossen zwar bereits, doch das tat der hohen Anzahl an geschäftigen Menschen und wachsamen Soldaten keinen Abbruch. So wie die ganzen Händler und Marktschreier des Bazars gingen, kamen die freizügigen Freudenmädchen und die verschlagenen Kleinkriminellen. Und gerade sie hatten schnelle und laute Mundwerke wenn es darum ging wertvolle Informationen im Austausch für wenige, lumpige Kupferstücke loszuwerden. Zudem mischten sich hier und da ehemalige oder aktive Mitglieder der Bruderschaft unter sie, gaben sich manchmal sogar als arme, dreckige Bettler aus, um sich ungestört umhören zu können und um Neuigkeiten für den Dai Jerusalems zu sammeln. Dies war eine Taktik, die selbst den durchtriebenen Templern unbekannt war und die ihr Orden nicht anwendete. Während die listigen Assassinen in den Schatten arbeiteten und bewandert in der Kunst der Täuschung waren, war der feindselige Templerorden auffällig und laut. Keiner von dessen Mitgliedern hüllte sich je in zerschlissene Lumpen oder bewegte sich auf leisen Sohlen durch die Stadt. Sie traten stets in schillernden Rüstungen und tollen Gewändern auf, schwer bewaffnet und arrogant. Anders als der ältere Mann, der soeben auf den forschend starrenden Malik zu kam – und der Kartograf wich diesem dabei auch absichtlich in eine unüberschaubare, finstere Ecke des Marktes aus.

„Almosen für die Armen und Kranken!“ schnarrte der unordentlich gekleidete Kerl mit dem kahlen Kopf und dem langen Bart; er klimperte mit einer verbeulten Metallschale, in der sich zwei, drei Münzen befanden, als er dem erwartungsvollen Malik gespielt verletzt hinterher humpelte „Bitte mein Herr!“.
 

„Ich suche Karim.“ murmelte Malik dem als Bettler Verkleideten zu, als er sich in sicherer Entfernung vor allen fremden Augen zu jenem umwendete. Sofort verlor der Andere seinen hinkenden Gang und einer seiner Mundwinkel verzog sich nachdenklich, als er seine schäbige Schale sinken ließ. Nicht nur seine Art zu Gehen sondern auch seine Weise zu sprechen wandelte sich nun; anstatt vor sich hin zu lallen und herum zu krächzen wie ein alter Geier, sprach der andere Assassine mit ruhiger, beinah schon melodischer, gedämpfter Stimme „Karim?“.

„Ja. Hast du ihn gesehen?“

„Vor etwa einer Stunde ist er über den Marktplatz. Er hat sich irgendetwas bei dem Obsthändler gekauft bevor er in Richtung Armenviertel weitergegangen ist. Vermutlich wollte er zum Abendgebet in die Moschee dort.“

Ein erleichtertes Ausatmen entkam Malik und er klopfte seinem verschmitzt lächelnden Kollegen dankbar auf die Schulter „Vielen Dank, auf dich ist offenbar Verlass.“.

„Immer wieder und gerne, Dai.“ grinste der Ältere und hielt Malik seine Münzschüssel auffordernd hin, bot ihm die paar Silberstücke daraus an. Denn es war gewöhnlich, dass Malik die Einnahmen der Bruderschaft in Jerusalem verwaltete und dazu zählten auch die 'Almosen', die die als Bettler vermummten Assassinen bekamen. Doch dieses Mal schüttelte der 25-Jährige bloß schmunzelnd seinen Kopf „Behalte es. Du hast es dir verdient.“ - und mit diesen freundlichen Worten machte sich Malik daran in das dreckige Armenviertel der Stadt aufzubrechen.

Hoffentlich kam er nicht zu spät.
 

IV
 

Malik hatte Glück. Tatsächlich entdeckte er den plappernden Karim sehr bald in einer der verwinkelten Straßen des heruntergekommenen Viertels, in dem die korrupte Stadtwache immer wieder ein Auge zudrückte und über Mord, Menschenhandel, Hurerei oder Diebstahl hinwegsah. Nicht weit von der großen Moschee, die sein Bruder vor einigen Momenten erwähnt hatte, saß der Geselle mit einem weiteren Mann am Boden. Mit den Rücken gegen die dunkle Wand eines alten Hauses gelehnt unterhielten sie sich.

Der nur leicht gerüstete Kerl bei Karim war wirklich der Blonde aus dem Templerkerker unter der Kirche; der Mann von damals. Noah. Er lachte herzlich, während er sich mit dem jungen Assassinen unterhielt und schien jemand zu sein, der gerne wild gestikulierte und Andere anfasste während er scherzte.

Die prüfenden Augen des empörten Dais wanderten von ihm zu Karim, dann wieder zu dem Engländer mit dem schlechten Arabisch zurück. Hier ging es offenbar nicht um geheime Angelegenheiten des Ordens oder dem Verrat an der geschwächten Bruderschaft – die beiden Leute am Boden weit unter Malik's Füßen unterhielten sich über Banalitäten. Über das Mittagessen und Altweiber-Geschichten über rasende Wüstenmonster und fürchterliche Schattenbestien; dann redeten sie über andere, fremde Länder und schlussendlich brachten sie einander Wörter in ihren jeweiligen Muttersprachen bei.
 

Malik wusste nicht, wie viel Zeit er am Dach über den Köpfen der beiden augenscheinlich Verliebten verbracht hatte. In hockender Haltung und mit gespitzten Ohren verweilte er nun noch immer hier und beobachtete die beiden Jüngeren eindringlich. Mittlerweile regnete es recht stark und der Donner grollte laut gegen die hohen Stadtmauern Jerusalems. Und anders als die beiden Personen am Boden wurde der unschlüssige Malik nicht von einem Dachvorsprung von den nassen Wetterverhältnissen geschützt. Tropfend klebten ihm ein paar kurze, schwarze Haarsträhnen im Gesicht; Robe und Mantel schmiegten sich klatschnass an seinen, in der Dunkelheit geduckten Körper.

Und er sah seinem Schützling zu. Dabei, wie er strahlte, lachte, seinen offenherzigen Noah umarmte und ihn küsste.

Malik's zuvor noch so wacher, entsetzter Blick war matt geworden, beinah schon bitter. Seine braunen Augen fielen durch den prasselnden Regen melancholisch auf Assassine und Templer hinab. Er hatte seine Hand an dem gewickelten Griff seines Schwertes wieder sinken lassen, so wie er sich selbst gerade in eine, im Schneidersitz sitzende Position sinken ließ. Und er tat nichts. Obwohl er den blonden Templer dort unten eigentlich hätte töten sollen.

… Ob dieser Noah wusste, dass Karim einen weiblichen Körper besaß? Hatten sie beide schon mehr getan als einander 'nur' zu küssen?

Warum sprachen sie über solch triviale Dinge wie Essen? Warum konnten sie nicht über den verachtenswerten Templerorden und geplante Verschwörungen reden, um es dem nachgiebigen Malik leichter zu machen? Warum unterhielten sie sich auf solch herzzerreißende, hingebungsvolle und liebenswürdige Art?

Der ruhige Dai senkte seinen Blick von den beiden Jüngeren fort, bemerkte den warmen Regen, der ihm von Kinn und Nase tropfte kaum mehr.

Warum... warum erinnerten ihn Noah und Karim gerade so sehr an sein junges Selbst und an den jugendlichen Altaïr..?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Evelyn
2013-07-26T13:42:55+00:00 26.07.2013 15:42
*heul*
Der arme Malik… er wird bestimmt verzweifelt sein.
Ich traue diesem Noah auch nicht, genau wie Malik.
Super Kappi :D


Zurück