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Das rote Tuch

von

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Am Turm

„Was ist los?“

„Nichts.“

Malik verdrehte die Augen und verzog einen seiner Mundwinkel, er seufzte genervt und lenkte seinen Blick wieder von dem neben ihm sitzenden Altaïr fort. Na schön, dann eben nicht.

Der Assassine sah in die Ferne; es war unbeschreiblich welche Aussicht sich einem vom Wachturm der Festung Masyafs aus bot. Man konnte so unglaublich weit sehen, andere Menschen wirkten von hier oben aus so klein als wären sie Ameisen. Malik saß in seinen freien Stunden sehr gerne hier im Schatten des Daches, das sich über den hohen Turm zog und hatte mit dieser Gewohnheit auch Kadar und den... Grummelassassinen neben sich angesteckt. Noch einmal richtete der Jüngere seine Aufmerksamkeit auf den so ungewöhnlich Stillen neben sich. Altaïr ging zwar niemals sonderlich aus sich heraus, doch so stumm und geistesabwesend wie heute war er in der Anwesenheit Maliks sonst nie.

Was war passiert? Hatte der Adler wieder Ärger mit Al-Mualim? Mit einem anderen Mitglied der Bruderschaft? Oder etwa mit... Malik selbst? Der Jüngere zog die Augenbrauen zusammen und sein Blick setzte zum Versuch an Altaïr die Kapuze vom Kopf zu ziehen, um sein Gesicht besser und in dessen Augen sehen zu können. Sie waren nicht im Dienst und dennoch beharrte der Ältere – wie immer – darauf seine weiße Kopfbedeckung aufgezogen zu lassen. Tse. Die anderen Brüder in Masyaf – ausgenommen Rauf und Kadar - wussten bestimmt nicht, wie er unter der dummen Kapuze aussah.

„Sicher?“

Nun hob der Adler seinen Kopf doch noch etwas an und Malik konnte die goldbraunen Augen im Schatten der Kapuze sehen. Altaïr wirkte unschlüssig und so, als suche er nach Worten – oder als denke er darüber nach Jene überhaupt auszusprechen. Es machte der Jüngeren nervös. Die Nacht, in der der Andere im Drogenrausch zu ihm gekommen, eng umschlungen mit ihm in einem Bett geschlafen und ihn daraufhin mit etwas konfrontiert hatte, das Malik's labile Gefühlswelt vollends aus der Bahn geworfen hatte, war nun zwar schon zwei, drei Monate her, doch die bohrenden Gedanken daran ließen ihn nicht los. Sie beide hatten nie mehr darüber gesprochen und die Sache einfach totgeschwiegen. Aber was, wenn Altaïr auch oft daran dachte und es ihn gerade in diesem Moment beschäftigte? Malik... würde dieses Mal – und seines Gewissens wegen - reden müssen anstatt aus der prekären Situation zu fliehen. Denn im Gegenzug zu der damaligen Nacht kannte er die Antwort auf die Frage seines Freundes nun. Oder eher: Er hatte sie sich eingestanden. Glaubte er jedenfalls.
 

„Ich merke, dass irgendetwas nicht stimmt, Bruder.“ begann Malik mit einem verunsicherten, doch sanften Lächeln im Gesicht „Du hast es noch nie geschafft mir etwas vorzumachen.“. Altaïr rümpfte die Nase etwas und schnaubte pikiert, dann holte er jedoch Luft zum Sprechen.

„Ich glaub ich hab Mist gebaut.“ gab der Braunhaarige seufzend zu und verengte die Augen, als er sich mit den Fingern nachdenklich an das Kinn tippte.

Ach? Altaïr gab zu, dass er einen Fehler gemacht hatte? Das war ungewöhnlich... und stachelte das flaue Gefühl im Magen des anderen Assassinen mit kleinen, spitzen Dolchen an. Er schluckte trocken und gab sich ruhig.

„Das ist ja mal nichts Neues.“ lachte Malik leise, doch nicht etwa, weil er sich lustig machte, sondern gar ungewollt verlegen. Ihm verging die Lust aufs Scherzen gerade und außerdem nahm er Altaïr immer ernst, wenn dieser einmal irgendwelche seltenen Geständnisse wie dieses hier von sich gab „Was ist es diesmal, hm? Ist es das lange Gesicht wert, das du heute schon den ganzen Tag lang ziehst?“.

Der Ältere warf Malik auf dessen verhaltenes Geschmunzel hin einen tödlichen Blick zu, seufzte dann aber und seine sonst so eisige Miene entspannte sich in der Gegenwart seines engen Freundes. Die stechend goldenen Adleraugen wichen zur Seite ab und suchten die kleinen Häuser Masyafs „Es geht um Abbas.“.

Was- Oh. Ooh, na super. Abbas also. Malik fühlte, wie sich eine enorme Erleichterung in ihm breit, doch Platz für etwas Anderes machte: Wut. Er hasste Abbas. Dafür, dass er so selten von Altaïrs Seite wich. Dafür, dass er ihm seinen vermeintlich besten Freund wegnahm. Er war eifersüchtig.

Malik versuchte nun nicht mit den Zähnen zu knirschen, sondern bemühte sich darum einen möglichst... gleichgültigen Tonfall anzunehmen. Vielleicht klang er in diesem Augenblick auch etwas zu unberührt „Und..? Habt ihr euch gestritten?“.

„Wenn dem nur so wäre, Malik.“

„Sprich bitte nicht in Rätseln, davon habe ich heute im Englischunterricht schon genug gehört.“

„Brauchst du Nachhilfe? Ich kann-“

„Weich dem Thema nicht aus, Ibn-La'Ahad.“

Wieder ein tiefes Seufzen und ein Gesicht seitens Altaïr, als würde ihm gleich der Himmel auf den Kopf fallen. Oh, warum tat sich dieser Klotz einfach immer so schwer damit seine Gefühle zu äußern?

„Ich habe ihm die Sache mit seinem Vater erklärt.“

Ein überraschter Laut kam auf diese unerwartete Aussage hin über Malik's Lippen und er wendete sich seinem besorgten Freund sofort aufgebracht zu. „Du hast was??“ stieß er hervor.

Natürlich kannte der Schwarzhaarige die Geschichte um Ahmad Sofian, Abbas' Vater. Und er war damit wohl der Einzige neben Altaïr und Al-Mualim. Der anwesende Assassine hatte ihm das Ganze irgendwann einmal zwischen Spielkarten und Obst auf ihrem Zimmer erzählt. Sie hatten sich über ganz banale Dinge unterhalten – Essen, den Markt in Damaskus, ihre ersten Attentate, Fantasien um eventuell noch lebende Verwandte... und naja, Letzteres war dann ein wenig ausgeartet. Altaïr hatte dem völlig empörten Malik erklärt wie Ahmad vor Jahren gestorben war: Er hatte sich selbst – vor den ängstlichen Augen des damals elfjährigen Adlerjungen – umgebracht. Knapp ausgedrückt hatte dieser Mann den Tod von Altaïr's Vater zu verantworten gehabt und war nie ganz darüber hinweggekommen. Oder so ähnlich jedenfalls. Er hatte sich die Kehle mit seiner eigenen Waffe aufgeschnitten, hier in Masyaf, er war jämmerlich verblutet. Man hatte dem kleinen Abbas damals erzählt, sein Vater habe die Bruderschaft verlassen, doch das stimmte nicht.

Eigentlich hatte Al-Mualim es Altaïr strikt verboten die Wahrheit auszusprechen, denn Suizid war eine unehrenvolle Sache... aber nunja. Der dumme Altaïr hatte eh lange dicht gehalten. Sieben Jahre. Eine halbe Ewigkeit.
 

„Abbas war gestern einmal wieder richtig niedergeschlagen und wollte losziehen, um seinen Vater zu suchen.“ setzte der Ältere fort und sah aus den Augenwinkeln zu Malik zurück, er erwartete sich offensichtlich einen Rat oder zumindest gutes Zureden „Ich meine... stell dir das bitte vor. Und darum... ich dachte, ich tu ihm einen Gefallen-“

„In solch sensiblen Angelegenheiten bis du echt ein richtiger Dummkopf.“ der Jüngere fasste sich an das Gesicht und schüttelte sein Haupt ungläubig. Typisch Altaïr. Er glaubte, man könne heikle, aus der Bahn geratene Dinge in Ordnung bringen, indem man einfach einmal kräftig auf sie einschlug anstatt im Vorhinein über die Konsequenzen seines Handelns nachzudenken. Aber hey, vielleicht war die viel zu enge Freundschaft zwischen ihm und dem Deppen Abbas nun endlich passé! Malik fühlte sich zwar etwas schlecht dabei, doch er freute sich gerade richtig über das Leid Abbas'. Allah, vergib ihm.

Altaïr brummte verärgert „Er hat auf das Ganze nichts erwidert sondern nur vor sich hingestarrt. Wir haben seit gestern Abend kein Wort miteinander gesprochen. Glaubst du, er beruhigt sich wieder?“

„Keine Ahnung. Lass ihn einfach in Ruhe, wenn er etwas will, wird er schon wieder bei dir auftauchen.“

„Was, wenn nicht?“

„Altaïr, diese Frage musst du dir wohl oder übel selbst beantworten. Ich kann nicht in deinen Kopf hineinsehen.“

„Hm.“ wieder sah der Andere fort und Malik folgte seinem nachdenklich besorgten Blick gen Horizont.
 

Die beiden Assassinen am Wachturm hatten sich die restliche Zeit über nur noch angeschwiegen. Doch es war kein unangenehmes Schweigen gewesen; sie beide saßen oftmals stundenlang zusammen ohne ein Wort miteinander zu sprechen und mochten diese Stille. Altaïr schien in trübe Gedanken versunken gewesen zu sein und der etwas verstimmte Malik hatte ihn nicht stören wollen; so war er einfach nur still neben ihm sitzen geblieben und hatte die warme Brise und die Aussicht genossen so gut es ging.

Nun aber erhob dich der Jüngere schwerfällig und zog sich die weite Kapuze in das Gesicht. Der augenscheinlich innerlich mit sich hadernde Altaïr blickte fragend zu ihm auf.

„Oh, ich dachte, du hättest schon vergessen, dass ich hier bin.“ Malik grinste schwach und sah auf den zu seinen Füßen Sitzenden hinab. Die starke Sonne hatte die Wangen und Nase des Mannes mit der ungewöhnlich hellen Haut etwas verbrannt, er sah mit dieser leichten Röte im Gesicht ja beinahe schon harmlos und... süß aus.

„Ha-ha.“ gab Altaïr nur trocken von sich und rollte mit den Augen.

„Ich muss los, in einem Dorf in der Nähe nach dem Rechten sehen...“ Malik riss seinen aufmerksamen Blick von dem mürrischen Assassinen fort und nickte gen Osten „Sonst krieg ich so wie dessen Bewohner Ärger. Sieht man sich beim Abendessen?“

„Hm.“ Altaïr war wahrlich ein Mann der vielen Worte.
 

II
 

Malik wollte gerade die lange Leiter in die untere Ebene des Turms nehmen, da hörte er die schnellen Schritte seines Freundes hinter sich ehe dessen unsicher auffordernde Stimme an seine Ohren drang „Warte Malik.“. Der Angesprochene wendete sich um und eine seiner Augenbrauen wanderte nach oben. Wollte ihn der Andere begleiten? Auch gut. Sie zankten sich zwar oft, doch im Grunde schätzte der Jüngere die Anwesenheit seines Bruders... sehr.

„Was denn?“ Malik stemmte sich eine Hand in die Seite und musterte sein Gegenüber fragend.

Altaïr war ihm bis in den überdachten Part des Wachturms gefolgt und sah etwas... aufgelöst aus. Er musste sich ja einen riesen Kopf um die Sache mit Abbas machen - und dabei befürchten nicht alleine aus der ganzen Misere herauszukommen. Doch, ach, wenn er den Idioten jetzt noch einmal ansprach, dann würde ihm der gereizte Malik eines seiner Wurfmesser entgegenschleudern. Nein, nicht Eines sondern gleich zwei!

„Wenn er nun nie mehr mit mir redet...“ okay, Wurfmesser. Malik spürte das Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Gleich, ja, gleich würde er den Adler Masyafs mit den kleinen, scharfen Stahlwaffen spicken. Seine dunkelbraunen Augen verengten sich berechnend und er holte Luft, um Altaïr klarzumachen, dass ihn dessen Mist mit Abbas nichts anging. Oder... naja, nichts angehen wollte. Musste er dies dem ignoranten, erwachsenen Kerl hier auf eine Weise erklären, wie man es mit einem Kleinkind tat, damit er verstand?

„Altaïr-“

„Wenn er mir die Freundschaft kündigt... dann ist das glaube ich nicht so schlimm.“

Malik's verärgerte Mimik verrutschte in diesem Augenblick etwas. Er glaubte sich verhört zu haben und stutzte.

„Ich hab ja noch dich.“

Was?

Der Jüngere blinzelte ein paar Mal irritiert, fand seinen verärgerten Ausdruck dann aber viel zu schnell wieder. Er fühlte die alten Aggressionen Abbas gegenüber erneut in sich aufkeimen; wie sie ihm den Magen verdrehten und seine trockene Kehle zudrückten. Malik öffnete seine Lippen, brauchte jedoch ein paar Momente, bis er Altaïr eine vorwurfsvolle Antwort entgegen schnappte: „Gut, wenn man für schlechte Zeiten einen gutmütigen Deppen in der Hinterhand hat, was?“.

Moment. Was hatte Malik da gerade so eisig von sich gegeben..? Das war gerade unangebracht gewesen, oder? Doch auf der anderen Seite spiegelte es seine trüben Gedanken über die seltsame Freundschaft mit dem Anderen ja ganz gut wider. Vielleicht war es ja doch passender als gedacht „Wenn ein Wagen eines seiner Räder verliert, dann freut er sich darüber, wenn er noch ein Drittes hat. Hab ich recht?“.

„Was meinst du damit?“ nun war Altaïr damit an der Reihe verirrt zu starren und Malik entschied sich spontan dazu auszusprechen, was er sich jahrelang insgeheim gedacht hatte. Es mochte gerade ein unpassender Ort und eine ungünstige Zeit dafür sein... aber der Assassine zog hierfür gerne verspätet in das bedrohte Dorf und erntete dafür eine Standpauke Al-Mualims. Er hatte diesen ganzen Mist schon so oft ansprechen wollen, doch nie eine günstige Gelegenheit dazu gefunden.

„Ich habe einmal geglaubt wir wären beste Freunde.“ seufzte er „Und darum habe ich alles in meiner Macht Stehende dafür getan dir das auch zu zeigen. Ich habe mich richtig darum bemüht dir ein guter Freund zu sein, Altaïr, doch du hast das nie zu schätzen gewusst.“

„Ma-“

„Lass mich ausreden.“ meinte der Schwarzhaarige kühl und hob einen Zeigefinger drohend „Ich habe wegen dir oft nächtelang nicht geschlafen und dir zugehört, als es dir schlecht ging. Doch du hattest immer nur dann Zeit für mich, wenn Abbas einmal nicht da war.“ sprudelte es nun ungewollt laut aus dem 18-Jährigen hervor. Es fühlte sich gut an die eigene Sicht der Dinge einmal kund zu tun – und gleichzeitig schnürte es ihm gerade den Brustkorb zu. Mühsam holte er Luft, sein Atem zitterte „Ich war immer der gutmütige Idiot, der Zeit mit dir verbracht hat, wenn du Langeweile hattest. Denn... denn für was Anderes war ich ja anscheinend nie gut genug... ich will ja nicht wissen, was du und Abbas hinter meinem Rücken über mich geredet habt. Habt ihr euch über mich lustig gemacht?“

Was- Wir haben nicht geredet.“

„Ach ja? Und was ist mit der einen Geschichte damals? Ist das nichts?“

„Welche Geschichte..?“

„Du weißt genau wovon ich spreche, stell dich nicht dumm!“
 

„Malik...“ Altaïr's rauer Ton war von Sorge erfüllt, als er den Namen seines Freundes nun zögernd vorsichtig aussprach. Man sah wie er schwer schluckte und erst an diesem Punkt angelangt bemerkte der jüngere Mann die wütenden Tränen in seinen eigenen Augen. Er machte jedoch keine Anstalten dazu seinen wirren Kopf abzuwenden; sein idiotisches Gegenüber sollte das hier sehen. Altaïr sollte sehen, wie Malik die sture Bitterkeit nass an den Wangen hinunterlief, denn... denn er und seine egozentrische Art waren Schuld daran!

„Mal, erzähl keinen Unsinn.“ es war richtig tragikomisch wie unbeholfen der sonst so hochgepriesene und gefürchtete Adler Al-Mualims in seiner plötzlichen Erkenntnis über die verletzten Gefühle seines Zimmerkameraden dastand. Eine Hand leicht erhoben, so als wolle er - auf die weite physische und psychische Distanz zwischen ihnen - nach seinem aufgewühlten Freund fassen und mit hängenden Schultern rang er nach Worten „Du warst nie ein Ausweichplan bei Langeweile... was redest du da?“.

„Ach.“ Malik ballte die kalten Hände zu Fäusten „Und was dann?“ blaffte er und glaubte selbst nicht wie viel abgrundtiefe Verachtung gerade in seiner brechenden Stimme lag. Am liebsten wäre er nun einfach davongerannt, doch Neugierde zwang ihn dazu sich nicht von der Stelle zu rühren. Er wollte wissen, was Altaïr zu alldem zu sagen hatte.
 

„Du bist mein bester Freund. Das mit Abbas ist etwas Anderes.“ der von blindem Ärger gebeutelte Malik schüttelte seinen Kopf und holte tief Luft. Eine unerklärliche Enttäuschung machte sich in ihm breit und stichelte seine Wut nur noch weiter an. Doch er sagte nichts sondern biss sich so fest auf die Innenseite seiner Wangen, dass es schmerzte.

„Ich bin zusammen mit Abbas aufgewachsen und habe mit ihm unter dem Meister gelernt. Er ist... mein Bruder. So wie Kadar dein Bruder ist.“ Altaïr wagte es nur allmählich sich vorsichtig zu nähern, es wirkte fast schon so, als sähe er in Malik irgendein verängstigtes wildes Tier, das jeden der ihm zu nahe kam, anknurrte und biss „Verstehst du? Abbas und ich sind so etwas wie Geschwister. Es dabei selbstverständlich, dass man füreinander da ist.“.

Geschwister.
 

Eine lange, zähe Stille tat sich zwischen den Assassinen am Turm auf; sie war äußerst unangenehm, doch Malik glaubte, die Kluft zwischen ihnen beiden verschmälerte sich gerade um ein Stückchen. Altaïr sah Abbas also als eine Art... Stiefbruder an? Als Verwandten?

Der Schwarzhaarige senkte seinen Blick und seine Finger entspannten sich wieder ein wenig, als er wahllos eine der alten Holzkisten in einer Ecke hier oben fixierte. Er zog die Nase leise hoch und sah erst dann wieder auf, als Altaïr direkt vor ihm stand und seinen Oberarm freundschaftlich berührte.

„Es ist nicht selbstverständlich, dass Freunde immer für einen da sind.“ fügte Altaïr seiner Ansprache vorsichtig hinzu „Das hast du mir gerade klargemacht. Ich habe nicht gewusst... dass du dich schlecht fühlst, ich wollte nie, dass du glaubst, du wärst irgendein Ersatz für irgendjemanden.“

Malik entzog sich der Berührung des Anderen widerwillig, blinzelte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und wich dem Blick Altaïrs aus; dieses Mal jedoch nicht aus Wut oder Trotz heraus... sondern weil er sich schämte. Er schämte sich, weil er sich verhalten hatte wie ein eifersüchtiges Weib. Und das die ganzen Jahre über. Warum hatte er zugelassen, dass sich in ihm solche Aggressionen aufbauten? Warum hatte er die Sache nicht schon viel viel früher angesprochen? Er kam sich gerade so dermaßen... lächerlich vor.

„Schau, du bist nicht das dritte Rad-“

„Spar dir die Rechtfertigungen, Altaïr...“ Malik wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen und lächelte ein freudloses Lächeln, das seine glasigen Augen nicht erreichte „Du verhältst dich gerade wie jemand der sein Mädchen betrogen hat. Du musst dich aber für nichts rechtfertigen... du bist dein eigener Herr.“.

„Ich will mich aber rechtfertigen.“

„Warum?“

„Weil ich mich gerade wie jemand fühle, der sein Mädchen betrogen hat.“

Malik's Hirn schien auf diese vieldeutige Aussage hin kurz zu vergessen wie das Denken funktionierte und seine Miene spiegelte dies im Moment nur allzu gut wider. Seine dunklen, nassen Augen wanderten ziellos umher und er bemerkte gar nicht, wie dämlich er gerade mit seinen offenstehenden Lippen und den schief sitzenden Mundwinkeln aussah.

Als seine Augen ihren Fokus wieder fanden, sah er Altaïr perplex entgegen und schluckte. Schlucken war gerade wirklich nötig gewesen. Ein tonloses „Was..?“ entkam der heiseren Kehle des Jüngeren und er sah wie der Mann vor ihm knapp schmunzelte. Altaïr wirkte plötzlich so... groß.

„Glaubst du, ich hätte es nicht bemerkt? Du magst von uns beiden vielleicht das hellere Köpfchen sein, doch ganz so blöd bin ich auch nicht.“ Worte, die sich wie scharfe Messer in Malik's Herz bohrten. Er glaubte nämlich zu wissen, was als nächstes kam.

Es war nun zu spät um zu fliehen, richtig? Er kam dem Folgenden nicht mehr aus.

„Mir ist aufgefallen wie du mich ansiehst. Wie du mich anfasst und wie rot du immer in Situationen wie dieser hier wirst.“ Rot? Der betretene Schwarzhaarige hatte ehrlich gesagt fest daran geglaubt, ihm wäre gerade die ganze Farbe aus dem Gesicht gewichen und doch behauptete sein gegenüber Anderes. Er senkte seinen Kopf wieder fort und vertraute auf den Schutz, dem ihm seine weiße Kapuze bot. Oh, wie froh er gerade über dieses Kleidungsstück war!

„Was glaubst du warum ich dich damals auf deine Vorlieben angesprochen habe? Abbas hat nie behauptet, dass du Augen für Männer hättest, ich habe ihn nur als billigen Vorwand benutzt um meine Vorahnungen aussprechen zu können. Niemand hat jemals hinter deinem Rücken geredet.“

Was? Oh nein, nein stopp. Ah, wurde es Malik gerade schwindlig? Wie ging das mit dem Atmen nochmal?

„Niemand hat sich je lustig gemacht. Auch ich nicht. Ich war nur neugierig und wollte eine klare Antwort von dir haben, die du mir bisher verwehrt hast.“

„Was sollte dich das angehen...“ flüsterte Malik nach einer halben Ewigkeit so leise vor sich hin, dass der Andere ihn nicht verstand und biss sich auf die Unterlippe.

„Hm?“

„Nichts.“

Altaïr seufzte resigniert „Hast du Angst?“. Der Jüngere zuckte mit den Schultern. Ja, er hatte Angst. Eine Wahnsinnsangst. Er fürchtete sich so sehr, dass es ihm die Galle in den Mund trieb und er sich nun am liebsten übergeben hätte.

„Vor Al-Mualim und der Anderen? Den Dorfbewohnern?“

Der sprachlose Malik schüttelte den Kopf unter seiner weiten Kapuze und schlug die Augen nieder.

„Wovor dann?“

Es war schon komisch. Sonst war es immer der redselige Malik gewesen, der Altaïr alles aus der Nase hatte ziehen müssen. Und gerade eben... war es genau andersrum. Es fühlte sich schrecklich an, doch so gerne der 18-Jährige geredet hätte... so fand er keine Worte. Lediglich ein gewispertes „Vor dir.“ kroch über seine schmalen Lippen. Jetzt war eh schon alles egal.
 

III
 

Hätte Altaïr seinen leise schluchzenden Freund nicht umarmt, wäre jener wohl umgefallen. Eng legte er seine Arme um den völlig aufgewühlten Schwarzhaarigen und atmete hörbar erleichtert aus. Erleichtert.

Malik – froh über den Halt, den der andere Assassine ihm gerade bot, doch zutiefst niedergeschlagen über das vorangegangene Gespräch – versteckte sein Gesicht an den Schulter des etwas Größeren und spürte wie ein Zittern durch seine Glieder jagte. Obwohl Altaïr ihn gerade an sich drückte, fühlte sich Malik so einsam. Allein in einer Welt voller Probleme und Ängste, die sich keineswegs verzogen hatten, indem man sie ausgesprochen hatte. Im Gegenteil. Gerade in dieser Sekunde taten sich noch viel mehr üble Befürchtungen auf und drohten den ohnehin schon so psychisch schwächelnden 18-Jährigen zu erschlagen.

„Es tut mir leid... es tut mir leid, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich habe es versucht-“ brach es irgendwo zwischen schmalem Ledergurt und weißem Robenstoff Altaïrs atemlos aus Malik hervor „Ich... ich bin nicht normal.“. Seine Finger krallten sich hilfesuchend an den breiten Rücken des Anderen „Ich wollte nicht... dass es jemand bemerkt. Ich-“.

„Halt die Klappe, Novize.“ eine plötzlich getätigte Äußerung, die den Jüngeren zusammenzucken ließ, doch ihre Wirkung nicht verfehlte: er schwieg für einige Momente.

„Was soll der Schwachsinn, hm?“ setzte der Braunhaarige erst nach vielen Herzschlägen fort ohne sein aufgelöstes Gegenüber loszulassen „Du bist einer der stinknormalsten Kerle, die ich kenne. Und ich fürchte, du hast nicht so ganz verstanden worauf ich hinaus will.“

„Man wird mich hängen“ wisperte der Jüngere ungeachtet der Kommentare des Anderen „Man wird mich hängen, wenn es ans Licht kommt. I-ich will nicht sterben-“

Und plötzlich war da diese warme Hand an Malik's Kinn; sie zwang ihn dazu auf- und Altaïr anzusehen. In den Zügen seines Freundes – sie waren nun doch noch Freunde? - lag grimmige Entschlossenheit, aber auch irgendetwas... Anderes. Die dunklen Augen des Verzweifelten weiteten sich etwas und er wollte Luft holen, um eine verdatterte Frage zu schnappen, doch dazu kam er nicht mehr.
 

Altaïr schloss die goldenen Augen, als er seine Lippen sanft auf die Maliks legte. Und, oh, wo hatte er es bloß gelernt so zu küssen? Der völlig aus der Bahn geworfene Kleinere hätte sich niemals gedacht, dass jemand wie dieser sonst so grobe, gefühlskalte Meuchelmörder vor ihm so... so zärtlich sein könnte. Dass sich dessen schmalen Finger dermaßen vorsichtig nach oben, an Malik's Wange stehlen würden, um dort mit dem Daumen über errötete Haut zu streicheln. Altaïr's Hand war rau, die eines Kriegers, doch ihre Berührungen fühlten sich nicht unangenehm an. Im Gegenteil.

Der Schwarzhaarige spürte, wie seine ohnehin schon zitternden Knie weich wurden und er wollte sich reflexartig von dem Anderen zurückziehen. Doch Altaïr's Hand glitt unter Malik's Kapuze und nach hinten, in seinen Nacken, um ihn wieder enger an sich heran zu drücken. Der Ältere würde ihn nicht gehen lassen und das tat er in diesem Moment stumm, doch sehr unmissverständlich und bestimmend kund. Malik erschauderte hörbar, als sich Finger fordernd zwischen die kurzen Haare an seinem Hinterkopf gruben. „A-Altaïr...“ er atmete schwer gegen den leicht offenstehenden Mund des Adlers; zwischen seine und dessen Lippen hätte in diesem Moment kaum mehr ein Blatt Papier gepasst „Was... was wenn uns wer-“

„Uns sieht keiner.“ flüsterte Altaïr und Malik glaubte zu sehen wie er dabei schief grinste. Leicht öffnete der Schmunzelnde seine Augen wieder und suchte Blickkontakt; Malik's Weitsicht verschmälerte sich daraufhin und wurde zu einem Tunnelblick, in dem er nur noch diese... diese verdammten Augen sah. So goldbraun wie warmer Wüstensand; Sand der ihn schlussendlich noch zu verschlingen drohte. Er liebte sie. Wie sie ihn anstarrten, mit so viel... Erwartung und ungewohntem Verlangen darin, dass es ihm die Nackenhaare aufstellte und alle Bedenken fortwehte.

„Feigling.“ setzte Altaïr beinahe schon amüsiert nach und der gebannte Malik spürte dessen flach gehenden Atem über seine Haut streichen. Der Größere wollte seinen Freund damit bewusst anstacheln, nicht? Er gab ihm einen mentalen Schubser in eine Richtung, von der der angetane Malik noch nicht wusste, ob sie nun tatsächlich richtig oder doch falsch war: Der Schwarzhaarige legte seinen Kopf etwas schräg und gab seinen bösen Vorahnungen zu hastig nach, er wisperte ein „Ich bin kein Feigling...“ bevor seine hungrigen Lippen wieder die des Anderen suchten.

„Ma-Malik??“ ertönte kaum eine Sekunde später eine weitere, jugendliche Stimme und der zusammenzuckende Mann spürte, wie Altaïr ihn abrupt von sich drückte. Er wendete sich sofort und mit geweiteten Augen um, um nach seinem jüngeren Bruder zu suchen, der wie angewurzelt und mit perplexem Ausdruck im bleicher werdenden Gesicht dastand „Malik.“.

Kadar. Nein.

„Hey Malik!“

Der Assassine blinzelte und spürte, wie er so hart angerempelt wurde, dass er beinahe stolperte; abrupt und einen erschrockenen Laut von sich gebend, richtete er sich auf. Sein geschwungenes Kampfmesser in der Hand sah er alarmiert um sich, Verwirrung legte sich über seine farblose Miene... dann realisierte er erst nach vielen, schnellen Atemzügen wo er sich befand.

„Uh wow, ganz ruhig!“

Der Rafik starrte dem Mann vor sich irritiert entgegen. Ein junger Assassine stand vor seinem Bett, die beiden Hände abwehrend erhoben und die prüfenden Augen auf die scharfe Waffe in der Hand des Älteren gerichtet. Malik saß kerzengerade auf seiner Bettmatte und ließ das lange Messer in seiner Hand nur zögerlich wieder sinken.

Er hatte... geträumt. Schon wieder. Ein dunkler Schatten huschte über das Gesicht des Rafiks.

„Alles in Ordnung? Äh.“ der anwesende Bruder räusperte sich und kratzte sich verlegen am Hinterkopf „Ich wollte dich nicht wecken. Aber ich bin in einer dringlichen Angelegenheit unterwegs und-“

„Wie bist du hier rein gekommen?“ brummte Malik und rieb sich die Schläfe nachdem er sein Kampfmesser wieder abgelegt hatte „Ich habe die Dachluke verschlossen.“. Er hielt seinen wirren Kopf gesenkt und stöhnte entnervt. Seit Altaïr vor ein paar Tagen hier aufgetaucht war suchten ihn immer wieder alte Erinnerungen heim, die er an und für sich lieber verdrängen wollte. Er hätte sich nie gedacht, dass ein ungeplantes Wiedersehen mit seinem... verhassten Kollegen so viel in ihm auslösen würde. Es war zum Kotzen. Völlig geistesabwesend fasste sich Malik mit fahrigen Fingern an die Lippen – so, als könne er die des Anderen, damals 18-Jährigen, noch immer darauf spüren.

„Durchs Fenster.“ der junge Mann vor dem Bett des Rafiks nickte in die Richtung des Zimmerfensters, vor dem ein kleiner Tisch mit ein paar Büchern und einer Öllampe darauf stand „Tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht stören, Rafik.“.

Malik blickte wieder zu dem Anderen auf und setzte seine Füße vor seine Schlafstätte, er winkte ab, als er sich erhob und nach seinem schwarzen Mantel griff. Was für ein Start in den Tag... konnte ja nur mehr besser werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2013-03-06T14:51:08+00:00 06.03.2013 15:51
Woah. WOAH. ;____;
Antwort von:  Crevan
06.03.2013 15:56
D; <3 *keks hinschieb*


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