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100 Sünden musst du begehen...

...um in dieser Welt zu bestehen.
von

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Zentralfriedhof


 

(Freie Arbeit)
 

"Oh mein Gott, hast du schon den neuen Orkus gesehen? Alter, den musst du dir kaufen, guck doch mal!"

Mit diesen hysterischen Worten, die eines schönen Tages Mias großes Mundwerk verließen, begann eigentlich alles.

Noch ehe ich ein Nein oder ein Ja erwidern konnte, landete besagte Gothic-Zeitschrift auf dem Tisch, direkt vor meiner Nase.

Meine Augen wurden wahrscheinlich immer größer und größer ob des Bildes, welches meinen Blick anzog und gefangen hielt.

Vier Männer und eine Frau, ausschauend wie die dämonischen Geschwister Cradle of Filths; Ausgeburten der Hölle, Kinder des Satans, was auch das umgedrehte Kreuz im Bandnamen suggerierte.

"Sind die nicht geil?", schrie mir Mia vollkommen euphorietrunken ins Ohr. "Ich hab' ihr Lied gehört, Antik. Ich sag dir, du musst dir das reinziehen, das ist so die Härte!"

Auch ich konnte nicht leugnen, dass ich ziemlich angetan von diesem Bild war, welches nur so nach Provokation und dem Bösen roch, was man als Teenager von fünfzehn Jahren natürlich gierig in sich aufsog, denn provozieren und böse sein, das war es doch, wofür man in dieser Zeit lebte.

Ich zumindest blühte seit der Entdeckung dieser verruchten Band, die eine ganz besondere Aura umgab und ein merkwürdiges, dunkles Prickeln in mir hervorruf, förmlich auf.

Stundenlang lauschte ich ihren Songs, von deren Lyrics ich zugegebenermaßen nicht sonderlich viel verstehen konnte, da der Sänger - Askeroth, ich wollte ihm meine tiefe Vergötterung bezeugen - eher fauchte, gröhlte und schrie als sang.

Doch spielte das eine Rolle?

Die Sätze, die ich verstand, gefielen mir, setzten sich mit doch den Ungerechtigkeiten dieser Welt auseinander, die auch ich empfand.

Zum Beispiel fand ich es ungerecht, dass meine Eltern mir nicht erlaubten, einen schwarz gefärbten Sidecut zu tragen, nur weil sie fürchteten, die Nachbarn könnten sich über mich und somit über die ganze Familie echauffieren.

Die Poster an meinen Wänden sowie die umgedrehten Kreuze auf meinen Shirts und die Pentagramme, die provokant von meinem Hals hinabbaumelten, tolerierten sie noch halbwegs, wenn ich sie wie versprochen gut versteckt unter meiner Jacke trug.

Meine Jugendlichkeit aber hielt sich natürlich nicht an diese sie einengende Regel; Mit meiner Clique, die ebenfalls vom Nachtblut-Fieber befallen war, machten wir die Nächte häufig zum Tag und holten die verhassten Spießernachbarn mit gehörigem Krawall aus ihrem friedlichen Schlaf.

Wir waren gefangen in dieser außergewöhnlichen Welt der Sünde.

Der Genuss von Rotwein und das Schminken mit schwarzem Make Up fühlte sich so dermaßen richtig an, dass ich danach in lauter von Ekstase erfüllte Augenpaare blicken konnte, wann immer wir uns und unseren Lebensstil komplett auslebten.

Wir knieten vor Askeroth nieder, verehrten ihn wie den Teufel; wir wollten alles tun, um ihm nah zu sein.

Wir wollten ihm unsere Verehrung zeigen, wir wollten in seinem Sinne handeln.

Wir wollten sündigen und der Kirche unsere Verachtung zeigen, bis es keinen Morgen mehr gab.

Und wieder war es Mia, die den Stein ins Rollen brachte.
 

"Ich liebe es so sehr, Satanist zu sein - und ich möchte all die Dinge tun, die Satanisten machen."

Sie sagte dies mit einer Stimme, die vor Überwältigung zu beben schien, und die Blicke ihrer mit weißen Kontaktlinsen geschmückten Augen wanderten aufgeregt von Gesicht zu Gesicht.

Ich erinnere mich noch detailliert daran, wie sie uns allen eine Dose mit Graffitisprühfarbe in die Hand drückte und wir zunächst nicht wussten, was wir damit anfangen sollten.

Es war stockdunkle Nacht und obwohl die Straßenlaternen uns etwas Licht spendeten, so würde uns dieses schon bald verlassen.

Denn an dem Ort, wohin uns Mia führte, schien niemals die Sonne, auch nicht bei Tag.

Die Seelen der Toten erfuhren keine Erleuchtung und die Überreste deren Körper lagen halb verrottet unter der Erde des Zentralfriedhofs.

"Lasst uns den Laden ein Bisschen aufmischen", schlug Mia an der großen Eisentür, die die Welt der Lebendigen von der der Gestorbenen trennte, begeistert vor. "Die scheiß Spießerkirche soll sehen, dass es auch Leute gibt, die sie verachten. Wir sind längst nicht alle Jesus' kleine, braven Schäfchen."

So entschlossen wie unsere Freundin erklomm allerdings keiner von uns Jungs die dicke Steinmauer, denn trotzdem wir gern den Rebellen raushängen ließen, war uns bereits in unserem jugendlichen Alter bewusst, dass wir drauf und dran waren, eine Straftat zu begehen.

Ich gebe zu, dass mir der Arsch verdammt nochmal auf Grundeis ging, so wie ich den ersten Fuß in das Gras auf der anderen Seite setzte.

Nichts auf der ganzen Welt vermochte jetzt meinen Puls- und Herzschlag zu senken, aber so wie ich hinter den anderen her schlich, die sich der Anführerin ebenfalls nicht widersetzten, dachte ich an meine Lieblingsband.

Ich fragte mich, wie viele Friedhöfe Askeroth wohl schon verwüstet hatte, wie viele Gräber von seinem Pentagramm gezeichnet wurden.

Wenn ich diese Aktion durchzog, würde ich ihm ein Stück näher kommen, außerdem hatte Mia Recht; wir waren Satanisten, wir durften keine halben Sachen machen.

Daran dachte ich ganz fest, während ich Grab um Grab mit dem unheiligen Zeichen versah.

Mir war, als hätte ich den Schalter entdeckt, der das schlechte Gewissen einfach auslöschen konnte.
 

Ich tat dies aus Liebe.

Aus Verehrung.

Und aus Gruppenzwang.

Aber aus Unwissenheit...?

Niemals.
 

Es war nicht die Polizei, die mir wenige Minuten später auf dem Revier den Kopf wusch, es waren auch nicht meine Eltern, die mich mit dem ärgerlichsten Blick, den sie zu bieten hatten, abholten und ins Auto setzten.

Selbst ihre scheltenden Worte vermochten mich nicht zu erreichen; zu diesem Zeitpunkt war ich noch fest davon überzeugt, das Richtige getan zu und in Askeroths Sinne gehandelt zu haben.

Ich wusste, dass es im rechtlichen Sinne falsch war, aber für meine Person und vor allem für meinen Glauben hätte ich diese Sünde erneut begangen.

Erst Monate später, als ich zum ersten Mal dem leibhaftigen Askeroth gegenüberstehen durfte und das Interesse in mir geweckt wurde, mir die Lyrics aller Songs aus dem Internet zu ziehen, überfiel mich ein mieses Gefühl tiefer Scham.

So hieß es doch in ihrem Song 'Rache':
 

"Ich wollt doch nur beweisen, dass ich mutig bin

Dass ich Dinge, die ich angefangen, auch zu Ende bringe

Alles Leben geht nun weiter, nur das Meine nicht

Für die Lebenden sind die Toten unwichtig."
 

Ich, der mich erheben wollte von der breiten Masse der Menschen, welche sich meines Erachtens nach blind in ihr eigenes Unglück stürzte, da sie der Kirche hinterherhechelte, war im Grunde einer von ihnen gewesen.

Ich hatte die Ehre der Toten missachtet; mein Hass war mir wichtiger gewesen als jeglicher Respekt.

Das, was ich getan hatte, war nicht im Sinne eines Satanisten, wie ich ebenfalls herausfand, als ich mich zum ersten Mal wirklich mit dem beschäftigte, was ich seit Monaten leben wollte.

Wie dumm ich war, wie dumm wir alle waren.
 

Würden wir nun als Strafe in den Himmel kommen, wenn wir einmal starben?



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