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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Exekution

Angelo fiel ein Stein – nein – ein ganzer schwebender Felsen vom Herzen, da sich das Jadegrün der Außenwelt wieder offenbarte. Marcello blinzelte. Sein Antlitz hatte Farbe angenommen, wenn auch bloß durch die frenetischen Schläge seines Halbbruders. „Ich muss wohl eingenickt sein.“

„Eingenickt?! Du sahst aus wie tot!“

„Das hättest du gerne, hm?“

Er schwitzte wie von einem Spurt nach Simpleton und zurück. „Hör zu: Ich habe mir nie gewünscht, dich zu verlieren. Nur weil du jemanden hasst, hasst dieser Jemand dich nicht zwangsläufig ebenfalls!“

„Lass mich los.“

Er tat es und verließ das Zimmer mit großen, hastigen Schritten. Auf dem Flur wäre er um ein weißes Haar in einen Templer hineingelaufen. „Hauptmann! Was ist los?“

„Nichts. Warum seid Ihr hier?“

„Es ist seltsam: Die Monster in der Nähe der Abtei haben sich zurückgezogen. Auf unserem Spähgang zur Ruine ist uns kein einziges begegnet!“

„Dann werden sie derzeit wieder irgendwo in Massen angreifen. Beten wir, dass es kein bevölkerter Ort ist. Wie weit sind die Zivilisten?“

„Wir versammeln sie gerade auf dem Hof und führen dann die Zählung durch.“

„Ausgezeichnet. Wie übel die Monsterkrisen auch sind: Wir sollten die Gelegenheit ausnutzen und sie zur Abtei-Ruine geleiten, solange die Monster anderweitig beschäftigt sind.“

„Jawohl!“

Marcello trat an ihn heran, und lieber hätte er eine Horde hungriger Hölligatoren hinter sich gewusst. „Trage den Ring nicht, wenn wir in den Kampf ziehen. Lilius könnte seiner habhaft werden, wenn er dir die Hand abschlägt.“

Er zog sich den Templeroffiziersring vom Finger und verstaute ihn unter seinem Habit, unweit seines Herzens. „Nur über meinen Tod soll er ihn bekommen. Bist du soweit?“

Im Glas der Fenster zum Innenhof sah er ihn nicken. „Und noch etwas: Lass dich auf keinen Fall zu Dummheiten verleiten, nur weil ich in Schwierigkeiten gerate.“

„Wann habe ich das jemals getan?“

Marcellos sich verschärfende Augen antworteten: Du weißt genau, was ich meine!
 

Auf den ersten Blick glich der Innenhof einem Teich voller greifbarer Sterne. Lampen und Kerzen spendeten ihr dichtes, samtiges Licht, und in ihren bronzenen Schatten lugten schummerig die Konterfeis der Angelo Anvertrauten hervor. Sie bestanden darauf, die Wanderung nicht in völliger Finsternis anzutreten, und obzwar dies ein gewisses Risiko barg, ließ er sie gewähren, denn jeder von ihnen konnte momentan ein kleines Licht gut gebrauchen. „Sind die Kinder alle warm eingehüllt?“

„Ja, Hauptmann. Aber es gibt ein anderes Problem: Celino möchte die Abtei nicht verlassen.“

„Wieso nicht?“

„Das hört Ihr Euch besser persönlich an. Er ist in der Kapelle, in einer der Apsiden.“

Dort stand auch das Cembalo. Und da vermochte er sich zu denken, weshalb.

„Wir können uns keine weitere Verzögerung erlauben“, stellte Marcello ihm klar. „Sei nicht zu rücksichtsvoll mit kindlichem Trotz.“

„Komm mit.“

Die Kapelle schlummerte in ihrer ehrwürdigen, steinigen, den Geruch von Staub tragenden Regungslosigkeit. Einsam schwirrten Töne durch den Raum, prallten am Gemäuer ab, statt – wie sie sollten – in seine Furchen zu dringen und es von dort zum Schwingen zu bringen. Aus dem Dunkel in der Apsis tauchte ein breiter, mutloser Rücken.

„Celino?“

„Nein! Ich beweg’ mich nicht von hier weg, bevor ich nicht endlich diesen Schluss hinbekomme!“

„Celino kam zu uns, nachdem er seine Eltern durch einen Überfall von Rhapthornes Schattenmonstern verloren hatte“, fühlte sich Angelo gedrängt, seinem Halbbruder zu berichten. „Er entstammt einer wohlhabenden Familie, die es mit ihrer Fürsorge zu gut meinte. Er erschien mir selbst dann noch pappsatt, als er völlig erschöpft bei uns ankam. Ich vermute, dass er irgendwo Verwandte hat, aber die haben ihn wohl neben dem üppigen Erbe seiner Eltern nicht entdeckt. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“

„Heutzutage hat keines es einfach. Diese Welt bietet keinen geeigneten Platz für Kinder, die sich nicht entschließen, früh erwachsen zu werden.“

„Durchaus“, widersprach er. „Solange das Porträt von Abt Francisco in ihr hängt, wird die Maella-Abtei Obdach für alle Kinder, die ein solches benötigen, sein.“

Marcello schritt auf die Apsis zu, und Angelo beobachtete, wie Celino verwundert zu dem Fremden aufblickte, ehe er sich vom Schemel schob, um ihn seinen Platz einnehmen zu lassen. Die Saiten seufzten unter den liebevollen Fingern, und bald darauf hatte sich das In gloria Deae Matris niemals vollkommener angehört. Celino musste glauben, neben einem Engel zu stehen. Unbeirrbar schmiegten sich die klaren Klänge in die Furchen des Gemäuers und brachten es zum Erschauern. Angelo streifte luftförmiger Diamant durch die Ohren; sein Herz konnte nicht anders, als sich vom gleißenden Gesang des Instrumentes wiegen zu lassen, als hätte es just seinen eigenen Rhythmus vergessen. Tief getroffen wurde er Zeuge, wie Marcello dem Jungen das Stück geduldig beibrachte.

Und von irgendwo ein Kirchenchor.
 

*
 

„Da sind sie!“

Alle richteten ihre Blicke gen Horizont. Weiße Uniformen, wippend auf den Rücken stolzer Rösser, setzten sich dort von der Nacht ab. Marcello gab den Templern Anordnungen, ehe Angelo überhaupt dazu kam, ihnen seine Körperfront zuzudrehen: „Zurück in die Kapelle! Verteilen! Sobald der Großmeister und seine Ritter über die Schwelle getreten sind, hüllt sie in Feuer ein! Keine Reservierungen! Die Fassade des Gebäudes kann ersetzt werden – einer von euch nicht! Ich erwarte, nachher nur Rittermäntel vom Boden aufsammeln lassen zu müssen!“

Obwohl er nicht einmal ein Habit, geschweige denn den Siegelring des Hauptmannes trug, gehorchten die Männer ihm, als wäre das vergangene Jahr niemals geschehen. Seine mitreißende Dominanz war also immer noch vorhanden. Die in den Himmel strebende Stimme des vom Eifer der Jugend beflügelten Templeroffiziers war ihrer Wirkung nicht verlustig gegangen. Er war rigoros gewesen, aber resolut, erinnerte sich Angelo, und als Anführer hatte er nie versagt. Die Rolle des Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei war ihm auf den Leib geschnitten, und endlich verstand der neue Hauptmann, dass es frustrane Mühe war, sich in diese Rüstung zwängen zu versuchen.

Doch in jenem Moment, da die Templer ihre Positionen eingenommen hatten, entblößten welche der von Marcello mitgebrachten Ritter ihre Schwerter und attackierten ihn. Als hätte er es vorausgesehen, hielt er in letzter Sekunde das Chaosflorett dagegen und sie mit einem Schmurgel auf Distanz.

Angelo mischte sich ein. „Verdammt! Ich dachte, die wären in Ordnung!“

„Gedacht habe ich es auch, doch ihnen deshalb nicht gleich vertraut!“

Gladio und weitere Templer aus der Kapelle kamen ihnen zur Hilfe, und die übrigen beiden Ritter erwiesen sich als ihres Vertrauens würdig. Ihre Unterstützung war gelegen, denn bald darauf sprangen Großmeister Lilius und dessen Gefolgsleute von ihren Reittieren und machten das Gefecht sich expandieren. Sogleich widmete sich Marcello dem Kopf des Ordens. „Es hätte mich enttäuscht, wenn Ihr auf meine Treuebekundung hereingefallen wäret!“

„Ihr fahrt weidlich optimistisch in Beachtung dessen, uns als Verräter von größerem Gebrauch gewesen zu sein denn als Verbündeter. Sowie wir informiert wurden über den Zusammenzug der trodainischen und ascanthischen Heere durch Euren Bruder, entsandten wir Jessica Albert in äußerster Absicht zu Euch. Eure Bekanntschaft ermöglichte Euch, in scheinbarem Unauffallen nach Maella zu reisen, Euren Bruder zu erschrecken und ihn zu zwingen, gar fliegend hierherzusputen, sonder die Soldaten, welche unserem Bestreben entgegengewirkt hätten.“

Angelo drängte mit der Lichtklinge des Shamshirs zwischen die beiden.

„Und die Euch zu Trodain ereilende Kunde“, sprach der Großmeister da weiter, „war mitnichten die Beobachtung eines unparteiischen Matrosen…“

„…sondern der gelungene Rank eines Eurer Marcello aufgebundenen Spitzel!“ Der rote Templer bearbeitete ihn mit einem Falkenhieb, aber Lilius parierte mühelos. Anstatt zu kontern, zog er sich jedoch zurück. Überrascht starrte Angelo ihm hinterher.

„Kameraden? Die Geisel!“

Einer der Ritter, welcher die Auseinandersetzung bisher gemieden hatte, trat nun hervor. In seinem Griff: Jessica!

„Selbstverständlich haben wir nicht verpasst, Eure kesse Freundin am dräuenden Niedergang der Templer teilnehmen zu lassen.“

„Dann haben sie auch den Prinzen“, schwante Marcello.

Jessica strengte sich an, Worte zu bilden gegen den Knebel und sich von den Fesseln um ihre Gelenke zu befreien.

„Was verlangt Ihr für sie?“, wollte Angelo wissen.

Lilius lächelte. „Die Abtei, Prior! Als auch Eure Kapitulation. So Ihr nicht kompromissber…“

Marcello setzte zum Angriff an. Er, in den Augenwinkeln registrierend, wie Jessicas Wächter ihr eine Klinge an den Hals hob, reagierte kurzentschlossen, wehrte die Attacke seines Halbbruders auf ihren Feind ab und gab somit einem der Ritter ungewollt Gelegenheit, Marcello dergestalt hart auf den Degenkorb zu treffen, dass seine Hand umknickte und das Chaosflorett ellenweit davonflog. Schmerz und Wut blitzten in seinen Augen. „Das war die falsche Richtung, Angelo!“

Er war machtlos, solange sie Jessica hatten. Lilius’ Lakaien gelang es, sie in Gewahrsam zu nehmen. Ihr Befehlshaber streifte um sie her wie eine bejahrte Säbelzahnkatze. Dann inspizierte er den goldenen Kranz, den Marcello trug. „Marozia. Dies Kleinod ist kennzeichnend für die Kunst ihrer Kultur. Ein Vermächtnis Eurer Mutter, nicht wahr?“

„Großmeister!“

Seine Finger glitten von der Kette, und er schenkte einem seiner Spione Aufmerksamkeit. „Sprecht.“

„Die Insassen der Abtei sowie die Bewohner von Simpleton wurden in die Ruine der vorherigen Abtei gebracht. Mit ihren Siegelringen pflegen die Templer den Eingang nach Belieben zu öffnen und zu schließen.“

„Exzellent. Hauptmann Angelo – ich darf um den Euren bitten?“

„Auf den gleisnerischen Mänteln sind Blutflecken am deutlichsten zu erkennen“, spottete Marcello. „Und das Blut von Kindern leuchtet besonders intensiv. Ist es das, was Ihr "Reorganisation" nennt?“

„Ihr vermögt unseren Puls nicht in Wallung zu versetzen. Dass Ihr ein Großmaul seid, ist uns hinlänglich bekannt. Freilich muss es groß sein, um jemanden wie Hohepriester Rolo aufnehmen zu können. Euren Ambitionen habt Ihr fürwahr alles hingegeben, hm? Doch ist das des Lobes wert oder schlichtweg nur schändlich?“

„Ich bereue nichts von allem, was ich unternommen habe, um die Welt ein Stück besser zu gestalten!“

„Ich bitte Euch: Ihr rieft den Fürsten der Finsternis zurück in das Leben! Für dies Vergehen – jenen Hochverrat an der Menschheit – erwartet Euch die Todesstrafe.“

„Nicht er hat Rhapthorne ins Leben gerufen!“, platzte Angelo dazwischen, fast aus dem Griff der Ritter geratend. „Rhapthornes in das Zepter eingeschlossene Seele selbst war es!“

„Aber alles, dem die Zeugen ansichtig wurden, war der Oberste Hohepriester Marcello, die Göttinnenstatue destruierend, aus welcher die Schwarze Zitadelle gen Himmel fuhr. Wir richten uns demütig nach den Wünschen des Volkes – und wenn es wünscht, jenen Mann auf dem Schafott zu erblicken, so müssen wir das verstehen. Der Tod eines Einzelnen satisfiziert den imminenten, destruktiven Furor der gemeinen Zivilisation – oder wie Ihr selbst spracht, Marcello: "Persönlich verstehe ich Euren Beweggrund, doch als Mann von Eurer Position ist man gezwungen, solche Opfer zu erbringen". Nun – ich begreife mich als einen Mann von derartiger Position. Und Euch, Prior, werden wir ebenfalls belangen behufs Beihilfe sowie Beherbergung des Papstmörders und Usurpators – gesetzt, Ihr würdet Euch nicht reinwaschen ob Eurer Schuld, indem Ihr die Maella-Abtei in holde Hände gebt.“

„Niemals!“

„So werdet Ihr sterben.“

„…Tu es.“

Sämtliche Blicke trafen den Verurteilten. „Was?!“, japste dessen Halbbruder.

„Unterwirf dem Hypokriten die Abtei. Das Leben der Kinder, Simpletoner, der Mönche, Ritter und dir ist von wesentlicherer Bedeutung als der Zank, unter wessen Wappen diese Gemäuer fortan bestehen.“

„Aber…!“

„Abt Francisco würde es so wollen.“

Angelo nahm sich die Zeit, die Szene – die Situation, in welche sie gefahren waren, seit sie beschlossen hatten, sich dem Argon-Orden zu widersetzen – zu realisieren, und fragte sich, während alles still war, ob sie eine Sackgasse darstellte. Schimmernder Augen fieberte Jessica mit ihm. Neben ihrem glühenden Schopf ergrauten die Templer, die Ritter, deren Gesichter diverse Grade von Spannung dokumentierten. Großmeister Lilius suchte seinem inneren Disput zu folgen, und Marcello forderte seine Antwort. Hatte er nicht Recht? Existierte eine andere Option, als zu kapitulieren? Vor Kurzem hätte er es als einen Verrat gegenüber seinem Mentor empfunden – wäre es jetzt nicht ein Verrat an jenen Menschen, welche ihm vertrauten, welche sich im Duster der alten Ruine außer Gefahr hofften?

Die Muskeln in seinen Gliedern entspannten sich. „Templer. Lasst die Waffen fallen.“

Er hörte sie raunen. Der vormalige Hauptmann nickte. Und wie ein beginnender Regen, der erst tröpfelt, dann gießt, prasselten die Schwerter auf den Boden. Jegliche Zuflucht der Göttin war verloren. Den Gläubigen würde bald nichts bleiben, als ihren Glauben aufzugeben. Die letzte brennende Kerze in der Finsternis taumelte und erlosch. Alles war schwarz.

Zwei Ritter führten den gescheiterten Obersten Hohepriester ab. Marcello blieb noch einmal stehen, um sich vielleicht ein letztes Mal zu ihm umzudrehen. „Konzentriere dich auf das, was nun wichtig ist. Für mich… bedeutet der Tod eine Gnade.“

Damit schritt er zwischen den beiden her, als würde er sich von ihnen auf einem Spaziergang begleiten lassen.

„Angelo.“ Es war Jessica. „Es tut mir so Leid für Euch.“

„Braucht es nicht. Es ist noch nicht vorbei. Der Krieg hat gerade erst angefangen. Templer Gladio! Holt Bruder Theophilus! Er soll an Trodain und Ascantha schreiben. Wir ändern unseren Kurs von Argonia auf die Heilige Stätte Savella.“

Niemand rührte sich. Er spürte Resignation hinter seinem Rücken. „Hauptmann“, begann einer endlich, die Bedenken aller zu verbalisieren. „Sollen wir wirklich kämpfen? Ist es das Richtige? Können wir überhaupt gewinnen? Oder verlieren wir letztlich nur noch mehr?“

Ein anderer stimmte ihm zu: „Ihr setzt doch jetzt nur alles auf eine Karte, weil sie Euren Bruder mitgenommen haben. Euer Sinnen auf Rache ist nachvollziehbar, aber Ihr müsst auch uns verstehen! Wir wollen keinen vergeblichen Krieg wegen eines einzigen Menschen, der – das könnt Ihr nicht abstreiten – bewiesen schuldig ist.“

Angelo formte Fäuste; seine Zähne knirschten, seine Augen brannten. Er wirbelte herum und schreckte die Templer allein vermöge seines Blickes! „Ihr habt gar nichts verloren! Gar nichts! Ist es das, was ihr mir weismachen wollt?! Ich bin enttäuscht von euch! Ja! Wirklich enttäuscht! Dass wir soeben die Abtei an diese Höllenschleicher abgetreten haben, scheint glatt an euch vorübergegangen zu sein! Es geht hier nicht um meinen Halbbruder und nicht einmal um euren ehemaligen Hauptmann! Das, was mich dermaßen erregt, ist, dass der einst hoch angesehene "Stahl der Göttin" augenblicklich vor mir steht wie Kiesel kickende Kinder!“ Er stieß sich von der Stelle, teilte die Versammelten mit großen, festen Schritten und breitete die Arme aus. „Was ist ein Templer? Ist er ein mit dem Wissen über Schwerter und Schriften ausgestatteter Kriegermönch, der im Namen der Göttin Ihren Stellvertreter auf Erden, den Obersten Hohepriester, verteidigt, und dies selbst unter Einsatz seines Lebens? Ist er die Manifestation des göttlichen Armes, der sich hütend vor jeden Gläubigen hebt, um jenen Glauben zu bewahren? Ist er der im Blau des Himmels gewandete Ritter, zu dem unsere Kinder aufblicken? Oder ist er ein Maulheld, versteckt hinter diesen massiven Mauern und ratlos, feige, sich nach der Blind- und Taubheit des Schlafes sehnend, so wie ihr alle gerade? Wendet eure Blicke nicht ab!“ Er sprang auf den Rand des Brunnens. „Natürlich scheint die Lage aussichtslos, wenn ihr bloß auf den Boden starrt! Richtet eure Augen auf mich und auf den Himmel hinter mir! Wird er nicht immer wieder blau, wie lang die Nacht auch war? Niemand, der unter ihm weilt, führt ein sorgloses Leben! Der Knecht nicht, der König nicht, der Räuber nicht, der Richter nicht! Deshalb: Wählt euren Weg frei! Seid ihr auf materiellen Reichtum aus, dann geht jetzt und werdet Händler oder Söldner! Zu Tempelrittern jedoch macht euch die Bereitschaft, den gegenständlichen Gütern entschieden den Rücken zu kehren! Templer der Maella-Abtei! Die Göttin strahlt heller als jedes Gold! Und wenn sich Ihr gleißendes Kleid am Morgen wieder über unsere Welt breitet, taucht eure Schwerter in Ihren Glanz und reitet auf Ihren Strahlen hin zu jenen, die sich Ritter nennen und aus den Steinen der Heiligen Stätten, auf der Asche unseres Glaubens ihre prunkvollen Paläste bauen! Die Göttin hat sie in unsere Hände gegeben, also lasst uns wie die Monster sein und nicht tatenlos akzeptieren, wie sie uns alles, was uns wichtig ist und an das wir glauben, widerrechtlich entreißen!“

Er keuchte; sein Arm wurde taub. Er ließ ihn sinken. Im Morgengrauen erspähte er runde Augen aus der Schar seiner Untergebenen. Dann, endlich, eine Faust. „Für Abt Francisco!“

Noch eine. „Für Abt Francisco!“

„Für Francisco!“

„Für Francisco!“

„Nein“, korrigierte er sie. „Abt Francisco würde es nicht wünschen, dass in seinem Namen Schlachten geschlagen werden. Zu kämpfen ist unumgänglich, aber wir sollten nicht den Abt dafür verantwortlich machen.“

Inmitten der auseinanderstiebenden Templer hüpfte er vom Brunnen. Jessica erwartete ihn.

„Verzeiht mir, aber ich sehe keine andere Möglichkeit mehr.“

„Es ist in Ordnung. Ich glaube, Ihr hattet Recht mit Eurer Ahnung. Ohne dass ich alle Ritter der Neuen Welt verteufeln will, aber Lilius ist definitiv ein tückischer Mann. Seine einzige Wohltat besteht darin, Euren schrecklichen Bruder hinrichten zu lassen.“

„Jessica!“

Sie zwinkerte.
 

Marcellos Blick schweifte aus dem Fenster.

„Die Sonne wird sich bald erheben“, teilte Großmeister Lilius ihm überflüssigerweise mit. Ihr erwachender Glanz war es nicht, was sein Augenmerk nach draußen lenkte. Durch den schwebenden Felsen war erneut ein Zittern gegangen. Erst neulich hatte eine Monsterkrise auf dem Einsamen Plateau stattgefunden. Nicht mehr lange, und der Fels würde fallen.

Lilius winkte den Obersten Hohepriester Rolo heran. Er sah niedergeschlagen aus. Auf seinen Händen transportierte er akkurat zusammengelegte Kleidung, deren Farbe Erinnerungen wachrief.

„Wir erweisen uns als barmherzig. Das Volk würde sich empören, darob offerieren wir Euch hierselbst die Ablage der Beichte sowie den Empfang der Weihe durch den Obersten Hohepriester. Zuvorderst jedoch insistieren wir darauf, dass Ihr dies Replikat Eurer alten Zeremonieuniform im Zuge der Exekution tragt zur – sagen wir – "Exempelstatuierung".“

In einem der Nebenzimmer zog er sich um. Seit Jahren schienen seine Finger nicht mehr in Leder gehüllt gewesen zu sein. Es roch nach Weihrauch. Und Glorie. Er schloss die Augen und sah sich wieder auf dem Triumphbogen vor der Statue der Göttin stehen, eine feurige Rede haltend. Dann kehrte er zurück. Rolo bedachte ihn mit einer Miene, als wäre er selbst es, der vor dem Stellvertreter der Göttin auf Erden stand. Marcello begab sich vor ihm auf ein Knie und erniedrigte sein Haupt. Er wusste, dass es Lilius allein darum ging, ihn zu demütigen, doch demütigen kann man nur den, der sich demütigen lässt. Nüchtern empfing er Rolos Worte und Berührungen.

„Das genügt!“

Der Oberste Hohepriester zog sich schuldbewusst zurück.

„Auf! So der erste Sonnenstrahl das Schwertsilber streift, sind Eure Sekunden gezählt!“

Er folgte in dem aus Rittern, Rolo und seinem Richter bestehenden Tross auf den Platz vor der eleganten, kalksteingrauen Savella-Kathedrale. Mehr Menschen als er den Gaststätten Savellas aufnehmen zu können zugemutet hätte und noch mehr Menschen als vor zwei Monaten während seiner Initiation hatten sich hier zusammengefunden, um seinem unnatürlichen Dahinscheiden beizuwohnen. Sie bestaunten ihn wie die neue Schöpfung eines Steinmetzen. Vögel zwitscherten. Er stieg auf das im Zentrum errichtete Podium und kniete sich mit erhobenem Haupt an dessen Rand, von wo aus jeder ihn gut beäugen konnte. Ein Ritter positionierte sich rechts, ein zweiter links hinter ihn. Ihre breiten Schwerter schleiften aus ihren Hüllen, nahe seinen Ohren.

„Marcello“, deklamierte Rolo, und er wusste nicht, wie oft er seinen Namen bereits aus dem Mund dieses kleinwüchsigen Glatzkopfes hatte vernehmen müssen, wenngleich nicht jedes Mal derart beherrscht wie jetzt. „Mit dem ersten Sonnenstrahl werdet Ihr enthauptet.“

Es folgte die langweilige Liste seiner tatsächlichen und angedichteten Vergehen. Vielleicht verschaffte sie seinem als Führer völlig unqualifizierten Halbbruder wenigstens ausreichend Zeit, um die Heere zu organisieren.

Rolo holte Luft.

Ein bisschen unangenehm war die Vorstellung seines über die Bretter kugelnden Kopfes schon. Es hatte nichts mit einem ehrenvollen Tod zu tun, womöglich von diesem Gestell und in die Hände eines Weibes zu rollen, das kreischte und ihn von sich warf, herumgeschmissen zu werden gleich einem… Kuhfladen. Wie würde seine Mimik aussehen? Ob er sie posthum wohl noch flink korrigieren könnte? Vermochte die Mimik – noch so erhaben – den entwürdigenden Umstand eines abgetrennten Kopfes überhaupt zu kompensieren? Die Gewissheit, die Reaktionen des Publikums nicht lange evaluieren zu können, war kein rechter Trost.

Der Morgen kitzelte auf seiner Nase. Er senkte die Lider.

Angelo.

Nun liegt es an dir.
 

Die Klinge schlug zu.
 

*
 

Der Knoten um seine Handgelenke zersprang in zwei Teile. Aufblinzelnd, machte er Angelo im blendenden Licht fliegend aus und im Schatten seines Antlitzes ein zähnezeigendes Grinsen! „Fang!“

Eine schlanke, silberne Klinge wirbelte auf ihn zu. Perplex fing er sie auf und erkannte im federleichten Degen ein Merkurflorett.

„König Trode und ich haben es uns erlaubt, dein Chaosflorett ein bisschen aufzupolieren! Viel Vergnügen damit!“

Marcello testete es prompt an seinen Henkern. Die Schaulustigen auf dem Platz stürzten in alle Richtungen auseinander gleich aus einem Klunkerbeutel prasselnden Perlen und wurden durch johlende, schwertschwingende Soldaten ersetzt. König Trode in ihrer Front brüllte Befehle wie Blitze, und selbst König Pavan gebrauchte eine Waffe!

„Trode!“, bellte Großmeister Lilius. „Sollte der nicht tot sein?!“

Der seiner Exekution Entronnene sprang vom Podium und entledigte die Templer eines weiteren Ritters. Gladio schnaubte. „Schön, Euch wieder an unserer Seite zu haben, Hauptmann!“

Jessica schloss sie attackierende Weißmäntel in die flammenden Arme eines Schmors, indessen Angelo ihren Befehlshaber in ein Duell verwickelte. „Die Gemeinschaft macht Euch stark! Aber auf sich allein gestellt, ist selbst der Großmeister der Ritter der Neuen Welt zu besiegen!“

„Ihr wisst nicht, was Ihr tut! Desistiert von Eurem Vorhaben! Die Welt wird dem Chaos anheimfallen, so Ihr wider den Argon-Orden streitet!“

Marcello entglitt einem Schlag und kam neben Jessica auf, welche gegen das ihm hinterhergeworfene Zisch einen Magieschirm heraufbeschwor. In letzter Sekunde zog er sie vor einem Hinterhalt beiseite. Sie schwang ihre Peitsche in einem weiten Radius, fesselte drei Ritter damit und schleuderte sie in das Angriffsfeld des verhassten Bastards. „Marcello!“

Der Gerufene reagierte sofort und setzte die Fliegenden mittels Windsichel außer Gefecht.

„Ihr habt mich stets von oben herab behandelt! Ihr seid meine Fragen und Bitten jedes Mal übergangen! Die Welt fiel dem Chaos zu, während Ihr an nichts anderes gedacht habt als an die Übernahme der Maella-Abtei, obwohl ich wieder und wieder versucht habe, mit Euch darüber zu reden!“ Seinem Flammenhieb hielt der Grauäugige einen Eishieb entgegen. Die Effekte hoben sich auf.

„Ihr tötet diese Ritter, die sich nichts zuschulden kommen ließen denn mir zu dienen!“

„Im Gegensatz zu Euch habe ich mich nie für einen Heiligen gehalten!“

Sein Halbbruder mischte sich zwischen sie. „Überlass ihn mir!“ Angelos Einverständnis zeigte sich in seinem Abwenden und Vorbereiten des Odinbogens, mittels welchem er spendabel Schlummerpfeile in das kämpfende Durcheinander schoss. Einer davon traf Rolo, der sich zusammengerollt und die Hände über die kreuzförmige Tätowierung auf seinem Haupt geschlagen hatte. Er fiel sofort in einen entspannenden Schlaf.

„Welch formidable Allianz wir hätten bilden können!“, appellierte Lilius an sein Gewissen, Hiebe austeilend und parierend.

„Ich arbeite mit niemandem zusammen!“, entgegnete Marcello.

„Nicht Ihr seid es, von dem ich spreche… Ich spreche von mir und Rhapthorne!“

Die über ihnen hängende Insel bebte mit einem dumpfen Grollen. Der Ex-Templer steckte einen Treffer ein. Er stützte sich vom Pflaster ab. „Rhapthorne?!“

„Die Ritter sind erleeedigt!“, triumphierte König Trode und stemmte seinen kleinen Fuß in den Rücken eines Bewusstlosen.

Auch Angelo nahm erfreut zur Kenntnis, dass keine weiteren Gegner mehr nachströmten. „Jessica! Templer! Kümmert euch um sie! Es wird Zeit für das finale Feuerwerk!“

Die Sonne verfolgte das Spektakel von ihrem hohen Thron. Über die Spitzen der Kathedrale, welche dem Schauspiel als Kulisse diente, flogen Boten Empyreas hinweg, um die Kunde vom künftigen Frieden zu verbreiten. Womöglich drückte die Göttin selbst ihnen Ihre Daumen.

Marcello rollte zur Seite, und der Ort von Lilius’ Degen stieß gegen den harten Grund.

Womöglich wandte Sie auch Ihren Blick ab vom Unwissen der Siegenden und trauerte um den Zweck der Ritter der Neuen Welt, die der alten viel Gutes gebracht hatten.

„Marcello! Hierher! Ich hoffe, du hast nicht vergessen, wie man betet!“

Ob Angelo die richtige Entscheidung getroffen hatte? Er wusste es nicht. Dieses Mal vermochte er nicht zu sagen, ob er der Gute oder der Böse war.

„Das sind Fisimatenten! Alles Fisimatenten! Ich bin wider jegliches gefeit! Bleibt!“ Lilius schickte Marcello einen Angriff hinterher, der ihn nicht mehr erreichte. Sein Halbbruder sprang hinauf und beschrieb einen gleißenden Schnitt in die Luft, welchen Angelo mit einem vertikalen ergänzte, das gigantische Kreuz vollendend. Sie beteten und öffneten ein Portal zum Himmel. Das Licht des Perlentors verschluckte Lilius und ließ nicht einmal seinen weißen Mantel zurück.

Angelo landete und blickte empor, wo die Sonne bunte, gemmenförmige Gebilde warf. Er verspürte keine Genugtuung, keinen Stolz über ihren Sieg. Wenn es einen Sieger gibt, dann immer auch einen Verlierer. Vögel saßen auf den Fialen der Kirchtürme.

„Du wolltest dich nicht auf Dummheiten einlassen.“

„Tut mir Leid, dass ich dir wieder einmal deinen Hintern gerettet habe, Prinzessin. Ich konnte einfach nicht auf das Gesicht verzichten, das du machen würdest, wenn ich komme und dich vor dem Himmel bewahre.“

„Wie lange muss ich denn noch leben? Bis du selbst tot bist?“ Marcello drehte sich um und ging.
 

Nachdem er aufgewacht war, zog Rolo wieder in die ihm zustehenden Gemächer ein und gab den erschöpften Soldaten, Templern und Rittern alle übrigen Zimmer und Plätze frei, um ihre Lager und Zelte dort aufzuschlagen. „Ich bin euch zu Dank verpflichtet“, sprach er an den Hauptmann der Templer sowie die beiden Könige. „Ohne euch hätte der Argon-Orden die Herrschaft über Savella errungen und damit auch über die gesamte Welt. Ich bin zuversichtlich, dass die bewusstlosen Ritter bald zu sich kommen und dem Gebrauch von Lilius’ dubiosem Zauberzeug abschwören werden. Wenn sie es wollen, werde ich sie in die päpstliche Wache integrieren und keine Mühen und Kosten scheuen, um ihnen die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern, so wie es in meiner Macht steht.“

Angelo zweifelte nicht daran, dass der Oberste Hohepriester es ernst meinte. Damals hatte er ihn nicht ausstehen können, doch nach ihrem gemeinsamen, unfreiwilligen Ausflug in die Insel der Läuterung hatte sich der Würdenträger zum Guten gewendet.

„Ich fürchte, dass ich euren Einsatz nicht mit irdischen Gütern zu würdigen vermag. Es tut mir Leid.“

Ausgerechnet Trode schüttelte da gemächlich den Kopf. „Das ist nicht nötig, Eure Heiligkeit. Welch materieller Wert wiegt schon so viel wie unsere wiederkehrende Hoffnung auf endlichen Frieden?“

„So ist es“, pflichtete der junge König Pavan von Ascantha ihm bei. „Unsere Völker werden feiern, wenn sie hören, dass fortan keine weiteren Monsterkrisen mehr drohen!“

Angelo nickte. „Die Templer werden alles daran setzen, den Menschen den Glauben wieder nahezubringen. In der vergangenen Zeit haben wir uns in unsere Mauern und von den Heiligen Stätten zurückgezogen, aber das wird sich jetzt ändern. In Zukunft könnt Ihr wieder voll und ganz mit uns rechnen, Eure Heiligkeit.“

„Ich wünsche mir Zusammenhalt zwischen allen Reichen, Rassen und Religionen. Geht nun und erholt euch, Kriegsherren. Meine Köche werden für jeden einzelnen eurer wackeren Recken ein zufriedenstellendes Mahl bereiten!“

Bevor allerdings Angelo das Amtszimmer verlassen konnte, hielt Rolo ihn auf. Er bedeutete Jessica, schon vorauszugehen.

„Wo ist Euer Bruder? Warum ist Marcello nicht hier?“

Der rote Templer zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich möchte er nichts mehr mit Euch und dem ganzen Oberster Hohepriester-Kram zu tun haben. Wieso fragt Ihr? Macht Ihr Euch etwa Sorgen um ihn?“

Der Pontifex senkte sein Haupt, sodass Angelo direkt auf sein kirchliches Tattoo blickte. „Nun… Ich habe zugelassen, dass der Großmeister seine Exekution initiiert. Zudem… sind in der Vergangenheit einige Dinge zwischen uns vorgefallen, die ich… die ich bereue und für die ich mich gerne und angemessen entschuldigen würde. Hört, Angelo: Mir ist bewusst, dass ich Schulden auf mich habe kommen lassen, von denen nichts und niemand mich jemals erlösen kann. Ich wandelte in Sünden und tat, was immer der Göttin missfiel. Dass ich mir heute über meine Verfehlungen im Klaren bin, ändert nichts – ich werde als blamabler Büßer sterben. Dennoch bin ich unter der Robe des Obersten Hohepriesters nur ein Mensch, der sich wünscht, dass man ihm vergibt, und aus diesem Grund niemals aufhören wird, um eben diese Vergebung zu bitten. Nennt es töricht. Es mag töricht sein, aber eines, was viele meiner früheren Handlungen und Reden waren, ist es nicht: Unaufrichtig. Ich bin Rolo, Oberster Hohepriester zu Savella, Stellvertreter der Göttin auf Erden. Das ist es, womit ich bis an das Ende meiner Tage zurechtkommen muss. Niemand kann sich wirklich aussuchen, wer und was er ist. Wir können nur hoffen, von unserem Umfeld trotzdem angenommen und geliebt zu werden.“
 

Angelo kehrte in die Kammer zurück, die er sich mit seinem Halbbruder teilen musste aufgrund der Myriade an Soldaten, jene er mit nach Savella gebracht hatte. „Rolo würde dich gerne treffen.“

Der Schwarzhaarige auf dem Bett sah nicht aus dem Buch auf, in welchem er gerade müßig blätterte. „Abgelehnt.“

„Dachte ich mir.“ Er ließ sich auf den einzigen Stuhl nieder und machte die Beine lang. „Nun, da der Argon-Orden Schleim von gestern ist, die Inseln hoffentlich in Sicherheit und du ohne Beschäftigung, könntest du mir eigentlich ein paar Fragen beantworten.“

„Frag.“

„Was genau ist dir nach Neos widerfahren?“

„Abgelehnt. Nächste Frage.“

„Mein und Jessicas Ziel war es, dem Wahnsinn der Monster entgegenzuwirken. Du betontest stets, dass unsere Ziele nicht dieselben seien. Weshalb hast du gegen den Orden gekämpft?“

Marcello streifte sich einen Ring vom Finger und warf ihn ihm hinüber. Es war ein Gebetsring. „Maria. Sie war so gläubig, dass sie für jedes Kleidungsstück ihres Habits ein eigenes Gebet sprach, bevor sie es anlegte. Ich konnte nicht zulassen, dass das, was ihr so viel bedeutete, durch Lilius und seine Lakaien einfach von der Erde getilgt wurde. Die Ritter brachten sie um, als sie auf der Suche nach mir waren. Sie war der letzte Mensch, der den Tod verdiente. Und doch hielt sie gerade mein Leben für wertvoller. Gerade mein Leben…“

„Warum bist du bei ihr geblieben?“

„Ich wusste nicht, wie gefährlich es für sie ist. Ich hatte mein Gedächtnis verloren.“

Als er den Gebetsring zurückverlangte, wurde ihm nicht nur dieser, sondern auch der Templeroffiziersring ausgehändigt.

„Was soll das?“

„Was wohl? Ich biete dir an, den Templern wieder beizutreten – nicht als Novize, sondern als Hauptmann.“

„Vergiss es.“

„Aber…!“ Er beugte sich schwungvoll vor, die Hand, in jener der goldene Ring lag, weiter ausstreckend, als wäre sie magnetisch und Marcellos Nase der übermächtige Gegenpol. „Du musst doch gemerkt haben, dass die Templer dich immer noch als ihren Anführer akzeptieren! Dich und keinen anderen! Du musst sie führen! Was willst du denn sonst machen? Wo willst du hin? Ich habe die Abtei umstrukturiert! Die Templer, die nicht fähig oder bereit waren, sich zu bessern, habe ich vor die Tür gesetzt! Und neue eingestellt! Los! Nimm schon an! Sie brauchen jemanden, der sie leiten kann!“

„Du erträgst es ja bloß nicht, mich wieder gehen zu lassen.“

„Das ist doch gar nicht wahr! Ich will dir nur helfen! Das ist alles! Ich will dir helfen! Nicht als Bruder, sondern als Tempelritter!“

Der Ältere setzte sich auf und schloss die Hand um das ihm vertraute Geschmeide auf der Handfläche seines Halbbruders. „Die Templer haben ihren Anführer bereits gefunden. In meiner Geschichte ist dieses Kapitel längst abgeschlossen. Für dich ist die Zeit gekommen, Verantwortung zu übernehmen und zu lernen, mit ihr umzugehen. Wirst du erneut vor ihr davonlaufen?“ Seine Finger öffneten sich, und der Ring befand sich noch dort, wo er gewesen war. „Wenn das alles war, was du mich fragen wolltest, lass mich nun in Ruhe. Du hast doch kein Problem damit, auf dem Stuhl zu nächtigen, Angelo, oder? Ich habe nämlich nicht vor, das Bett freizugeben.“ Er wälzte sich auf die andere Seite. Etwas später war ein leises, regelmäßiges Schnaufen aus dieser Richtung zu vernehmen.

Angelo saß noch lange wach.
 

Der erste Morgen ohne die Ritter der Neuen Welt nahm seinen Anfang, und er schien ein gutes Omen zu sein: Es war ein luzider, frischer Morgen, der den Templerhauptmann einlud, einen Spaziergang um die Kathedrale zu unternehmen. Endlich spürte er die Erleichterung durch die abgelegten Waffen. Er hatte vom Göttervogel geträumt. Empyrea hatte sich bei ihm bedankt und ihn beruhigt, dass Menschen als auch Monster nun Frieden finden würden.

Marcellos Lider flimmerten, dann hob er sie.

„Unser Vater, hm?“

Da er den Anverwandten am Bett sitzend ausmachte, schnellte sein Oberkörper in die Senkrechte. „Woher weißt du das?!“

„Du hast im Schlaf geredet.“

„Was?! Was habe ich gesagt?!“

Angelo verstellte seine Tonlage, um ihn völlig überspitzt nachzuäffen: „"Mama! Mama!"“

„Du elender…! Spare dir deine Scherze!“

„Und du bequemst dich so langsam mal aus den Federn, ja? Das Schiff nach Argonia sticht bald in See. Ich habe zwar keine Ahnung, wohin du willst, wenn nicht nach Maella, aber hier bleiben wohl kaum, oder?“

An Bord besagten Schiffes trafen sie Lady Rosalinde wieder, welche die ganze Zeit über auf Savella hatte verweilen müssen und dementsprechend guter Laune war. Angelo versprach ihr, eigenhändig Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um sie geschwind und wohlbehalten zurück nach Alexandria zu bringen; sein Charme verdutzte die gestandene Dame. In Argonia hieß man sie mit Jubel und einem festlichen Bankett willkommen. Sogar die Geschwister Cash und Carrie Golding waren hier, um sich schadenfroh bei Jessica und Angelo zu bedanken. König Clavius schloss seinen Sohn in die Arme, und als er dabei eine Träne verdrückte, sah Prinz Charmels ein, dass er nirgendwo anders hingehörte denn in die Burg seines Vaters. König Pavan erfreute sich an der herzlichen Beziehung zwischen dem Regenten des westlichen Kontinents und dem des trodainischen. Nachdem sich König Clavius bei Jessica und Angelo entschuldigt hatte, versprach er nicht nur, der gesamten Bevölkerung die Wahrheit über den Argon-Orden zu erzählen, sondern verkündete ihnen auch, dass die Einlösung eines Generationen überdauernden Paktes – die Vermählung der Prinzessin von Trodain mit einem argonischen Prinzen – bereits in Planung wäre. Darüber hinaus beschlossen die Königreiche, Neos endlich wieder aufzubauen. Marcello verabschiedete sich von seinem Halbbruder, um in den östlichen Norden aufzubrechen und Rydon – indes Meister des Bundes der Freimaurer von Arcadia – zu bitten, eine neue Göttinnenstatue zu diesem Vorhaben beizusteuern.

„Und bist du sicher, dass du gehen willst?“

Marcello wandte sich noch einmal um. „Wir leben nun in zwei verschiedenen Welten. Wir kämpfen gemeinsam, nur auf den zwei Seiten eines Spiegels.“

Es überraschte ihn. „Bedeutet das, du…?“

„Bilde dir nichts darauf ein. Gemeinsam zu kämpfen heißt nicht, miteinander auszukommen. Du als Templer solltest das eigentlich wissen.“

Angelo musste Neos sich wiederholen lassen.

Er und die Alberts kamen einstweilen in der Villa des argonischen Kanzlers unter, in welcher Lady Rosalinde ihn bald quietschfidel an ihren Busen drückte. Irgendwie war es ihr hier gelungen, herauszufinden, dass er der Sohn eines Fürsten war und demzufolge aristokratisch genug, dass einer Beziehung zwischen ihm und Jessica plötzlich nichts weiter im Weg stehen würde. Da er trotz seiner Herkunft nicht reicher war als Hauptmann Angelo von Maella, ahnte Herr Angoles Vorwand, dass da noch etwas anderes hintersteckte. Lorenzo positionierte sich gegen die Zusammenkunft seiner Versprochenen mit dem Templer, aber Jessicas Mutter erklärte sich höchstselbst bereit, das poetische Blondchen zu vermöb… – oder sagen wir: Sie schickte es erneut auf "eine Reise, um seinen Horizont zu erweitern". Den Rauswurf aller drei durch Lorenzos Vater nahm sie gelassen hin wie eine Jessica in ihren Vierzigern: Kurzerhand gab sie sich auch mit dem wenig luxuriösen Gasthaus zufrieden. Jessica und Angelo waren dermaßen aufgedreht, dass sie für Stunden draußen herumtollten wie Kinder und nicht müde wurden, sich von den blassblauen Sternen faszinieren zu lassen.
 

Nicht jedem Menschen gelingt es, über seine Fehler zu wachsen und sich zu entwickeln. Manche drohen daran zu zerbrechen. Die hämischen Schatten ihrer Fehlbarkeit wickeln sie dicht und laut ein. Nun ist es an anderen, sie aus dem teerigen Kokon zu ziehen. Jeder Mensch sei angehalten, einem anderen während der Überwindung seiner Fehler beizustehen, denn auch er wird einst diesen Kampf zu bestreiten haben und dann auf die Bereitschaft seiner Freunde hoffen. So will es die Göttin.
 

„Ja“, antwortete sie jäh.

Er musterte sie verständnislos.

„Ja, Angelo. Ich kann mir durchaus ein Leben mit Euch vorstellen.“
 

Diese Geschichte erzählt von Fehlern – von alten wie neuen – und davon, wie manche von ihnen überwunden werden. Sie erzählt von Schuld und Vergebung, von Verfeindung und Freundschaft, und sie erzählt, dass Schein nicht immer Sein ist. Sie erzählt, wie wichtig es ist, jemanden nicht aufzugeben, und vielleicht auch davon, wie man jemanden endlich lieben lernt. Es ist die Geschichte eines Mannes, den ein einziger Augenblick seiner Kindheit nicht mehr loslässt; die Geschichte einer Frau, die große Angst davor hegt, in Verdrängung zu geraten. Besonders aber ist es die Geschichte eines Jemanden, der die Chance erhält, seine vergangenen Fehler gutzumachen; dem vergeben wird; der vielleicht sogar sich selbst vergeben kann, um endlich zurück zu finden; nach Hause, in sein persönliches Sanktuarium.
 

Und sie beginnt damit, dass jemand wider seine eigene Erwartung die Augen öffnete und so die Aufmerksamkeit einer sich gerade abwenden wollenden Göttinnendienerin auf sich zog, welche sich mit erhellender Miene zurück an sein Bett begab.
 

In gloria Deae Matris… Von irgendwo ein Kirchenchor.


Nachwort zu diesem Kapitel:

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