Das Bild
Ein dunkler Rahmen zierte ein einsames, großes Bild an der sonst kahlen Wand. Eisig und kalt strahlte die weiße Tapete dem Betrachter entgegen. Eine mahagonifarbene Anrichte prangte an der einen Seite des Raumes, während eine Tür auf der Gegenüberliegenden lag. Die einzige noch unbeschriebene Wand ließ den Blick über einen weiten See schweifen.
Eine zierliche Gestalt stand davor, kurze Haare umrahmten sein Gesicht. Die gesamte Haltung des Mannes drückte seinen unendlichen Schmerz aus. Gebückt und gebrochen stützte er sich mit der rechten Hand am dicken Glas der Scheibe vor ihm ab. Die Linke ruhte in seiner Tasche und der Blick lag still und schweigsam auf dem schwarzen Wasser.
Wie oft waren sie dort gewesen? Glücklich, lachend, auf dem kleinen Boot, das mittlerweile kaputt im Schuppen ruhte. Auch der Schuppen war verfallen und verlassen. Freude gab es in diesem Haus nicht mehr. Das silberne Sternenhalsband, dass sie immer getragen hatte, eine einfache Metallkette mit glänzenden Sternen daran, lag auf der Anrichte und schwieg. Die Stirn des Einsamen bewegte sich langsam dem Fenster entgegen und noch einmal atmete er tief durch, seufzte und ließ den Kopf am Glas ruhen.
Er schloss die Augen und dachte an ihr Gesicht, ihre wundervollen Augen, so strahlend rein und kristallklar. Doch sie war nicht mehr. Schon vor über zwei Jahren war sie von ihm gegangen, hatte ein Loch in seinem Herzen hinterlassen und eine düstere Stimmung über das ganze Landhaus gelegt. Die Türen blieben geschlossen, jede einzelne Uhr war abgeschaltet worden, lediglich ein kleiner Kalender starrte neben der Tür in die nächtliche Unendlichkeit.
Die Gestalt löste sich von der Scheibe und schritt langsam zur Anrichte hinüber. Diese Kette hatte er ihr geschenkt, als sie sich gerade ein Jahr gekannt hatten. Nie hatte sie diese abgelegt. Doch was sollte ein gebrochener Mann mit dem letzten Andenken an seine Geliebte schon tun? Traurig nahm er sie in die Hand, spielte kurz mit ihr und legte sie dann andächtig zurück.
Niedergeschlagen ließ er sich auf einen Stuhl fallen, vergrub das Gesicht in seinen Händen und spürte die Last des Kalenders auf sich ruhen. Es war so weit. Jener eine Tag, den sie früher genossen hatten. Warum? Warum waren schon wieder so viele Tage vergangen?
Ruckartig stand er auf und der Stuhl auf dem er gesessen hatte fiel mit einem lauten Knall nach hinten. Es war ihm egal, alles hier war ihm egal. Was sollte man mit leblosen Dingen? Es gab nichts, dass ihm die Wärme seiner Frau ersetzt hätte, die Liebe die sie ihm gegeben hatte. Eine ihrer Berührungen, die Arme um sie zu legen und zu wissen, dass man mit dieser Person den Rest seines Lebens verbringen wollte?
Der Blick des Mannes glitt langsam über die spärliche Einrichtung. Hier war sie gewesen, ihre letzte Geburtstagsfeier vor drei Jahren. An genau diesem Tag hatte sie einen Federschmuck auf dem Kopf getragen und das Fest unter ein Indianer-Motto gestellt. Er selbst war als Cowboy gegangen und hatte sich noch am selben Abend mit ihr verlobt. Zwei Monate später erzählte sie ihm, dass sie ein Kind unter ihrem Herzen trüge. Doch die Freude währte nicht lange. Schon sechs Monate später, am Vorabend der Hochzeit, wurde sie von einem betrunkenen Autofahrer tödlich verletzt. Das Kind überlebte nicht und der Dunkelhaarige blieb am Boden zerstört zurück.
Auch heute noch spürte er sie, ihre Anwesenheit in diesem Haus. Hörte ihr Lachen und das des ungeborenen Kindes. Er konnte ihre Aura spüren, wenn sie als Geist durch seine Hallen schritt. Sie war der Grund, warum er keine Tür und kein Fenster jemals mehr geöffnet hatte. Was wäre, wenn ihre Seele in diesem Augenblick entwich und ihn nie wieder mit ihrer Präsenz erfreute? Das Kind, dessen Namen er nie erfahren durfte, dessen Gesicht er nie gesehen hatte und dessen Stimme er nicht kannte, würde verschwinden und womöglich auch aus seinen Gedanken. Ein alter Mann kam im Morgengrauen und lieferte ihm Essen in den Keller. Doch eine eiserne Falltür schützte seine Familie.
Erneut lief der Mann zum Fenster und starrte wortlos und bedrückt über das, was auf ewig ihm allein gehören würde. Sein Leben würde er hier verbringen und nie wieder einen Schritt in die Außenwelt setzen. Er konnte nicht gehen, Heute nicht und auch sonst nie. Die Ewigkeit war für ihn bestimmt, allein in diesem Haus.
Traurig sah die Frau aus ihrem schweren, dunklen Rahmen hinunter auf ihren Verlobten. Die Mundwinkel schienen sich mit jedem Moment weiter zu senken und die Farben wurden blasser und dunkler. Kleine Kinderaugen sahen mitleidig von Zeit zu Zeit aus dem Bild und verschwanden noch ehe man sie erblicken konnte. Wie gern hätten sie den Mann erlöst und doch konnten sie es nicht!