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Fremde Welten: Das Schloss am Meer (#2)

Crimsons eigene Serie, yay!
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Abend 27 Komplett anzeigen

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Angewandte Seelenmagie

Sorc kniete am Boden und gab seiner Malerei den letzten Schliff. Das zumindest nahm Crimson an, als er die Haupthalle seines Schlosses betrat – jenen Ort, wo sich zahlreiche Gänge trafen und eine besonders schöne Treppe nach oben führte. Die Einlegearbeiten am Boden zeigten eine stilisierte achtblättrige Lotusblüte. Dass Cathy mit Rosen statt mit Lotus bekleidet war, ging vermutlich auch auf einen Planungsfehler zurück.

Dem prüfenden Blick nach zu urteilen, den Sorc immer wieder über sein Werk schweifen ließ, konnte er am Boden ein Muster erkennen. Den Chaoshexer kleidete nur eine lockere, dünne Kniebunthose, wie man sie normalerweise unter Roben trug. Er malte letzte Zeichen mit seinem bloßen Finger, der kurz eine leuchtende Spur hinterließ, die dann verblasste.

„Crimson!“ rief Sorc, als er seiner ansichtig wurde. „Ich muss dich auch noch vorbereiten! Zieh dich doch bitte aus und stell dich da drüben hin.“

Ach herrje. Crimson vergaß immer, dass die meisten großen Rituale ohne Kleidung abgehalten wurden, weil alle Welt annahm, dass dies den Magiefluss begünstigte. Sein letztes Erlebnis dieser Art war, für die Beschwörung des Fünfgötterdrachen geopfert zu werden. Keine gute Erinnerung. Er verdrängte sie und hoffte, heute eine neue zu erschaffen, um die alte zu ersetzen.

Falls Sorc etwas auffiel, ließ er es sich nicht anmerken, sondern wartete geduldig, bis Crimson nackt an der vorgegebenen Stelle stand. Er beendete sein Werk auf dem Boden und trat vor Crimson. „Hierfür musst du mir völlig vertrauen, Crimson. Wenn du irgendwelche Bedenken hast...“ Er unterbrach sich, denn er wusste es eigentlich besser, als dass er fragen musste. Außerdem dachte Crimson ja laut genug, nicht wahr?

„Ich habe dich so weit kommen lassen mit deinem Projekt, da werde ich dich jetzt nicht mehr aufhalten,“ versicherte Crimson.

Sorc nickte. „Gut. Jedoch werden wir heute einen großen Schritt gehen, wenn du mich lässt. Ich werde gleich die letzten Vorbereitungen abschließen und bitte dich, dabei zu schweigen, auch wenn es dir seltsam vorkommt. Wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, gehe ich da drüben hin und fange mit der Beschwörung an.“ Er deutete auf einen Punkt etwa fünf Meter entfernt. „Du darfst dich nicht von der Stelle rühren und nach Möglichkeit nichtmal deine Füße bewegen – auch nicht, wenn du annimmst, dass ich in Schwierigkeiten bin. Du bist Teil des Rituals. Wenn du ausbrichst, *dann* bin ich in Schwierigkeiten.“

„Verstanden,“ nickte Crimson. „Woran werde ich merken, dass das Ritual beendet ist und ich mich wieder bewegen kann?“

„Keine Ahnung!“ Sorc lächelte entschuldigend und rieb sich in einer Geste der Verlegenheit den Hinterkopf. „Ich denke mal, es wird deutlich, wenn die Magie sich legt.“ Er hielt kurz den Zeigefinger vor seinen Mund.

Crimson deutete das als Zeichen, dass jetzt die Schweigephase anfing, und presste die Lippen fest zusammen.

Sorc ging vor ihm auf ein Knie und korrigierte die Position seiner Füße. Dann fing er an, mit dem Finger Zeichen auf seinen rechten Fuß zu malen. Er begann bei den Zehenspitzen, als ob er das Muster vom Boden fortsetzte. Wie auch auf den Steinen zog der Finger eine leuchtende Spur hinter sich her, die dann verblasste und unsichtbar wurde. Crimson sträubten sich die Nackenhaare, aber er konnte nicht definieren, wieso. Die Schrift fühlte sich warm an und kribbelte auf der Haut wie leichte Blitzmagie.

Sorc setzte das Band aus Schriftzeichen über seinen inneren Knöchel fort, schrieb es insgesamt viermal um seine langen Beine herum. Beim letzten Mal befand er sich nah an Teilen, auf denen Crimson diese Schrift nicht unbedingt haben wollte, aber seine Sorge war unbegründet: Die Linie wanderte über seinen Po, den rechten Hüftknochen und über seinem Bauchnabel in einer steilen Linie zur linken Schulter. Sorc vermied es, auf sein Siegeltattoo zu schreiben, stellte er fest. Statt dessen ließ der Schwarzhaarige das unsichtbare Band von vorne über die Schulter laufen und dann dreimal um den Arm, um vorbei am Daumen auf den Handrücken zu gelangen und von dort auf den Zeigefinger. Während des Vorgangs bewegte Sorc sich mehrmals um Crimson herum, so dass der Schlossherr sich bald fühlte wie ein Kunstwerk, das noch nicht fertig war.

Sodann wiederholte der Chaoshexer den Vorgang beim linken Bein, zog die Linie vom Fuß aus mehrfach um das Bein herum und kam über die linke Hüfte nach vorne, führte die Schriftzeichen ein Stück über dem Bauchnabel zur rechten Schulter und mehrfach um den Arm herum zur Hand. Die beiden Linien überkreuzten sich ungefähr dort, wo das Brustbein endete, die Stelle kribbelte länger als der Rest. Aber zu sehen gab es nichts... jedenfalls nicht mit Crimsons ungeübten Augen.

Im Anschluss positionierte Sorc Crimsons Hände kurz vor seinem Körper in der Luft und gab ihm wortlos zu verstehen, dass er genau diese Pose halten sollte. Er trat von ihm zurück und begab sich zu seinem eigenen Platz. Dort angekommen, entledigte er sich unzeremoniell seiner restlichen Kleidung und warf sie zu seiner Robe, die schon an der Seite auf dem Boden lag.

Crimson spürte seinen Herzschlag bis in seinen Hals. Aber er freute sich darauf, an diesem Ritual teilzunehmen.

Sorc schloss die Augen und atmete tief, während er seine Hände mehrmals bedächtig zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Er gehörte zu den Personen, die Nacktheit wie ein vornehmes Gewand tragen konnten. Fast hätte Crimson seine eigene Haltung korrigiert, doch er durfte sich nicht bewegen.

Nach wenigen Sekunden gab es einen spürbaren Anstieg der magischen Energie in der Luft. Sorcs Haar bauschte sich hinter ihm auf wie in Wasser. Die Magie schien sich bei ihm zu versammeln und nur auf seine Wünsche zu warten.

Wann fing er denn an zu beschwören?

Aber halt – er tat es schon! Crimson merkte es nur zu spät. Ein Beschwörungsspruch musste nicht unbedingt laut ausgesprochen werden, aber allgemein galt, dass er dann wirkungsvoller war, denn die Stimme verlieh ihm ein zusätzliches Gewicht. Das zumindest wusste Crimson noch aus der Schule. Damals hatte ihn immer gestört, dass ein möglicher Feind doch merkte, was man vorhatte, wenn man den Spruch aufsagte. Vielleicht gab es andere Theorien zu dem Thema in den höheren Klassenstufen – das konnte er ja nicht beurteilen.

Nach Minuten der Stille öffnete Sorc die Augen, deren Rot wie Glut leuchtete. Er spreizte die Arme seitlich ab, und zu seinen Füßen flammte ein in allen Farben schimmernder Bannkreis auf. Das Licht schoss von dort in alle Richtungen und machte die Linien der geheimen Schrift sichtbar.

Die Schrift war überall. Die Linien durchzogen die Halle, sowohl auf dem Boden als auch an den Wänden und in Höhen, wo niemand ohne Hilfsmittel hinkam. In Crimsons Kopf schreckte Cathy aus irgendeiner anderen Tätigkeit hoch. Durch das Schlossherz konnte Crimson sehen, wie alle Schriftlinien, die Sorc jemals erschaffen hatte, zu glühen anfingen. Das Phänomen breitete sich von Sorcs Standpunkt ausgehend weiter aus, erfasste alle Räume, jeden Korridor, jede Treppenstufe, alle Tankräume und sonstigen Kellerräume, sogar das Außengelände über die Grenzen von Cathys Einflussbereich hinaus. Kein Wunder, dass es fast einen Monat gedauert hatte, dieses Werk zu vollenden. Erstaunlich, dass Sorc es unter all den Umständen überhaupt in der Zeit geschafft hatte.

Auch auf Crimson Körper leuchteten die unbekannten Zeichenreihen. Sein Blick fiel auf seine Hände und er stellte fest, dass von ihnen Lichtschnüre aus Schriftzeichen zum Boden führten und sich dort in das Muster einreihten. Sorc stand in einem doppelten Bannkreis, den zahlreiche Schriftzüge mit jenem verbanden, in dem Crimson stand. Einzelne übergroße Symbole, welche wiederum aus Schriftlinien bestanden, zierten den Bereich darum herum. Die herbeigerufene Magieansammlung prickelte warm auf Crimsons Haut. Sein weißes Haar wehte in einem Wirbel aus Energie.

Auf Sorcs Stirn bildeten sich Falten, und sein Mund bewegte sich stumm zu den unausgesprochenen Worten seiner Beschwörung. Schweiß glänzte auf seinem Körper. Er suchte Blickkontakt.

„Crimson und Catherine, Schlossherr und Schlossgeist von Schloss Lotusblüte,“ sprach Sorc erstmals wieder laut aus. „Ich überschreibe meine Seele diesem Schloss, so dass das Schlossherz gleichwertig wird mit einem beseelten Schlossherz. Seid ihr einverstanden?“

Crimsons Augen weiteten sich. Was sagte er da? Seine Seele wollte er aufgeben?

Cathy blieb unsichtbar, aber auf das Geschehen konzentriert. Der Schlossgeist wirkte unsicher, hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, mit Draconiel mitziehen zu können, und dem Zweifel, ob gerade diese Seele sich für den Zweck eignete. Seine aufgewühlten Gedanken waren ein offenes Buch für Crimson.

[„Cathy. Einwände?“]

[„Entscheidet, Meister. Ich beuge mich Eurem Wunsch.“] Ein hoffnungsvoller Tonfall schwang in diesen Worten mit.

Crimson wusste nicht, was diese Tat für Sorc bedeutete. Vielleicht brachte es ihn um. Vielleicht konnte Cathy mit der Chaosseele nicht umgehen. Vielleicht wurde Crimson wahnsinnig mit einer solchen Bindung.

Aber es gab nur eine Antwort für ein solches Angebot. „Mein Schlossherz und ich sind einverstanden.“

Eine geschenkte Seele lehnte man einfach nicht ab.

Sorc lächelte, doch sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung. Der Moment, als er die angehaltene Magie losließ, damit sie ihr Werk tun konnte, war deutlich zu spüren.

Crimson hatte das Gefühl, dass er die Luft nicht mehr atmen konnte, so dick war sie mit Magie erfüllt. Sorc ballte die Hände zu Fäusten und biss mit zurückgezogenen Lippen die Zähne zusammen, doch seine Augen blieben offen und er verließ seinen Kreis nicht. Crimson begriff, warum er einen doppelten Bannkreis benutzte: Er war der Beschwörer und das Opfer der Beschwörung zugleich, zwei Eigenschaften, die sich eigentlich nicht miteinander vereinen ließen. Zu dieser Vorgehensweise passte es aber durchaus, dass er die nonverbale Beschwörung anwendete, denn so konnte er fortfahren, auch wenn er keine Worte mehr hervorbrachte.

Auch Crimson stellte fest, dass seine Hände Fäuste waren. Es fiel ihm schwer, sich das anzusehen, denn Sorc schien zu leiden. Es konnte nicht angenehm sein, sich bei vollem Bewusstsein die Seele aus dem Körper zu reißen und sich gleichzeitig auf die komplizierte Beschwörung zu konzentrieren.

Die Schriftzüge schillerten mit Energie. Das Gefühl auf seiner Haut kam Crimson heiß vor. Zumindest spielte es wohl keine Rolle, dass er seine Arme nicht mehr am selben Fleck hielt, denn die Zeichen in der Luft bewegten sich mit.

Unter seinen Füßen vibrierte der Boden wie ein großer Herzschlag. Das ganze Gemäuer schien einen tiefen Atemzug zu nehmen. All das geschah fast lautlos, abgesehen von feinen Tönen, die durch die Aktivität der Magie in der Luft und Druck auf das Trommelfell entstanden. Besorgt vernahm Crimson auch Sorcs schnelle Atmung immer deutlicher.

Der Chaoshexer wand und krümmte sich an seinem Platz in dem doppelten Bannkreis, blieb aber auf den Beinen. Er hatte den Platz im Inneren zum Glück großzügig bemessen, so dass er nicht auf die Linien trat. Durch die vielen Lichteffekte sah er bleich aus. Sein Gesicht zeigte immer noch einen konzentrierten Ausdruck. Schließlich warf er den Kopf zurück, öffnete die Arme weit und schloss die Augen. Der Schrei, den er die ganze Zeit unterdrückt hatte, entrang sich machtvoll seiner Kehle.

Crimson erkannte, dass in diesem Moment die Arbeit des Beschwörers aufhörte und das Ritual seinen Zweck vollendete. Er spürte es auch: Ein neues Gefühl ergriff das Schloss und seinen Herrn wie eine warme Decke, die sich um frierende Schultern legte. Crimson fühlte sich klein angesichts dessen, was er erleben durfte. Und sobald er diesen Gedanken fasste, verflüchtigte er sich auch schon wieder. Statt dessen erfuhr er, dass auch er Teil des Ganzen war, so wichtig wie alle anderen. Als er sich fragte, ob er in der Lage war, sich des Geschenkes würdig zu erweisen, das er erhielt, fegte etwas seine Zweifel hinweg. Sorc hielt ihn für würdig, und alles andere zählte nicht.

Die Chaosseele breitete sich in ihrem neuen Körper aus. Crimson spürte, wie es im Schloss bebte, wackelte, vibrierte, atmete. Vielleicht kam es nur ihm so vor, weil er der Schlossherr war, aber das Gemäuer nahm eine ganz andere Ausstrahlung an. Fasziniert drehte er sich auf der Stelle und sah sich um.

Im Prinzip gab es nichts zu sehen. Und dennoch glaubte er, das alles zum ersten Mal zu erblicken. Ohne sein bewusstes Zutun straffte er die Schultern, reckte seine Gestalt, um aufrechter zu stehen, und schloss den vor Staunen offen stehenden Mund. Er hob den Fuß und verließ seinen Kreis.

Sorc lag am Boden, das Gesicht hinter der schwarzen Haarfülle verborgen. Er atmete hörbar, doch den Umständen entsprechend ruhig. Die Kreise, die er für das Ritual benutzt hatte, verblassten, ihre Linien veränderten sich zu einem neuen Muster, das dann aber bald nicht mehr zu erkennen war.

Schon seit seiner Schulzeit wünschte er sich, die erlernte Seelenmagie einmal praktisch anzuwenden. Aber nicht irgendwie. Für ihn musste es immer im ganz großen Stil sein. Wie er dieses Ziel erreichen konnte, blieb ihm lange verborgen...

Crimson schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. Sorcs Erinnerungen. Zwar störten sie ihn nicht, aber er fand, dass ihn Sorcs tiefste Sehnsüchte nichts angingen... Etwas korrigierte ihn. Er versuchte nicht aus Rücksicht, sich zu sperren, sondern weil er Angst hatte, sich selbst zu verlieren, wenn er zu viel von einem anderen zuließ. Was ging da in ihm vor?

Er schob das Problem zur Seite, um sich um das drängendere zu kümmern. Sorc brauchte ihn jetzt, denn das Ritual hatte ihn geschwächt. Dennoch war er bei Bewusstsein. Er bewegte sich und versuchte aufzustehen. Als er sich die Haare aus dem Gesicht strich, zitterte seine Hand dabei, und den Augen fehlte völlig ihr gewohnter Glanz.

Crimson kniete sich vor ihn. „Sorc, kannst du mich hören? Weißt du, wer ich bin?“

Der Ältere nickte nur. Es sollte wohl eine Antwort auf beide Fragen sein.

Was machte er jetzt am besten mit ihm? Die Krankenstation? Aber das war ziemlich weit. Erstmal die Kleidung holen?

„Zweifel... sind unnötig,“ flüsterte Sorc. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Hilf mir lieber hoch.“

Crimson tat es, wobei er ganz genau beobachtete, ob es dem anderen gut ging. Es schien so, obwohl seine Augen noch immer eher ausdruckslos aussahen. Aber das gehörte sich vielleicht so für jemanden, der seine Seele verschenkt hatte.

„Zweifelst du denn nie?“ fragte er.

„Ich erwäge meine Möglichkeiten... dann wähle ich die sinnvollste. Manchmal auch die, die am meisten Spaß macht,“ entgegnete Sorc. Er redete langsamer als sonst und stand wackelig, aber er stand und redete. Das wertete Crimson mal als gutes Zeichen.

„Ähm... wie fühlst du dich? Ich meine... ist alles wie früher?“

„Ich fühle...“ Sorc zögerte. „Im Moment fühle ich gar nichts. Und wie früher ist es natürlich nicht. Aber... ich kann es nicht beschreiben...“ Er wischte sich mit einer Hand durchs Gesicht.

Crimson ließ beide Kleidungssets zu sich fliegen und half Sorc in seine Sachen, ehe er sich selbst anzog. Danach schlug er mit ihm den Weg zur Krankenstation ein. Falls es irgendwelche Nebenwirkungen gab, wollte er alles Nötige parat haben. Doch er musste einen Augenblick überlegen, in welche Richtung er sich wenden sollte. Seltsam... seit wann fand er in seinem eigenen Schloss den Weg nicht? Aber die Erklärung ergab sich auch gleich: Nicht immer waren diese Räumlichkeiten die Krankenstation gewesen. Durch Sorcs Ritual kam alles durcheinander. Er, Sorc und Cathy mit seinen Datenbanken verschmolzen zu einem Ganzen, das verwirrte Crimsons Denken.

Sie kamen nur in Spaziergeschwindigkeit voran, aber Crimson wollte nicht drängen. Er hatte auch genug zu tun: Seine Gedanken waren mit vielen Erinnerungen durcheinandergewürfelt, die nicht ihm gehörten. Einmal bog er tatsächlich in den falschen Gang ab, und weder Sorc noch Cathy wiesen ihn darauf hin.

Cathy war beschäftigt. Crimson fragte sich, ob alles in Ordnung war, wollte aber nicht stören. Sorc schwieg ebenfalls, bis sie das Ziel erreichten und er ihn auf dem hintersten der Betten absetzte, wo er vor neugierigen Augen einigermaßen geschützt war. Sorc kroch brav unter die Decke.

„Wie kann es sein, dass du so normal wirkst?“ fragte Crimson ihn. Gut, wer Sorc kannte, bemerkte einen Unterschied... aber es war erstaunlich, dass jemand, der keine Seele mehr hatte, lebendig und wach neben ihm ging.

„Das Bewusstsein und die Seele hängen eng miteinander zusammen, sind aber nicht dasselbe. Für das Ritual habe ich mein Bewusstsein von der Seele gelöst und fest an meinen Körper gebunden, damit ich den Vorgang beenden kann, und damit ich diesen Körper weiter benutzen kann, auch wenn die Seele nicht mehr in ihm wohnt,“ erklärte Sorc.

„Also... ist das Bewusstsein normalerweise an die Seele gebunden?“ hakte Crimson nach.

„Genau,“ nickte Sorc. „Meistens unterscheiden wir beides nicht. Aber wenn ich darauf nicht geachtet hätte, wäre mein Körper jetzt eine leere Hülle, mein Bewusstsein mit der Seele im Schloss verankert. Vielleicht hätte ich es gar nicht geschafft, das Ritual zu beenden, wenn mir dieser Fehler unterlaufen wäre.“

„Denn eigentlich gibt es einen Beschwörer und ein Opfer... die Seele wird dem Opfer entzogen, noch während die Beschwörungsformeln gesprochen werden. Nicht hinterher.“

„Genau... wobei der Begriff Opfer sich etwas negativ anhört, aber auch zutreffend ist. Der Vorgang ist... nicht angenehm.“

„Dann hast du mir deshalb nicht gesagt, was du vorhast. Du dachtest, ich würde versuchen, es dir auszureden.“

Sorc antwortete darauf nicht, was Crimson als Zustimmung wertete. Ganz falsch lag Sorc nicht – auch wenn Crimson noch eher als andere bereit war, jemanden ein Risiko eingehen zu lassen, einfach weil er auch selber gerne mal riskante Dinge tat. Allerdings gewöhnte er sich das in seiner Eigenschaft als Schlossherr allmählich ab. Er hatte jetzt Verantwortung.

„Es war immer eine meiner Schwächen, dass ich neugierig bin und alles ausprobieren muss,“ sagte Sorc schließlich. „Zu meiner Schulzeit hat mich Seelenmagie sehr interessiert, aber das Fach war voller Theorie. Hier sah ich nun die Chance, zugleich mein theoretisches Wissen anzuwenden und zu beweisen, dass ich in guter Absicht hergekommen bin.“

„Ist es das? Hast du es wegen Kuro und Neo getan?“ fragte Crimson. Ihm zog sich der Magen zusammen bei der Vorstellung.

„Du solltest mich besser kennen. Diese beiden Unruhestifter könnten mich nicht dazu treiben. Aber dein Schlossherz wird jetzt nicht mehr an mir zweifeln. Und auch dein Vater nicht, denn ich nehme an, er wird es merken. Anfangs wollte ich auch dich damit überzeugen, aber das ist nicht mehr nötig.“

„Nein... ist es nicht,“ bestätigte Crimson.

Sorc schloss langsam die Augen und riss sie dann plötzlich wieder auf. „Entschuldige, ich bin ziemlich müde. Meine Banne, mit denen mein Bewusstsein im Körper gehalten wird, wirken nur noch für einige Minuten... es versucht, sich wieder mit meiner Seele zu vereinen. Ich kann dir das jetzt nicht genau erklären, Crimson. Lass mich ein bisschen schlafen. Es gibt noch Arbeit, die ich im Schlaf machen kann.“

Crimson verstand nicht, nickte aber. „Brauchst du noch etwas?“

„Ich wüsste einen Freund an meiner Seite zu schätzen. Eventuell brauche ich Hilfe.“

„Okay. Wenn's weiter nichts ist...“ Crimson hob die Hand, um einen Stuhl erscheinen zu lassen, doch er erinnerte sich noch rechtzeitig, dass er das nicht konnte. Er musste wirklich verwirrt sein.

Sorc schien seine Absicht zu erraten, denn er blickte auf die Stelle neben Crimson, und einer der Stühle, die für wartende Personen an der Seite standen, erschien dort. Sorcs linke Hand zuckte dabei, und Crimson sah, dass an der Seite nun ein Stuhl fehlte.

„Ich... bring's dir... bei,“ murmelte Sorc, dann schlossen sich seine Augen, und ein entspannter Ausdruck lockerte seine Gesichtsmuskeln. Er atmete leise und regelmäßig.

Crimson blieb allein zurück – außer ihm und Sorc war niemand mehr im Schloss. Aber ihn beschlich das Gefühl, von Gespenstern umgeben zu sein. Sie flüsterten in seinem Kopf, spielten Erinnerungen von längst verblichenen Schlossherren vor seinem inneren Auge ab und ließen ihn das ein oder andere Mal nervös über die Schulter blicken. Hatte er sich anfangs noch überlegt, vielleicht auch eine Runde in einem der Betten zu schlafen, so verwarf er diese Idee inzwischen wieder, denn zweifellos warteten wirre Träume auf ihn.

Als Cathy sich bei ihm einfand, fuhr er vor Schreck fast aus der Haut, zumal das Schlossherz ungewöhnlich aussah. Sein sonst rosenrotes Haar zeigte einen dunkleren Farbton und hing herunter, fast bis auf den Boden. Dahin war die blütenförmige Frisur. Wenn Cathy sich bewegte, schlängelte sich die Haarflut wie ein Bach in der Luft. Die Augen wirkten fast schwarz, weil die Pupillen stark geweitet waren, und die Haut grau. Kurz gesagt fand Crimson, dass sein Schlossherz krank aussah.

Cathy hingegen schien sich nicht an der Veränderung zu stören. Er sagte: „Meister, Tank Sechs hat angefangen, sich ohne mein Zutun zu füllen. Nun habe ich noch eine sichere Quelle außer Tank Eins, der durch die Lavaquelle betrieben wird!“

Crimson vergaß vor Überraschung, nach der äußerlichen Veränderung zu fragen. „Wie... der Tank füllt sich... einfach so?“

„Aber nein, Meister. Der Grund dafür ist die Seele, die ich bekommen habe!“ Cathy grinste breit, als wäre ihm ein besonders raffinierter Streich gelungen. „Wie im Körper eines Magiers Meras eingelagert wird, geschieht es jetzt auch hier! Es ist, als wäre das Schloss der Körper eines Magiers, und er bildet sein eigenes Meras!“

„Oh... das ist cool! Aber heißt das, du kannst jetzt auch zaubern?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich kann leider auch nicht lange bei Euch bleiben. Einige Veränderungen gehen mit mir vor...“ Der Geist betrachtete seine Hand. „Ich hoffe, das geht wieder weg, aber es ist bestimmt nur die Übergangsphase. Sorc hat übrigens meinen Einflussbereich vergrößert, indem er seine Zeichen sogar etwas weiter draußen aufgezeichnet hat. Und ich kann jetzt wieder in die Schatzkammer und den stillgelegten Tankraum sehen, und... nun, in ein paar andere Ecken.“

„Hm... anscheinend hattest du genug versteckte Ecken, dass Olvin sich vor dir verbergen konnte. Er muss davon gewusst haben.“ Crimson wollte zu dem Thema eine Frage stellen, aber sie entglitt ihm. Statt dessen kam ihm etwas anderes in den Sinn: „Sag mal... wenn Sorcs Seele jetzt für dich Meras produziert, was ist dann mit ihm selbst? Füllt sein Körper seine Reserven nicht mehr auf?“ Das wäre ja entsetzlich – er konnte sich nicht vorstellen, dass Sorc das nicht bedacht hatte.

Cathy schwieg einen Moment und bekam dabei einen ganz abwesenden Gesichtsausdruck. „Ich glaube, das geht in Ordnung,“ antwortete er dann. „Es ist schwer zu erklären... Sorcs Seele ist immer noch Sorcs Seele, aber ich bewahre sie quasi für ihn auf und kann sie dabei mit benutzen.“

„Das funktioniert?“ staunte Crimson.

„Möglicherweise wird sich Sorcs Merasspeicher ein bisschen langsamer aufladen als früher, vielleicht auch deutlich langsamer. Aber er wird den Unterschied kaum bemerken,“ spekulierte Cathy. „Soweit ich das beurteilen kann, ist alles in Ordnung, das glaubt er auch. Sein Bewusstsein ist bei mir... er tut irgendwas, um den Bindezauber zu optimieren. Mit Eurer Erlaubnis werde ich meine Leistung herunterfahren und etwas ruhen. Die Seele muss erst... wie soll ich sagen... in mir gefestigt werden.“

„Na gut,“ stimmte Crimson zu. „Aber sag mir noch, Cathy: Bist du mit der Situation zufrieden oder hättest du lieber keine Seele gewollt?“

„Oh ja, ich bin zufrieden,“ kam sofort die Antwort. „Schon allein wegen des selbst befüllenden Tanks hat es sich gelohnt. Wisst Ihr... ich hatte Angst davor, obwohl ich gerne eine Seele wollte... Ich hatte Angst, dass Sorcs Bewusstsein mich verdrängt. Aber Euer Vertrauen in Sorc hat mich ermutigt. Und nun, da ich seine Seele besitze, kenne ich all seine Gedanken, wenn ich das will. Soll ich seine Gedanken durchforsten, um sicher zu gehen, dass er nichts gegen Euch plant?“

Crimson warf einen Blick auf den schlafenden Mann in dem Bett. „Nein. Vertrauen heißt, dass man jemandem glaubt, ohne die Bestätigung zu suchen.“

„Oh... ich verstehe.“

„Kümmere dich jetzt um alles Nötige, Cathy. Ich schaue gleich noch einmal nach dem Elixier und komme dann wieder her.“

„Ist gut, Meister. Legt Euch ruhig etwas schlafen, ich behalte die Umgebung im Auge, auch wenn ich zu tun habe oder ruhe.“

„Ja, werde ich. Danke.“ Crimson begab sich in gemächlichem Tempo in seinen Alchemieturm, bereitete dort so gut es ging alles für den nächsten Einsatz vor und machte sich dann wieder auf den Rückweg.

Selten herrschte im Schloss so eine Stille wie in dieser Nacht, fand er. Dabei war es gar nicht wirklich still. Das Schloss bebte kaum merklich, passte sich der neuen Situation an, nahm hier und da Reparaturen und Korrekturen vor. Doch kein weiterer Mensch hielt sich hier auf außer ihm und Sorc, und letzterer zählte momentan kaum. Irgendwie umgab das Gemäuer eine andere Aura, wenn es bewohnt war. Doch Crimson schob das leichte Gruselgefühl zur Seite. Das lag nur an dem ungewohnten Gefühl, dass dieses Schloss nun beseelt war. Vermutlich fiel es außer ihm gar niemandem auf.

Zurück an Sorcs Bett, setzte er sich auf den Stuhl und ließ sich die Ereignisse des Tages noch einmal durch den Kopf gehen. Das erwies sich als relativ schwierig, denn immer wieder mischten sich Gedankenfetzen dazu, die aus Cathys Erinnerungsspeicher zu stammen schienen. Unwillkürlich musste Crimson sich vorstellen, dass es nach ihm vielleicht einmal einen jungen Schlossherrn gab, der in der Rolle des jetzigen Schlossherrn von dieser Nacht träumte, der Nacht der Beseelung. Huuuh... die Nacht der Beseelung. Der Ausdruck gefiel Crimson, und wenn er ein Tagebuch geführt hätte, wäre das definitiv einen Eintrag wert gewesen. Zweifellos legte aber Cathy einen an.

Crimson war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Er besorgte eine Kanne Wasser und einen Becher und stellte beides auf den Nachttisch. Er kochte sich einen Tee und machte einen kurzen Rundgang, wobei er das Getränk ziehen ließ. Der Tee wurde kalt, während er ihn grübelnd in der Hand hielt, so dass er zu guter Letzt einfach den ganzen Rest austrank. Der Tee hatte einen ziemlich blumigen Geruch, fand er. Anscheinend hatte er im Regal daneben gegriffen und nicht den gewünschten Kräutertee erwischt. Aber das war nicht so schlimm – im Teeregal gab es nichts, was ein gesunder Mensch nicht trinken durfte. Als ihm die Augenlider schwer wurden und er vermutete, dass es wohl ein Beruhigungstee gewesen war, wehrte er sich nicht gegen die Wirkung, sondern ließ seinen Oberkörper nach vorn auf die Bettkante sinken und gestattete dem Schlaf, ihn einzulullen.

Kaum zwei Minuten schienen vergangen zu sein, als ein Schwall kalten Wassers ihn in die Realität zurückholte. Er wollte sich die Augen reiben, doch er konnte sich nicht bewegen – er war an den Stuhl gefesselt. Jemand packte brutal in seine Haare und riss seinen Kopf nach hinten. Eine kalte Klinge legte sich an seinen Hals.

„So sehen wir uns wieder, Crimson,“ zischte eine bekannte Frauenstimme in sein Ohr. Dann schrie sie ihn an: „Was hast du meinem Vater angetan?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  jyorie
2014-03-11T10:32:02+00:00 11.03.2014 11:32
Hey ٩(^ᴗ^)۶

huh ... das war echt aufwühlendes Kapitel ... mit den Veränderungen und dem
Geschenk, das Sorc da gemacht hat. Fesselnd und spannend beschrieben. Ich
glaub ich brauch jetzt auch erst mal einen Tee!!!

Ich hatte mir auch schon alles möglich überlegt, was das Ritual soll, und auch
das Crimson vertrauen soll. Und trotz dem Schwur den Sorc geleistet hat, war
da immer noch dieser kleine Restzweifel, dass es doch nichts Gutes wird.

Als dann Aber Sorc gefragt hat, ob er seine Seele opfern/verbinden darf, da hatte
ich auch echt angst um ihn, und ich kann mir auch jetzt noch nicht vorstellen, das
er das wirklich so unbeschadet überstanden hat, wie er tut. Da ist sicher noch ein
Harken dran ...

Allein schon das Crimson von Sorcs Tochter gefangen genommen wurde und
da wohl scheinbar zwischenzeitlich etwas passiert ist?


Das Kapitel war ganz großes Kino!
Hast du unglaublich gut geschrieben!

CuCu, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
11.03.2014 20:07
Ganz großes Kino! Boah dieser Kommi rettet den verkorksten Tag! :D

Wenn das der Eindruck ist, den es hinterlässt, habe ich mein Ziel erreicht. Hat beim Schreiben viel Spaß gemacht und ich hatte mich schon lange darauf gefreut.

Selbstredend hat diese Situation für Sorc Nachteile - zum Beispiel kann er nicht mehr ohne weiteres in die Welt des Blauen Lichts reisen, du erinnerst dich sicher noch, was in dem Special passiert ist. Jetzt kennst du den Grund. Auch in btfw ist er ohne Seele unterwegs, aber da dies von der Autorin gedeichselt wurde, passiert da nichts.
Die Seele nicht im Körper zu haben, bringt aber auch Vorteile. Das werden sie noch in einem der nächsten Kapis besprechen.

Vielen Dank nochmal für das große Lob, es geht hoffentlich bald weiter!
Antwort von:  jyorie
11.03.2014 21:19
*schmunzelt* ja, es hat mir sehr gut gefallen. Und ich habe die beschriebenen Szenen auch richtig sehen können und auch mitempfunden, wie es Chrimson bei dem Ritual ging. Das Kapitel hast du unter die Haut geschrieben.


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