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Der Erlkönig

Von Lyrik zur Prosa
von

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Der Erlkönig
 

Vereinzelt fielen die letzten Sonnenstrahlen des Tages durch das dichte Blattwerk der Kastanie. Fast schien es, als wollten die Blätter die Farbe der Sonne imitieren, so leuchteten sie in einem feurigen Rot und Gold. Bald würden sie sich einem weichen, raschelnden Teppich gleich über den ganzen Gutshof legen und den nahenden Winter ankündigen.

Das Wiehern der Pferde und das Gackern der Hühner verliehen dem Treiben auf dem Hof den Anschein von Lebendigkeit. Hörte und sah man jedoch genauer hin, so wirkte das Klappern der Stiefel auf den Steinen gehetzt und in das Wiehern der Pferde mischte sich ein unruhiges Schnaufen und Scharren.

Der Wind war aufgefrischt und trug die Geräusche über die angrenzende Wiese und den nahen See bis an die vereinzelten Ausläufer des Waldes.

Erregte Stimmen und ein unterdrücktes Schluchzen, eilige Schritte und tröstende Worte. Fast wirkte es, als würden die Blätter zum Klang der Stimmen tanzen. Langsam und traurig… und voll unausgesprochener Warnung.

Mit langen, schnellen Schritten, fast ohne den Boden zu berühren, eilte ein Mann auf das bereits gesattelte Pferd zu. Haare, die nur nachlässig zu einem Zopf gebunden waren und bereits erste graue Strähnen aufwiesen, peitschten ihm ins Gesicht. Über dem Hemd trug er nur einen dünnen Rock, der, kaum der Jahreszeit angemessen, ihn niemals gegen das aufziehende Gewitter würde schützen können. Das alles jedoch nahm er nicht wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit war dem schmächtigen Jungen in seinen Armen gewidmet.

Der Junge war fünf, vielleicht sechs Jahre alt. Sein blondes Haar schimmerte fast silbern und seine Augen waren von einem hellen Blau. Selbst für sein Alter war er klein und mager. Und in seinem blassen Gesicht wirkten die tief umrandeten Augen noch um ein Weites größer. Sein Vater hatte ihn tief in Decken eingewickelt, so dass kaum mehr als Nase und fiebrig glänzende Augen von dem Jungen zu sehen waren.

Erst wenige Stunden zuvor hatten die Augen des Jungen diesen fremdartigen Glanz angenommen, als würde er Dinge sehen, die kein menschliches Auge je zu Gesicht bekommen hat. Kurz darauf begannen Herz und Atem zu jagen, als sei er um sein Leben gelaufen, und hatten seither nicht damit aufgehört.

In seiner Besorgnis nun hatte der Vater beschlossen, den Jungen so schnell wie möglich zum Arzt zu bringen. Dieser nahm das aufziehende Gewitter bereits nicht mehr wahr. Er sah mit verschleiertem Blick in die Ferne.

Erste Blitze zuckten über den Himmel und Wassertropfen fingen sich in der Mähne des Rappen, als der Vater sich aufschwang und dem Pferd die Sporen gab. Sofort fiel der Hengst in einen leichten Trab und die Reisenden ließen die Kastanie hinter sich, deren Äste unter dem zunehmenden Wind schon zu knarren begannen.

Schon wenige Minuten, nachdem sie den Hof verlassen hatten, fielen die Tropfen immer dichter herab und verwandelten den Weg unter ihnen in Schlamm.

Pfützen und das Peitschen der vorbeiziehenden Äste machen ein Vorankommen beinahe unmöglich. Dennoch treibt der Reiter das Pferd zu noch größerem Tempo an.

Der Junge regt sich immer noch nicht und trotz des kalten Windes, der unter seine Kapuze schlägt, steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Rastlos huschen seine Augen nun über die Bäume und Büsche. Vor dem dunklen Himmel waren sie kaum mehr als Schatten wahrzunehmen. Der Mond war die einzige Lichtquelle. Sofern er jedoch hinter den Wolken hervorkam, so ließ sein Licht die Umgebung nur noch umso gespenstischer wirken.

Sie waren nun schon so weit in den Wald vorgedrungen, dass der Regen kaum mehr durch das dichte Dachwerk zu dringen vermochte. Aber auch dem Mondlicht wurde der Weg verwehrt. Die kleine Laterne war nun die einzige Lichtquelle.

Ein plötzlicher Windstoß ergreift den Mantel des Reiters und zerrt an ihm. Dann das Aufleuchten eines Blitzes, so hell, dass es selbst durch das Dickicht zu den Reisenden durchbricht. Das Gewitter befindet sich nun direkt über ihnen.

Der Vater treibt das Pferd zu noch größerer Eile an. Äste und Blätter rasen nur so an ihnen vorbei. Die Laterne schwankt gefährlich.

Dann ein grelles Licht. Ein Bersten. Nur wenige Fuß von ihnen entfernt schlägt der Blitz ein und spaltet den Baum.

Der Hengst steigt und versucht, seine Last abzuwerfen. Der Mann greift nach den Zügeln und nur mit größter Mühe gelingt es dem erfahrenen Reiter, sich und seinen Sohn auf dem Pferd zu halten. Die Laterne löst sich, schlägt auf dem Boden auf und erlischt. Nun sind der Wald und seine Besucher in völlige Dunkelheit gehüllt. Sie müssen sich darauf verlassen, dass das kluge Tier den Weg auch ohne Hilfe findet.

Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit und einzelne Umrisse werden sichtbar.

Der Junge blinzelt.

Aus den Schatten steigen Nebel auf, werden dichter und nehmen flüchtig Gestalt an, um diese gleich darauf wieder zu verändern.

Das Donnern des Gewitters zieht in weite Ferne. Nur noch das Laub raschelt um ihn herum. Wispert wie aus vielen Mündern zugleich.

Dem Jungen rast das Herz und ihm stockt der Atem, als sich eine Gestalt aus dem Nebel schält. Nur noch fester drückt er sich in die Arme seines Vaters.

„Beruhige dich, Sohn“, die Stimme des Vaters reißt ihn vom Anblick der unwirklichen Schatten zurück. „Wovor fürchtest du dich so sehr?“

Mit zitternder Stimme und vor Furcht geweiteten Augen flüstert der Junge: „Ich habe ihn gesehen: Den Erlkönig.“

Der Vater richtet seinen Blick wieder auf den Weg: „ Das sind nur Nebelschwaden.“

Endlich begannen sich die Nebel zu verfestigen, formten Torso und Gliedmaßen. Ein großer Mann tritt aus ihnen hervor. Langes schwarzes Haar umrahmt ein Gesicht mit feinen Gesichtszügen, fällt über breite Schultern bis hinab zu den Knien, wo es eins wird mit der Dunkelheit.

Der Blick aus goldenen Augen ist auf das Kind gerichtet. Ein Lächeln kräuselt sich um seine Lippen, als er den Mund öffnet und mit einer Stimme spricht, die zugleich einem kleinen Kind als auch einem alten Mann gehört. Und noch während er spricht, verwandelt sich seine Gestalt in die eines kleinen Jungen:

„ Komm zu mir. Ich möchte mit dir spielen. Sieh doch, wie schön es hier ist. Meine Mutter wird uns Geschichten erzählen und wir pflücken Blumen am Ufer des Baches.“

Noch während er sprach, wich die Dunkelheit um ihn zurück und eine Wiese mit blühenden Blumen erstreckte sich, soweit der Blick reichte. Der Junge breitet die Arme aus und läuft lachend auf das Ufer eines kleinen Bächleins zu, an dem eine Frau sitzt. Ihre Haare sind lang und schwarz wie die des Jungen und um ihren wohlgeformten Körper schmiegt sich ein Kleid aus purem Gold, das bei jeder leisen Bewegung glitzert und funkelt.

Sie singt. Eine leichte, traurige Melodie. Die Augen geschlossen, wiegt sie sich zum Rhythmus der Musik. Obwohl die Melodie so traurig ist, weckt sie eine tiefe Sehnsucht und treibt den Jungen in ihre Richtung. Schritt für Schritt nähert er sich ihr, nicht darauf achtend, wohin sein Schritt ihn führt. Auch der kleine Junge mit den schwarzen Haaren hat nun in die Melodie eingestimmt. Der Drang, sich zu ihnen zu setzen und einfach nur noch der Musik zu lauschen, wird unerträglich. Aus zögernden Schritten werden übermütige Sprünge und letztlich beginnt er zu rennen.

Als wäre dies das Zeichen, öffnet die Frau ihre Augen und schaut ihn direkt an. Aber in ihren Höhlen befinden sich keine Augäpfel, nur tiefe schwarze Löcher, die darauf warten, ihn zu verschlingen.

Ein Aufschrei reißt ihn zurück in die Realität. Er hat so verängstigt geklungen, dass ihm erst klar wird, dass er selbst geschrien hat, als sein Vater sich besorgt erkundigt.

Die Stimme des Jungen zittert: „ Der Erlkönig. Er ruft nach mir.“

Beruhigend drückt der Vater den Kopf des Sohnes an seine Brust: „Hab keine Angst, deine Ohren spielen dir einen Streich: Was du hörst, ist das Rascheln des Windes in den Bäumen.“

Es fällt dem Jungen schwer, das zu glauben. Zu sehr hat sich die Furcht schon in sein kleines Herz gefressen.

Es rast immer noch, als er sich fester in den Mantel seines Vaters drückt.

Alles ist wieder dunkel um ihn herum. Keine Wiese. Kein Bach. Kein kleiner Junge. Nur der wilde Herzschlag, der in den Ohren widerhallt, und ein leises Wimmern, das er nicht zu unterdrücken vermag.

Langsam lässt das Gewitter nach. Das Donnern verschwindet wieder in der Ferne und man hört nur noch das Rascheln der Blätter. Nicht einmal die Hufe des Pferdes stören die Stille: Ihre Laute werden einfach vom weichen Moos geschluckt. Das Rauschen der Blätter im Wind gleicht einem leisen Schlaflied und das Schaukeln in den Armen des Vaters lässt den kleinen Jungen die Augen schließen und in einen unruhigen Schlaf sinken.

Das Flüstern der Blätter wirkt beinahe menschlich. Je länger er ihnen zuhört, desto klarer werden die Worte: „Komm zu mir!“

Jäh reißt der Junge seine Augen auf. Grelles Licht blendet ihn. Er ist wieder auf der Wiese. Diesmal jedoch ist der kleine Junge nicht da. Stattdessen kommt ein groß gewachsener Mann auf ihn zu. Er erkennt ihn, auch wenn er diesmal viele Jahrzehnte älter scheint. Es ist der Erlkönig.

Um ihn herum stehen junge Frauen. Um die Hüften tragen sie einen langen Rock aus einem durchscheinenden Gewebe. Die üppigen Rundungen ihrer Brüste dagegen sind einzig verhüllt von ihren langen Haaren. Sie lachen frei und ausgelassen. Als sie den Jungen erblicken, kommen sie auf ihn zu. Er versucht wegzulaufen. Das alles ist eine Falle des Erlkönigs, aber er ist nicht fähig, sich zu rühren. Als würde der Blick des dunklen Herrn des Waldes ihn zu Stein werden lassen.

Die Frauen beginnen zu tanzen. Sie bilden dabei einen Kreis, in dessen Mitte er sich befindet. Immer wieder brechen einige von ihnen aus dem Kreis aus, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Er aber kann nur wie gelähmt den Mann mit den schwarzen Haaren anstarren.

Der breitet die Arme aus und wieder verziehen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Dieses Mal jedoch kommen Zähne zum Vorschein, die eher angespitzten Nägeln gleichen, und kaum einen Augenblick später hat er den Ring der tanzenden Mädchen durchquert und steht vor dem Jungen. Hätten nicht die spitzen Zähne das Lächeln Lügen gestraft, so hätten es spätestens seine Augen getan. In ihnen lag kein Funken Freundlichkeit. Nur Neid und Besitzgier.

„ Bleib bei mir. Sieh meine Töchter. Sie würden den ganzen Tag mit dir tanzen und spielen.“

Nur zu leicht wäre es ihm gefallen einzuwilligen, wären da nicht diese Zähne, die wie spitze Nadeln das Gesicht seines Gegenüber durchschnitten.

Er nimmt alle seine Kraft zusammen, dreht sich um und rennt los. Schon greifen die ersten Arme nach ihm, wollen ihn halten und zurückzerren. Doch er entwischt ihnen knapp. Noch im Laufen dreht er sich um und wirft einen Blick zurück auf seine Verfolger.

Die Körper der Mädchen sind nun nicht mehr schön und üppig. Sie sind kaum mehr als Frauen zu erkennen. Durch die blasse, straff gespannte Haut zeichnen sich alle Knochen ab und die Hände, die nach ihm greifen, haben sich unlängst in Klauen mit scharfen Krallen verwandelt.

„Vater!“

Kaum mehr als ein erstickter Laut dringt aus seiner Kehle. Seine Lunge zieht sich schmerzhaft zusammen und sein Herz schlägt hart gegen seine Brust. Alles verschwimmt vor seinen Augen. Um ihn herum herrscht nur noch Finsternis.

„Junge“, reißt ihn eine vertraute Stimme aus der Bewusstlosigkeit, „was ist mit dir?“

Mit aller Kraft versucht er, seine Augen zu öffnen. Erst beim dritten Versuch gelingt es ihm.

Dunkelheit umgibt ihn noch immer. Doch jetzt ist es die warme Dunkelheit des Mantels, in den ihn sein Vater gewickelt hat. Dennoch zittert er am ganzen Körper.

„ Vater. Vater siehst du sie denn nicht? Die Töchter des Erlkönigs…sie kommen, mich zu holen.“

Doch jetzt konnte auch er sie nicht mehr sehen. An ihm flogen noch immer Bäume und Sträucher vorbei. Sie ritten noch immer durch den Wald.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Was du siehst, sind die grauen Weiden im Wind.“

Es ist jedoch unmöglich, den Jungen zu beruhigen. Sobald er versucht, die Augen zu schließen, erscheinen wieder die verdorrten, krallenbewehrten Finger, die nach ihm greifen.

Auf einmal greifen eisige Klauen nach seinen Schultern. Krallen sich in das Fleisch. Reißen an ihm und eine vertraute Stimme klingt nah bei seinem Ohr:

„ Ich will dich! Ich gebe dich nicht frei und wehrest du dich, so brauche ich Gewalt!“

Ein stummer Schrei entringt sich der Kehle des kleinen Jungen.

Verzweifelt treibt der Vater das Pferd noch zu höherem Tempo an. Treibt es an seine Grenzen.

Endlich erreichen sie den Hof der Universität.

Der Vater springt mit seiner Last aus dem Sattel und blickt seinem Sohn ins Gesicht. Unter der Kapuze hervor schauen ihm die toten Augen des Jungen entgegen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Setsuko_Jiyu
2013-03-01T10:47:27+00:00 01.03.2013 11:47
Nicht schlecht umgesetzt. Gefällt mir ganz gut. Allerdings hat mir an den wichtigen Stellen die Dramatik gefehlt. Dein Text ließt sich gut aber du hast es nicht immer geschafft die Spannung mit deinen Worten zu erzeugen, die du vllt gern gehabt hättest :)
Vor allem das Ende. Im Gedicht ist es sehr dramatisch. Der Höhepunkt und gleichzeitig das tragische Ende. Bei dir hat alles gefehlt, was in dem Gedicht wunderbar in Szene gesetzt wurde. Deine Ende war eher ernüchternd. Ich hab ich auf einen starken Ausdruck gefreut, der am Ende nicht kam.
Ansonsten war es dennoch gut umgesetzt. Du hast dir deine eigenen Gedanken zur Darstellung der Protagonisten gemacht und es auch sehr Originalgetreu umgesetzt. Hätte vllt auch noch einen Tick länger sein können, weil man einfach aus der Darstellung der Umgebung viel hätte raus holen können ;)
Hat mir gefallen! :)
Antwort von:  Setsuko_Jiyu
01.03.2013 11:48
natürlich liest mit "s" :D


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