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Orangenblüten

von

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Aromatherapie

Ihr kleines Reich war fünf, vielleicht sechs Quadratmeter groß und genaustens durch Wände aus Pappe, vielleicht auch Sperrholz, eingezäunt. Der Tisch in diesen engen Reich war angefüllt mit Akten, drei oder vier beschrifteten USB sticks, einem Stapel gebrannter DVDs, noch mehr Akten, einem Rechner mit flachen Bildschirm der Marke Samsun und Schreibzeug. Die Firma verbot zwar jede Art von persönlichen Gegenständen auf dem Arbeitsplatz, aber sie hatte hinter den aufgeklebten Blättern mit Daten und ihrem Wochenplan ein Foto mit ihren Freunden, ihrer Familie und ihrem Verlobten angebracht. Es schimmerte durch und jemand, der nur flüchtig vorbeisah und ihre Arbeit kontrollierte, würde das nicht auffallen. Dabei kamen sie oft und kontrollierten sie.
 

In den ersten Wochen hatte es sie verdrängt, aber nun störte es sie nicht mehr. Sie war nun einmal „die Neue“. Nicht nur neu in der Firma, sondern auch neu in ihrem Beruf: Die Uni lag ein Halbes Jahr hinter ihr und nur, weil sie sich in der deutschen Zweigstelle den Arsch aufgerissen hatte, saß sie nun im Hauptsitz an einen mit Pappe eingezäunten Schreibtisch in einem Großraumbüro mit vielleicht hundert anderen Mitarbeitern.

Sie schielte über die Brille hinweg zur Uhr: eigentlich müsste sie 15 Minuten früher Schluss machen, da sie 15 Minuten früher zur Arbeit erschienen war. Aber das war nicht das über korrekte Deutschland, in dem jeder nur so lange am Arbeitsplatz blieb, wie er unbedingt musste. Bei den Asiaten arbeitete man gern etwas länger und mehr. Nur: Sie war keine Asiatin...

Sie räumte ihren Arbeitsplatz auf und warf sich ihre Jacke um. Es war Zeit, dass ihre Welt die sechs Quadratmeter Marke sprengte. Sie brauchte Abwechslung und machte Feierabend.
 

Etwas ziellos lief sie herum, durch Seitenstraßen und Gassen. Innerlich fühlte sie sich etwas verloren. Wie denn auch nicht? So weit weg von allem, was sie kannte, alles, was sie liebte. Sie war allein hier, auf sich gestellt. Und dass ihre Kollegen nicht gerade auf ihrer Wellenlänge lagen, machte es nicht leichter, sich einzugliedern. Alles war fremd, alles war anders. Auch die Sprache, die sie weder verstehen, noch sprechen noch schreiben konnte. Auf festgeschriebenen Pfaden zu bleiben war jedoch nicht ihre Art. Sie scheute zwar Risiken, weil diese ihr meist nur Ärger einbrachten, blieb doch irgendwie immer ein Abenteurer. Deswegen hatte es sie Millionen Kilometer von zu Hause nach hier verschlagen.
 

Sie blieb vor einem Laden stehen und ging hinein. Es roch gut, so gut, dass sie sich fühlte, als könnte sie alles, was sie bedrückte loslassen. Doch sie klammerte sich daran, als würde ihr Leben davon abhängen. Man bot ihr kleine Fläschchen und soweit sie es verstand, sollte sie sich 4 davon aussuchen, die sie widerspiegelten. Sie entschied sich für Orange, Sandelholz, Vanille und etwas, was sie an etwas erinnerte, was sie in der Kindheit begleitet hatte. Sie konnte nicht verstehen, was es war, denn auch, wenn die Angestellte sich bemühte, Englisch zu reden, konnte sie diese kaum verstehen. Dennoch versuchte sie, ihre Bemühungen nicht ins Leere laufen zu lassen und sie zu frustrieren, denn es kam SELTEN vor, dass jemand Englisch mit ihr sprach. Sie ließ sich etwas von der Mischung auf den Nacken tupfen und sie zahlte. Weit kam sie nicht, denn sie ihr Blick streifte beim Verlassen ein kleines Café und ihr Magen meldete sein Recht an. „Alina, du wirst fett, wenn du noch mehr Kuchen isst!“ seufzte sie in sich hinein und ging durch die Tür. Schon am Eingang lief ihr das Wasser im Mund zusammen: Bei den ganzen Cremetorten ging ihr das Herz auf. Sie entschied sich für einen Orangenkuchen mit wenig Creme, erfahrungsgemäß waren sie hier mit dem Zucker wesentlich großzügiger, als sie das in Europa kannte. Sie setzte sich in eine Ecke des Ladens, in dem sie ihre Ruhe hatte und schnupperte gedankenvoll an dem Parfum und tupfte noch etwas auf ihr Handgelenk. Zu Hause, in Deutschland, hatte sie überall Duftkerzen aufgestellt und aus alten Orangenschalen sich ein eigenes Öl hergestellt. Wäre Obst aus Europa nicht so überteuert würde sie zumindest das in ihre Winzigwohnung einführen. Aber so war das Leben. Sie war schließlich hier, um in Deutschland dicke Hose zu machen. Als erstes würde sie ihre alte Küche rauswerfen, für die sie sich unendlich schämte.
 

Sie zuckte zusammen, als irgendwas zu Boden fiel und an ihr Bein rollte. Da hatte jemand orangen fallen gelassen und sammelte sie nun leise fluchend zusammen, während ein paar der Leute tuschelten. Sie legte das Fläschchen in ihre Tasche zurück und duckte sich, um das, was unter ihren Tisch gerollt war, einzusammeln. „Verflixt.“ murmelte sie, als ihr eine der Orangen noch ein Stück weiter unter die Bank gerollt war. Sie rutschte ganze unter den Tisch- so, wie die Früchte aussahen, mussten sie pro Stück doch etwa ein, zwei Euro gekostet haben. Andererseits verstand sie nicht viel davon, den aktuellen Kurs hatte sie nicht im Kopf.

Sie griff nach der unter ihrer Bank, als sie beim Umdrehen ihn das Gesicht des Eigentümers sah. „Kagamimochi.“ sagte er lächelnd und erfreut. Er sagte noch etwas auf Japanisch, was sie jedoch nicht verstand und so entfuhr ihr ein verständnisloses „Hä?“ Sie blinzelte irritiert, als er noch eins drauflegte und sie etwas fragte, sehr eindringlich fragte und sie keine Antwort darauf wusste. Erfahrungsgemäß hatte es keinen Sinn, Englisch zu reden, weil zumindest die Menschen, die nicht in die Dienstleistungsbranche fielen. Irgendwo in ihrem Hirn war doch der Satz für „Ich spreche kein Japanisch“ vorhanden! Ah, ja: „Uuhm, eeh, watashi wa uuhm, hotondo-“ Weiter kam sie nicht, denn urplötzlich legten sich zwei Lippen auf ihre und fühlte, wie sie erst behutsam, aber verdammt keck geküsst wurde. In einem Café. Unter einem Tisch. Von einem Wildfremden. Noch bevor sie dazu kam, sich der Situation vollkommen klar zu werden, löste sich der Typ von ihr, grinste sie kess an und krabbelte wieder unter dem Tisch vor, ihr noch so etwas wie ein „Bis bald“ auf Japansich nachrufend.
 

Bis bald? Spinnt der? Sie rieb sich unwillkürlich über die Lippen und stellte ihre Tasche- als wäre sie der Grund, weswegen sie unter einem Tisch gehockt hatte- wieder auf die Sitzecke zurück. Die Orange hatte sie immer noch in der Hand. Verdammt! Was bildete sich dieser Typ überhaupt ein?! Und dann hieß es, die Japaner würden selbst beim Händchenhalten rot anlaufen. Und überhaupt, wieso hatte sie die Orange noch?! War sie gerade dreist angegraben wurden?! War das etwa eine Vertuschungsaktion für sein eigentlich Vorhaben? Ach, das konnte nicht sein, immerhin: woher wollte er wissen, dass sie die Orange auch wirklich unter dem Tisch vorholen würde?

Davon abgesehen: küssen konnte der Typ.
 

„Du lieber Himmel!“ schoss es Alina durch den Kopf, „Du bist verlobt! Wie kannst du sowas denken?“ Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder, als ihr das wieder bewusst wurde: sie war verlobt, glücklich verlobt und ein fremder Typ hatte sie gerade unter dem Tisch geküsst in einen gut besuchten Café! Schuldgefühle kamen in ihr auf. Sie musste ihm davon erzählen- halt, besser nicht! Das Handy fiel wieder in die Tasche zurück: Er wäre nur verletzt und sie hätte nur einen unnützen Streit, der sich über die Entfernung überhaupt nicht lösen lassen würde. Und es war nur ein Kuss. Den sie noch nichtmal provoziert, geschweige denn gewollt hatte. Weiß der Geier, was in den Typen gefahren war. Sehr unwahrscheinlich, dass sie den wiedersah. Kein Grund, deswegen ein Drama zu riskieren. Es war ja nicht so, dass sie sich da unten die Klamotten vom Leib gefetzt hatten. Trotzdem schlug ihr Herz schneller, als sie die Orange in die Tasche packte....



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