Er fuhr mit seinem Daumen über die scharfe Klinge, seine dunklen Augen schimmerten im matten Licht. Langsam hob er das Messer an, betrachtete es ausgiebig. Verträumt.
Er öffnete den nächsten Brief.
Das Geräusch des Messers, wie es gleichmäßig durchs Papier gezogen wurde, war alles, was man in dem kleinen Raum hören konnte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Man zerstörte seine schöne Arbeitsatmosphäre.
„Kafka, schaffen Sie mir die Rechnungen für Tuchowski bei! Sie haben drei Minuten!“
Zwei der drei Minuten starrte er ausdruckslos auf die wieder zugeschmissene Tür. Schließlich schob er seinen Stuhl zurück.
Das hatte so schön geknirscht. Fast eine Gänsehaut hatte er bekommen.
Er zog den Stuhl wieder ran, um ihn noch einmal zurückzuschieben. Da, wieder dieses wunderbare Geräusch… Dann machte er sich endlich auf den Weg zum großen Schrank. Die Rechnungen für Tuchowski. Es war alles feinsäuberlich sortiert, deshalb dauerte es keine zwei Sekunden, bis er fündig wurde.
Mit der Akte in der Hand ging er zur Tür. Blieb davor stehen. Er wartete darauf, dass der Herr Vorsteher zurückkommen würde, sich die Rechnungen zu holen. Er wollte nicht nach da draußen. Zu viele Menschen, zu viele Gesichter.
Der Herr Vorsteher kam nicht wieder.
Kafka wartete.
Der Herr Vorsteher war immer noch nicht aufgetaucht.
Kafka sah auf die Uhr. Fünf Minuten um.
Er kniff seine Augen zusammen, holte tief Luft, bevor er an die Türklinke fasste und öffnete.
Draußen klapperten die Tastaturen der Schreibmaschinen, hinten lief die laute Schreddermaschine – zu viele Menschen, zu viele Gesichter.
Hastig schloss er wieder die Tür.
Es war später Abend, als Kafka das Büro verließ. Er ging öfters als Letzter, dann war es in der Vorhalle angenehm ruhig und leer. Draußen auf den Straßen drängten sich jedoch die Menschenmassen, aber dort wusste niemand, wer er war. Dort erwartete niemand irgendetwas von ihm.
Nicht, dass er es hasste, irgendwelche Erwartungen nicht zu erfüllen; es ließ ihn jedes Mal ein wenig mehr sterben.
Es war nicht weit bis zu seiner Wohnung, er lief zu Fuß. Als er das Wohnzimmer betrat, saß sein Vater dort, die Pfeife im Mund, ein verärgertes Gesicht, wie immer.
„Wieso bist du schon zuhause?!“
„Ich habe immer um diese Uhrzeit Feierabend.“ Seine Stimme bebte. Wie immer.
„Ja, und dann geht man aus! Du bist kein Mädchen, das mir das Abendessen machen muss!“
„Ich mache dir aber gerne das Abendessen.“
„Widersprich mir nicht, du Taugenichts!“
Kafka versuchte zu lächeln. „Kleist konnte nicht kochen, er – “
„Hör mir auf mit deinem verdammten Kleist! Ein Schisser, genauso, wie du einer bist! Und jetzt geh mir aus den Augen!“
„Vater – “
„Aus den Augen, sage ich!“
Er senkte seinen Kopf und machte sich auf den Weg nach oben. Dort hatte er ein kleines Zimmer und ein Bad. Dort gab es nur ihn, Blatt und Stift – und Kleist.
Nun…Kleist gab es natürlich nicht wirklich, aber er war da. In seinem Geist. Er konnte ihn spüren, fühlte sich mit ihm verbunden…
Kleist war sein Gott. Er war, ja, wie sein Vater richtig erkannt hatte, genauso ein Taugenichts wie er selbst gewesen, aber jetzt, heute, da verehrte man ihn und las seine Werke.
Kafka verehrte diesen Mann mehr als jeder andere, er betete ihn an. Jeden Abend bat er ihn um Erfolg. Erfolg im Leben, oder wenigstens nach seinem Tod.
Wann dieser Tod kommen sollte, darüber hatte sich Kafka noch keine Gedanken gemacht. Nun, schon oft hatte er gedacht: das ist er, der Moment zum Sterben, aber noch nie war er wirklich gestorben.
Kleist hatte 34 Jahre auf dieser Erde verbracht. Kafka war jetzt 33. Er wusste nicht, wie viele Jahre er noch hierbleiben würde.