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I can't live without

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I can't live without

Das Flugzeug tauchte durch die Schleier der Wolken. Unter mir breitete sich dunkel und ruhig die Bucht von Tokyo aus, die Lichter der Häfen waren kaum zu erkennen im dichten Regenschleier. In der Ferne glühte der Himmel in einem gelblichen Orange, schien zu pulsieren durch die Spuren der Regentropfen, die an der Scheibe entlang liefen – Tokyo.

Die Flugbegleiterin kam zu mir und fragte, ob sie ein Taxi bereitstellen lassen sollte. Ohne meinen Blick von den näher kommenden Lichtern zu lösen, bejahte ich, sie verschwand geräuschlos.

Kurz bevor das Flugzeug auf der nass glänzenden Landebahn aufsetzte, überprüfte ich noch einmal, ob der kleinen Schachtel nichts passiert war. Keine Knicke, die Schleife saß gerade. Ich reiste ausschließlich mit Handgepäck – eine Schultertasche und ein Leinenbeutel, in dem mein Geschenk wartete. Ich hatte nicht vor, die Nacht hier zu verbringen. Zu Hause wusste niemand, was ich gestern getan und dass ich heute einfach die nächste Maschine nach Tokyo genommen hatte. Ein paar Mal hatte das Telefon geläutet, doch ich hatte es ignoriert. Eigentlich war ich für den Abend mit Toshi verabredet gewesen, morgen Früh hätte ich eine Besprechung mit ein paar Musikern gehabt, um letzte Details für eine Zusammenarbeit zu klären, doch all das musste warten. Es gab Wichtigeres. Sogar wichtiger als mein Sänger und bester Freund.
 

Als ich aus dem Terminal trat, empfing mich eine Windbö, die mir dicke Tropfen ins Gesicht und in den Kragen meines Mantels blies. Es war bitterkalt, ganz anders als ich mir die Ankunft in der Heimat vorgestellt hatte.

Mein Taxi stand unweit des Ausgangs und ich beeilte mich, machte mir nicht die Mühe, mein Gepäck im Kofferraum zu verstauen, sondern stieg direkt ein. Das Japanisch des Fahrers klang angenehm vertraut, ich fühlte mich zu Hause – monatelang hatte ich nur Englisch gesprochen, mit wenigen Ausnahmen, wenn ich Toshi und die anderen traf.

Ich nannte dem Taxifahrer Stadt und Adresse, er betätigte den großen, rot leuchtenden Knopf am Taxameter und reihte sich in den Strom der Autos ein, die das Flughafengelände verließen. Noch anderthalb Stunden.
 

»Besuchen Sie Ihre Familie?«, fragte der Fahrer, nachdem wir den Fluss Tama überquert hatten und den Hafen passierten.

»Ja, so etwas Ähnliches«, erwiderte ich und blickte aus der Windschutzscheibe. Sprühregen. In regelmäßigen Abständen glitt der Scheibenwischer durch mein Blickfeld, ich erkannte klar die Straße, dann sammelten sich neue Tropfen, alles wurde angenehm nebelig, dann mit einem Wisch wieder klar, neue Tropfen, die im Fahrtwind die Scheibe erklommen, fortgewischt …

Ich wandte den Kopf und sah aus dem Seitenfenster. Dunkel ließ sich die Bucht hinter den Hafengebäuden erahnen, dann wurden wir von schwarzen Wassern umschlossen, wieder Festland, noch eine Brücke, auf der wir Teil der Dunkelheit wurden, dann tauchten die Lichter von Yokohama vor uns auf. Die Straße führte noch eine Weile an der Bucht entlang, bis sie in Namiki eine scharfe Kurve in Richtung Innenland nahm.

Die Lichter der Städte, die blinkenden Leuchtreklamen, die Scheinwerfer der Autos und Züge – all das brach sich in den unzähligen Tropfen auf der Scheibe. Ich verfolgte gedankenverloren das Spiel, während der Fahrer leise einen Schlager im Radio mitsummte.

Als wir die größeren Städte hinter uns ließen und auf dem Weg nach Yokosuka durch ländliches Gebiet fuhren, drehte der Fahrer die Heizung ein wenig ab – »Es ist schon spät und Wärme macht müde!« – und die Musik ein wenig lauter. Ich kannte das Lied nicht, wahrscheinlich die aktuelle Single eines aufstrebenden Popstars, doch wirklich interessierte es mich nicht. Auch nicht, dass der Fahrer erneut mitsummte. Meine Gedanken waren längst an dem Ort, den ich besuchen wollte. Eine kleine Stadt noch hinter Yokosuka – hinter dem Ort, an dem alles für ihn begonnen hatte.
 

Zum Glück entpuppte sich der Taxifahrer als recht schweigsamer Mann. Er stellte keine überflüssigen Fragen, redete nicht vom Wetter und überließ mich mir selbst. Sah man vom Radio ab, war es so ruhig wie schon lange nicht mehr. Der Regen trommelte ruhig gegen die Scheiben und aufs Autodach, leise rauschte das Geräusch der Reifen auf der nassen Fahrbahn in mein Bewusstsein, wenn ich mich bewegte, raschelte der Beutel in meiner Hand fast unhörbar. Der Sitz war weich, es war angenehm warm, aber nicht überheizt, es roch ein wenig nach dem Lufterfrischer, der an einem der Belüftungsgitter angebracht war. Ich entspannte mich und schloss die Augen.
 

»Wir sind bald da.«

Ich spürte eine Hand an meiner Schulter und blinzelte. Vor uns lag Dunkelheit, im Seitenspiegel erkannte ich die verblassenden Lichter einer Stadt.

»Gleich sind wir in Nobi, dann dauert es nur noch eine Viertelstunde.«

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Im selbem Moment verfluchte ich, dass ich nichts zu trinken mitgenommen hatte – meine Kehle war trocken und fühlte sich kratzig an.

Ich war ein Stück in den Sitz gesunken, richtete mich wieder auf und strich mein Hemd und meinen Mantel glatt. Überprüfte noch einmal den Zustand des Geschenks, so weit ich das im Zwielicht erkennen konnte. Alles in Ordnung.

»Ein Mitbringsel? Anständig von Ihnen.«

Ohne etwas zu erwidern beobachtete ich, wie sich die ersten Lichter von Nobi in den Tropfen auf der Windschutzscheibe brachen.
 

Dahinter empfing uns erneut das Meer. Mein Körper spannte sich, Nervosität kroch meinen Rücken hinauf und setzte sich prickelnd in meinem Nacken fest. Bald war ich da. Ich hatte mir nichts zurechtgelegt, was ich ihm sagen wollte, vertraute einfach darauf, dass mir mein Gefühl wie so oft die richtigen Worte in den Mund legen würde.
 

»Waren Sie schon einmal in Miura?«, fragte der Fahrer und drehte zeitgleich die Musik leiser.

»Ja.« Ich wunderte mich nicht darüber, dass meine Stimme kaum mehr als ein ersticktes Flüstern war.

»Oh, dann kennen Sie sicherlich den Hafen! Und den Leuchtturm von Jôgashima, der ist so ziemlich der ält…«

»Entschuldigen Sie, ich fahre nicht wegen der Sehenswürdigkeiten nach Miura«, unterbrach ich ihn so freundlich ich konnte. Er schien etwas erwidern zu wollen, wandte den Kopf dann aber wieder und starrte schweigend auf die Straße. Natürlich konnte er den Grund nicht wissen. Aber mir war gerade nicht nach Small Talk.

Die Bucht tauchte vor uns auf, eine letzte Kurve, Felder, einzelne Häuser, die wie mit einem flüchtigen Pinselstreich in die hügelige Landschaft getupft waren, ein Wald. Die Straße wurde schmaler, wir verlangsamten unsere Fahrt, bogen mal hier, mal dort ab und schließlich erkannte ich die Häuser, die Straße, meinte jede Grundstücksmauer unzählige Male gesehen zu haben. Die letzte Gerade, Wiesen, weite Flächen – dann kam das Tor in Sicht.

Im Schutz einiger Hügel erstreckte sich das graue Feld, das in der Nacht und am Tage gleichwohl düster und kalt wirkte.

Der Fahrer hielt vor dem Eingang und sah mich fragend an.

»Bitte warten Sie hier, es wird … es wird nicht lang dauern.«

Er nickte, ich verstaute meine Tasche im Fußraum des Beifahrersitzes, griff fest meinen Leinenbeutel und öffnete die Tür.

Aus dem Regenguss war ein leichter Niesel geworden, der sich fein und kalt auf mein Gesicht legte. Der Wind hatte nachgelassen, dennoch fröstelte ich, als ich die Tür wieder schloss und mich in Richtung des Tors aufmachte. In der Hoffnung, dass das Taxi noch da war, wenn ich zurückkehrte – Pass, Geld und alles Wichtige hatte ich im Auto gelassen.

»Nun ja, wenn es weg ist, bleibe ich einfach hier. Bei ihm bin ich in guter Gesellschaft.«
 

Das Tor war nicht verschlossen, leise – obwohl es nicht nötig gewesen wäre, denn außer mir war niemand hier – schlüpfte ich hindurch und betrat den Kiesweg, den ich schon so schmerzlich oft entlang gegangen war. In der Dunkelheit war kaum etwas zu auszumachen, doch ich kannte die Stelle genau, hätte sie mit geschlossenen Augen gefunden. Mit jedem Schritt spürte ich die Anspannung in meinem Körper wachsen, nach ein paar Minuten glaubte ich, nicht weitergehen zu können, doch dann fasste ich den Beutel fester, grub die Nägel in die weiche Haut meiner Handfläche und lief weiter. Weiter. Zu ihm.
 

Natürlich waren überall unzählige Blumenvasen verteilt, im Sonnenlicht hätten sie sicher ein schönes Bild ergeben, farbenfroh und fröhlich. Jetzt, in einer kalten, feuchten Nacht ohne Sterne oder Mondlicht wirkten sie ebenso traurig wie ich mich fühlte.

Ein dicker Kloß in meinem Hals hinderte mich am Schlucken, das Atmen fiel mir schwer, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Der Anblick seines Namens machte mich unfähig, mich zu rühren, trieb mir wie immer, wenn ich hier stand, die Tränen in die Augen. Dennoch zwang ich mich zum Weitergehen. Ich musste dort hinauf, zu seinem Stein, ich musste zu ihm. Nur noch diese wenigen Meter.
 

Vor dem grauen Stein ließ ich mich auf die Knie fallen. Es interessierte mich nicht, dass ich meine Dreihundert-Dollar-Hose ruinierte, es interessierte mich auch nicht, dass mich Kälte und Feuchtigkeit sofort befielen wie ein hungriges Tier. Meine Fingerspitzen fanden ganz selbstverständlich die Kanten seines Namenszugs und strichen ihn nach.

»Hallo hide«, flüsterte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Ich stellte ihn mir vor, die pinke Wuschelmähne, das immer etwas spitzbübisch wirkende Lächeln, die wachen Augen und die Hände, in die er sein Gesicht stützte und mich auffordernd ansah.

»Du würdest mich sicher auslachen, wenn du mich jetzt sehen könntest. Aber warte, das ist noch nicht alles. Das ist das erste Mal, dass ich das getan habe und ich habe so lange dazu gebraucht. Vor fünfzehn Jahren schon wollte ich dir das hier geben und ich hab es einfach nicht über mich gebracht.«

Ich nestelte an dem Leinenbeutel, den ich auf meinen Schoß gebettet hatte. Schließlich hatte ich die kleine Schachtel daraus befreit, rückte ein paar Blumen beiseite und stellte sie direkt unter seinen Stein.

»Gestern habe ich ein paar Stunden in meiner Küche verbracht und das erste Mal in meinem Leben selbst Schokolade gemacht. Ich weiß nicht, ob sie gut geworden ist, aber ich habe versucht, sie so zu machen, als würde ich ein Stück komponieren. Erinnerst du dich noch an ›Without you‹? Es war ein bisschen wie damals. Ich habe an dich gedacht und alles, was ich zu geben habe, in das Stück gelegt. Und so habe ich gestern das erste Mal Schokolade gemacht. Ich bin zu dir geflogen, niemand weiß, dass ich hier bin, Toshi versucht sicher schon mich zu erreichen, irgendwer wird sich bestimmt gerade aufregen darüber, dass ich nicht da bin, aber das ist alles egal. Alles ist egal, außer dir, hide. Alles außer dir.«

Meine Stimme versagte, ich senkte den Kopf und holte tief Luft, so tief es ging, denn mein Hals fühlte sich an als hätte jemand die Hände darum geschlungen und würde zudrücken. Fest. Und fester.

»Sicher lachst du«, brachte ich hervor und hob meinen Blick, starrte die geschwungenen Linien an, die einzig von ihm geblieben waren. »Ich bin immer noch zu emotional.« Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, doch ich spürte, dass es gequält aussehen musste. »Aber ich kann nicht anders. Du warst alles für mich, hide. Du bist alles für mich.«

Der Regen wurde stärker, bald liefen kleine Rinnsale von meinen Haaren über meine Stirn, meine Wangen und in meinen Nacken.
 

Ich weiß nicht, wie lange ich letztendlich dort gesessen habe, irgendwann ließ der Regen nach und schließlich trieb der Wind nur noch dunkelgraue Wolken übers Firmament. Ich zitterte vor Kälte, war nass bis auf die Knochen, doch es störte mich nicht. Ich hielt hides lächelndes Bild fest vor meinen Augen, überdeckte damit den grauen, toten Stein, wollte die Wärme seiner Fingerspitzen unter meinen fühlen, wenn ich über seinen Namen strich, wenn ich die Augen schloss und mich fünfzehn Jahre zurückversetzte, zu den Proben am Valentinstag, die Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen und in seinen pinkschwarzen Haaren spielten, ihn blendeten, sodass er immer wieder herumwirbelte und die Position wechselte, mich anlächelte, die Lieder zusammen mit Toshi sang, die ich komponiert hatte, die Lieder, die davon erzählten, wie es schon immer in mir ausgesehen hatte.

Ich blinzelte und das Bild verschwand, nur der Stein blieb. Und das kleine Geschenk, das seinen und meinen Namen trug und die erste und letzte selbstgemachte Praline meines Lebens bewahrte.

Einen Moment verharrte ich. Atmete ein – es roch nach Erde, Orchideen und Rosen, Regen und vielen Erinnerungen und Tränen, die dieser Ort in sich trug – und atmete aus.

Dann erhob ich mich.

»Keine Angst, ich erwarte kein Geschenk von dir am White Day.« Mein Schmunzeln war echt und ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Das einzige, das ich mir wünsche, ist: Bleib weiterhin bei mir. Jeden Tag, jede Sekunde. Hüll mich ein. So wie früher. So wie immer. Gib mir die Stärke, weiterzumachen.«

Ich hielt inne, doch ich spürte, dass ich nicht aussprechen konnte, was ich in so viele Lieder geschrieben hatte. Es würde weiterhin in der Musik verweilen, zusammen mit all den anderen Gefühlen und Gedanken.

»Du weißt eh, was du mir bedeutest, nicht wahr, hide?«

Noch einmal huschte ein Lächeln über meine Lippen, mir war, als spürte ich einen warmen Hauch, der nicht der Wind war, ein sanftes Nicken, wortlos, in meinen Gedanken.

»Bis zum Mai«, flüsterte ich und wandte mich ab. Folgte dem Kiesweg, der mich zurück zum Tor bringen würde, zurück zum Taxi, zum Flughafen, in die Stadt, die ich mir erwählt hatte.

»Ich werde Toshi von dir grüßen, sicher wird er es verstehen«, murmelte ich, als ich durch das Tor trat und dem Fahrer zunickte, der rauchend am Auto lehnte. Wir stiegen ein, er ließ schweigend den Motor an und ohne das Radio anzuschalten bog er auf die Hauptstraße ein. Felder, einzelne Häuser, ein Wald. Dann erwartete uns dunkel und ruhig das Meer.
 


 

14.02.2012
 

I'm standing on the edge

And coming to my senses

From the reverie

Never thought I would

Never thought I'd need to

Say good bye, I bid you farewell

My voiceless words are swaying the flame

I can't live without...I can't live without

I can't live without you here in the dark

I whisper your name over again

Give me the strength to seize the light if I should find a way
 

—Yoshiki, Unnamed Song (Eternal Melody II)



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  tayo
2013-09-30T14:26:49+00:00 30.09.2013 16:26
Q.Q so traurig :( aber schön
Antwort von:  SaKi_612
02.10.2013 13:54
Danke ^^
Von:  Tsuki_no_Kage
2013-07-06T20:56:03+00:00 06.07.2013 22:56
Einfach nur unglaublich wundervoll und voll Gefühl. ..
Antwort von:  SaKi_612
06.07.2013 22:59
Danke sehr :)
Von:  KyOs_DiE
2013-07-04T14:57:15+00:00 04.07.2013 16:57
Mir fehlen die Worte. Ich weine. Einfach schön!
Antwort von:  SaKi_612
06.07.2013 22:34
Vielen lieben Dank!


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