Kräftemessen
Verdrossen stellte Russel fest, dass Seline sich tatsächlich an seinen nicht sonderlich ernst gemeinten Rat hielt und begann, den Berg wieder hinaufzusteigen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie nur ihre Backen aufpumpen und dann so lange schmollen würde, bis er die Gelegenheit fand, ihr unter vier Augen zu erklären, weswegen er es vorzog, mit diesen beiden zu reisen. Selbst wenn die beiden beschäftigt waren, schien es ihm als würden sie alles hören können, was er und Seline besprachen, solange sie sich in der Nähe befanden und er wollte nicht riskieren, dass sie etwas von seiner Argwohn ihnen gegenüber mitbekamen.
Nach einem kurzen Blick auf die immer noch beschäftigten Ambrose und Asric – inzwischen packten sie bereits den Inhalt der großen Tasche in zwei kleinere, um das Gewicht besser zu verteilen – hastete er zum Fuß des Berges hinüber. Er wunderte sich ein wenig darüber, dass sie so schnell kletterte, nachdem sie zuvor auf dem Bergpfad Probleme gezeigt hatte. Aber als er versuchte, ihre sich entfernende Aura zu ertasten, stellte er fest, dass es Zorn war, der sie vorwärtstrieb, ein Zorn, der aus Trauer entstanden war. Offenbar hatte sie ihm wirklich übel genommen, dass er sie so brüsk abgewiesen hatte. Dabei wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen, dass sie in diesem Bereich doch so empfindlich sein könnte.
„Seline!“, rief er ihr hinterher, in der Hoffnung, dass sie wieder zurückkommen würde, aber sie hielt nicht einmal inne. „Warte doch mal! Komm zurück!“
Er war überzeugt, dass sie ihn hören konnte, nicht zuletzt, weil der Wind seine Stimme zu ihr trug, da er das so wollte, aber sie wurde nicht einmal langsamer. Er blickte ihr mit einem leisen Seufzen hinterher und war ein wenig unentschlossen, was er tun sollte. Sein Pflichtgefühl sagte ihm, dass er ihr folgen müsste, weil er es versprochen hatte, aber etwas anderes riet ihm, dass sie, nun da er mit Sicherheit Ladons Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sicherer wäre, wenn sie sich nicht in seiner Nähe befand.
„Seid ihr keine Freunde?“ Ambroses Stimme, die so plötzlich neben ihm erklang, ließ Russel überrascht zusammenzucken und sich diesem zuwenden.
Der Mann mochte freundlich wirken, nicht zuletzt weil er immerzu lächelte, aber er besaß keine richtige Aura. Nein, das war die falsche Bezeichnung, allerdings wusste Russel auch nicht, wie er es sonst beschreiben sollte. Da war etwas, das eine Aura sein wollte, doch sie war ähnlich wie ein Puzzle in zahlreichen Teile zersplittert und manchmal fand man zwar kleinere Ausschnitte, die zusammengehörten, aber das vollständige Motiv blieb einem dennoch verborgen. Genau deswegen fiel es ihm so schwer, Ambrose einzuschätzen und deshalb wollte er die beiden nicht mehr aus den Augen lassen, immerhin war er vorrangig immer noch ein Gott und Beschützer der Menschen. Asrics leicht genervte Art sagte ihm außerdem, dass etwas wirklich nicht mit den beiden stimmte – und er würde herausfinden müssen, worum es sich dabei handelte, wenn er wieder einen ruhigen Moment haben wollte.
„Nein, eigentlich sind wir uns erst vor kurzem begegnet“, antwortete Russel schließlich auf die Frage. „Aber ich habe ihr versprochen, sie sicher nach Hause zu bringen.“
Asric trat ebenfalls zu ihnen. „Sollten wir ihr dann nicht hinterher?“
Russel war sichtlich erstaunt darüber, dass dieser junge Mann plötzlich gar nicht mehr aggressiv oder genervt, sondern eher besorgt wirkte – zumindest bis zu seinen nächsten Worten: „Das ist ja mit Sicherheit nur Ambroses Schuld.“
Er warf einen tadelnden Blick in dessen Richtung, doch dieser beachtete ihn nicht einmal. Stattdessen neigte er ebenfalls besorgt den Kopf. „Ich denke, wir sollten ihr wirklich hinterher. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl...“
Russel wollte erst widersprechen, dass eher sie drei in Gefahr wären, aber dann spürte er es ebenfalls. Es war wie ein eiskalter Hauch, der einen nachts heimsuchte, wenn man allein auf einer dunklen Straße den Heimweg antrat und dabei in jeder Ecke und jedem Schatten etwas Bedrohliches entdeckte, obwohl reell gesehen nichts da war, das einem auch nur schaden könnte.
Aber dieses Gefühl war eine existierende Bedrohung, schon allein weil Russel die daran haftende Aura kannte – und zu seinem Schrecken entfernte sie sich von ihm und folgte stattdessen Seline.
Damit war jeglicher Zweifel vollkommen verflogen. Rasch setzte er sich in Bewegung, um ebenfalls den Berg hinaufzuklettern, da sie immer noch keine Anstalten machte, innezuhalten, sie schien ihm zu sehr abgelenkt, um überhaupt auf die Bedrohung zu achten.
Es überraschte ihn, festzustellen, dass Asric und Ambrose ihm folgten, er vermutete, dass es sich um Neugier oder Pflichtgefühl handelte, aber im Moment kümmerte es ihn nicht weiter.
So schnell wie möglich erklomm er den Gipfel auf dem es eine Plattform gab, die einen im ersten Moment glauben ließ, dass man sich auf ebenem Grund befand. Erst wenn man, in Gedanken und Sorglosigkeit versunken, plötzlich einen unbedachten Schritt tat, ins Leere trat und hinabstürzte, bemerkte man wieder, dass man sich doch auf einem Berg befand – oder in dem Fall eben befunden hatte.
Seline hatte bislang glücklicherweise noch keinen falschen Schritt getan, doch stand die nun fleischlich gewordene Bedrohung direkt hinter ihr, allerdings blickte er in die Richtung der drei Männer, die Hand auf Schulterhöhe erhoben, bunte Funken tanzten angriffslustig auf der nach oben deuteten Handfläche und bildeten eine kaum sichtbare Kugel. Russel kannte diesen Zauber und er erinnerte sich auch noch gut an den Schmerz, den er erzeugen konnte, weswegen er seine beiden Begleiter anwies, stehenzubleiben und ihm allein einige Schritte entgegenging. Der andere machte dieselbe Anzahl an Schritten auf ihn zu. Der blaue Umhang, den er über seiner grauen Kleidung trug, wehte dabei in einer nicht spürbaren Brise, die grauen Augen glitzerten unheilvoll hinter seiner Brille.
„Es ist lange her, Levante“, sagte sein Gegenüber in einem spöttischen Ton. „Ich hatte schon befürchtet, du wärst mir verlorengegangen.“
Russel schnaubte leise. „Ich wünschte, das wäre wirklich der Fall gewesen, Ladon. Ich finde nämlich, es ist nicht lange genug her.“
Das Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers ließ Russel innerlich geradezu kochen. Er sah wieder vor sich, wie Ladon den anderen Göttern mit genau dieser Mimik den Todesstoß versetzte, einem nach dem anderen, ohne jede Gnade... Unwillkürlich beschleunigte sich seine Atmung, als er sich in jenen Moment der lähmenden Angst zurückversetzt fühlte, in dem er hatte beobachten müssen, wie auch der letzte seiner Kameraden schließlich gestürzt war, um danach nie wieder aufzustehen.
„Damals war es dein Glück und meine Nachsicht gewesen, die dir die Gelegenheit zur Flucht gegeben haben“, sagte Ladon geradezu melancholisch und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Heute weiß ich es besser, man darf dich einfach nicht entkommen lassen.“
Ohne Vorwarnung warf er ihm die Magiekugel zum Angriff entgegen. Russel reagierte sofort, ein Schutzschild aus grünen Funken bildete sich wie Waben um ihm und leuchtete hell auf, als die Kugel darauf traf, ehe es sich auflöste, um sich wieder aufzuladen. Doch statt sich ebenfalls aufzulösen, zerteilte sich die Kugel in mehrere graue Strahlen, die versuchten, ihn von der Seite, von hinten und auch von oben herab zu treffen. Das entsprach seiner Erwartung, weswegen er nur den passenden Moment abwartete, um mit einem Sprung zur Seite auszuweichen. Die Strahlen trafen wieder aufeinander und neutralisierten sich gegenseitig, ohne dass er auch nur einen Kratzer davon bekam.
Er nutzte den Moment, in dem Ladon noch ein wenig perplex auf die Stelle starrte, an der sein Zauber eben wirkungslos verpufft war und setzte zu einem eigenen Angriff an. Noch im Spurt zog er sein Schwert hervor und holte damit aus, nicht genug, dass sein Gegner es erkennen und abwehren könnte und auch nicht genug, dass er großen Schaden anrichten könnte – aber hoffentlich ausreichend, um zumindest ein wenig Wirkung zu erzielen.
Tatsächlich bemerkte Ladon den Hieb erst in einem Moment, der es ihm nicht mehr erlaubte, eine Abwehr gleich welcher Art durchzuführen, weswegen ihm nur noch die Möglichkeit blieb, durch einen Schritt zurück auszuweichen. In dem Augenblick, in dem Ladon nur noch mit einem Fuß auf dem Boden stand, brach Russel seinen Angriff ab, ließ das Schwert sinken und versuchte es gegen das stehende Bein seines Kontrahenten zu führen.
Doch ehe er auch nur in dessen Nähe kam, schlang sich eine Ranke um die Klinge und zog sie ihm mit einem heftigen Ruck aus der Hand. Ladon nutzte den flüchtigen Sekundenbruchteil, in dem Russel seiner Waffe hinterhersah, indem er sein Knie in dessen Magen rammte. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen wich der Getroffene zurück und krümmte sich zusammen. Sterne tanzten vor seinen Augen und versuchten ihn von dem herrschenden Kampf abzulenken.
Er sah nur noch, wie Ladon mit diesem selbstherrlichen Grinsen auf ihn zutrat – und im nächsten Moment selbst wieder überrascht zurückfuhr und sich umsah.
Als sein Blick wieder klarer wurde, erkannte er, dass ein Armbrustbolzen in Ladons Seite steckte. Allerdings spürte der Gott wohl keinen Schmerz, dafür eher Ärger auf die Einmischung, die von den beiden Begleitern stammten. Russel blickte ebenfalls in deren Richtung und stellte überrascht fest, dass Ambrose noch immer eine angelegte Armbrust hielt, das Gesicht verblüffend ernst.
Ladon warf ihnen mit lockerem Handgelenk ebenfalls eine Magiekugel entgegen, um sie für diese Einmischung abzustrafen – aber der Zauber verpuffte wirkungslos an dem stählernen Rad einer Windmühle, das plötzlich erschien und diesen Angriff mit schnellen Bewegungen abschmetterte. Die Gerätschaft war sogar effizient genug, zu verhindern, dass sich die Kugel in mehrere Strahlen auflöste.
Der Gott blinzelte verwirrt darüber, da er noch nie gesehen hatte, wie Sterbliche seine Zauber abfingen – und Russel war ebenfalls äußerst perplex. Aber das bestätigte auch nur wieder seine Vermutung, dass die beiden mehr waren als es den Anschein hatte.
Zu seinem Glück überwand er seine Überraschung als erstes, so dass er wieder aufspringen und zu seinem Schwert eilen konnte, das er hastig an sich nahm, nachdem er die Ranke davon entfernt hatte. Statt allerdings zu versuchen, es noch einmal einzusetzen, steckte er es wieder ein.
Es schien ihm sinnlos, die Waffe zu benutzen, selbst wenn er versuchte, seinen Gegner zu überraschen, hatte dieser immerhin noch die Macht über die Elemente, die ihm selbst ohne sein Bewusstsein noch gehorchten. Also blieb ihm nur eines...
„Willst du wieder weglaufen?“, fragte Ladon süffisant, nachdem er das Interesse an den beiden Sterblichen verloren hatte. „Tatsächlich habe ich mich entschlossen, dich noch einmal fliehen zu lassen, ich bin ohnehin nur wegen Seline hier, also-“
„So ein Zufall“, unterbrach Russel ihn, „ich bin auch wegen Seline hier. Also muss ich das Angebot leider ausschlagen.“
In Ladons Augen flackerte seltener Zorn auf, offenbar gefiel ihm diese Anmaßung absolut nicht. Zum Zeichen seiner Wut deutete er wieder auf Russel, zahlreiche graue Energiestrahlen schossen auf ihn zu, doch er wich ihnen mit eleganten Bewegungen aus. Da die Strahlen aus Wut verschossen wurden, fehlte ihnen die sonstige Zielgenauigkeit, die er an den Tag legte.
Doch als er sich mit einem Sprung in die Luft begab, wusste er sofort, dass das ein Fehler gewesen war. Die altbekannte Selbstsicherheit kehrte auf Ladons Gesicht zurück, zahlreiche Schwerter erschienen rund um ihn herum und griffen ihn allesamt gleichzeitig an. Sein Schild schützte ihn zwar davor, aufgespießt zu werden, aber er wurde von der Wucht zu Boden geschleudert, wo er schmerzhaft aufkam und mehrere Meter mit der Schulter über den Grund schlitterte.
Wieder explodierten Sterne vor seinen Augen, dieses Mal war der Schmerz wesentlich heftiger, so dass ihm sogar die Luft wegblieb. Er konnte spüren, wie jemand ihm half, sich aufrecht hinzusetzen und identifizierte diese Person rasch als Asric, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung war.
Russel antwortete darauf nicht, sondern blickte wieder zu Ladon, der zwar nicht näher kam, aber es war dennoch deutlich spürbar, dass er Macht sammelte, um einen letzten und alles entscheidenden Angriff zu starten.
„Ich glaube nicht, dass das Schild halten wird“, bemerkte Asric verdrossen. „Er ist jedenfalls um einiges stärker als unsere sonstigen Feinde.“
Russel merkte sich, dass es besser wäre, zu überleben, um herauszufinden, mit was für Feinden sie es sonst zu tun hatten und versuchte, sein Schutzschild wieder aufzubauen und es mit dem von Asric – dem dieses seltsame mechanische Gerät zu gehören schien – zu verbinden, auch wenn er nicht glaubte, dass sie etwas gegen diesen Angriff ausrichten könnten, denn die Aura Ladons schien geradewegs zu explodieren und er war schon zuvor ein übermächtiger Gegner gewesen.
Er hob die Hand über seinen Kopf, um einen weitaus stärkeren Zauber als zuvor zu erzeugen. Während Russel diese Kugel anstarrte, hörte er plötzlich, wie jemand seinen Namen rief, im selben Moment schleuderte Ladon den Zauber auf ihn, der nur einen Sekundenbruchteil später auf das Schild traf, worauf ein gleißendes Licht entstand, das dafür sorgte, dass jeder der Anwesenden die Augen schließen musste.
Als Ladon sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf eine vollkommen leere Fläche, auf der nichts mehr von wie auch immer gearteten Feinden zu sehen war. Er schmunzelte zufrieden darüber. Sicher, er wusste nicht, ob er sie getötet oder vielleicht nur an irgendeinen anderen Ort verfrachtet hatte, aber das war ihm im Moment auch vollkommen gleichgültig, solange er nun endlich Seline mit sich nehmen könnte. Lächelnd fuhr er herum – und seine Gesichtszüge entgleisten.
Sie war weg, fort, verschwunden! Gerade eben war sie noch direkt hinter ihm gewesen und nun war nichts mehr von ihr zu sehen, ihre Aura war nicht mehr zu spüren. Was immer mit ihr geschehen war, es war dasselbe wie mit den anderen, das wurde ihm sofort bewusst.
Sie muss dazwischengegangen sein, ehe ich es gemerkt habe! Deswegen die Wechselwirkung, die... ja, was eigentlich?
Er wusste einfach nicht, was mit ihnen geschehen sein könnte, das würde ihn einiges an Zeit kosten, das erst einmal herauszufinden.
Doch diese Gedanken zerstreuten sich sofort wieder, als er Schritte hörte, die respektvoll in einiger Entfernung stehenblieben. Er seufzte lautlos, schob sich seine Brille zurecht – und wandte sich dann den Neuankömmlingen zu, um herauszufinden, was sie eigentlich ausgerechnet zu dieser Zeit von ihm wollten.