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Schneeträume

Ich bin das Universum
von

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Erster Teil

Goldene Monde wiesen den Weg.

Rot und weiss schimmernde Sternschnuppen huschten vorbei.

Eine grüne Sonne leuchtete auf, Motorenlärm.

Rauschen und Gelächter lag in der Luft.

Meine Augen waren starr auf das Fenster gerichtet. Gebannt folgten sie den Farbtupfern, die über den schwarzen Boden tanzend schaukelten und wir-belten.

Dann stand alles still.

Die Musik war verstummt, der Tanz vorbei.

Jemand stiess mich in die Rippen. Mein leichtes Lächeln verzerrte sich.

Ich stieg aus und knallte die Türe zu, ohne Rücksicht darauf, ob noch je-mand aus dem Wagen steigen wollte. Hinter der Scheibe eine verdutzte Fratze.

Ich lachte sie aus, hackte mich bei Mel ein und zusammen schritten wir grinsend zum Eingang des Clubs.

Dröhnend schwebten die harten Basstöne nach draussen.

Der Eingang war verstopft. Leute, die rein wollten, und Leute, die aus der Hitze flüchtend nach draussen wollten. Wir wollten rein.

Feixend drückte ich mich an einem Mädchen vorbei, das wie fünfzehn aus-sah. Ich erntete einen angesäuerten Blick.

Der Türsteher wollte sie nicht reinlassen. Mir egal, wir waren drin.

Dort stiessen wir dann auf die restlichen von uns. Ohne lange hallo zu sa-gen trotteten wir den Gang entlang und die Treppe runter.

Feucht glänzende Körper wanden sich zur Musik. Eng aneinander gedrückt oder mit einem geringen Abstand.

Freier Platz auf der Tanzfläche war heute rar.

Es gab schon bessere Tage.

Wir verdrückten uns in eine Ecke auf die schwarzen Sofas. Zwei sassen schon dort. Sie wurden an den äussersten Rand gedrängt. Wir kannten sie nicht.

Mel kramte mit einer Zigarette in der Hand in ihrer Tasche.

“Guck mal, was ich hier habe!“, zischte sie aufgeregt.

Mit aufgerissenen Augen sah sie mich erwartungsvoll an. Sie hielt ein klei-nes Beutelchen zwischen ihren Fingern und wedelte damit herum, passte auf, dass es ausser mir keiner sah.

Meine Mundwinkel zogen sich automatisch nach oben.

Abrupt stand sie auf und zog mich mit.

“Hey, wo geht ihr hin?“, fragte Alpha, sah uns von unten musternd an.

„Auf die Toilette.“

Lange Erklärungen waren nicht Mels Ding.

Eine lange Schlange wartete vor den Toiletten. Als wir endlich an der Reihe waren, schob sie mich in eine Kabine und quetschte sich hinterher.

Sie zückte eine Kreditkarte und ein Röhrchen. Sah aus wie eines aus McDonalds.

Das weisse Pulver schüttelte sie sorgfältig auf den zuvor geschlossenen Toilettendeckel. Mit der Karte zerhackte sie die gröberen Körner zu Staub.

Geschickt teilte sie das Pulver in vier dünne Linien. Was an der Karte hän-gen geblieben war, wischte sie mit Daumen und Zeigfinger weg und zog es sich die Nase hoch. Dann setzte sie sich das Röhrchen an die Nase und snifte rasch nacheinander ihre beiden Lines weg.

Ohne Worte überreichte sie mir das Röhrchen und ich putzte meine Lines vom Toilettendeckel.

Die winzig kleinen Kristalle rutschten meine Nase hoch, lösten sich auf und glitten den Hals runter.

Es schmeckte bitter. Die gewohnte Betäubung des Rachens breitete sich aus. Ich schniefte und wischte die Körnchen weg, die an meinen Nasenflü-geln klebten.

„Wie hast du das hier überhaupt rein gebracht? Haben sie deine Tasche nicht kontrolliert?“

Mel sah mich nicht an und zeigte mir stattdessen den Inhalt ihrer Tasche. Eine kleine Tamponschachtel. Sie war leer.

Kein Mann schaut so genau auf eine Tamponschachtel. Das ist weibliche Privatzone. Sperrgebiet für Männer. Auch für Türsteher.

Natürlich ist es verboten, Schnee mit in einen Club zu schmuggeln, für uns aber gibt es keine Verbote. Wir schnupfen, wann und wo wir wollen.

Mel stopfte das kleine Plastiksäckchen mit dem restlichen weissen Pulver zurück in die Tamponschachtel, dann erhob sie sich und schloss die Tür auf.

Die Mädchen schauten uns komisch an, als wir uns an ihnen vorbeidräng-ten. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit wir uns in die Kabine sperrten.

Draussen in der Eingangshalle bot mir Mel einen Kaugummi an. Sie hatte wohl bemerkt, dass ich mir bereits auf die Unterlippe biss. Eine Spannung lag auf meinem Kiefer. Ich musste ihn ständig bewegen.

Mel zündete sich eine Zigarette an und zusammen gingen wir zurück zu den andern.

Auf dem Tischchen standen bereits Getränke. Waren bestimmt Gummibär-chen, die Alpha uns geholt hatte. Ein Drittel Wodka, zwei Drittel Red Bull. Ich hatte keinen Durst mehr. Trotzdem nuckelte ich am Röhrchen.

Es dauerte auch nicht lange, da war das hohe Glas leer.

Später, als Rich von ihrer erfolglosen Männerjagd zurück zu den Sofas kam, leerte ich bereits das zweite Glas. Rich liess sich mit einem lauten Seufzer auf die Kissen fallen und starrte uns an. Wir redeten ununterbrochen, ohne sie bemerkt zu haben. Der Klimawandel war plötzlich extrem spannend. Wir fantasierten, wie die Welt in Zukunft wohl aussehen würde und wie es mit der Menschheit bachab ging. Aus meinem Mund sprudelten unglaublich in-tellektuelle Sätze.

„Sagt mal, habt ihr was genommen?“

Rich wagte es tatsächlich, uns in unserem scharfsinnigen Gespräch zu un-terbrechen. Unglaublich.

Während ich meinen Satz beendete und mir ausserordentlich wichtig vor-kam, wandte sich Mel ihr zu und grinste sie doof an.

„Wie kommste drauf?“

„Na wie wohl, solchen Schwachsinn kann man doch nur in einem solchen Tempo faseln, wenn man was konsumiert hat!“

„Schwachsinn?“

Dies war eines meiner geistreichsten Gespräche überhaupt und sie erlaubte sich, es Schwachsinn zu nennen? Ich war empört.

„Also bitte!“

Dieser Ton. Als ob es selbstverständlich wäre, dass wir nur Blödsinn von uns gaben. Ich exte einen Wodka pur.

„Ja okay, wir haben was genommen“, gab Mel schliesslich zu und grinste noch breiter.

Dann kramte sie wieder in ihrer Tasche rum und holte das kleine Säckchen mit dem Schnee heraus, wedelte damit hypnotisierend vor ihrem Gesicht herum.

„Willste auch?“

„Spinnst du? Zeig es doch noch offensichtlicher!“, fauchte Rich, schnappte sich aber schon fast gierig, ich sah es genau in ihren Augen, das Säckchen und verschwand in Richtung der Toiletten.

„Aber rupf mir nicht alles weg, hörst du?“

Sie hat es bestimmt nicht gehört. Viel zu gierig war sie auf das Koks.

Ich hatte aber mittlerweile schon wieder andere Sorgen. Nämlich, wie ich an meinen nächsten Shot kam, ohne an die Bar gehen zu müssen.

Die verkauften mir eigentlich noch gar keinen Alkohol. Durften sie gar nicht. Dann fiel mir ein, dass dieser Club ja sowieso ab achtzehn war. Also ging ich an die Bar und bestellte mir einen grünen Shot.

Es war der erste Abend, an dem ich mir selber etwas bezahlen musste. Normalerweise wurde mir immer alles spendiert. Immerhin war ich die einzi-ge hier, die noch zur Schule ging. Alle andern verdienten. Sogar Matti ver-diente schon und der war gleich alt wie ich. Aber nur weil er eine Lehre machte, ich ging eben ins Gymnasium. Die andern fanden das toll und sag-ten mir immer, dass ich das zu Ende bringen sollte. Ich kam mir trotzdem manchmal vor wie ein Schmarotzer. Aber eben nur manchmal.

Mit einem Schluck leerte ich das kleine Glas. Ich hatte Lust zu tanzen.

„Mel, lass uns shaken!“

Aber sie wollte nicht. Stattdessen hing mir sogleich Rich am Ärmel. Sie setzte sich die Sonnenbrille auf und zog mich förmlich auf die Tanzfläche.

Da war es viel dunkler. Der Bass dröhnender. Die Lichter farbiger. Sie flim-merten.

Mein Puls raste. Ich musste mich bewegen.

Die Musik drang in meinen Körper und liess ihn tanzen, liess ihn mit den Leuten um mich herum verschmelzen, die eng um mich standen.

Ich kannte sie nicht. Aber ich mochte sie. Das blitzende Licht hypnotisierte mich. Ich schloss die Augen und lachte.

Dieses Gefühl der Vollkommenheit in mir machte mich glücklich. Am liebs-ten hätte ich gleich alle hier umarmt und sie geküsst. Wie göttlich ich mich in diesem Moment fühlte. Ich war ich und gleichzeitig alle andern hier in die-sem Club.

Ich war das Universum.

Der Makrokosmos wurde allerdings schlagartig zu einem Mikrokosmos, als mir jemand den Ellbogen in die Rippen stiess.

Was sollte das? Hatte der etwa ein Problem mit mir?

„Verpiss dich, Mann!“

War man doch gerade so schön am Tanzen, da kam einfach so ein Idiot und verdarb einem alles. So ein Arschgesicht.

Rich, die tanzend eine Zigarette nach der anderen rauchte, schien nichts mitbekommen zu haben.

Sie schien sowieso nichts mehr wahrzunehmen ausser sich selbst und ihre Kippen. Musste sicher schon die zehnte sein. Mindestens die achte. Viel-leicht waren das momentan auch einfach die Dinge, die sie am meisten in-teressierten.

Alles andere war gerade ziemlich nebensächlich. Jedenfalls spacte sie ge-rade irgendwo in einer anderen Welt herum. Na dann sollte sie mal wieder auf dieser Welt landen. Hoffentlich nicht allzu sanft, wie ich im Geheimen hoffte.

Es war fies. Wusste ich. War mir egal.

War doch sowieso bescheuert, ihr Benehmen.

Ich wollte zurück zu den Sofas.

Zuerst allerdings musste ich mich durch dieses Knäuel tanzender Men-schen quetschen. Das Knäuel bewegte sich im Beat auf und ab.

Und ich mittendrin. Gott, wie mühsam.

War meine Laune vorhin gerade noch auf hundertzwölf, bewegte sie sich nun rasant auf null zu.

Richtig kämpfen musste ich, um vorwärts zu kommen. Mit Ellbogen und Zähnen biss ich mich durch. Diese Leute!

Grauenhaft.

„Mach Platz“, ich wollte auf’s Sofa sitzen.

Alpha wollte rutschen, ich liess ihm aber gar nicht genügend Zeit dafür, sondern drückte mich zwischen ihn und Mel.

„Mel, hast du noch was?“

Sie verstand nicht. Sah dann aber mein verzerrtes Gesicht. Ich fühlte mich ziemlich elend, im Moment. Und dann lachte die einfach.

„Du arme Kleine.“

Nix mit Mitleid. Die kriegte sich fast nicht wieder ein vor Lachen. Sollte sie doch verrecken an ihrem blöden Gegacker!

„Mel, gib mir doch einfach den scheiss Schnee!“

Ich sah bestimmt gerade ziemlich erbärmlich aus, den Tränen nahe und um Koks bettelnd, während Mel sich schieflachte.

Ich tat mir irgendwie leid.

Aber das war nun wirklich gemein von ihr. Ich wollte doch nur noch mal eine klitzekleine Line ziehn.

„Komm schon Mel, nur eine klitzekleine Line. Bitte!“

Fast schon krass, wie sie auf dieses kleine Anhängselwörtchen reagierte. Als ob nichts gewesen wäre, schmiss sie mir ihre Handtasche auf den Schoss.

„Nimm, was du willst, du kleiner Suchthaufen.“

Haaach, endlich mein Koks. Mit dieser Aussicht ging es mir doch gleich wieder besser.

In der Toilette zog ich mir zwei nicht ganz so klitzekleine Lines in die Nase und ging wieder runter.

Ich war hackedicht. Biss auf meinen Lippen rum. Mel bot mir einen Kau-gummi an, aber ich wollte eine Zigarette.

„Du rauchst doch gar nicht!“

Mir egal, ich wollte eine Zigarette. Alpha hatte dann auch Erbarmen mit mir und gab mir eine und auch gleich Feuer. Übermässig grinsend bedankte ich mich bei ihm und sah ihm dabei in die Augen. Seine Pupillen waren überdi-mensional gross.

„Hier meine Kleine“, sagte er zu mir.

Ich erwiderte mit einem gesäuselten „danke mein Grosser, sag mal, was hast du denn geschluckt?“.

Er winkte aber nur ab und behauptete, es wäre nichts Besonderes gewe-sen. Irgendwie wirkte er gerade besonders cool. Er war total ruhig, drückte gelassen seine Zigarette aus.

Und zündete sich sogleich die nächste an.

Ich lehnte mich zu ihm rüber. Ich wollte unbedingt wissen, was er geschluckt hatte.

Doch dieser Typ wollte einfach nicht antworten. Stattdessen zog er seelen-ruhig ein Taschentuch hervor und tupfte mir die Nase ab. Verdutzt fasste ich selbst daran und spürte etwas Klebriges zwischen meinen Fingern. Es war Blut.

War nicht das erste Mal, dass ich vom Koksen Nasenbluten bekam. War auch gleich wieder vorbei.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Ace tauchte wie aus dem Nichts auf, ant-wortete mir auf meine Frage mit „Ecstasy“, Matti kippte erschrocken ein Glas Gummibärchen über den ganzen Tisch, Handys und Taschen und Portemonnaies wurden zu retten versucht, Füsse angehoben, Mel zog ihr Säckchen Koks hervor, steckte zwei Finger hinein und zog sich eine grosse Menge in ihre kaputte Nase, vier Arme schlangen sich um mich, Alpha, Rich, in Tränen aufgelöst, laut heulend, dann war alles vorbei.

Ich checkte überhaupt nichts mehr.

Stiess als Erstes einmal Alpha von mir weg. Der spinnte doch total auf sei-nen Drogen.

Voll anhänglich. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was mit Rich los war. Ein wenig grob stupste ich sie deshalb an.

„Hey?“

„Ach verdammt, ich fühle mich so scheisse, ich könnte sterben, sie wollen mich umbringen, was will ich denn überhaupt noch hier, das alles ist doch für nichts, sie wollen mich tot sehn! Scheisse Mann, gib mir was zu trin-ken!“

Ihr Gesicht war tränenverschmiert. Und schwarz von der Schminke. Ich war schockiert.

Der ging es ja vollkommen verschissen. So etwas hatte ich ja noch nie er-lebt.

Alpha gab ihr sein Gummibärchen und sah sie mitfühlend an. Vom Gummi-bärchen blieb nicht mehr viel übrig, dabei war es doch noch fast unangetas-tet. Ich hoffte schon, dass es ihr nun wenigstens ein bisschen besser ging, wo sie schon sein Gummibärchen leer getrunken hatte, aber nein, sie hatte erneut einen Heulkrampf und vergrub sich vollständig bei Alpha. Heulend.

Die wollte sich einfach nicht beruhigen.

„Alpha, willst du ihr nicht ne Ecstasy geben?“

Könnte ja klappen, wenn die bei Alpha so beruhigend wirkt. Aber Ace schüt-telte heftig den Kopf.

„Vergiss es, die bleibt hängen, wenn du ihr in diesem Zustand ne Tablette gibst.“

Ups. Hatte ich vergessen. Der wichtigste Leitsatz beim Drogennehmen ist, nur dann, wenn es dir gut geht.

Ace hatte mir mal von einem seiner Kollegen erzählt, der hängen geblieben ist. Schaufelte LSD wie blöd, obwohl er gerade eine Problemphase durch-machte. Dachte an Selbstmord und so.

Bam. Während dem Flash sah er die ganze Zeit einen grünen Apfel, der ihm hinterherlief. Aber der Flash war dann irgendwann mal vorbei und der grüne Apfel war immer noch da.

Seit da verfolgte ihn dieser grüne Apfel.

Ich musste schon wieder lachen, als ich daran dachte. Die Vorstellung, von einem grünen Apfel verfolgt zu werden, war doch irgendwie zu komisch. Ir-gendwie süss. Aber Ace hatte mich ziemlich zusammengestaucht, als ich damals gelacht hatte. Das könnte ihn dazu bringen, sich umzubringen, hatte er gesagt.

Das musste wirklich ein bösartiger grüner Apfel gewesen sein. Mit einer verzerrten Fratze und ständig aus Verstecken springend. So gross wie ein Haus, mit Zähnen so lang wie Bäume und versuchend, ihn aufzufressen.

Der Gedanke war wirklich ein bisschen beängstigend. Aber ich konnte es nicht lassen, mich darüber lustig zu machen.

Nur die Erinnerung, dass er sich dann wirklich umbrachte, fand ich depri-mierend.

Aber er hielt es nicht mehr aus, frass Tabletten, um den grünen Apfel los-zuwerden, und im Wahn und der totalen Übermüdung schüttete er sich eine ganze Packung Schlaftabletten in den Rachen.

Dann schnitt er sich die Pulsadern auf. Vielleicht auch nicht, vielleicht war er auch einfach so gestorben, nur mit den Schlaftabletten.

Ich brauchte dringend eine Zigarette, ich biss mir schon wieder die Lippen auf.
 

„Ich kann fliegen, ich schwör’s!“

Ich wusste, dass ich fliegen konnte. Mein Gefühl sagte mir das. Mein Gefühl hat immer Recht.

Besonders meine Laune erhob sich gen Himmel, den Sternen zu. Sie glit-zerten mich an und funkelten fröhlich.

Ich wollte zu ihnen, meinen Freunden.

Sie riefen mich.

Mit einigen Schwierigkeiten kletterte ich auf eine Mauer. Hinten ging es steil und tief runter. Leichtigkeit durchflutete mich.

Gierig saugte ich die frische Luft ein. Vorhin im Club war es so stickig. Hatte zwar nichts gemerkt. Und im Auto war sie auch nicht besser. Vernebelt vom Zigarettenrauch. Aber hier, da war sie klar und rein und sie duftete nach Nacht.

Ich liess mich fallen.

Und ich fiel und fiel und fiel und fiel und fiel und es kam mir endlos vor, und ich fiel. Auf die falsche Seite allerdings. Ich hatte mich nach hinten fallen lassen. Und Ace und Alpha fingen mich jetzt auf und drückten mich auf die Bank, die da irgendwie gerade in der Nähe stand.

Ich fand das lustig, fing an zu lachen. Ich fühlte mich doch so gut.

Mel, nur drei Meter von mir entfernt an die Mauer gelehnt, zog sich schon wieder Schnee ins Gehirn. Ich wollte auch noch mal, die letzten Lines waren schon eine Ewigkeit her.

„Mel, lass mich auch mal wieder die Nase pudern.“

Die andern stimmten mir dabei nicht zu, sie waren anderer Meinung.

„Lass mal, du hast dir dein Näschen schon genug gepudert.“

Eigentlich wollte ich daraufhin protestieren. Ich schmollte. Dann behauptete Mel auch noch, dass sie nichts mehr hätte. Das Wenige im Säckchen müs-se noch für die ganze nächste Woche reichen. Für sie allein.

Es reichte mindestens für drei. Ausserdem log sie mich an.

„Du lügst, Mel, lüg mich nicht an, du bist die Schneekönigin, unsere Schneekönigin, du hast immer was, kaufst, verkaufst, gibst uns was ab, hast immer genug vom besten Zeug dabei.“

Mel hörte nicht richtig zu, kratzte mit dem Fingernagel das letzte bisschen vom weissen Puder aus dem Säckchen, rieb es sich unter die Nase.

Meine Aufmerksamkeit galt mittlerweile Rich, die irgendwo auf dem Boden lag und schlief. Wie konnte die nur schlafen? Unverständlich.

Ich war hellwach. War doch erst halb fünf. Morgens. Ich war seit sechsund-vierzig Stunden wach.

Seit ich am Freitagmorgen um halb sieben aufgestanden bin. Musste in die Schule.

War nichts Besonderes.

War jedes Wochenende so. Freitagabend traf ich mich mit Matti und Rich am Bahnhof, dann gingen wir zusammen zum zweiten Treffpunkt. Dort war-teten wir dann meistens einige Minuten auf unsere beiden Herren, die schliesslich immer zusammen kommen mussten. Zu fünft machten wir uns dann zu Fuss, Ace liess sein Auto immer stehen, auf den Weg zu Mel, die dann immer total gestresst ihre Sachen packte, weil sie immer bis spät ar-beitete.

Zu sechst quetschten wir uns schliesslich in ihr Auto, das nicht besonders gross war. Nächster Stopp war dann irgendein Club.

Samstag war ähnlich.

Nur dass wir dann immer zu Mel oder Ace oder Alpha gingen und Flimmer-kiste glotzten, bis Abend war.

Dann ging alles wieder von vorne los.

Heute allerdings war es ein kleines bisschen anders. Ace machte sich Sor-gen um Rich. Die war ja auch doof. Einfach heulend zusammenbrechen, also ehrlich.

Er wollte sie nach Hause bringen. Und Alpha ging mit, war ja klar.

Sie sollte sich erst mal richtig ausschlafen, fand er.

Matti kam dann also mit Mel und mir mit. Er wollte nicht nach Hause. Ich auch nicht.

War sowieso niemand da.
 

Es war wirklich fast wie immer. Bei Mel zu Hause hängten wir die ganze Zeit vor der Glotze rum und schauten uns irgendwelchen Müll an.

Irgendwann kamen dann auch wieder Ace und Alpha zurück. Aber ohne Rich, die hatten sie bei sich abgeliefert.

Müde waren wir nicht. Nur Ace, der auf dem Sofa vor sich hinschlummerte. Allerdings lag das daran, dass Ace nur LSD geschluckt hatte. Alpha und Matti waren auf E und Mel und ich auf Coke.

Und wie mir in den ganzen Monaten, in denen ich bereits mit ihnen rumhing, aufgefallen war, nahmen Ecstasy und Kokain nicht nur den Appetit, sondern auch die Müdigkeit. Ich verlor nicht nur einige Kilos, sondern auch sehr viele Stunden Schlaf.

Es kotzte mich richtig an, dass morgen schon wieder Montag war. Dann musste ich nämlich wieder eine Woche lang warten, bis ich mich wieder mit ihnen treffen konnte. Eine Woche war so lang. Die Zeit war gemein.

Ich wollte doch einfach nur irgendwo unter offenem Himmel mit lauter, dröhnender Musik Koks in mein Näschen ziehen und tanzen bis zum Umfal-len, dann den Sternen zusehen, wie sie funkelten und glitzernde Funken versprühten und im Universum herumschwankten. Das wollte ich.

Eigentlich.

Aber so, wie wir das machten, in Clubs gehen und anschliessend nichts tun, das gefiel mir auch ganz gut.

Ich hatte Lust auf eine Zigarette. Und weil da gerade ein Päckchen rumlag, bediente ich mich einfach. Die andern sahen mich an und Matti fragte, was ich machen gehe. Ich zeigte ihm nur deutlich die Zigarette und versuchte dann, die Balkontür zu öffnen.

Sie klemmte immer.

Draussen war es kalt. Die Küchenuhr, die ich von hier aus sehen konnte, zeigte ungefähr viertel nach zehn. Das Thermometer etwa sechs Grad. Mein T-Shirt war ziemlich dünn.

Es störte mich nicht. Gelassen zündete ich meine Zigarette an.

Der Rauch, den ich ausblies, unterschied sich fast nicht von den kleinen Atemwölkchen.

Die Strasse unten war kalt und grau und nass. Mir fiel auf, dass es nieselte.

Ich sah mir die Zigarette an. Gestern Abend war es nicht das erste Mal, dass ich plötzlich Lust auf eine Kippe bekam. Eigentlich war ich Nichtrau-cherin. Zumindest offiziell. Inoffiziell, an einem Abend wie gestern, konnte es schon dazu kommen, dass ich fast ein ganzes Päckchen alleine rauchte.

Auf Coke musste ich einfach irgendetwas rauchen oder reden oder Kau-gummi kauen.

Sonst biss ich mir die Lippen blutig. Darauf hatte ich keinen Bock mehr.

Ganz am Anfang war es nämlich so.

Allerdings war ich jetzt erst in der Hälfte. Und ich mochte nicht mehr. Egal, ich rauchte sie trotzdem fertig, wer weiss, was die andern sonst von mir dachten.
 

Irgendwann einmal tauchte Slash auf. Wie immer mit einer Kippe im Mund, die ihm Mel sogleich wegnahm und aus dem Fenster warf. Eigentlich wuss-te jeder, dass Mel uns verboten hatte, in ihrer Wohnung zu rauchen. Slash verstand das nicht.

Ich sehr wohl.

Allerdings fragte ich mich, wieso er erst jetzt auftauchte.

„Wo warst du gestern? Du bist nicht aufgetaucht.“

Da er keine Zigarette mehr hatte, an der er sich festklammern konnte, fum-melte er an seinen schwarzen Locken rum.

„Probleme mit ein paar Typen. Du weisst schon, wollten nicht bezahlen. Ha-ben Stress gemacht.“

Das kam irgendwie öfters vor, dass seine Kunden nichts zahlen wollten. Obwohl das Gras, das er vertickte, sehr gut war. Und an den Pillchen war wirklich nichts auszusetzen.

Deshalb kamen wir immer nur an gutes Zeug. Weil sich unter uns zwei Dea-ler befanden, die nur Erstklassiges zu einem bisschen überteuerten Preis weiterverkauften und natürlich durften wir unseren Dealer nicht vergessen, von dem wir das Zeug bekamen. Ralph. Ein herzensguter Typ.

Hatte sogar immer ein wenig LSD dabei, sodass Ace an sein Seelenfutter kam.

Die Übergabe fand allerdings immer freitags statt, wenn ich noch in der Schule hockte.
 

„Mel, hast du noch ein bisschen Coke?“

„Weiss nicht, musst schauen.“

Sie hatte mir anvertraut, wo sie ihr Kokain aufhob. Und mir eingebläut, es niemandem zu verraten. Auch Ace oder Alpha nicht.

Ich habe noch nie reingeschaut. Irgendwie hatte ich gewaltigen Respekt vor dieser Schublade. Auch jetzt schlug mein Herz gleich viel schneller, als ich sie nur anschaute.

Mir fielen im wahrsten Sinne des Wortes beinahe die Augen raus. Noch nie, nie in meinem Leben hatte ich so viel Coke auf einem Haufen gesehen.

„Boah Shiiit“, ich konnte wirklich nichts Gescheiteres mehr sagen.

Ich wusste nicht genau, ob ich jetzt wirklich etwas davon nehmen sollte. Ich sah die Waage und die kleinen Säckchen, in die sie immer das Pulver ab-füllte, und ich sah die Geldnoten, aber irgendwie hatte ich zu grossen Res-pekt davor, um irgendetwas falsch zu machen.

Ein wenig kleinlaut streckte ich den Kopf ins Wohnzimmer, wo Mel auf ihrem Sofa hockte.

„Ähm… Mel, kannst du mir nicht schnell helfen?“

Sehr gemächlich stand sie auf und schlurfte in ihr Zimmer. Nahm sich mit allem genügend Zeit. Band sich die Haare mit einem schwarzen Haargummi zusammen, das sie immer ums Handgelenk trug.

Aus der Schublade nahm sie einen einfachen, quadratischen Spiegel, ein Messer, in ein durchsichtiges Säckchen sorgfältig eingepackte Klümpchen Kokain und ein neues, kleineres Säckchen.

Dann stellte irgendjemand von Slowmotion auf Highspeed. Alles ging ultra-schnell vor sich. Mel schüttelte einige Klümpchen auf den Spiegel, zermalmte sie mit der stumpfen Seite des Messers zu feinem Pulver, spachtelte dieses in das kleinere Säckchen und überreichte es mir.

Mit dem Finger putzte sie Messer und Spiegel und sniefte das daran kle-bende Pulver weg. Das verlief dann wieder in Zeitlupe. Und ich, ich musste zusehen.

Wie sie es genüsslich tat. Sie konnte manchmal so brutal sein.

Dann versorgte sie alles hastig wieder in die Schublade und zusammen gingen wir zurück ins Wohnzimmer.

Ich suchte meine Sachen zusammen.

Draussen wurde es schon dunkel und ich musste dringend nach Hause. Einerseits wollte ich zu Hause sein, bevor meine Mutter kam und andererseits musste ich noch für eine Probe büffeln.

Schlapp verabschiedeten mich die andern, Ace war mittlerweile aufgewacht. Wünschten mir eine gute Woche. Ich nickte, bedankte mich.

„Bis Freitag“ war das letzte, was ich noch sagte, als ich bereits vor der Tür stand.

Bis zum Bahnhof war es nicht sehr weit. Ich schritt hastig über die Strassen und Plätze.

Vermied es, die Leute anzusehen. Leute, die dick in ihre Winterjacken ein-gepackt an mir vorbeistressten. Leute, denen es scheissegal war, dass ein siebzehnjähriges Mädchen mit Kokain in der Tasche an ihnen vorbeilief. Leute, die mich anrempelten und dann böse schauten. Ich schaute böse zurück.

Aus meinen Kopfhörern dröhnte laut die Musik. Direkt in meine Ohren.
 

Meine Mutter war noch nicht da. In der Wohnung brannte kein Licht, das konnte ich von weitem sehen. Meine nassen Schuhe liess ich vor der Tür stehen, die Trainerjacke zog ich gar nicht erst aus. Ich verschwand in mei-nem Zimmer.

Keine Minute später allerdings huschte ich ins Badezimmer. Ich musste unbedingt duschen.

Nach der heutigen Nacht im Club und dem ganzen Tag bei Mel roch ich un-angenehm.

Die Dusche war ganz erfrischend. Meine Gedanken drehten sich aber um das Koks in meiner Tasche. Die lag auf meinem Bett.

Es dauerte nicht lange und ich steckte meine Finger in das Säckchen. Sniefte das weisse Pulver.

Die kleinen Kristalle schossen direkt in mein Gehirn. Ich war bereit für die Aufgaben.

Die Blätter, die ich auswendig lernen musste, las ich einmal kurz durch. Meine Nase zugepudert.

Nach nicht einmal dreissig Minuten hatte ich alles durchgelesen und schal-tete den Fernseher ein. Lief nur Müll.

Typisch Sonntag. Sondermüllprogramme.

Etwa um elf kam meine Mutter. Sie ging gleich ins Bett. War total kaputt.

„Geh bitte nicht zu spät ins Bett.“

Morgen musste sie arbeiten.

„Nein, nein Mami, sicher nicht.“

Allerdings dauerte es noch ungefähr drei Stunden, bis ich mich dazu bewe-gen konnte ins Bett zu gehen. Die Decke zog ich über meinen Kopf.

Schlafen konnte ich trotzdem nicht. Ich war alles andere als müde.

Ich zwang mich, die Augen zu schliessen. Einfach an nichts zu denken.

Klappte nicht so ganz. Ich glitt in einen Dämmerzustand. Komische Träume. Unreal.

Noch vor dem Weckergeklingel wachte ich wieder auf. Lag eine Stunde da und starrte die dunkle Decke an.

Jetzt war also wieder Montag. Und bis nächsten Freitagabend ging es noch fünf Tage. Ganze fünf Tage.



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