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Dark Night's Kiss

von

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59. Kapitel

Als sie später nebeneinander in Caydens Küche standen, Kartoffeln schälten und sich über alles Mögliche unterhielten, fühlte Emma sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Das hier schien so normal zu sein. Natürlich ließen sich die ganzen Probleme, die hinter der nächsten Ecke lauerten, nicht ausblenden. Aber hier und jetzt und in diesem Moment fühlte sich Emma ein bisschen wie in einer kleinen heilen Welt. Sie war gern hier, kochte mit Cayden und freute sich auf den Rest des Abends.

„Wo gehst du eigentlich einkaufen?“

Die Frage war zwar eigenartig, aber Emma hatte sich das schon früher gefragt. Ging Cayden einfach zum nächsten Supermarkt? Oder ließ er sich alle Lebensmittel liefern? Kaufte seine Putzfrau für ihn ein oder machte er doch mehr selbst, als sie annahm?

Emmas Gesichtsausdruck wurde leicht abwesend, als sie versuchte, sich Cayden mit einem Staubsauger vorzustellen, wie er durch die riesigen Zimmer lief und dann auch noch Staub wischte. Das passte irgendwie absolut nicht zur Vorstellung, die sie von ihm und dieser Wohnung hatte.

 

„Ach, Em. Inzwischen solltest du mich doch schon besser kennen“, neckte Cayden sie zärtlich und stieß sanft seine Schulter gegen ihre, während er ihr beim Kartoffelschälen half. „Als hätte ich Zeit für derlei Dinge. Ich könnte dir aber auch nicht einmal genau sagen, wo meine Putzfrau für mich einkauft. Das Gemüse holt sie auf jeden Fall frisch vom Markt, aber den Rest …“

Cayden zuckte mit den Schultern und klaute Emma die letzte Kartoffel vor der Nase weg. „Was ich machen würde, wenn sie einmal streiken sollte, wüsste ich nicht so genau. Sie ist mir wirklich eine große Hilfe. Aber nur zu deiner Information, ich kann sehr wohl auch für mich alleine sorgen, wenn es der Fall verlangen sollte. Deshalb würde ich jetzt also nicht mit einem Bügelbrandfleck auf dem Rücken meines Hemdes in die Arbeit kommen. Ich bin also kein kompletter Fehlgriff in Sachen Hausmann.“

 

Bei dieser Vorstellung musste Emma laut lachen.

„Na ja, der Brandfleck ließe sich ja mit einem Jackett verbergen. Solche Tricks hast du doch hoffentlich drauf, wenn deine Putzfrau mal im wohl verdienten Urlaub ist?“

Sie knuffte kurz zurück und kümmerte sich um Teller und Besteck, das sie inzwischen in Caydens großer Küche selbstständig fand. Hätte sie die Auflaufform suchen müssen, wäre sie zwischen den ganzen Schränken, Schubladen und Hängeschränken verloren gewesen.

„Wir gehen auch abwechselnd auf den Markt, um frisches Gemüse einzukaufen. Allerdings muss ich mich jedes Mal dazu aufraffen, so früh aufzustehen. Aber wenn man später hingeht, sind die besten Sachen schon weg.“

Emma räumte Teller, Gläser und Besteck auf den Tisch, legte Servietten dazu, füllte die Gläser auch noch mit Saft und sah dann Cayden beim Rest der Zubereitung zu.

„Wolltest du irgendwann einmal Koch werden? Du hast Talent.“

 

Wo er sein Bügeleisen fand und wie man es richtig benutzte, wusste Cayden schon längst, weshalb er einfach in sich hineinschmunzelte und es für sich behielt. Emma würde staunen, was er alles konnte, von dem sie aber keine Ahnung hatte und es würde ihm ein Vergnügen sein, ihr diese ganzen kleinen Dinge nach und nach zu offenbaren. Immerhin, wo bliebe da die Spannung, wenn sie nichts mehr selbst entdecken konnte?

Cayden butterte die Auflaufform, bevor er sich daran machte, die Kartoffeln zu pürieren und lächelte wieder, als Emma ihn für seine Kochkünste auf ihre Art lobte.

„Nein. Koch zu werden, hat mich eigentlich nie besonders gereizt. Außerdem wirst du noch feststellen, dass es bei Vampiren schwer zu sagen ist, ob es sich um Talent oder Jahrhunderte lange Übung handelt.“ In seinem Fall sogar noch etwas länger.

„Wenn man etwas sehr lange, sehr oft macht, kann man eigentlich gar nicht anders, als aus seinen Fehlern lernen und sich verbessern. Allerdings besteht dann auch die Gefahr, dass es irgendwann so langweilig wird, dass man ganz damit aufhört. Kochen ist zwar jetzt kein gutes Beispiel dafür, da man daran einfach nicht drum herum kommt, aber es gibt noch genug andere Dinge, die einem irgendwann zum Hals raushängen.“

 

„Zum Beispiel?“

Emma hätte jetzt in erster Linie an Bügeln oder ähnlich nervtötende Dinge gedacht. Selbst wenn man so etwas mit Perfektion beherrschte, machte es noch keinen Spaß.

Sehr an dem Thema interessiert, kam sie zu Cayden herüber, lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche der Küche und sah ihn fragend an.

„Dann könnt ihr irgendwann alles bis zur Perfektion? Willst du das sagen?“

Emma konnte sich gar nicht vorstellen, wie das war. Sie würde so viele Dinge lernen wollen, wenn sie wüsste, dass sie die Zeit hätte, sie so lange zu üben, bis sie perfekt darin war.

„Und wird es deshalb langweilig? Weil es keine Herausforderung mehr ist?“

Das konnte sie ansatzweise nachvollziehen. Aber da war noch etwas anderes.

„Heißt das denn, du kochst gar nicht gern?“

Jetzt klang sie fast schon entsetzt.

 

„Nein, natürlich werden wir nie alles bis zur Perfektion können. Das scheitert schon allein daran, dass jeder verschiedene Interessen hat und es dann auch wieder genug Dinge gibt, die überhaupt nicht interessant auf einen wirken. Also ein Vampir wird nie alles bis zur Perfektion können, selbst wenn ihm noch so langweilig ist.“ Das war zumindest seine Ansicht. Vielleicht gab es ja tatsächlich unter seiner Art ein paar Individuen, die wirklich alles zu lernen versuchten, aber so gesehen sah er das dann doch als ziemliche Zeitverschwendung an. Obwohl sie genug davon hatten.

„Aber nehmen wir mich zum Beispiel einmal her. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich mich sehr für Lyrik, Poesie und die Schriftstellerei interessiert habe. Nachdem ich dieses Interesse dann auch ein ganzes Jahrhundert lang intensiv ausgelebt habe, war mein Interesse so ausgereizt, dass ich dir jetzt nicht einmal mehr den einfachsten Reim daher kritzeln könnte, da es mich so sehr anödet. Ich lese zwar immer noch gerne, aber weiter reicht es dann auch nicht mehr.“

Nachdem Cayden das Fleisch und das andere vorbereitete Gemüse in die Auflaufform gegeben hatte, nahm er einen Spritzsack und füllte ihn mit dem Kartoffelpüree. Er hätte es natürlich auch einfach so darüber geben können, aber das Auge aß schließlich auch mit.

„Und ich koche auf jeden Fall noch gerne, da ich ja oft nicht dazu komme, wenn ich so viel im Büro zu tun habe. Aber es wäre wohl etwas anderes, wenn ich es ständig machen würde. So geht es mir mit meinen anderen Interessen ebenfalls.“

Gekonnt und ohne Zögern machte er mit den pürierten Kartoffeln schöne Kringel, Formen und Muster auf das Fleisch, während Cayden überlegte, ob er Emma noch mehr verraten sollte. Aber warum sollte er das eigentlich nicht tun? Sie sollte ruhig wissen, wie er sein bisheriges Leben geplant hatte. Vor allem, da sich das jetzt ändern würde.

„Du solltest vielleicht wissen, dass ich mein Leben seit einer ganzen Weile in zwei Phasen einteilen musste, um immer wieder Sinn in mein Leben zu bringen.“ Wie sich das anhörte … Aber leider war es die bittere Wahrheit.

„Da wäre die Phase der Arbeit, in der ich mich auf eine Firmengründung konzentriere und sie dann auch so lange leite, bis es mein junges Aussehen unmöglich macht, mich noch länger öffentlich zu zeigen. In dieser Zeit gebe ich mich kaum persönlichen Interessen hin, obwohl es manchmal wirklich hart ist, keinem meiner Hobbys nachzugehen, aber gerade das macht es umso wertvoller, wenn ich es dann wieder zulassen darf.“

Cayden legte den leeren Spritzsack zur Seite und rieb noch feinen Käse über das Ganze, ehe er die Auflaufform in den vorgeheizten Backofen schob und Emma ansah, während er sich mit dem Rücken an die Küchenzeile lehnte.

„Danach kommt sozusagen das Vergnügen und ich widme mich einige Jahre lang wieder den Dingen, die ich mir so lange versagt habe. Nur so kann ich dafür sorgen, dass ich …“ Er zögerte, wollte es nicht so hart ausdrücken, wie es ihm in den Sinn kam. „Sagen wir einfach, dass ich nicht vor Langeweile sterbe. Natürlich haben sich meine Pläne inzwischen geändert.“

 

„Irgendwie habe ich auch die Hoffnung, dass eure Gehirne nicht perfekt sind und so etwas Alltägliches, wie bei und Menschen auftritt? Man nennt es Vergessen oder aus der Übung kommen.“

Emma grinste. Wenn man bedachte, welche Zeit vergehen konnte, in der ein Vampir das, was er über Jahre gelernt hatte, nicht mehr benutzte ... und ein normaler Mensch musste eine Fremdsprache schon fast wieder neu lernen, wenn er sie ein paar Jahre nicht mehr aktiv benutzt hatte.

Was Cayden ihr dann allerdings gestand, ließ Emma hellhörig werden. Sie folgte seinem Gedankengang genau und nickte anschließend, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte, was er ausdrücken wollte.

„Früher war es einfacher, denke ich. Als es noch nicht so viele Fotografien gab, so viele Medien, auf denen ein immer junger Mann auftauchen konnte.“

Sie grinste Cayden an und stupste mit dem Finger an sein Kinn. „Eine Weile kannst du wohl Gerüchte von Schönheits-OPs streuen, aber auf Dauer wird selbst dem schlimmsten Schundmagazin nichts mehr einfallen, um deine Jugend und dein perfektes Aussehen wirklich zu rechtfertigen.

Heißt das denn, dass ich in irgendeinem Geschichtsbuch über ein Foto aus den Gründertagen der amerikanischen Eisenbahn mit dir darauf hätte stolpern können?“

Die Idee gefiel ihr. Sie hätte gern gewusst, was Cayden in seinem Leben Spannendes getan, erlebt hatte und wo er überall gewesen war. Selbst wenn es auch noch ein Jahrhundert gedauert hätte, um es ihr zu erzählen.

„Wenn du Lyrik so mochtest ... hast du dann auch ein paar große Lyriker selbst getroffen?“, wollte sie zum Einstieg wissen.

 

„Aus der Übung zu kommen ist natürlich möglich, aber wirklich vergessen können wir nicht.“ Er wünschte oftmals, es wäre möglich. Es gab so vieles, das er einfach vergessen wollte, aber dann wiederum gab es Dinge, die er stets in Erinnerung behalten wollte. Es war also alles ein Für und Wider.

„Das vampirische Gehirn arbeitet anders als das der Menschen. Wir haben sozusagen ein photographisches Gedächtnis, das niemals nachlässt und es arbeitet sogar so gut, dass ich mich noch sehr genau an meine frühesten Kindheitserinnerungen zurückerinnern kann, obwohl es schon so unendlich lange her ist. Ein Segen und Fluch zugleich, wie dir jeder Vampir bestätigen würde.“

Adam war die Ausnahme. Ein kompletter Gedächtnisverlust kam nicht einfach auf natürlichem Wege zu Stande. Ihm musste etwas passiert sein. Anders konnte er sich das nicht erklären.

Cayden schenkte Emma ein sanftes Lächeln und nahm sie schließlich an der Hand, um sie zur Couch zu führen, da der Auflauf jetzt ohnehin erst einmal im Rohr bleiben musste.

„Was mein Äußeres angeht, war ich natürlich immer darauf bedacht, keine Porträts von mir anfertigen zu lassen und nachdem auch die Photographie aufgekommen war, gab es immer Stellvertreter, die alle öffentlichen Auftritte für mich übernahmen. Aber natürlich wird das in der heutigen Zeit immer schwieriger und mittlerweile bin ich dazu übergegangen, mich vollkommen zurückzuziehen und einige Jahrzehnte auf das Vergessen der Menschen zu warten. Später glaubt man schon eher, dass man ein Nachkommen besagter Person ist und nicht die Person selbst. Was das angeht, glauben die Menschen nur zu gerne das, was sie glauben wollen.“

Wieder musste er lächeln, als er an Emmas Worte dachte.

„Und nein, als die ersten Eisenbahnen auftauchten, war ich schon lange nicht mehr in Amerika. Europa reizte mich da viel mehr. Dort habe ich auch den französischen Dichter Maurice Scève getroffen. Die Elgie Arion hatte es mir sehr angetan, aber auch die beliebten Gedichte, in denen er weibliche Körperteile besang. Man mag nicht glauben, wie erotisch allein die Beschreibung einer Augenbraue sein kann.“

Das brachte sein Lächeln noch ein bisschen mehr zum Strahlen, während er Emmas Hand immer noch in seiner hielt und sie sanft streichelte, dabei mit den Gedanken in der Vergangenheit und weniger im Hier und Jetzt.

„Aber dieser Dichter wird dir kaum etwas sagen. Immerhin starb er im Jahre 1560.“

 

„Ja, du hast recht. Um ehrlich zu sein, hatte ich nur als Jugendliche etwas für Lyrik übrig. Aber damals eher für schmalzige Liebesgedichte, von denen ich träumte, der Junge, in den ich verknallt war, würde sie mir widmen. Jetzt ist mir das alles ein bisschen zu blumig.“

Dass Augenbrauen sexy sein konnten, stritt Emma nicht ab, aber dass man dies in geschmiedeten Worten auf Papier bringen musste, war ihr inzwischen einfach etwas zu viel des Guten.

„Was hast du denn in Europa gemacht? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du immer nur Jobs gemacht hast, die deinem jetzigen Leben entsprechen. Warst du nie Cowboy, Erfinder oder so etwas?“

Wenn Emma wüsste, dass sie in ihrem eigenen Leben alles einmal ausprobieren konnte, hätte sie es versucht. Alles, was ihr in den Sinn käme, hätte sie einmal ausprobiert. Wenn es schiefging, konnte man ja einfach etwas anderes tun. Sich neu erfinden. Der Gedanke machte sie richtig neidisch.

 

Cayden musste eine Weile über Emmas Frage nachdenken. Immerhin war diese nicht wirklich leicht zu beantworten, soviel wie damals geschehen war.

„Zusammenfassend würde ich sagen, ich habe damals oftmals versucht, einfach nur zu überleben. In Zeiten, in denen an Hexen, Dämonen und den Teufel geglaubt wurde, Krankheiten tausende Menschen dahingerafft und auch noch eine kleine Eiszeit Einzug gehalten hatte, war das nicht unbedingt einfach. Zumal ich tagsüber in einem wirklichen Nachteil war. Entweder habe ich mich vor dem Licht verstecken müssen, was auf die Dauer Aufsehen erregte, oder ich trat als Blinder getarnt in den Tag hinaus. Die Zeiten damals wurden nicht umsonst das finstere Mittelalter genannt und selbst mit Beginn der Neuzeit gab es oft genug Tage, die ich am liebsten vergessen würde.“ Brennende Scheiterhaufen, die Pest, Hunger und Armut … Manchmal war es bewundernswert, das die Menschen trotz all dieser Dinge nicht kleinzukriegen waren.

„Vor allem kam mein Reichtum erst wirklich mit Beginn der Industrialisierung. Vorher habe ich eher bescheiden gelebt, da meist ohnehin alles, was man besaß, irgendwann verloren ging und als jemand, der oft umherzog, wäre zu viel Besitz auch eher hinderlich gewesen. Eigentlich habe ich in all der Zeit immer nur wenige Jahre, an einem Ort gelebt und den Frieden genossen, bis er wieder durch irgendeinen Krieg zerstört wurde.“

 

„Hm ...“

Caydens Antwort hatte Emma den Wind aus den Segeln genommen. Sie hatte sich sein Leben aufregend, teilweise romantisch, und voller Abenteuer und Möglichkeiten vorgestellt. Doch jetzt klang es aus seinem Munde so, als hätte es nur aus Leid, Dreck und Entbehrungen bestanden. Sie senkte den Kopf und fragte sich, ob es so gewesen war. Gut, das Mittelalter war eine finstere Zeit gewesen. Das Leben hatte sich nur in winzigen Kreisen an Höfen und in Burgen abgespielt. Außerdem waren diese auch noch zugig und kalt gewesen. Auch das mit den Hexenverbrennungen war ihr mehr als bewusst, aber Cayden war ihr bisher nie so negativ vorgekommen. Hatte diese Zeit denn nichts Schönes für ihn bereitgehalten?

„Hat es sich dann später verändert? Als die finsteren Zeiten vorübergingen?“

Emma dachte an das aufstrebende Frankreich. An den Sonnenkönig und dann auch wieder an die Revolution, die wiederum Krieg bedeutet hatte. Wahrscheinlich hatte Cayden recht damit, dass die Zeiten doch eher düster gewesen waren. Aber er hatte doch alle Möglichkeiten gehabt.

 

„Natürlich haben sich auch diese Zeiten geändert, auch wenn man sich das damals nur schwer vorstellen konnte. Jede Epoche für sich hatte ihre guten und ihre schlechten Seiten. Aber ich denke, so wirklich etwas verändert, hat sich für mich erst etwas, als ein Vampir – dessen richtiger Name bis heute nicht bekannt ist, und ob er vielleicht sogar immer noch unter uns lebt – Glas zu unserem Vorteil zu nutzen wusste. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Fortschritt war …“

Cayden senkte nicht nur den Blick, sondern auch seine Stimme, denn er konnte sich nur allzu genau an das Gefühl erinnern, als er ...

„Wie es sich anfühlt, zum ersten Mal seit über tausend Jahren die Sonne und den Tag mit eigenen Augen sehen zu können. Nicht mehr länger an die Dunkelheit und die Hilflosigkeit tagsüber gebunden zu sein …“

Er hatte geweint. Vor Glück und auch vor Trauer darüber, was ihm all die Zeit über verwehrt gewesen war.

„Es war einfach überwältigend …“ Und das war es auch jetzt noch, als Cayden seinen von Emotionen erfüllten Blick wieder hob und Emma sogar ganz ohne Brille, nur dank seiner Kontaktlinsen im Lichte des zwar trüben Tages, aber immerhin tagsüber ansehen konnte. Wieder lächelte er sie an, berührte ihre Wange und beugte sich zu ihr hinüber, um seine Stirn an ihre legen zu können.

„Ich denke, das war für mich der Zeitpunkt, an dem ich endgültig die Ketten der dunklen Tage von mir abschütteln konnte.“

 

Emma lächelte Cayden von unten herauf an und betrachtete die unauffälligen Kreise, die die Kontaktlinsen um seine Iris zeichneten. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, nur in Dunkelheit leben zu können. Vielleicht einmal getarnt als Blinder durch die sonnenbeschienen Straßen zu gehen und sich sonst nur nachts frei bewegen zu können. Es musste eine ganz neue Art von Freiheit bedeuten.

„Was hast du getan, als du die Möglichkeit dazu hattest? Würdest du mir erzählen, wie du deinen ersten Tag im Tageslicht verbracht hast?“

Er hatte doch selbst gesagt, dass er sich fotografisch an alles erinnern konnte.

 

Cayden zog sich langsam wieder zurück, blieb Emma aber immer noch ganz nahe, während er einen Arm um ihren Rücken schlang und sie dicht an sich heranzog.

Kurz schnupperte er in die Luft, um zu prüfen, wie weit das Essen war, aber etwas Zeit hatten sie noch, also legte er seinen Kopf auf die Rückenlehne der Couch und starrte an die Decke, während er in Gedanken viele Jahre zurücksprang.

„Im Sommer 1855 besuchte ich die erste französische Weltausstellung in Paris. Bis zu dieser Zeit lebte ich ein ganzes Stück weit außerhalb von Paris auf einem kleinen Weingut. Aber diese Ausstellung wollte ich mir nicht entgehenlassen, wenn sie schon beinahe vor meiner Nase stattfand, sozusagen.“ Er lächelte kurz, ehe er wieder ernst wurde.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich dort auch Gerüchte aufschnappen würde, die mich als Vampir betrafen. Aber tatsächlich fand ich mich nicht lange darauf in einem kleinen Laden wieder, der Sehhilfen verkaufte. Ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, das kann ich dir sagen. Denn weder bin ich kurzsichtig, noch altersweitsichtig und mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwann einmal möglich sein könnte, mit Hilfe von Glas die Strahlen der Sonne zu ertragen. Aber so war es dann.

Da die Gläser ein ziemliches Vermögen kosteten, kaufte ich sie natürlich nicht sofort, sondern wollte erst davon überzeugt werden. Probeweise durfte ich sie also gegen eine ziemlich hohe Gebühr für einen Tag ausleihen, um mich selbst von ihrem Können zu überzeugen.“

Cayden hob seine freie Hand und hielt sie so vors Gesicht, als würde ihn ein Licht blenden und er müsste sich davon abschirmen, bis er sie langsam wieder herunternahm.

„Am nächsten Morgen war es dann so weit. Ich setzte die Brille auf, ging zu den geschlossenen Vorhängen in meinem Hotelzimmer hinüber und stand minutenlang da, habe gezögert und gezögert, weil ich die Schmerzen, die das Sonnenlicht verursachen kann, nur zu gut kannte. Aber irgendwann fasste ich den Mut und zog langsam Stück für Stück die Vorhänge zur Seite, dabei die Augen fest zugekniffen, bis ich sie langsam, Millimeter für Millimeter öffnete. Anfangs hat es ziemlich geblendet, kann ich dir sagen.“

Kurz warf er einen flüchtigen Seitenblick zu Emma hinüber, ehe er ihn wieder an die Decke und zurück in die Vergangenheit richtete.

„Aber außer, dass es ziemlich hell war, passierte nichts. Der Schmerz blieb aus und zum ersten Mal konnte ich das Treiben von Paris am Tage mitansehen …“

Er atmete tief ein und aus. Im schlug selbst jetzt noch das Herz bis zum Hals, während er die Gefühle von sich fernzuhalten versuchte, aber ganz konnte er sie nicht aus seiner Stimme herauslassen.

„Es ist nicht mit den Gläsern jetzt zu vergleichen. Die Farben stimmten noch nicht ganz. In der heutigen Zeit gibt es die richtigen Untersuchungen, mit denen der Arzt feststellen kann, wie der Ton der Gläser genau auf die Fähigkeit des Auges abgestimmt werden muss, dass alle Farben so aussehen, wie sie aussehen sollen. Aber glaub mir, zu dem Zeitpunkt damals, war es mir herzlich egal, dass das Grün unnatürlich leuchtete, oder das Blau des Himmels leicht verwaschen wirkte. Auch Rottöne verloren sich ziemlich leicht in ein schlammiges Braun, aber dafür war das Goldgelb … einfach wunderschön …“

Goldene Locken, die im Wind wehten, tauchten vor seinen Augen auf. Ein helles Lachen. Grünleuchtende Augen …

Nicht wissend, wie lange Cayden verstummt war, sprach er einfach weiter, den Blick nun geradeaus aber immer noch in weite Ferne gerichtet.

„Ich verbrachte den Tag nicht in der Weltausstellung, sondern in einer der unzähligen Parkanlagen. Ich staunte über das Glitzern der Teiche, bunte Schmetterlinge, summende Bienen, die Farbenvielfalt der Vögel. Kinder, die auf dem gepflegten Rasen spielten und lachten. Die prächtigen Farben der Kleider, welche gerade in Paris immer kunstvoller zu werden schienen und selbst die unzähligen Blumenarrangements in den Schatten stellten. Und dann war da auch noch dieses … Goldgelb.“

Cayden zögerte nur kurz. Aber Emma hatte wissen wollen, wie er seinen Tag verbracht hatte und er wollte ihr dieses Wissen nicht vorenthalten.

„Ich muss gestehen, ich hätte sie nicht bemerkt, wenn ich ihr nachts über den Weg gelaufen wäre. Sie hatte ein so unscheinbares, zerbrechliches Wesen. Unauffällig in der Nacht, aber am Tage unter strahlendem Sonnenschein war die Farbe ihres Haars wie ein Leuchtfeuer für meine Sinne, obwohl sie unter den vielen anderen edel gekleideten Damen in ihrem schlichten Gewand beinahe unterging. Natürlich auch unter dem schweren Gewicht des riesigen Einkaufskorbs, der mit Leckereien frisch vom Markt gefüllt war und kurz davor stand, ihr aus den Fingern zu gleiten, bis ich ihr anbot, ihn für sie zu tragen …“

Cayden kehrte in die Gegenwart zurück und schaute Emma offen in die Augen. „Ihr Name war Anna und den restlichen Tag, wie auch viele darauf folgende Tage, verbrachte ich mit ihr.“

 

Emma konnte es sich bildlich vorstellen. Sie sah Cayden am Fenster stehen und dann durch die sonnigen Straßen von Paris gehen. Vor ihr tat sich eine Welt mit Vogelgezwitscher, raschelnden Röcken von wunderschönen Kleidern und Kinderlachen im Park auf. Sie genoss seine Erzählung so sehr, als hätte Cayden sie auf einen Spaziergang mitgenommen. Der allerdings abrupt endete, als Anna die Bildfläche betrat. Blond, wunderschön, mit einem sanften Lächeln und noch dazu Französin!

Emma musste leise lachen. Wie lächerlich, eifersüchtig auf eine Frau aus der Vergangenheit zu sein.

„Du warst schon damals ein Charmeur, hm?“

Emma lächelte ehrlich und offen. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie Cayden damals ausgesehen hatte. Nun ja, einmal davon abgesehen, dass er ausgesehen hatte wie heute. Bloß mit für sie altertümlicher Kleidung.

Hatte er dieser Anna wirklich den Hof gemacht, nachdem er ihr beim Tragen des schweren Korbs geholfen hatte? Irgendwie konnte Emma sogar die Romantik als positiv werten. Das Bild gefiel ihr sogar nach einer Weile und machte sie keineswegs eifersüchtig. Es war noch länger her, als jeder Exfreund, den sie je gehabt hatte.

„Sie war also keine Dame der feinen Gesellschaft? Wie ging eure Geschichte weiter?“

 

„Nein, sie war definitiv keine Adelige und sie hat sich auch nie wirklich daran gewöhnen können, eine Dame der Gesellschaft zu sein. Wobei die Gesellschaft ohnehin noch einmal ein anderes Thema ist, auf das ich nicht näher eingehen werde. Snobs werden immer Snobs bleiben.“

Bevor Cayden jedoch weiter erzählte, sog er noch einmal tiefer die Luft ein und befand, dass der Auflauf inzwischen fertig sein dürfte. Es roch zumindest so, also entschuldigte er sich kurz bei Emma, um aufzustehen und ins Backrohr zu sehen.

Erst als er es ausschaltete und die Auflaufform auf dem Herd abstellte, erzählte er weiter, während er das Essen anrichtete.

„Anna war ein einfaches Dienstmädchen ohne Familie. Man könnte also meinen, dass sie sich auf die Aufmerksamkeit eines 'Gentlemans' gestürzt hat, aber tatsächlich musste ich sie eine ganze Zeit lang umwerben, um ihr meine aufrichtigen Gefühle klarzumachen. Im Nachhinein betrachtet war das sogar sehr viel schwieriger, als ihr mein wahres Wesen zu offenbaren, auch wenn es noch um Einiges länger gedauert hat, als bei uns beiden.“

Da er vor Emma nicht mehr tarnen und täuschen musste, gab Cayden sich eine für ihn angemessene und bei ihr eine normale Portion auf den Teller. Sie konnte immer noch nachnehmen, falls er ihr zu wenig gegeben hatte.

Er stellte das Essen auf den vorbereiteten Platz, machte aber noch keinerlei Anstalten, um sich zu setzen. Stattdessen blieb er an der Theke gelehnt stehen und erzählte an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte. Das Essen war ohnehin noch viel zu heiß.

„Genau wie bei dir, hatte ich es bei ihr damals nicht auf ihr Blut abgesehen, sondern sie ihrer selbst willen gewollt. Aber irgendwann drohte sie mich zu verlassen, nachdem ich ihr nie eine ausreichende Erklärung darauf geben konnte, wohin es mich des nächtens getrieben hatte. So musste ich ihr wohl oder übel die Wahrheit sagen und hoffen.“

Cayden seufzte schwer. „Dieses Hoffen und Bangen ist für mich am Schlimmsten.“

Er hoffte, dass es das letzte Mal gewesen war. Nein … Eigentlich war er sich sicher. Dazu brauchte er nur in Emmas Augen zu sehen, um das mit absoluter Sicherheit sagen zu können.

„Sie nahm es sogar ungewöhnlich gelassen auf. Aber sie war auch nie jemand gewesen, der andere wegen ihrer Herkunft verurteilt hätte. Das lag einfach nicht in ihrem Wesen.“

Langsam stieß Cayden sich vom Tresen ab.

„Auf jeden Fall lebten wir nach unserer ersten Begegnung in Paris, einige Jahre auf meinem Weingut. Es waren ruhige Jahre.“ Schöne Jahre. Aber alles hatte nun einmal ein Ende.

 

„Das ist ...“

Emma suchte nach dem richtigen Wort, um das auszudrücken, was sie sagen wollte. Aber sie fand es nicht.

„Ich meine, es waren andere Zeiten. Das finstere Mittelalter, wie du es selbst nanntest, war noch nicht allzu lange vorbei. Und da hat sie ganz gelassen reagiert auf die Nachricht, dass du ein Vampir bist?“

Sie selbst konnte wahrscheinlich nicht von gelassen sprechen, wenn sie an ihre eigene Reaktion zurückdachte. Aber Himmel noch mal, sie war auch kein einfaches Dienstmädchen. Emma schlief mit einem Ritualdolch unter der Matratze. Das war etwas anderes, als Paris in jenen Jahren. Und trotzdem war es nicht einfach für Emma, die nächste Frage zu stellen: „Hatte sie denn keine Angst vor dir?“

 

„Ich denke schon, dass sie die anfangs hatte, auch wenn sie es mir nicht gezeigt hat. Aber wie schon gesagt, wir haben davor schon sehr viel länger zusammengelebt, als wir beide uns überhaupt kennen. Und vielleicht war ihr diese Wahrheit lieber gewesen, als eine andere, die beinhaltet hätte, dass ich eine andere Frau ihr vorziehen und sie deswegen eines Tages verlassen könnte. Was ich natürlich nicht getan habe. Aber sie wusste ja nicht, was mich immer wieder dazu gebracht hat, mich heimlich nachts hinauszuschleichen.“

Cayden rieb sich über den Nacken. „Und was das Trinken anging, hat es auch noch mal sehr viel länger gedauert, bis sie es einmal probieren wollte, denn das war ihr wirklich unheimlich.“

Nie wäre er auf die Idee gekommen, sie dazu zu drängen. Ebenso wenig wie er Emma dazu drängen würde. Es gab schließlich immer Alternativen.

 

Nun nickte Emma nachdenklich. Sie konnte nachvollziehen, wie unheimlich Cayden auf eine junge Frau wirken konnte, wenn sie keinen Kontakt mit anderen, erfahrbaren magischen Dingen gehabt hatte, bevor sie ihn traf. Und wie jung mochte Anna gewesen sein? Zu jener Zeit ... Vielleicht 15 Jahre alt? Das ließ Emma ein wenig schlucken. Sie würde nicht nachfragen, wie alt Anna gewesen war. Aber jedenfalls jünger als Emma jetzt.

„Das verstehe ich sogar ansatzweise. Auch wenn ich nicht weiß, was mir zu ihrer Zeit lieber gewesen wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es damals als Frau gewesen sein muss.“

Da Emma nun ebenfalls aufgestanden war und der Duft des Essens ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, setzte sie sich an den Tisch.

„Was ist aus ihr geworden? Letztendlich, meine ich.“

 

Cayden setzte sich neben Emma und nahm erst einmal einen großzügigen Schluck von dem Getränk, das sie schon beim Aufdecken bereitgestellt hatte.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau“, antwortete er schließlich, ohne das Besteck in die Hände zu nehmen.

„Ich habe mich lange der Vorstellung hingegeben, sie hätte einen Mann gefunden, der ihr endlich das schenkte, was ich ihr nie hatte geben wollen, obwohl es mit der Zeit ihr sehnlichster Wunsch geworden war.“

Nun nahm er doch seine Gabel in die Hand und zerteilte etwas das Stück Auflauf, aber immer noch machte er keine Anstalten, etwas davon zu essen. Stattdessen sprach er weiter, ohne auf Emmas Frage zu warten, die ihr bestimmt im Kopf herum schwebte.

„Sie hat sich immer eine ganze Stube voller Kinder gewünscht. Ich tat das nicht und so trennten sich letztendlich unsere Wege, obwohl wir viele Jahre zusammen gewesen waren.“ Fast ein ganzes Menschenleben lang, wenn man es genau nahm. Aber am Ende hatte er sie ziehen lassen müssen. Sie war ohnehin nicht für die Ewigkeit geboren gewesen. Das hatte er irgendwann schmerzlich erkannt.

 

Ihre Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe. Allerdings ließ Emma sich Zeit, auch erst einmal an ihrem Getränk zu nippen und sich dann in ihrem Stuhl zurückzulehnen, bevor sie vorsichtig fragte: „Warum? Warum hattet ihr keine Kinder?“

Dass er fähig war, daran blieb ja wohl kein Zweifel offen. Wenn sie es sich also gewünscht hatte, sogar so sehr, dass sie Cayden verlassen hatte, warum hatte er keine Kinder mit Anna gehabt?

Ohne, dass sie genau wusste, warum, begann Emmas Herz in ihrem Hals zu schlagen. Auf einmal konnte das Essen noch so verlockend duften, sie hatte nicht das Gefühl, dass sie gerade auch nur einen Bissen hinunterbringen konnte.

 

Er ließ seine Gabel wieder sinken und legte sie auf den Tellerrand, ehe Cayden seine Hand in seinen Schoß fallen ließ, während die andere das Trinkglas umschloss, ohne jedoch sonst etwas damit zu tun.

Er starrte sein Essen an und dann doch wieder nicht.

„Weil ich sie nie angerührt habe, wenn sie hätte empfangen können.“ Die Worte waren fast wie Blei auf seiner Zunge.

Warum nahm es ihn nach all der Zeit immer noch so stark mit? Vielleicht weil er Anna doch auf die eine oder andere Weise betrogen hatte und mit den Erinnerungen kamen auch solche Gefühle zurück.

Langsam neigte er den Kopf in Emmas Richtung und schaute sie beinahe vorsichtig an. „Wenn er genau darauf achtet, weiß ein Vampir, wann eine Frau empfänglich ist und wann nicht. Dieses Wissen habe ich schamlos ausgenutzt, um meinen eigenen Willen durchzusetzen.“

Fast wäre es ihm nicht gelungen, ihrem Blick standzuhalten, aber er musste, denn da gab es schließlich noch etwas, das sie wissen sollte.

„Eigentlich wollte ich keine Kinder mehr, Em …“ Was bedeutete, dass er schon einmal welche gehabt hatte.

„Aber glaub jetzt bitte nicht, dass ich dieses Kind nicht will.“ Langsam hob er nun doch die Hand, wagte es aber irgendwie nicht, Emmas Gesicht zu berühren. Gerade jetzt wünschte er sich wirklich, er könnte Gedanken lesen.

„Denn das will ich aus ganzem Herzen, jetzt, da es bereits in dir wächst.“

 

Diesmal war ihr Nicken sehr langsam, aber bestimmt.

Er hatte keine Kinder gewollte. Damals nicht und heute nicht. Seine Fähigkeiten hatten es ihm bei Anna erlaubt, diesen Willen durchzusetzen. Mit Emma war es ein Unfall gewesen. Das wussten sie beide. Trotzdem war es merkwürdig und ließ ihr Herz noch schneller schlagen, wenn sie es tatsächlich hörte. Ein unangenehmes Prickeln lief ihre Wirbelsäule hinunter, doch schließlich griff Emma zu ihrer Gabel und probierte das Essen.

„Dann“, sie zögerte. „Dann war sie eines Tages plötzlich fort? Was hast du dann gemacht?“

Sie selbst hätte Frankreich oder zumindest Paris wahrscheinlich verlassen. Wenn sie die Chance dazu gehabt hätte und Caydens Leben hatte ihm bestimmt die Chance gegeben.

 

Als Emma zu essen begann, durchbrach das auch seine Starre und er griff ebenfalls nach der Gabel, obwohl ihm überhaupt nicht nach Essen zu Mute war.

„Nein, wir haben uns richtig voneinander verabschiedet. Nach all den Jahren war das einfach angebracht, schließlich trennten wir uns nicht im Bösen. Unsere Leben konnten einfach nicht mehr in dieselbe Richtung verlaufen, daher war das einfach unausweichlich.“

Er nahm einen Bissen in den Mund, schmeckte aber so gut wie nichts und auch das Kauen und Schlucken geschah rein mechanisch.

„Ein paar Jahre bin ich noch durch Europa gereist, wusste ich doch, dass Anna nach Amerika ausgewandert war. Aber dann sehnte ich mich nach einem Stück Heimat zurück und bin schließlich hier gelandet. Das Meer, die Flora und Fauna, das alles hat es mir einfach angetan. Der Rest dürfte dir allgemein bekannt sein.“

 

Ein paar Jahre? Bei Cayden hörte es sich so an, als wäre ein Jahrhundert nicht viel wert und würde vorüberfliegen, wie für Emma ein paar Monate. Er war gereist, hatte seinen Schmerz überwunden und war nun hier. Eigentlich wohl zu einer Zeit, zu der er nur arbeiten wollte. Die Phase, in der er sich seiner Freizeit widmete, war noch nicht gekommen. Emma und ihr kleiner „Unfall“ in Japan hatten seinen Zeitplan durcheinandergebracht.

Möglichst unauffällig legte Emma ihren Arm um ihren Bauch und starrte auf die Tischplatte. „Ehrlich gesagt hört es sich so an, als würde dein Leben dir trotz der vielen Zeit meistens trotzdem davonrennen.“

Sie sah ihm direkt ins Gesicht. „Genießt du es denn nicht? So lange leben zu können? So viel tun zu können?“

 

„Ich bin mir sicher, dass es dir hauptsächlich deshalb so vorkommt, weil ich alles stark gekürzt erzähle. Aber du hast recht, bisweilen rennen mir die Jahre wirklich davon. Viel zu schnell sogar, aber das liegt nicht an mir, sondern an den Menschen um mich herum.“

Cayden zwang sich dazu noch einen Bissen zu essen und auch diesen hinunter zu würgen, während er sich ganz allein auf dieses Gefühl zu konzentrieren versuchte und nicht auf all die anderen.

„Natürlich hat ein so langes Leben viele Vorteile. Man kann so gut wie alles tun, was man will, aber der Preis dafür ist hoch und … bitter. Bisweilen sogar äußerst bitter, wenn jeder um dich herum, der dir etwas bedeutet, alt wird, krank wird und letztendlich stirbt, ohne dass du irgendetwas daran ändern kannst.“

 

„Das klingt für dich vielleicht naiv, aber ich habe trotzdem eine Frage: Warum suchen sich Vampire dann keine unsterblichen Freunde? Ich meine ...“

Emma fuchtelte mit der Gabel in der Luft herum.

„Natürlich verstehe ich, dass ein langes Leben mit vielen Verlusten verbunden ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es sein muss, immer wieder geliebte Menschen gehen zu lassen. Oder sogar zu wissen, dass sie einen irgendwann gezwungenermaßen verlassen müssen, wenn man sich auf sie einlässt. Aber ... warum hast du dann keinen besten Vampirkumpel? Jemand, der die gleichen Probleme hat? Mit dem du dich austauschen könntest, der wirklich versteht, wie es dir geht. Wäre das nicht eine logische Schlussfolgerung?“

Sie starrte Cayden herausfordernd an, bis ihr Hitze und Röte ins Gesicht stiegen und sie verstohlen den Blick senkte. „Tut mir leid.“

Bevor sie noch mehr Unsinn erzählen oder Cayden tolle Ratschläge erteilen konnte, aß Emma lieber weiter. So einfach war das bestimmt nicht, einen Kumpel zu finden, mit dem man es über Jahrhunderte aushielt.

Außerdem hielt sie ihn mit ihren vielen Fragen vom Essen ab.

 

Gerade wollte Cayden zu einer Erwiderung ansetzen, dass er eben einfach nicht gut mit den meisten seiner Artgenossen klarkam, als ihm plötzlich Adam siedend heiß einfiel und somit die meisten seiner Argumente hinfällig wurden.

Denn wenn er einmal ganz genau darüber nachdachte: Wie viele Vampire kannte er schon wirklich? Viele von ihnen nur flüchtig, Lia etwas genauer, aber wirklich kennen tat er sie alle nicht und bei Adam fiel es ihm erstaunlicherweise nicht schwer, ihn zu mögen. Vielleicht, weil er so anders als all die anderen Vampire war?

„Mal abgesehen davon, dass es gar nicht so leicht ist, Vampiren über den Weg zu laufen, hast du natürlich nicht ganz unrecht, und wie es der Zufall oder das Schicksal so will, bahnt sich da auch langsam so was wie eine neue Bekanntschaft an.“

Nun wandte sich Cayden Emma ganz zu, da er sich gerade ohnehin nicht aufs Essen konzentrieren konnte. „Du bist ihm sogar schon begegnet. Adam meine ich. Aber ich kann nicht gerade behaupten, dass wir die gleichen Probleme hätten ...“

Das brachte ihn nun doch leicht zum Schmunzeln. So schusselig wie der andere Vampir würde Cayden niemals sein. Aber er hatte ja auch nicht seine komplette Erinnerung verloren. Er wurde wieder ernst. Das war mit Sicherheit nicht besonders witzig. Was Adam wohl gerade trieb?

 

„Ja, Adam könnte ich nicht so leicht vergessen.“

Der Typ hatte von der Ausstrahlung her nichts mit Cayden gemein. Allerdings galt das auch für die Kriecher, die ab und an im Vorzimmer aufgetaucht waren. Es schien viele unterschiedliche Arten von Vampiren zu geben. Fast so, wie bei den Menschen auch.

„Er wirkt nicht gerade wie Lia oder du, muss ich sagen. Er ist aber auch keiner von denen, die ...“ Sie wedelte mit der Gabel in der Luft herum.“ Die auf Taskens Seite stehen, meine ich. Irgendwie wirkt dieser Typ ziemlich neben sich. Verständlich, wenn er Amnesie hat.“

Wenn sie schon dabei waren, konnte Emma vermutlich auch ihrer Neugier freien Lauf lassen. „Und du weißt sicher nicht genau, woher seine Narben stammen?“

 

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob es an seiner Amnesie liegt oder er einfach vom Charakter her so ist. Aber ich vermute stark, dass sein seltsames Verhalten durchaus etwas mit seinem Gedächtnisverlust zu tun hat. Ich kann dir also nicht mehr darüber sagen. Auch nicht, woher diese Narben genau stammen.“ Nun ja, so ganz stimmte das nicht, aber sollte er Emma wirklich sagen, was er darüber dachte?

Cayden brauchte nur einen flüchtigen Blick in ihr Gesicht zu werfen und er wusste, dass er keine Geheimnisse mehr vor hier haben würde. Nicht einmal die winzigste Notlüge.

Seine Stimme war leise, gedämpft und voller Schwere. „Ich vermute, dass Adam gefoltert worden sein könnte … mit Magie.“

 

Getroffen von dieser Aussage ließ Emma die Gabel sinken, legte sie auf ihre Serviette und sah Cayden an. Der Druck in ihrem Magen kam nicht daher, dass sie zu viel gegessen hatte, denn dann hätten ihre Hände nicht gezittert, wie sie es jetzt taten.

„Du meinst, meine Vorfahren haben ihm das tatsächlich angetan?“

Schon bei der Vorstellung wurde ihr leicht übel. Warum sollte man jemandem den Mund ... Die Erkenntnis schien Emma wie ein Schlag zu treffen.

„Sie haben ihm den Mund zugenäht?“ Sie wurde blass und ihre Stimme zitterte immer wieder, als sie weitersprach.

„Das kann doch nicht wahr sein. Niemand würde jemand anderem je so etwas antun. Das ist doch vollkommen irre!“

 

Cayden sah Emma lange an. Er brauchte ihr nicht zu sagen, wie naiv ihr Gedanke war. Sie wusste es bestimmt selbst, denn die Geschichte der Menschheit war Beweis genug dafür, zu was alles gewisse Individuen fähig waren.

„Wenn sie ihm nur den Mund allein zugenäht hätten …“, begann er vorsichtig und senkte den Blick überlegend auf seinen immer noch halbwegs vollen Teller, ohne dabei genauer zu definieren, wer 'sie' eigentlich waren. „… würde man nichts mehr davon sehen. Es wäre vollkommen verheilt.“

Cayden wusste, wovon er sprach. Auch er war schon einmal gefoltert und auf die eine oder andere grausame Art und Weise verstümmelt worden. Hätte sein Körper sich nicht davon erholt, wie er es nun einmal tat, er wäre kaum noch lebensfähig gewesen.

„Aber die Körper der Vampire reagieren ungewöhnlich sensibel auf Magie. Soweit ich weiß, mehr als jede andere Spezies auf diesem Planeten. Mit Magie kann man uns nicht nur grausame Dinge antun, die sich für immer in unserem Äußeren verewigen, mit ihr kann man uns auch am Einfachsten töten, wenn man weiß, wie es geht. Allerdings habe ich auch schon von Magie gehört, die schlimmer als der Tod ist.“

 

Mit verfinsterten Zügen nickte Emma langsam. Ihr war bewusst, wozu Magie fähig war. Aber trotzdem war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass Benutzer von Magie so grausam sein könnten, einem Vampir so etwas anzutun. Ja, sie waren seit ewigen Zeiten Feinde gewesen. Aber Emma war immer davon ausgegangen, dass Hexen, Magier, Zauberer ... auf der lichten Seite der Dinge standen und immer gestanden hatten. Sie musste sich wohl gründlich getäuscht haben.

„Wie grausam.“ Das war alles, was sie noch dazu sagte. Bis ihr etwas einfiel, das sie Cayden wieder etwas befreiter anblicken ließ: „Kann Magie es dann nicht vielleicht revidieren? Ich meine, ihm zumindest die Narben nehmen?“ Die Narben, die man äußerlich nicht sehen konnte, würde auch Magie nicht einfach heilen können, aber so musste Adam sich zumindest nicht immer an vergangene Qualen erinnern, wenn er sich im Spiegel sah. Vielleicht konnte er sich dadurch sogar überhaupt wieder an etwas erinnern.

 

„Wenn du es nicht weißt, Em. Ich weiß es ganz bestimmt nicht. Ich habe mich immer von Jenen so gut wie möglich ferngehalten und mir sind nur Geschichten zu Ohren gekommen, bei denen Hexen nicht besonders gut wegkommen. Aber möglich wäre es natürlich. Wenn auch eher unwahrscheinlich. Wer sollte so etwas tun wollen, wenn er dazu im Stande wäre?“

Fakt war nun einmal, dass da immer noch diese Feindschaft zwischen ihren Arten stand. Vielleicht nicht mehr so intensiv wie vor einigen Generationen, immerhin war Emma der lebende Beweis dafür, dass Hass nicht vererblich war, aber eine entstandene Kultur oder so eine Art schräger Glaube, ließ sich nicht einfach ausmerzen.

„Außerdem denke ich, Adams oberste Priorität gilt vorerst ohnehin dem Wiedererlangen seiner Vergangenheit. Ich habe das Gefühl, er will sein Leben wieder haben. Auch wenn es noch so schrecklich gewesen sein muss.“

 

„Das kann ich gut verstehen.“

Emma würde an Adams Stelle auch wissen wollen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, ohne seine eigenen Wurzeln leben zu müssen.

„Vielleicht kann ich ihm trotzdem irgendwann helfen.“ Mit weniger Lust als dem Drang ihres Hungers nahm Emma die Gabel wieder auf.

„Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er mich je so nah an sich heranlassen wird. Ich könnte es verstehen, wenn es so wäre.“



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