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Crossroad Universe

von

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Kapitel 3 | Jealous Heart

Der Mensch gewöhnte sich an alles.

Unwillkürlich musste das auch Scarecrow einsehen, obwohl er sich auch weiterhin sträubte, dieses neue Dasein zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen.

Er sprach mit seiner Tante weiterhin nur das nötigste und verschanzte sich vor und nach der Schule immer in seinem Zimmer, anstatt sich zu ihr zu setzen und ihr geduldig ihre Fragen zu beantworten, wenn sie von der Arbeit kam.

Zu seiner Klasse hatte er immer noch keinen Draht gefunden und gab sich auch keine Mühe dafür; für sie war und blieb er der neue, komische Außenseiter, der nun bei seiner Tante wohnte und aus unbekannten Gründen plötzlich zu ihnen gestoßen war. Nicht mehr und nicht weniger.

Niemand von ihnen beleidigte ihn, er wurde nicht bei Gruppenarbeiten ausgegrenzt und seine Schulbucher zündete auch keiner an, um ihn zu provozieren, aber er merkte trotzdem, dass sie es nicht darauf anlegten, mit ihm in Kontakt zu kommen.

Sogar Olivia, die in der ersten Woche noch hartnäckig probiert hatte, sich eine Meinung über ihn zu bilden, fragte ihn inzwischen nicht mehr, ob er nach der Schule nicht zufällig Lust hätte, zusammen mit ihr ein Eis zu essen oder ins nächstgelegene Kino zu fahren.

Die einzige, mit der er sich immer besser verstand, war Kira. Jeden Tag nach der Schule kam er bei ihr zuhause vorbei, riss sich für einige Zeit den elektronischen Draht zur Außenwelt unter den Nagel, wurde währenddessen von ihr mit Süßigkeiten versorgt, damit er nicht mehr wie ein Strich in der Landschaft aussah, und danach redete sie mit ihm. Nicht so distanziert wie seine Tante, sondern in diesem herzlichen Tonfall, den er in diesem Kaff bis jetzt nur von ihr kennen gelernt hatte. Von ihr konnten sich hier viele Menschen eine Scheibe abschneiden.

Aber obwohl er sie schon in so kurzer Zeit in sein taubes Herz geschlossen hatte, konnte er sich nicht dazu überwinden, ihr von früher zu erzählen; selbst wenn sie nachhakte und nicht locker lassen wollte. Höchstens über Nikki erfuhr sie die ein oder andere Neuigkeit, aber sobald sich das Thema seinen Eltern oder Großeltern zuwandte, war sein Mund wie versiegelt und er schwieg sie an, bis sie lieber wieder über ihre Kommilitonen plauderte. Sie befürchtete, ihn sonst zu vertreiben.

Dabei wäre sie die letzte Person gewesen, die er grundlos gemieden hätte; zu Kira ging er gerne und das nicht, weil er kostenlos gefüttert und manchmal sogar ein wenig bemuttert wurde, sondern weil er durch sie die Überzeugung bekam, nicht ganz so verloren dazustehen, einen Menschen zu haben, den er bis zu einem gewissen Grad vertrauen konnte, selbst wenn er noch gar nicht so lange mit ihr in Kontakt stand.

Kira war einfach erstaunlich wichtig für ihn geworden.

Andere Bereiche würden diese Ebene nie erreichen.
 

Den Schultag hätte er sich eindeutig sparen können; Olivia hatte ihn die ganze Zeit nach Stiften, Radierern oder Linealen angebettelt, weil sie in einem Anfall von Vergesslichkeit ihr Mäppchen sonst wo vor sich selbst versteckt hatte. Das durfte er ausbaden und ihr alles leihen, ob es ihm passte oder nicht. So etwas ging ihm auf den Zeiger, er war kein Sozialamt für sie.

In der Pause war er mit einem dieser hektisch durch die Gegend sausenden Unterstufenkinder zusammengestoßen und hatte sich fast das Genick gebrochen.

Man sollte sie auf der Treppe verbieten, er hatte Glück gehabt, dass irgendwer ihn rechtzeitig am Arm gepackt und vor dem Absturz bewahrt hatte. Sonst läge er vielleicht wirklich im Krankenhaus dank dieses unachtsamen Gartenzwergs.

Aber der absolute Tiefpunkt war das Gespräch nach dem Unterricht mit einer seiner Lehrerinnen gewesen; eine der Vertrauenslehrerinnen an der Schule und immer darum bemüht, sich um schwarze Schafe und Außenseiter zu kümmern. So auch bei ihm.

Allein bei den Worten „Rouven, bleib bitte noch kurz da, ich müsste mit dir reden“, hätte Scarecrow am liebsten das Weite gesucht. Das konnte nur in einer minderschweren Katastrophe enden.

Mit einer bösen Vorahnung blieb er vorne am Pult stehen, während der Rest sich schleunigst verzog, um die bevorstehende Unterhaltung nicht hinauszuzögern.

Seine Lehrerin legte nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn und Scarecrow überkam dieses gewisse Gefühl, sich in eine Maus zu verwandeln und durch ein kleines Löchlein im Boden bis in alle Ewigkeiten zu verschwinden. Schon früher hatte er solche Augenblicke immer vermieden oder so getan, als hätte er es vergessen.

Das ging leider nicht, wenn die Lehrerin direkt vor einem saß und einem die Wahl aus der Hand nahm.

„Was wollen Sie?“ Sie sollte sich doch ein bisschen beeilen, damit er heute noch hier herauskam. Und zwar nicht in seiner Vorstellung als kleiner Nager.

„Ich habe von verschiedenen Kollegen mitbekommen, dass du dich im Unterricht gar nicht beteiligst. Bei mir auch nicht besonders. Außerdem scheinst du dich nicht in die Klassengemeinschaft einfügen zu können. Ist irgendetwas passiert? Wirst du von irgendjemandem gemobbt?“

Der einzige, der das indirekt tat, war sein Schicksal, aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie wollte Gründe hören, warum er in allen Fächern außer in Englisch wie ein zufällig daneben stehender Fremder wirkte und immer noch keine Freundschaften hier geschlossen hatte.

„Ist halt so.“ Immer diese Lehrer mit ihrem Helfersyndron; in ein paar Jahren, wenn sie den Job länger gemacht hatte, wäre dieses Verhalten mit Sicherheit unter einem Mantel der Desinteresse ihren Schülern gegenüber verschwunden.

„Das ist kein Grund, Rouven“, versuchte sich ihn zurechtzuweisen.

„Es ist aber nichts passiert, glauben Sie es mir oder nicht.“ Der wahre Grund lag ein halbes Jahr zurück und ging sie nichts an; außer seiner Tante wusste keiner davon und er tat auch genug, damit es dabei blieb. Zum Schluss kam sowieso nur geheucheltes Mitleid heraus, was er nicht haben wollte. „Ich hab einfach keine Lust auf das alles hier.“

Ihm tat es nicht einmal wirklich leid, dass er ziemlich patzig zu ihr war, obwohl sie ihm nichts getan hatte, aber allein dieses neugierige Nachhaken störte ihn ungemein. Sein Leben ging sie genauso wenig etwas an wie ihn ihr Leben.
 

Der Gang nach Hause ähnelte eher einer Flucht, was zum Teil allerdings auch am Wetter lag. Regen durchnässte ihn permanent und ließ ihn frieren. Man merkte, dass es bis zum Frühling noch dauerte.

Leise schimpfend über das Wasser, das ihm in die Augen lief und seine Sicht behinderte, schob der das Gartentor auf und klingelte daheim.

Nichts rührte sich, niemand kam, um ihm die Tür zu öffnen und ihn vor diesem Wolkenbruch, der über dieses Städtchen hereinbrach, zu retten. Das war wieder ein typisches Zeichen von störenden Zufällen, auf die der Mensch gerne verzichtete.

Schlecht gelaunt hörte er auf, den Klingelknopf zu malträtieren, sondern beschloss, sich bei Kira solange einzuquartieren, bis seine Tante wieder auftauchte, obwohl seine Süßigkeitenlieferantin, wie er sie manchmal im Stillen nannte, ihn schon gewarnt hatte, dass sie heute möglicherweise später kam. Ein paar Freunde hatten sich mit ihr zu einem Kinonachmittag im Nachbardörfchen verabredet.

Eigentlich wusste Scarecrow, auf was es hinauslaufen würde; sein Glück versteckte sich immerhin ausgezeichnet. Keine Kira weit und breit, nicht einmal ein Zweitschlüssel im Briefkasten oder unter der Fußmatte.

Der Tag war tatsächlich eine einzige Katastrophe, es fehlte nur noch, dass ein Meteor in das Hausdach einschlug und nur sein Zimmer verwüstete.

Ihm blieb also keine andere Wahl als sich vor die Haustür seiner Tante zu setzen und zu warten. Zwar hätte er irgendwelche wildfremden Menschen in den Häusern nebenan belästigen können, ob er während des Regens bei ihnen unterkommen könnte, aber lieber fror er sich hier alle zehn Finger ab. Genauso wenig trieb ihn der Wunsch nach Wärme zurück in die Schule, wo er vielleicht mal wieder das Thema im Lehrerzimmer war, wenn da noch jemand hockte und Arbeiten korrigierte.

Der Untergrund war unbequem, das Miniaturdach über seinem Kopf hielt nicht einmal die Hälfte der Regentropfen ab; der direkte Blick auf die im Regen traurig mit den Köpfen nickenden Blumen, die seine Tante trotz der Jahreszeit draußen lagerte, machte ihn auch nicht fröhlicher.

Manchmal hatte er wirklich die paranoide Vorstellung, dass irgendwer ganz nach Lust und Laune sein Leben manipulierte und ihn in Situationen geraten ließ, die ihn immer öfter fast wahnsinnig werden ließen.

Mit jeder Minute, die wie in Kaugummi verpackt verrann, löste sich sein dünner Faden der Geduld auf und er hatte große Lust, einen der hier herumstehenden, in seinen Augen sehr hässlichen Blumentöpfe zu packen und einmal auf die Straße zu donnern. Dabei verpasste er nichts, dort drinnen lief ihm nichts davon; spätestens wenn er im Hausflur stand, fragte er sich wieder, was er bis zum Abendessen mit sich anfangen sollte.

Aber Hunger hatte er auf jeden Fall, das verkündete sein Magen unüberhörbar.

Jemand kam die Straße entlang gelaufen; natürlich nicht Laureen und auch nicht Kira, die Person war männlich und vielleicht etwas älter als er; hier gesehen hatte er ihn noch nie. Das wäre ihm aufgefallen.

Nicht gerade unauffällig schaute dieser Junge zu ihm hinüber, als er ihn zitternd und mit Weltuntergangsstimmung auf dem Betonboden hocken sah. Noch unverschämter konnte man das auch nicht mehr machen.

„Ich bin kein Kino!“, rief er ihm gereizt zu und hoffte, dadurch dieses dämliche Grinsen aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Schadenfreude war hier völlig unangebracht, wenn er wüsste, wie lange er schon wartete.

Nun erst recht angelockt von dieser überaus netten Begrüßung wechselte der Unbekannte die Straßenseite und trat an das Törchen, betrat aber nicht das Grundstück. Wenigstens wusste er, wann er zu weit ginge. „Sitzt du hier freiwillig oder was wird das?“ Es klang nicht provozierend, sondern absolut ernsthaft. Es interessierte ihn wohl, warum Scarecrow sich wie eins dieser Pflänzchen bewässern ließ.

„Ich komm nicht rein.“ Und das änderte sich nicht, solange die Frauen seines Vertrauens nicht endlich ein Einsehen mit ihm hatten und nach Hause zurückkehrten. „Sieht man doch.“ Begeisterung konnte ihm wirklich keiner unterstellen; nicht ihm.

„Das ist natürlich schlecht.“

Allein für diese bahnbrechende Erkenntnis hätte Scarecrow ihm gerne einen Klumpen Blumenerde in den Mund gesteckt, aber erstens wäre das zu viel Aufwand für jemanden, den er nicht kannte und zweitens hätte er auch mit wesentlich dümmeren Sprüchen um sich werfen können.

Ganz zu schweigen davon, dass ihn die Kälte ihn so dynamisch wie einen Stein hatte werden lassen. Selbst der Gedanke an Aufstehen war unangenehm.

„Kannst weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen.“ Was half es ihm, wenn er sich aus Solidarität auch erkältete?

Der Fremde stockte, überlegte einen Moment statt einfach Schutz vor dem Regen zu suchen.

„Willst du wirklich hier sitzen bleiben? Du könntest auch vorläufig zu mir mit kommen. Wenn du willst, ist gemütlicher als hier.“ Er grinste ihn wieder so komisch an.

Natürlich war Scarecrow skeptisch, sogar überaus skeptisch. Ein wildfremder Kerl wollte ihn ohne eine Gegenleistung zu fordern vor dem Regen unterbringen. Irgendwas musste dahinterstecken, in kleinen Käffern benahmen sich die Menschen meistens noch misstrauischer als in der Großstadt.

Sein Argwohn blieb nicht unbemerkt. „Ich fress dich schon nicht. Aber wenn du nicht möchtest…“

Die Entscheidung fiel ihm dann doch etwas leichter als erwartet, nämlich gegen dieses steinharte Plätzchen, das auch nicht mehr trockener wurde. „Warte, ich komme.“ Hoffentlich würde er es nicht bereuen, so vertrauensselig gegenüber dem Jungen zu sein.

Es dauerte nicht lange, sie mussten insgesamt nur drei Straßen weiter und schon standen sie vor einem weiteren der bekannten Spießerhäuser, dieses Mal in rotem Sandstein ohne Garten, dafür mit Garage. Hier gab es also doch Unterschiede bei der Grundausstattung, das beruhigte Scarecrow.

„Oh, ich glaub, wir haben was vergessen“, bemerkte sein Gegenüber plötzlich etwas peinlich berührt, als er ihn gerade auf die Treppe zum Eingang hinschieben wollte. „Ich bin Felicio.“

Da hatte er recht, eine kleine Bekanntmachung, bevor man ein fremdes Haus betrat, wäre nicht schlecht. Im Nachhinein zu erklären, dass man denjenigen, den man zur Tür hineingeschleift hatte, nicht einmal mit Namen kannte, wäre unklug.

„Scarecrow.“ Es war an der Zeit, die Leute endlich an Tatsachen zu gewöhnen, ob es ihnen gefiel oder nicht.

Felicios belustigte Miene war zwar nicht sein gewünschter Erfolg gewesen, aber immerhin saß er nun im Inneren eines warmen Hauses auf der Eckbank in der Küche, mit einem heißen Kakao in den Händen und einem Handtuch um die Schultern, weil er sich geweigert hatte, Kleidung von Felicio auszuleihen. Das ging ihm dann doch zu weit, selbst wenn es nett gemeint war.

Nachdem Felicio noch eine kleine Armee Sandwiches für sie beide vorbereitet hatte und Scarecrow dies auf keinen Fall ablehnen konnte, weil sein Bauch schon unüberhörbar zugestimmt hatte, saß sein Gastgeber erwartungsvoll vor ihm, rührte in seiner Kaffeetasse und schien gespannt darauf zu sein, endlich richtig mit ihm in Kontakt zu treten und sich nicht nur über einen Gartenzaun hinweg anzuplärren.

„Wie lange wohnst du schon hier? Ich hab dich noch nie gesehen. Und ich dachte, ich kenn jeden Menschen im Ort.“

„Seit einem Monat.“ Vielleicht war es auch schon länger, er hatte die Tage nicht gezählt, die er hier absaß und über sich ergehen ließ, wenn ihm mal wieder so ziemlich alles auf die Nerven ging.

„Ist hier jemand weggezogen?“, fragte Felicio mit einer Spur Interesse in der Stimme. „Das bekommt man eigentlich immer direkt mit.“

Scarecrow schüttelte den Kopf. „Nein, ich wohn jetzt bei meiner Tante.“

„Wieso?“ Die unausweichliche Frage, die einfach kommen musste und die er trotzdem offen lassen würde. Immer und überall diese Neugierde; auch wenn Felicio ihn vor einem üblen Schnupfen gerettet hat, bedeutete das nicht, sich ihm schlagartig komplett zu öffnen.

„Ist halt so.“ Er biss in sein frisches Sandwich und verbrannte sich gleich die Zunge, wie es sich gehörte. Er vergaß immer, wie heiß der Käse werden konnte, wenn man ihn in dieses Waffeleisen für Toast zwängte. Von diesem Anfängerfehler käme er nie wieder los.

„Dann halt nicht.“ Felicio nahm es ihm nicht übel, dass er ihn in seine Schranken wies. So wie Scarecrow ihn bisher einschätzte, war er kein Mensch, der alles sofort als persönlich ansah und sich darüber aufregte. Das wäre auch in dieser Situation höchst schwierig, da er mit Sicherheit noch mehrmals bei Themen blocken würde, die er lieber unangetastet in einer Schublade liegen ließ.

Nachdem Scarecrow einen großen Schluck Kakao getrunken hatte, um das widerliche Brennen auf seiner Zunge zu stoppen, musterte er seinen Gastgeber noch einmal ein wenig genauer. Viel älter konnte er wirklich nicht sein, vielleicht zwei Jahre. Und ein Kind von Traurigkeit auch nicht, denn er hatte im Verlauf seiner Anwesenheit mehr gelacht als er in den vergangen Wochen. Und zwar mindestens doppelt so viel.

„Gehst du hier aufs Gymnasium? Naja, musst du eigentlich, was anderes gibts hier ja nicht. Die Schule ist nicht so der Hammer. Ich hab gefeiert, als ich endlich mein Abi hatte und da raus konnte. Teilweise hängen da wirklich echt Bekloppte rum; sind auf alles und jeden neidisch, tratschen den lieben langen Tag über dich, weil sie keine Beschäftigung haben. Manche denken auch, mit Mobbing könnten sie ihr Ego aufpolieren. Pass auf, dass dir solche Trottel nicht den Tag vermiesen.“

Der tat ja gerade so, als wäre die Schule ein sozialer Brennpunkt; der sollte mal an Schulen in größeren Städten gehen, da waren Lästereien über die letzte Party noch das harmloseste Mittel, um jemanden fertig zu machen.

Aber das musste er ihm nicht auf die Nase binden, sollte sein Gastgeber in seinem Glauben bleiben, ihn vor den Tücken und Gefahren dieser Lehranstalt zu bewahren.

„Du bist noch so der gesprächige Typ“, merkte Felicio nebenbei an und stand auf, um sich ein neues Sandwich zu braten, „kann das sein?“

Wie sie das alles feststellten; redete man hier aus Prinzip andauernd oder warum fiel es so extrem auf? Lieber einmal den Mund gehalten als einmal zu viel geschwätzt und sich blamiert.

„Wär das schlimm?“

Felicio lachte. „Nein, nicht für mich. Ich bin das gewohnt, den Alleinunterhalter zu spielen.“ Mit einem leisen Zischen wurde der Toast in die mit Butter bestrichene Metallform gedrückt. „Ich mach mir eher um dich Gedanken.“

„Na dann.“ Sozusagen die weibliche Ausgabe von Kira, nur irgendwie anders; bei Kira hatte er sich von Herzlichkeit beinahe erschlagen gefühlt, hier hatte er den Eindruck, immer mit einem leicht spöttischen Blick bedacht zu werden oder nicht ganz so ernst genommen zu werden, wie er es gerne hätte.

Vielleicht täuschte er sich auch nur und unterstellte Felicio Dinge, die nicht der Wahrheit entsprachen.

Sie tauschten noch einige Zeit Informationen über ihr Leben aus; Felicio bereitwilliger als Scarecrow. So erfuhr er, dass sein Gastgeber und Retter in der Regennot Einzelkind und baldiger Student war, hier schon seit einer gefühlten Ewigkeit wohnte, sich gerne über seine dauermeckernden Nachbarn lustig machte und seine Tante nur daher kannte, dass man sich jedes Mal beim Einkaufen begegnete.

Dazu wurden ihm noch jede Menge gute oder nur gutgemeinte Ratschläge auf den Weg mitgegeben: Nicht bei den Nachbarn im Blumenbeet rumspringen, weil sie dies nicht mochten, sich in der Schule nach außen hin mit der Mehrheit gutstellen, damit man es einfacher hatte, und sich bei bösen Streichen nicht erwischen lassen.

Über sich selbst warf Scarecrow nicht so viel in den Raum, weil er einerseits am Essen war und auch nicht das Gefühl hatte, dass es Felicio etwas brachte, wenn er erfuhr, dass er sich auch nicht mit Geschwistern herumplagen musste oder von zu vielen Haselnüssen Ausschlag bekam.

Es schmälerte aber nicht seine Meinung, hier ausreichend unterhalten zu werden, da ihm Felicio wirklich kein einziges Mal neugierige Frage mehr stellte oder ihm auf die Nerven ging, um eine Reaktion zu erfahren. Er füllte ihn lieber unbewusst weiter mit Kakao ab, vernichtete die Buttervorräte im Kühlschrank und war gutgelaunt.

Bei Gelegenheit musste Scarecrow Kira mal ausfragen, ob sie Felicio kannte; die beiden ähnelten sich doch erstaunlich.

Die dunkle Küchenuhr neben dem Kühlschrank verriet, dass der Nachmittag sich langsam seinem Ende zuneigte, genauso wie Scarecrows Bedürfnis, Essen in sich hineinzustopfen, bis er platzte. Eine seltsame Tatsache, er hatte tatsächlich für seine Verhältnisse unglaublich viele Toasts gegessen.

Er stand auf und holte sein Handy aus der Hosentasche. „Ich ruf meine Tante an, vielleicht ist sie schon daheim.“

Er hatte sogar Glück, sie war endlich eingetroffen und fragte ihn natürlich ziemlich verwirrt aus, wo er gewesen war. Vielleicht wäre eine Nachricht an sie ganz hilfreich gewesen, so wie sie klang, hatte sie sich tatsächlich Sorgen gemacht, wo er herumgeirrt sein könnte, da auch bei Kira nie anzutreffen gewesen war.

Für das nächste Mal, das es hoffentlich nicht gab, wusste er Bescheid.

„Sie ist endlich da, ich geh jetzt.“

Felicio sah aus, als hätte er ihm offen mitgeteilt, dass er vor ihm flüchten wollte, aber dann stahl sich wieder ein Grinsen auf sein Gesicht und er brachte ihn noch bis zur Haustür.

„Also, bis dann.“ Eine bessere Verabschiedung fiel Scarecrow auf Anhieb nicht ein; normal wäre er einfach losgezogen, aber das wäre die absolute Dreistigkeit. Etwas leiser fügte er noch ein „Danke für alles“ hinzu. Er kam sich gerade wie ein unhöflicher Trottel vor, der diese Freundlichkeit gar nicht verdient hatte.

„Wiedersehen macht Freude“, entgegnete Felicio mit einem undefinierbaren Blick und einem kurzen Klopfen auf seine Schulter. Verwirrt von diesen Worten nickte Scarecrow einfach nur.

Seine Tante erwartete ihn schon an der Haustür und er musste ihr Rede und Antwort stehen, wo er sich den halben Nachmittag aufgehalten hatte und wieso vor allem. Sie hatte wirklich angenommen, er wäre ausgerissen; aber den Gedanken konnte er ihr nicht verübeln, immerhin führte er sich nicht unbedingt so auf, als wollte er für immer ohne Murren hier verweilen.

Er war für seine Außenwelt anscheinend doch leichter zu durchschauen als er angenommen hatte.
 

Nur zwei Tage später stand er wieder vor dem Haus, in dem er Schutz vor dem Unwetter bekommen hatte; gleichzeitig war es ihm peinlich, schon wieder bei ihm aufzukreuzen, weil ihm nichts Besseres einfiel, was er machen sollte, aber Felicio hatte ihn ja sozusagen dazu aufgefordert, sich bei ihm blicken zu lassen.

Lieber saß er bei ihm zuhause herum und hörte sich Dinge an statt auf seinem Bett auf den Abend und den Schlaf zu warten; Kira musste heute leider irgendetwas für ihr Leben an der Universität regeln und war deshalb nicht für ihn verfügbar.

„Na, Vogelscheuchlein, hast du mich vermisst?“ Grinsend und mit diesem bekannt belustigten Ausdruck im Gesicht ließ ihn Felicio hinein. „Nein, Scherz, ist schön, dass du wieder da bist.“ Seine merkwürdige Begrüßung wollte er schnell revidieren, bevor Scarecrow auf dem Absatz kehrt machte und nie wieder auch nur in seine Nähe kam.

Dieses Mal hielten sie sich nicht in der Küche auf, sondern verzogen sich in Felicios Zimmer; ein sonnengelb gestrichener Raum mit diversen Bildern und Postern an den Wänden und der Decke, einem ausladenden Bett im Metallgestell und dem üblichen Zubehör eines nicht mehr ganz Teenie Zimmers. Der flauschige grasgrüne Teppich, der zerkrumpelt unter dem Schreibtisch sein Dasein fristete, zog automatisch Scarecrows Aufmerksamkeit auf sich, weil er auffiel.

„Willst du was trinken?“, schlüpfte Felicio gleich wieder in die Rolle des zuvorkommenden Gastgebers. „Wir haben vier verschiedene Sorten Wasser, du hast die Auswahl.“

„Muss nicht sein.“ Da brauchte er allein Stunden, um sich für ein Wasser zu entscheiden, das musste wirklich nicht sein.

Die Tür wurde erneut aufgestoßen und eine dritte Person betrat den Raum, Scarecrow war davon etwas überrumpelt, er hatte gedacht, der einzige Mensch bei Felicio zu sein, vor allem weil dieser mit keiner Silbe von noch jemandem erzählt hatte, der sich heute bei ihm als Besuch einquartiert hatte.

„Wer ist das denn?“ Ein junger Asiate blockierte den Türrahmen und betrachtete skeptisch den Neuankömmling, der ihn nicht minder zweifelnd wahrnahm. Er hatte gehofft, nicht gleich seine neu errungene Bekanntschaft teilen zu müssen, das bedeutete ihm seltensten Fall etwas Gutes.

„Scarecrow.“ Aus Felicios Mund hörte sich sein Name wie eine Selbstverständlichkeit an. „Ich hab dir gesagt, dass er kommen wird. Falls du dich nicht mehr daran erinnerst.“ Das schlechte Langzeitgedächtnis seines Gegenübers gefiel Felicio nicht, auf mehr Akzeptanz zwischen ihnen hatte er merklich gehofft.

„Aber nicht heute...“

„Ich wusste ja selbst nicht, wann er vorbeischaut. Stell dich nicht so an.“ Die deutlich spürbar angespannte Stimmung wurde durch die Diskussion nicht besser.

„Lass mich doch.“

„Wie im Zirkus“, murmelte Felicio kaum hörbar, setzt aber ein eindeutig gespieltes Grinsen auf. „Scarecrow, das das ist mein bester Freund Minh.“

Doch auch durch diese Bekanntgabe sah niemand ein, sich nun netter aufzuführen; Minh erstach weiterhin Scarecrow mit genervten Blicken und dieser wusste nicht, ob er über dieses kindische Verhalten lachen oder sich beschweren sollte. Aus dem Alter sollte man doch längst hinaus sein, dieser Minh war mindestens so alt wie Felicio und der schaffte es auch, sich zivilisiert und höflich anzustellen.

Vor allem kannte er ihn doch gar nicht, was reagierte er dann so unverschämt auf seine bloße Anwesenheit?

„Moment.“ Seufzend nahm Felicio Minh am Handgelenk. „Komm mal kurz mit“, redete er eindringlich auf ihn ein, während er ihn dezent in den Flur bugsierte, die Tür hinter sich zuzog und nun ein Gespräch von Mann zu Mann zu führte.

Vielleicht schickte er Minh nach Hause.

Lange dauerte es nicht, bis Scarecrow nicht mehr allein in Felicios Zimmer saß und seine Augen nicht von diesem Wunderobjekt namens Teppich nehmen konnte; zu seinem Unmut folgte mit etwas Abstand auch Minh, der ihm in Sachen Begeisterung ins nichts nachstand. Sie schienen sich auf den ersten Blick nicht leiden zu können, das begann wirklich wunderbar, wenn man es sich gleich mit dem besten Freund seines Bekannten verscherzte, ohne überhaupt einen Satz miteinander gewechselt zu haben.

Minh stand wie unter einem inneren Zwang neben Felicio, der ihm einen Arm um die Schulter gelegt hatte, und brachte mit ziemlicher Überwindung zwei Wörter heraus, die mit viel Fantasie „Hey, Scarecrow“ lauten konnten. Eine gezwungenere Begrüßung hatte man wirklich selten erlebt. Dann lieber sich offen anfeinden und beleidigen.

„Hi.“ Zu mehr ließ er sich auch für Felicio nicht herab.

„Lasst uns was zusammen machen“, schlug Felicio zur allgemeinen Auflockerung vor, für ihn schien sich das Thema Diese zwei jungen Männer hassen sich schon seit den ersten drei Sekunden abgehakt zu sein. Stattdessen wollte er nun den erreichten Scheinfrieden zwischen ihnen vertiefen, indem er sie dazu brachte, sich miteinander zu beschäftigen und dadurch besser kennen zu lernen.

„Eigentlich wollte ich was mit dir unternehmen“, murmelte Minh überraschend unglücklich. „Allein.“

„Ich kann auch wieder gehen.“ Bevor hier ein armer Junge in tiefer Trübsal versank, weil sein bester Freund sich nicht komplett auf ihn fixieren wollte, sondern sich noch mit anderen Personen unterhalten konnte, machte er sich lieber auf den Nachhauseweg.

Der Klügere gab schließlich nach.

„Jungs, ihr nervt!“, platzte Felicio fast der Kragen. „ Wir setzen uns jetzt zusammen, spielen was und ihr benehmt euch nicht wie Kindergartenkinder, okay? Ende der Diskussion.“

König Felicio hatte gesprochen und seine Untertanen zum Monopolyspielen bestimmt. Ob man das jetzt als genial oder zum Scheitern verurteilt beurteilen sollte, ließ sich nur herausfinden, wenn man sich darauf einließ.

Mit Kira war das alles irgendwie sichtlich einfacher gewesen.
 

Das Spielfeld lag ausgebreitet vor ihnen, jeder hockte mit seinem Berg Geld auf dem Boden, passte auf, dass niemand die Häuser und Hotels vertauschte oder versteckte, und tat so, als wäre dieses Spiel die toternste Wirklichkeit.

„Gib mir die Würfel.“ Minh hatte sie dreist bei sich gebunkert und tat so, als bemerkte er nicht, dass Scarecrow an der Reihe mit Ziehen war. Seine Aufmerksamkeit schien insgesamt in anderen Sphären festzustecken.

Der Angesprochene schnaubte leise und rührte keinen Finger. Seine dunklen Haare verdeckten seine fast genauso dunklen Augen. „Hol sie dir doch selbst.“

Was für ein Service hier einem angeboten wurde; dann musste er sie sich selbst angeln, bevor er einen richtigen Streit vom Zaun brach und Felicios Pläne dadurch zerstörte.

„Wer zählen kann, ist klar im Vorteil“, wurde er augenblicklich angemurrt, nachdem er die Figur ein paar Felder weitergejagt hatte. „Du hast fünf gewürfelt, nicht sieben.“ Minh schob die Figur rücksichtslos dahin, wo sie seiner Meinung nach hingehörte; zufällig auf seine eigene Straße. „Das macht 300 für dich.“

„Betrüger.“ Dem gab er keinen Cent. „Lern mal zählen.“

„Und du verlieren.“ Gereizt stand Minh auf und gähnte leise. „Ich hol mir was zu trinken. Wagt es ja nicht, mich ins Gefängnis zu stecken, das bringt euch nichts.“

„Ist er immer so drauf?“, wollte Scarecrow leicht genervt erfahren, als Minh nach unten abgetaucht war, um sich eine Erfrischung aus dem Kühlschrank zu besorgen. Sogar er selbst war im Gegensatz zu ihm harmlos.

„Tut mir echt leid, dass er heute so rumspinnt.“ Geknickt darüber, dass sich Minh in solch negativem Licht präsentierte, entwendete Felicio ihm trotz besserem Wissen einen der Zwanzigerscheine. „Sonst ist er eigentlich ein ganz ruhiger Kerl, vielleicht ab und zu etwas gemein und insgesamt kein Sonnenschein, aber nicht so nervig bösartig wie jetzt.“

„Hab ich ihm was getan?“ Manchmal passierte das, ohne dass man es merkte, besonders, wenn man jemanden gar nicht kannte. Scarecrow hatte es oft genug am eigenen Leib erfahren müssen.

„Nein, ehrlich nicht. Ich versteh ihn nicht, ich rede am besten nachher noch mal mit Minh. Und wehe, du gehst wirklich, lass dich von ihm nicht abschrecken. Der regt sich sicher wieder ab. Mir gefällts nämlich, wenn du hier bist.“

Das erste Mal, dass jemand offen zugab, seine Anwesenheit zu mögen. Es war seltsam und brachte Scarecrow fast in eine Art peinliche Verlegenheit, weil er nicht wusste, wie und ob er drauf reagieren sollte.

Die Entscheidung wurde ihm erspart; Minh hatte die Qual der Wahl des Wassers entschieden und beehrte sie wieder mit seiner Präsenz. Allerdings führte er nicht gleich das Spiel fort, sondern kniete sich hinter Felicio, nur um ihn zuerst anzumeckernd und gleich darauf zu umarmen.

Es wirkte nicht komisch, eher auffällig vertraut, was Scarecrow einen erneuten Stich versetzte; aber das kam davon, wenn man sich jahrelang kannte. Die meisten Jungs taten so etwas nur nicht im Beisein anderer.

„Minh, alles okay?“, fragte Felicio vorsichtig, sein Freund blieb ihm aber eine Antwort schuldig. Er suchte hier die Beachtung von Felicio, die ihm dieser die ganze Zeit verwehrt hatte. Trotzdem störte es Scarecrow enorm, er sollte dieses Verlangen ausleben, wenn er auf dem Heimweg war.

Diese Stillung seines Bedürfnisses hatte aber Minhs Bereitschaft nach unterschwelliger Provokation und Gemeinheit gesenkt; er fauchte Scarecrow nicht mehr an, wies ihn nicht einmal darauf hin, wenn er sich bei den Feldern verzählte, und fragte ihn sogar, ob er auch ein Eis wollte, dass er aus dem Kühlfach holen würde.

Scarecrow war verwirrt und wurde nicht schlau aus ihm; sollte er ihn jetzt als eine Art Konkurrenten um Felicios Zuneigung ansehen oder nicht?

Und nützte es überhaupt, deswegen diese sinnlose Abweisung, die sie gegenseitig austauschten, auszuleben?
 

Es kam selten vor, dass man Felicio ohne Minh antraf, der wirklich oft bei ihm zuhause sein zweites Heim aufschlug und sich wie ein zusätzlicher Bewohner aufführte; manchmal hatte Scarecrow aber auch Glück und musste Felicio nicht in diesem albernen Kampf von Minh ablenken und ihn auf sich fixieren.

Noch nie zuvor hatte er solch ein Konkurrenzdenken wegen einer Person miterlebt; Nikki hatte zwar auch andere Freunde außer ihm gehabt, aber die hatten von ihr nicht gefordert, sich nur mit ihnen zu beschäftigen.

Scarecrow kam sich immer öfter wie ein Pendler vor, der nach der Schule entweder bei Kira oder bei Felicio vorbeischneite und sie für einige Stunden zu seinen privaten Unterhalter machten. Felicios Bett war unverschämt gemütlich, es lud einen dazu ein, sich in die Decke zu kuscheln und einzuschlafen, nur wollte Scarecrow die Minhfreie Zeit nicht verplempern, sondern sie sinnvoll nutzen, um Felicio noch besser kennen zu lernen.

Leider hatte Felicio heute nicht uneingeschränkt Zeit für ihn, er war von seinen Eltern verdonnert worden, gründlich die Küche zu putzen, die nach einem äußerst missglückten Versuch, Kuchen zu backen, einen eher dreckig als sauberen Eindruck machte. Deshalb hatte sich Scarecrow zur Überbrückung möglicher Langweile ein Fotoalbum, das halb unter einem Berg Kisten unter dem Bett verborgen gewesen war, unter den Nagel gerissen und blätterte es interessiert durch; alte Bilder erzählten viel über die Vergangenheit eines Menschen und über ihn selbst, auch wenn man keine Ahnung hatte, was konkret dort abgelaufen war.

Interpretation hieß der Schlüssel zur Erkenntnis.

Er fand Bilder, die vielleicht auf einer Klassenfahrt aufgenommen worden war, mit vielen doof grinsenden Jugendlichen und einer kleiner Armee Bier in einem Eckchen.

Aufnahmen von hier, in diesem Zimmer, die eher experimentell als gelungen erschienen, im Hellen und Dunklen, bunt oder schwarzweiß, mit und ohne Minh, auch mit ein paar anderen Leuten, die Scarecrow natürlich nicht kannte.

Und dann kam etwas, was in ihm eine Vorahnung wachsen ließ, die alles, was bisher geschehen war, erklären konnte, wenn er sich nicht täuschte. Felicio und Minh, in trauter Zweisamkeit auf diesem Bett. Und zwar wirklich auffällige Zweisamkeit, die für normale Freunde nicht unbedingt typisch war. Es gab nicht viele Menschen, die ihren besten Freund so haltlos küssten wie Minh das dort tat.

Sie waren sicher einmal zusammen gewesen; inzwischen nicht mehr, dafür zeigte Felicio seiner Meinung nach nicht genügend Zuneigung zu Minh, die der aber von ihm zu bekommen erhoffte. Vielleicht war er deshalb so eifersüchtig auf Scarecrow, weil er vermutete, dass Felicio ihn endgültig verlassen würde; man konnte größtenteils nur spekulieren, aber es war gleichzeitig erleichternd, den Grund wissen zu können und beängstigend, weil man eine solche Offenbarung nicht jeden Tag erlebte.

Er musste Felicio darauf ansprechen, obwohl es nicht unbedingt von Vorteil war zuzugeben, dass man in privaten Dingen herumgeschnüffelt hatte. Aber es konnte auch einiges erleichtern.

„Ich back nie wieder diesen scheiß Kuchen“, fluchte Felicio leise, als er sich neben Scarecrow auf die Decke warf und theatralisch seufzte. „Der klebt wie Zement, wenn man ihn nicht braucht.“ Das aufgeschlagene Fotoalbum neben sich bemerkte er gar nicht.

Er musste es wagen, auch wenn Felicio unter Umständen sauer auf ihn wäre; er selbst konnte immerhin übertrieben Neugier nicht leiden, warum sollte es also ihm anders ergehen. Ein wenig schüchtern räusperte er sich. „Warst du mal mit Minh zusammen?“ Hoffentlich machte er sich hier nicht zum Trottel, die Frage barg immerhin eine gewisse Intimität, für die sie noch nicht ganz bereit waren.

Felicio schaute ihn überrascht und deutlich ertappt an, seine Augen verrieten Scarecrow die Antwort, aber er wollte sie gerne von ihm direkt hören. „Naja, also eigentlich… ja, waren wir, aber das ist schon zwei Jahren her.“

Na also, seine Gespür hatten ihn nicht in die Irre geführt.

„Schlimm für dich?“

„Nein.“ Darüber machte er sich gerade weniger Gedanken, was das konkret für ihn und seinen Umgang mit Felicio bedeuten konnte, es ging ihm um eine ganz andere Sache. „Vielleicht hat der deshalb ein Problem mit mir. Übermäßige Besitzansprüche und solches Zeug.“

„Du meinst, Minh ist eifersüchtig? Nein, das glaub ich nicht, das war er noch nie auf andere.“ Entschieden schüttelte Felicio über diese Vermutung den Kopf. „Du bist nicht der erste, der hier bei mir plötzlich aufgetaucht ist.“

Aber vielleicht trotzdem der erste, in dem Minh eine so große Bedrohung sah, dass er ihn gleich wieder hinausekeln wollte. Nur weil sie beste Freunde und früher ein Paar gewesen waren, bedeutete das nicht, den anderen uneingeschränkt verstehen und sein Verhalten deuten zu können.

Aber bevor sie sich deshalb stritten, ließ Scarecrow das Thema fallen und tat so, als hätte er es nicht angeschnitten; er wollte sich nämlich nicht noch zusätzlich fragen, wie er nun Felicios sexuelle Orientierung, die für ihn bis dahin uninteressant gewesen war, bewerten und ob er sich Sogen um sich selbst machen sollte.

Warum wurde er hier immer mit Dingen beschäftigt, über die er gar nicht genau nachdenken wollte?
 

„Gestern waren wir mit der Schule in einer Kunstausstellung, das war so übertrieben langweilig, das kannst du dir…“

„Nikki, bitte, jetzt hör doch mal auf!“ Wie oft musste er ihr denn noch sagen, dass sie aufhören sollte, in jedem Gespräch ohne Vorwarnung über Daheim zu sprechen, als wäre er immer noch anwesend.

„Ja, stattdessen soll ich mir anhören, wie du in Selbstmitleid zerfließt“, begann sie ihn zu kritisieren. „Wie schrecklich und schlimm alles ist und wenn ich was dagegen sagen will, dann bin ich die Blöde, weil ich ja deinen Alptraum da nicht zu würdigen weiß.“

„Du hast doch keine Ahnung.“ Er wollte sich nicht mit ihr streiten, aber sie war so uneinsichtig, so egoistisch. Er konnte mit ihr wirklich nicht über seine wahren Gefühle reden. Sie hatte sich in der ganzen Zeit nicht geändert.

„Und du hast keine Ahnung, wie mich dein Gejammer nervt, wirklich.“ Sie klang wütend und auch unterschwellig verzweifelt. „Du denkst auch, um dich dreht sich das ganze Universum und dein Leben ist das einzig wichtige. Es tut mir ja leid, was bei dir passiert ist, aber du hast keinen Grund, alle mit dir runterzuziehen.“

„Auf mich hat auch keiner Rücksicht genommen“, zischte er sie an. Im selben Moment tat es ihm schon wieder Leid, aber das konnte er nicht zugeben.

„Toll, dass dich andere Leute so interessieren.“ Und mit diesen Worten legte sie einfach auf; auch als er versuchte, sie zurückzurufen, blieb die Leitung stumm. Bei weiteren Versuchen drückte sie ihn sogar weg.

Das durfte nicht wahr sein; war er denn so unwichtig für sie? War denn die gemeinsame Zeit, die sie verbrachte hatten, es nicht wert, sich um ihn zu kümmern?

Vor Enttäuschung warf er sein Handy mit voller Kraft gegen die Wand und fühlte nicht einmal Genugtuung, als sich die Umhüllung ablöste und auf dem Teppich verteilte. Ihre Worte schmerzten zu sehr.
 

Noch am selben Abend lag er auf Kiras Couch; er hatte es sich trotz der späten Uhrzeit und dem Unmut seiner Tante über sein Vorhaben nicht davon abbringen lassen. Er wollte gerade auf keinen Fall allein sein und in Kira sah er die beste Person, die ihn vielleicht trösten oder aufmuntern konnte.

Sie hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, dass er weder essen noch chatten noch ihre alten Fotos betrachten wollte, sondern hatte sich einfach zu ihm gesetzt und ihn vorsichtig in den Arm genommen, wie man es bei einem kleinen Kind machte, das Schutz suchte.

Scarecrow war ihr unendlich dankbar dafür gewesen, obwohl er es ihr nicht sagen konnte, weil er sich dafür dann wieder geschämt hätte; er genoss einfach die Zuwendung, die sie ihm schenkte und die ihn vielleicht ein wenig von seinem Fassungslosigkeit befreite, der immer noch in ihm steckte.

Wenn er es genau überdachte, steckte zumindest ein Körnchen Wahrheit in ihrem Vorwurf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2011-12-29T10:00:14+00:00 29.12.2011 11:00
König Felicio... XD
Oh... ich mag ihn. Genauso sehr wie Kira. Diese letzte Szene zwischen ihr und dem Kleinen ist echt unglaublich gut und intensiv. Ich habe jetzt noch eine Gänsehaut. Ich denke, das ist wirklich schon sehr, sehr viel wert, wenn er eine derartige Nähe zulässt.
Minh kann ich noch nicht so recht einschätzen. Ich habe kurz mal in Blind Alley reingelesen, aber da kam auch noch nicht so viel... außer, dass er eben derjenige war, der verlassen wurde und das wohl nie richtig verarbeitet hat. Das kommt hier wohl durch die Eifersucht ein wenig durch.
Aber ich finde es echt gut, dass Scarecrow (ich kann mich nicht entscheiden, welchen Namen ich ihm immer zuteile... schwierig) mehr und mehr Kontakt zu Gleichaltrigen findet, die nicht unbedingt in der Schule mit dabei sind. Die er eben nur danach sieht. So als Belohnung des Tages wahrscheinlich. Wird wohl auch die Motivation, die er braucht, um mit der Schule weiter zu machen. Könnte mir schon vorstellen, dass er da irgendwann keinen Bock mehr drauf hat. >_<
Hach...
Die FF gefällt mir.
Die Charas sind so toll~ <3


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