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Aurae

Löwenherz Chroniken II
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Diesmal ist der Kapiteltitel ein Zitat von Thomas von Aquin.
Ich liebe Zitate. ♥ Komplett anzeigen

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Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.

Es war nicht das erste Mal, dass er nachts unterwegs war, aber es war das erste Mal, dass es sich wirklich anfühlte, als stellte er etwas Verbotenes an. Gemeinsam mit Alona saß er auf dem Dach eines Hochhauses und begutachtete den Nebel unter ihnen. Die Brille war sicher verstaut in seiner Brusttasche, so dass er einen ungehinderten Blick auf alles bekam, was sich in der Stadt abspielte – oder jedenfalls in dem Nebel, der zwischen den Häusern entlangkroch wie eine Armee von Geistern, die ihre langen knochigen Finger an den Gebäuden entlangstreifen ließen.

„Dieser Nebel ist für normale Menschen nicht sichtbar“, erklärte Alona. „Er entsteht durch eine exzessive Vernichtung der Mimikry, so wie es durch dich geschehen ist.“

Ein Ereignis, an das er lieber nicht zurückdenken wollte, auch wenn es für immer bei ihm blieb. Irgendwann könnte er vielleicht einmal daran zurückdenken, ohne sich sofort schuldig zu fühlen. Aber dieser Tag war nicht heute.

Raymond versuchte, die einzelnen Partikel, aus denen der Nebel bestand, genauer zu mustern, aber das war ihm kaum möglich. Er nahm lediglich ein Gemisch aus feinem lila-farbenen Kristallstaub wahr, das eine geradezu übernatürliche Atmosphäre ausstrahlte.

Zu berühren wagte er allerdings nichts davon, er fürchtete, seine Haut würde durch den bloßen Kontakt einfach aufreißen und die Kristallpartikel dann durch seine Adern kreisen und nach und nach seinen gesamten Körper in einen Kristall verwandeln.

Alona bemerkte seine Angst wohl und streckte demonstrativ ihre Hand aus, so dass sie den Nebel berührte. Ihre Haut blieb dabei unversehrt. Ihre dunkelrote Aura, die sonst wie eine Flamme loderte, beruhigte sich in diesem Moment und schmiegte sich wie ein Umhang an sie „Du ahnst gar nicht, wie oft du diesen Nebel schon eingeatmet hast oder wie oft du hindurchgegangen bist.“

Das wollte er sich nicht einmal vorstellen, das war einfach zu grauenhaft. Ein Schaudern überkam ihn, reflexartig wich er zurück, was bei Alona zu einem Stirnrunzeln führte. „Wenn du doch zu große Angst hast, hören wir auf und ich bringe dich wieder nach Hause. Es wird noch viel schlimmere Gefahren geben als nur diesen Nebel.“

Er dachte an die Panik, die ihn gepackt hatte, als er das erste Mal den Mimikry begegnet war. Er dachte wieder an Christine, die erst heute beerdigt worden war, ihren überraschten Schrei, als die Ketten sie durchbohrt hatten.

Aber er dachte auch daran, wie verzweifelt Joel auf der Beerdigung gewesen war, und dass es niemanden sonst gab, der die Aufgabe übernehmen könnte, auf ihn zu achten. Nur er konnte und wollte es tun, also blieb ihm nur eine Wahl.

Er trat wieder vor und hielt kurzentschlossen ebenfalls seine Hand in den Nebel. Es geschah nichts. Seine Haut riss nicht auf, sein Fleisch wurde nicht aufgefressen, es kribbelte nicht einmal.

Die Verwunderung stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Alona reagierte direkt darauf: „Ich sagte doch, dass es ungefährlich ist. Glaubst du mir jetzt?“

Er nickte und wartete darauf, dass sie mit ihrer Lektion fortfuhr. Sie ergriff diese Gelegenheit sofort: „Das aufwendigste an der Jagd ist das Aufspüren der Mimikry. Das kann sich normalerweise über ganze Wochen hinweg ziehen.“

Wie lange war sie schon nicht mehr zu Hause bei ihrer Familie gewesen? Besaß sie überhaupt noch eine solche? Wenn er die Zeit dafür hatte, sollte er sie einmal danach fragen.

„Das dürfte jetzt nicht mehr nötig sein, oder?“

Träge blickte sie zu ihm hinüber. Der Wind spielte mit ihrem Haar, das sie unbedingt zurückbinden sollte, aber könnte er das so einfach vorschlagen? Vielleicht sollte er ihr das lieber einmal in der Schule ans Herz legen, wenn sie bei einer der Kampfeinheiten dabei gewesen war.

Aber zumindest verstand sie wohl, weswegen er gefragt hatte: „Oh ja, du bist ja jetzt mein Köder. Ich hoffe, das stört dich nicht weiter.“

Die Antwort interessierte sie nicht, wie sie direkt damit zeigte, dass sie den Blick abwandte. „Jedenfalls sollten wir nach unten und herausfinden, ob wir noch einen Mimikry finden können. Glücklicherweise kannst du ja selbst kämpfen.“

Sie trat auf die Kante, die einen davor schützte, einfach hinunterzustürzen, und machte sich zum Sprung bereit, als Raymond sie noch einmal davon abhielt: „Ich komme auf diesem Weg nicht nach unten, ich bin nicht so … gelenkig.“

„Das hat nichts damit zu tun, gelenkig zu sein.“ Trotz ihres Widerspruchs kam sie wieder von dem Sims herunter. „Bei Gelegenheit sollten wir daran wirklich noch arbeiten. Aber vorerst nehmen wir eben die Treppe. Oder willst du dich darüber auch beschweren?“

Auf den Weg nach oben hatten sie den Aufzug benutzt, deswegen störte es ihn nicht im Mindesten, wenn es nach unten die Treppe sein sollte.

Diesen Weg brachten sie schweigend hinter sich, bis sie endlich unten angekommen waren und das Gebäude verlassen konnten. Mitten im Nebel sah es nicht mehr so aus, dass es ihn überhaupt gab, als wäre man selbst ein Teil davon geworden. Die Straßen dieses Industriegebietes waren verlassen, was nicht einmal ein ungewöhnlicher Anblick war. Aber seit dem Vorfall mit Christine wirkten sie noch einsamer, als befände sich auch tagsüber niemand dort und das ließ sie wie eine Geisterstadt wirken. Was surreal war, da Raymond ganz genau wusste, dass hier viele Menschen lebten und tagtäglich ihrer Arbeit nachgingen. Aber im Moment war es ihm unmöglich, das Gefühl abzuschütteln.

„Warum sollten sie sich hier aufhalten?“, fragte er, um die Stille zu durchbrechen. „Es gibt hier doch gar keine Menschen, von denen sie sich ernähren können. Zumindest nicht um diese Zeit.“

„Aber es gibt auch keine Feinde. Jedenfalls normalerweise nicht.“

Sie waren wirklich die Ausnahme.

Die Lampen verbreiteten ein sanftes orange-farbenes Licht, keine Insekten schwirrten darum umher, es war schon zu kalt für sie. Raymond öffnete seine Jacke dennoch, da ihm zu warm wurde, während sie hier herumliefen.

Doch plötzlich ertönte das leise Geräusch einer elektrischen Leitung, die durchbrannte, und im nächsten Moment erlosch die erste Lampe, worauf ihr rasch weitere folgten, bis sie im Dunkeln standen.

„Das ist beim ersten Mal nicht passiert.“ Aber er erinnerte sich nicht mehr, wie es bei Christines Tod gewesen war, er erinnerte sich nur an die erste Gelegenheit, die nicht mit einer derart traumatischen Erinnerung verbunden war.

„Wenn sie in der Unterzahl sind, beeinflussen Mimikry gern die Umgebung, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Aber lass dich nicht verunsichern, an der Kampftaktik ändert sich nichts.“

An deren Taktik oder an ihrer? Er wagte aber nicht zu fragen, da in diesem Moment bereits ein einzelner Mimikry hinter einer Häuserecke hervorkam. Es sah aus wie jedes andere, wirkte nicht im Mindesten traurig oder ängstlich, obwohl es ganz allein war.

Was denke ich da? Als ob sie zu solchen Gefühlen fähig wären.

Gut, genau genommen wusste er das nicht, aber es war auch besser, davon nicht einmal etwas zu ahnen, wie er glaubte.

Raymond griff nach seinem Schwert, sah aber dennoch zu Alona hinüber und wartete darauf, dass sie das Signal gab, ihn anzugreifen. Noch stand sie aber einfach nur da und betrachtete den Mimikry, und er konnte nur vermuten, dass sie wissen wollte, was das Wesen als nächstes plante.

Umgekehrt galt aber nicht dasselbe: Trotz seiner Form sprang der Mimikry plötzlich vor, hielt dabei direkt auf Raymond zu. Dieser wartete nicht länger auf eine Erlaubnis zum Handeln. Er zog sein mitgebrachtes Schwert und zerteilte das Wesen mit einem einzigen Schlag.

Im ersten Moment der Euphorie glaubte er, bereits gewonnen zu haben, doch da wurde ihm bewusst, dass sich die zwei Hälften nicht auflösten. Stattdessen übernahm die eine den Seelensplitter und formte sich zu einem vollwertigen Mimikry, während der anderen Hälfte das auch ganz ohne Splitter gelang. Der ohne Splitter schien sich wesentlich schneller zu bewegen, als wäre der andere damit beschäftigt, zu verdauen.

Alona gab ein freudloses kurzes Lachen von sich. „Man kann sie nur mit Magie vernichten. Alles andere gipfelt nur darin.“

„Aber beim letzten Mal ...“ Seine Stimme erstarb, als er nachdenklich wurde.

„Richtig, du hast Magie verwendet, ohne es zu wissen. Ich dachte mir aber schon, dass es dir nicht gelingt, diese Fähigkeit noch einmal abzurufen.“

Wie auch? Es war ein reiner Ausbruch seiner Emotionen gewesen, nichts was von ihm gelenkt worden war. Genauso bei seinem Kampf gegen Alona. Was auch immer dieses innere Potential war, von dem die mysteriöse Stimme in seinen Träumen sprach, er wusste nicht, wie er es selbst wecken oder gar beherrschen sollte.

Alona legte eine Hand auf die Klinge und fuhr diese entlang, ohne das Metall wirklich zu berühren. Ihrer Hand folgte eine blaue Flamme, die erlosch, kaum war das ganze Schwert davon eingehüllt, und nur ein gleichfarbiges Glühen zurückließ. „Jetzt solltest du ein wenig mehr Eindruck bei ihnen schinden können.“

Dass die Mimikry so lange gewartet und sie nur angestarrt hatten, sprach dafür, dass Alona sie mit einem Zauber fernhielt – oder ihnen bewusst geworden war, dass ihre Gegner sich nicht so leicht überrumpeln ließen.

Raymond nutzte die Gelegenheit, um vorzupreschen. Der leere Mimikry wich durch einen erstaunlich lebhaften Sprung aus, aber der mit dem Seelensplitter wurde direkt zerteilt, worauf das Fragment sich glitzernd auflöste. In einer geschmeidigen Bewegung riss Raymond das Schwert herum, streifte den anderen Mimikry aber nur, da dieser erneut auswich.

Kaum trat er selbst wieder zurück, um seine Verteidigung nicht zu vernachlässigen, stürzte sich das Wesen auf ihn – und enthüllte dabei zwei Reihen scharfer Zähne. Geistesgegenwärtig riss er das Schwert hoch und spießte das angreifende Wesen damit direkt auf. Ihm blieb nicht einmal Zeit, das zu realisieren, ehe es sich bereits auflöste. Gleichzeitig verschwand das blaue Glühen des Schwertes.

„Das war es“, sagte Alona. „Gar nicht so schlecht für den Anfang.“
 

Sie fanden in dieser Nacht keine weiteren Mimikry. Deswegen setzten sie sich, als es gerade drei Uhr geworden war, in einem kleinen Park auf eine Bank. Eigentlich sprach nichts dagegen, einfach nach Hause zu gehen, aber er wollte nicht unhöflich sein – vor allem da Alona Redebedarf zu haben schien: „Bist du dir immer noch sicher, dass du es machen willst?“

„Ganz sicher. Ich kann nicht zurück.“

Ihr Blick wanderte in das gegenüberliegende Gebüsch. „Warum bist du so erpicht darauf?“

Er überlegte, ob er ihr von Joel erzählen sollte. Aber es war für ihn selbst noch zu frisch, als dass er darüber einfach reden könnte. Also zuckte er mit den Schultern. „Du sagtest, es ist meine Schuld, dass Christine etwas zugestoßen ist. Ich wollte verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht.“

Es war keine Lüge, er ließ nur etwas aus.

„Wird deine Familie dich nicht vermissen?“

Sie wusste, dass er im Wohnheim lebte, aber das taten viele, die noch eine Familie hatten, sofern diese zu weit entfernt lebte. Die Schule war aber derart angesehen, dass viele diesen Umstand auf sich nahmen, um sie besuchen zu können.

„Ich habe keine. Bevor ich hierher kam, lebte ich in einem Waisenhaus. Man hat mich wegen meiner außergewöhnlichen Test-Ergebnissen auf diese Schule geholt.“

Sie deutete ein Nicken an, wirkte aber nicht überrascht. Er wartete darauf, dass sie ihm nun von ihrer Familie erzählte, aber er wurde enttäuscht. Sie sagte nichts weiter, weswegen er das übernahm: „Was ist mit deiner Familie?“

„Ich bin genau wie du.“ Sie wandte sich ihm zu, den Blick gefasst. „Nun, vielleicht nicht ganz. Ich erinnere mich an meine Eltern. Aber es ist lange her, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Sie sind schon lange tot.“

„Woran sind sie gestorben?“

Es war eine sehr empathielose Frage, das war ihm klar, aber es interessierte ihn. Sie interessierte ihn, auch wenn er ihr das nicht sagen konnte.

Ihr Blick schien ihn zu durchdringen, ohne die Antwort zu bekommen, die sie suchte. Dafür antwortete sie endlich: „Sie haben ebenfalls Mimikry gejagt. Meine Mutter noch ohne diese Kräfte, mein Vater wurde ein Opfer genau wie Christine.“

Daher kannte sie also die genaue Auswirkung dieses Zustands.

Für einen kurzen Moment war er der Meinung, dass sie es besser hatte als er, da sie immerhin ihre Eltern gekannt hatte. Aber dadurch konnte sie diese auch vermissen. Für ihn gab es dieses Gefühl nicht. Als Kind hatte er, in den einsamen Nächten im Waisenhaus, oft Sehnsucht nach so etwas wie Eltern verspürt, aber inzwischen war es vergessen, der Wunsch tief in einem Graben seiner Seele verschwunden, wo er hoffentlich nie wieder hervorkäme.

„Weißt du denn, was mit deinen Eltern geschehen ist?“, fragte sie, nachdem das Schweigen eine Weile angehalten hatte.

„Nur grob. Ich erinnere mich, dass wir in einen Zugunfall verwickelt waren. Wir waren irgendwohin unterwegs, der Zug entgleiste, ich schlug mir den Kopf an und blutete stark ... danach erinnere ich mich erst wieder an meine Zeit im Waisenhaus.“

Sein Kopf schmerzte bei der bloßen Erinnerung daran. Am liebsten wollte er gar nicht daran denken. Schon allein weil es nichts brachte, denn an seine Eltern erinnerte er sich dennoch nicht, nur an die Schreie und den Schmerz.

„Es ist furchtbar, an solche Dinge erinnert zu werden, oder? Es tut mir leid.“

Er winkte träge ab. „Schon okay. Inzwischen macht es mir nichts mehr aus.“

Da belastete ihn doch eher seine Zeit im Waisenhaus, daran wollte er lieber nicht mehr zurückdenken. Niemals. Umso schlimmer, dass er manchmal von diesem seltsamen Mann träumte, der damit in Zusammenhang stehen musste.

Alona erhob sich abrupt. „Wir sollten jetzt wieder nach Hause. Morgen ist Schule.“

Er sprang auf seine Beine und sah sie ungläubig an. „Du willst wirklich in die Schule gehen? Nach dem, was passiert ist?!“

Sie erwiderte seinen Blick mit einer überlegenen Kälte in den Augen. „Wir können nicht ewig trauern. Bringt man dir das nicht in dieser Söldner-Ausbildung bei? Was willst du tun, wenn du mitten während einer Mission in einen Kampf gerätst und deine Freunde getötet werden? Einfach aufgeben und dich umbringen lassen?“

Es kam ihm vor, als versetze ihre kalte Stimme ihm eine Ohrfeige. Einem ersten Impuls folgend, wollte er zurückweichen, aber er blieb stehen und ballte die Fäuste. „Natürlich nicht ...“

„Dann kannst du auch zur Schule gehen. Also komm.“

Diesem Argument blieb ihm nichts entgegenzusetzen. Sie fuhr bereits herum, um wegzugehen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wenn er nicht allein zurückbleiben wollte.

Immerhin war die Nacht einigermaßen erfolgreich gewesen, er hatte Mimikry getötet und mehr über Alona erfahren – aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich einen Schultag überstehen könnte.



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