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Herz aus Stein

von

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Der Puma

IV. Der Puma
 

Ein leichter Wind wehte zwischen den Steinen, als die Gestalt, statt wie gewöhnlich in größtmöglicher Distanz abzudrehen, in direkter Linie auf ihn zu kam. Kalteis lief langsam, aber sehr aufrecht, dennoch mochte er Kunibert mit viel Glück gerade mal bis zur Schulter reichen. Er sah nicht gen Boden, sondern starrte ihn mit seinen Giftaugen direkt an, als sei er ein Matador, der sich dem tobenden Stier zu stellen gedächte in einem Kampf auf Leben und Tod. Gestern hatte er den Zettel unter den Stein gelegt, so knapp und höflich wie irgend möglich formuliert und jetzt war es so weit. Cedric Kalteis hielt sein Wort und kam ihm zu helfen, falls man das „Hilfe“ nennen mochte, da sie nicht gerade freiwillig erfolgte. Kunibert beschlich bei diesem Anblick das Gefühl, es mit einem dieser Pferde zu tun zu bekommen, von denen seine Schwester immer so gern träumte. Wild und ungezähmt, schön, aber lebensgefährlich und gnadenlos, weil es ihre Natur war. Die lahmen Shetland-Ponys, die Frieda stattdessen auf ihrem Reiterhof züchtete, konnten dagegen nicht wirklich anstinken. Kunibert mochte die Tiere, auch wenn sie bei seinem Anblick immer etwas panisch aus der Wäsche guckten. Aber wenn er versuchen würde, so ein Viehzeug zu reiten, könnte er links und rechts mitlatschen, nicht gerade ein Ritt auf einem Araberhengst. Cedric Kalteis war definitiv kein Shetland-Pony auch wenn er größenmäßig zu einem gepasst hätte.
 

Er baute sich in etwa zweianderthalb Metern Abstand vor Kunibert an, fixierte ihn ohne zu blinzeln mit zusammengekniffenen Lippen und fragte dann grußlos: „Was soll ich machen?“
 

„Das hier halten“, erwiderte Kunibert ruhig und hielt ihm den betreffenden Gegenstand am langen Arm entgegen.
 

„Was ist das?“ fragte Kalteis tonlos.
 

„Gehört zum Messgerät. Der Teil, den ich habe, sendet einen Impuls, der darauf trifft und errechnet dann die Daten auch unter Berücksichtigung von Winkeln ganz präzise“, erklärte Kunibert immer noch mit ausgestrecktem Arm.
 

„Verstehe“, erwiderte Kalteis ungerührt. „Legen Sie es da hin, ich hole es mir“, forderte er ihn auf.
 

Kunibert tat wie geheißen und trat, unwillkürlich die Handgelenke zeigend, zurück, als müsse er beweisen, dass er ohne Waffen gekommen war. Kalteis hatte sich ja nicht gerade hier verkrochen, weil er auf menschliche Nähe stand, sondern weil er offensichtlich davon Anfälle bekam. Sah verflixt nach dem Opfer irgendeiner Gewalttat aus, darauf wies auch alles, was der andere Mann in der vorletzten Woche gerufen hatte. Aber gab es da nicht Behandlungsmöglichkeiten? Er schien ja auch Familie zu haben… Warum war er hier?
 

Kalteis schnellte vor und griff sich das Gerät, ihn nicht aus den Augen lassend. In der Tat… wie ein wildes Tier, aber nicht gerade ein Puschelhäschen oder eine Blaumeise, sondern etwas mit verflixt scharfen Zähnen.
 

„Sagen Sie mir, was ich machen soll und trödeln Sie nicht. Wir können am Mittag kurz Pause machen, um etwas zu essen, aber mehr Zeit werde ich nicht verschwenden“, stellte Kalteis klar. Verschwenden? Was hatte er denn sonst vor – außer seine besessene Tour durch die Steine? Wahrscheinlich gerade das, und er wollte den normalen Rhythmus schnellstmöglich wieder aufnehmen können, ohne ihn dabei umgehen zu müssen. Gesund war das nicht… aber was redete er da, die Meinung teilte wahrscheinlich fast jeder, eventuell Kalteis eingeschlossen.
 

„In Ordnung“, nickte Kunibert und sah zu, den anderen möglich genau anzuweisen. Lahm von Verstand war Kalteis nicht, ohne nach zu fragen setzte er seine Anweisungen absolut treffend um. Er hatte noch nie mit jemandem gearbeitet, der derartig effizient gewesen war, aber Spaß brachte das nicht, sondern war höllenanstrengend. Nicht nur das forsche Tempo, der unausgesprochene Zwang, bloß nichts Überflüssiges zu machen, auch dieser Blick, der ständig auf ihm ruhte, als wolle er ihn röntgen. So hatte ihn noch nie jemand angesehen. Es stand keine Neugierde darin, kein Kommunikationsbedürfnis, keine Freundlichkeit, aber auch keine Aversion, sondern etwas Lauerndes, das er nicht einzuschätzen wusste. Es war nicht drohend, aber es kam ihm vor, dass es jederzeit umschlagen könne in jede Richtung, Angriff oder Flucht. Auch die kleinste seiner Bewegungen wurde genau registriert, es war, als gehe er mit einem Puma Gassi. Aber auch Pumas waren Katzen, spielten, schnurrten, das erschien ihm undenkbar bei Kalteis. Wie der wohl ausgesehen hatte, bevor ihm was auch immer zugestoßen war? Als er noch mit seinem schönen Freund zusammen gewesen war? Hatte er da gespielt, geschnurrt und das hier war nur ein… Rest von irgendwem? Er war wahrscheinlich umwerfend gewesen in seiner Exotik. Jetzt war er nur noch umwerfend gruselig.
 

Erst Stunden später richtete Kalteis die nächsten Worte an ihn, die nicht der Bestätigung der aktuellen Messung dienten. „Pause“, sagte er und legte das Messgerät auf einem niedrigeren Stein ab. „Dreißig Minuten.“
 

Dann war er weg. Sprachlos starrte Kunibert um den hohen Stein herum, um den er blitzartig verschwunden war, aber da war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Nur das etwas platt gedrückte Gras verriet, dass er sich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte. Der war wirklich fix. Kunibert spähte auf die Uhr, prägte sich die Zeit ein, um keine Herzattacke zu erleiden, wenn sein unfreiwilliger Gefährte wahrscheinlich genauso abrupt wieder auftauchen würde, wie er verschwunden war.
 

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Tief durchatmend ließ sich Cedric im Schatten eines schief stehenden Menhirs auf die Knie sinken. Er war nah an den Stöcken, konnte das Summen hören. Lerchenfels‘ Bewegungen in den letzten zwei Wochen war zu entnehmen, dass er diese Ecke des Feldes mied. Hatte wahrscheinlich Schiss vor den Insekten, obwohl die einem nichts taten, wenn man sie nicht gegen sich aufbrachte. Er saß gerne direkt bei ihnen, drückte sein Ohr an das Holz, fühlte das betriebsame Brummen im Inneren, erschaffen von unzähligen der kleinen Tiere, jedes seiner Aufgabe für das Ganze folgend, ohne Namen, ohne Identität, nur Funktion und dennoch Leben. Zuweilen verärgerte er sie schon mit seiner Zudringlichkeit, aber im Inneren der alten Imkertracht seines Großvaters war er sicher – nicht nur vor den Bienen.
 

Lerchenfels hielt sich an die Abmachungen, immerhin, kam ihm nicht zu nahe, kam dem Haus nicht zu nahe und strengte sich an, sich sehr zurückhaltend zu geben als habe er Angst, dass er ihn in einem Wahnsinnsanfall an die Kehle gehen würde. Verrückt, dieses Monster konnte ihn wahrscheinlich mit dem kleinen Zeh zerquetschen. Denn eins war ihm klar geworden: Manchmal war intellektuelle oder soziale Überlegenheit völlig unbedeutend, nur ein Schein, Selbstbetrug, manchmal ging es nur um schiere physische Kraft. Wer sie hatte, siegte, wer sie nicht hatte, unterlag und musste zahlen, was immer gefordert wurde. Es ging nur um das schiere „Mehr“. Mehr Muskeln, mehr Männer, mehr Gier, mehr Skrupellosigkeit. Da hatte ein Cedric Kalteis, halbe Portion, der er war, nichts zu melden. Da half ihm weder Bildung, noch Geld, noch Herkunft, noch Geist.
 

Aber Lerchenfels wollte ihm nicht an die Gurgel, folgte brav den Regeln der Zivilisation, aber die Grenzen waren sehr brüchig, wenn Antrieb und Gelegenheit da waren. Und niemand war dagegen immun, das konnte man ihm nicht erzählen. Wer waren die damals gewesen? Wohlbeleumdet. Ein Busfahrer. Ein Schreiner. Sogar ein Zahnarzt war dabei gewesen. Das dürfte denen im Knast auch nichts helfen, aber Justitia mochte vielleicht eines Tages verzeihen, waren sie doch eigentlich immer ein Gewinn für die Gesellschaft gewesen – bis auf die Sache mit dieser perversen, arroganten kleinen Schwuchtel, die ihnen auf den Nasen herum getanzt war. Gruppendynamik, darauf war die Verteidigung herum geritten, aber der Richter hatte es von sich gewiesen. Ihr Pech. Gerechtigkeit? Was sollte das sein. Aug um Aug, Zahn um Zahn? Selbst das brächte keine Gerechtigkeit. Mochten sie ihre Jahre absitzen oder nicht, es machte keinen Unterschied. Sie würden ihn nicht finden hier, niemand würde ihn finden… bis auf diesen dämlichen blonden Spacken! Aber der hatte auch nicht nach ihm gesucht, sondern hampelte hier herum, weil er es auf das Feld abgesehen hatte, auf dem er ungünstigerweise saß.
 

Lerchenfeld arbeitete konzentriert, notierte rasch, gab präzise Anweisungen, so ging das. Er versuchte immerhin nicht, ihn vollzulabern, hatte wahrscheinlich eins und eins zusammen gezählt und gefolgert, dass das nicht bringen würde. Dem dürfte inzwischen mehr als klar sein, dass er es mit jemandem total Gestörtem zu tun hatte. Wie der sich schon bewegte… als sei er ein verfluchtes Viehzeug! Solange er ihm kein Zuckerstückchen vor die Nase hielt…
 

Cedric überschlug den am Morgen gemachten Fortschritt. Sie hatten viel geschafft, aber sonderlich weit waren sie angesichts der Vielzahl der Steine nicht gekommen. Das würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie fertig waren. Aber so war es durchzuhalten, es würde ja irgendwann zu Ende sein. Und irgendwann musste Lerchenfels doch garantiert wieder heim zu Mami. Oder sonst wohin. Verheiratet war er wohl nicht, er trug keinen Ring. Aber ewig würde er so oder so nicht bleiben können. Wenn er promovierte, würde er wohl auch mal an seiner Uni aufschlagen müssen. Garantiert nicht München. Der sah eher nach der Heinrich Himmler-Gedächtnisuni Haithabu aus. Der Typ war echt gestraft, so wie der aussah, wie ein wandelndes Scheiß-Klischee der eher ungünstigen Sorte. Aber wenn der kein Revival-Nazi war, dürfte ihm das nicht gerade schmeicheln. Aber statt einer Streitaxt trug der dieses dämliche Vermessungsgerät mit sich herum und diese abgewarzte Tasche, die ein paar Nummern zu klein für ihn wirkte. Aber für den wirkte wahrscheinlich alles zu klein. Wie Scheiße musste es sein, XXL tragen zu müssen, ohne auch nur fett zu sein? Er könnte abnehmen, aber Lerchenfels wohl kaum schrumpfen. Aber inzwischen wäre es ihm persönlich auch egal, wenn er verfettete, aber dazu fehlte ihm schlichtweg der Appetit. Früher hatte er sich selbst gegeißelt, um ja in Form zu sein und knackig zu erscheinen. Heute war er wahrscheinlich in der Form seines Lebens, ohne Genussmittel außer einem morgendlichen Kaffee und der ständigen Bewegung an der frischen Luft - und es war ihm scheißegal. Das letzte, was er wollte, war in irgendeiner Form sexy zu wirken. Ironie des Lebens.
 

Ironie des Lebens auch, dass hier und jetzt ein Typ auftauchte, bei dem er sich früher zu Tode gesabbert hätte, Klischee hin oder her – und alles, was er von ihm wollte, war, dass er abhaute.
 

Stattdessen durfte er sich jetzt mit ihm vergnügen. So wie es aussah über mehrere Wochen. Aber Typen wie der da waren gewöhnlich Heten, war garantiert so ein grundsolider Vorbilddeutscher mit einem innigen Wusch nach einer Bilderbuchfamilie und Vorstadthäuschen im Herzen. Früher hätte er das ziemlich fix gewusst – aber nach der… Sache, funktionierte sein Gaydar nicht mehr, hatte sich doch alles als anders entpuppt, als er dachte, dass es sei. Früher wäre es ein Leichtes gewesen, das herauszubekommen, ein paar Signale, antesten – aber heute fiel ihm das im Traum nicht ein. Er hoffte vielmehr inständig, dass sein „Gast“ von dicken fetten Möpsen träumte und nicht von seinem Arsch. Bei ihm hatte es sich ausgearscht. Sein Arsch war nur noch zum drauf sitzen und für die Entsorgung der letzten Mahlzeit zuständig. Möge er in Frieden ruhen. Sex hatte sich sowieso erledigt. Schon bei dem Gedanken daran tauchten sofort die Scheiß-Erinnerungen auf, dann verging ihm sofort alles. All die Sachen, die er davor getrieben hatte… keine erotische Wehmut, nur das kalte Kotzen bei dem Gedanken daran. Ab und an verselbständigte sich sein Körper im Schlaf, dann hieß es wegwischen und runterspülen.
 

Cedric kramte in seiner Tasche und förderte die beiden Knäckebrote mit Honig und den Apfel hervor, die seine Mittagsmahlzeit darstellten. Nahe der Stöcke war eine Pumpe, aus der er trank. Das reichte völlig, um auch den Nachmittag zu überstehen. Um fünf wäre der Budenzauber vorbei. Dann könnte er noch ein wenig laufen und sich bei Anbruch der Dunkelheit über den Stapel „John Sinclair“-Groschenhefte her machen, die er bei Ebay ersteigert hatte. Das sollte Horror sein? Die hatten keine Ahnung von Horror, das war Schlaflektüre.
 

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Kunibert starrte den Stein an. Ein, zwei… und wups, da war er wieder, fixierte ihn kurz, ob er auch brav regungslos auf Abstand blieb, dann griff er seinen Teil des Vermessungsgeräts und verkündete: „Weiter geht’s.“
 

Kunibert nickte nur und begann, weiter seine Order zu geben. Kalteis flitze schweigend hin und her, ab und an einsilbig verkündend, dass er in Position sei. Der brachte wirklich kein Wort zu viel über die Lippen. Stattdessen gab es giftgrüne Bohr-Blicke. Auch Jakob daheim hatte grüne Augen, ein hübschen, tiefes Grün, ein bisschen geheimnisvoll und irgendwie warm, auch wenn er log. Dieses Grün hier hätte jeden toxischen Amazonasfrosch vor Neid erblassen lassen. Ob der auch freundlich gucken konnte? Wahrscheinlich… „konnte“. Jetzt wohl nicht mehr. Aber eine herzliche Ausstrahlung dürfte der da nie besessen haben, ihm haftete irgendwie etwas Kaltes an trotz all der Sommersprossen, die man ja normalerweise mit Niedlichkeit assoziierte. Auch die feinen Züge und der zierliche Körperbau gäben das wohl her, aber nicht dieses Auftreten, dieser Augenausdruck. Scharf, das war er – und das nicht im Sinne von sexy, sondern im Sinne einer Damaszenerklinge. Hatte dem deswegen irgendwer so gewaltig etwas verpasst, weil er so enervierend war? War er das schon vorher gewesen? Oder war das neu? Was für ein merkwürdiger Kerl, irgendwie schon faszinierend. Fast wie die Steine. War Cedric Kalteis zu einem seiner Steine geworden? Ewig gleich, seine Geheimnisse niemals preis gebend, egal, wie lange man ihn analysieren mochte? Oder hatte er selbst schon zu lange die Steine angestarrt, dass er sie in ihrem Herr wieder zu erkennen meinte? Aber dieser Stein hier konnte reden.
 

„Der Abstand zwischen den Steinen ist absolut gleich“, verkündete er die vorläufigen Ergebnisse. „Nur im hinteren Drittel variiert er, wird ein wenig enger, aber pendelt sich dann wieder ein.“
 

Es blieb ruhig, Kalteis hielt sein Gerät und starrte ihn an wie gehabt. Kunibert hatte bereits eine innere Notiz an sich gesandt, dass das wohl verlorene Liebesmüh war, dass der andere nicht antworten werde, wenn es nicht direkt der Arbeit diente, als ein gleichgültiges „Ich weiß“ erklang.
 

Kunibert riss sich zusammen, um ihn nicht perplex anzuglotzen. Klar wusste er das, wenn er tagein tagaus hier hindurch lief und nicht völlig verblödet war. Kalteis mochte außerdem noch viele andere Dinge wissen…
 

„Ich wäre schneller wieder weg, wenn Sie mich an Ihrem Wissen teilhaben lassen würden“, lockte er.
 

„Sie würden länger bleiben, wenn Sie wüssten, was ich weiß“, erwiderte Kalteis. „Aber kommen Sie nicht in Versuchung, mich damit zu nerven. Das hier ist ihr Job. Ich assistiere Ihnen nicht aus freien Stücken. Und je schneller Sie wieder weg sind, desto besser.“
 

„Es geht hier nicht bloß um mich!“ protestierte Kunibert und ließ das Gerät in seiner Hand sinken.
 

„Machen Sie weiter!“ forderte Kalteis ihn gnadenlos auf. „Es geht immer erst einmal ums Ich. Sie wollen das hier aus welchen Gründen auch immer. Der Rest ist nur Rechtfertigung.“
 

Kunibert konnte nur fassungslos vereinend den Kopf schüttelnd. „Das ist zynisch“, meinte er. „Es gibt mehr als bloß das „Ich“.“
 

Kalteis zog nur gleichgültig die Schultern hoch. „Wenn Sie das gerne glauben möchten“, erwiderte er. „Machen Sie weiter. Die Welt wird es Ihnen danken…“
 

Kunibert richtete das Gerät aus und überprüfte die Peilung. „Die Welt vielleicht nicht. Aber ein paar Menschen schon. Nicht nur ich“, widersprach er.
 

„Ich jedenfalls nicht“, bügelte Kalteis ihn ab. „Daher wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich mit ihrer altruistischen Mission etwas sputen würden.“
 

„Das ist doch kein Widerspruch“, murmelte Kunibert.
 

Kalteis ließ ihn im Unklaren, ob er es gehört hatte.
 

Es war warm geworden, die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind kühlte trügerisch, dennoch fühlte Kunibert, wie ihm immer wärmer wurde. Gegen drei Uhr war er völlig durchgeschwitzt. Der Schatten der Steine bot ein wenig Schutz, aber Cedric Kalteis kannte dagegen keine Gnade. Zäh wie Ziegenleder hätte Kuniberts Großmutter zu so einem gesagt. Er sah aus, als strenge ihn das Ganze nicht die Bohne an, außerdem war er hochmotiviert, wenn auch nicht gerade aus eigenem Enthusiasmus. Nix Elf, Sklaventreiber, das traf die Sache besser. Himmel, hatte der eine Kondition von seiner Dauerlatscherei. So mochte es mit den Errichtern dieser Steine gewesen sein. Ewig in Bewegung, die Energien genau einteilend und nicht sinnlos beim „Sport“ verpulvernd. Weiter, einfach immer weiter. Sein T-Shirt klebte eklig, vom Wind in eine eisige, schleimige Masse verwandelt, an seiner Haut. Ohne viel nachzudenken streifte es Kunibert sich über den Kopf. Lieber einen Sonnenbrand auf dem Rücken als sich zu fühlen, wie von einer toten Nacktschnecke umarmt.
 

„Was soll das!“ fuhr Kalteis ihn an, dass er vor Schreck zusammen zuckte.
 

„Mir ist warm“, stammelte er.
 

„Wenn Sie strippen wollen, suchen Sie sich einen Job im Nachtklub!“ kam es in einem Tonfall der zeigte, dass der Puma die Krallen ausfuhr. Kalteis war doch offensichtlich schwul, wie der Auftritt seinen knackigen Ex‘ recht deutlich gemacht hatte. Und bisher hatte sich noch nie einer beschwert, ob Männlein oder Weiblein, wenn er sein Oberteil von sich geworfen hatte.
 

„Sah das aus wie strippen?“ fragte er, bevor er sich bremsen konnte. „Sie scheinen ja gar nichts gewöhnt zu sein – oder viel zu viel, wenn sie gleich an sowas denken!“
 

Kalteis fletschte die Zähne. Nicht im übertragenen Sinne. Er fletschte wirklich die Zähne, dass Kunibert das Zahnfleisch und die weißen, graden Zähne sehen konnte und ihn eine Gänsehaut überkam. Himmel, dieser Typ war echt unheimlich. Er mochte zwar nur eine Handbreit über einem Ferkel groß sein, aber Intelligenz und Willen reichten manchmal auch für ein Blutbad. Abrupt glättet sich das Gesicht wieder, als habe ihm jemand den Stecker heraus gezogen. Er sog Atem ein und schloss die Augen, atmete tief ein, schien sich zu konzentrieren, dann sagte er, wieder ruhig und ziemlich steif: „Tut mir leid.“
 

„Schon gut“, winkte Kunibert ab und beschloss, die Skurrilität der Situation einfach mal zu ignorieren. Irgendwie musste er voll in die Kerbe gehauen haben. Kalteis starrte gen Boden, mied zum ersten Mal an diesem Tag, ihn anzuschauen. „Ich ziehe es wieder an, okay?“ verkündete er vorsichtig.
 

Kalteis nickte nur, sagte aber nichts. Kunibert schüttelte sich innerlich, während er den klammen Stoff wieder über sich stülpte. Es galt nun allgemein nicht unbedingt als anstößig, wenn ein Mann sich beim Sport oder bei körperlicher Arbeit oben herum entblößte. Beim Managertreffen war das eventuell nicht angebracht, aber die meisten Manager gaben oben ohne wahrscheinlich nicht viel her. Geld scheffeln machte keine Muckis. Er war in dieser Hinsicht von der Natur begünstigt, aber er bewegte sich auch gern. Fitness-Studio fand er öde, aber Mannschaftssport oder Leichtathletik im Verein, das lag ihm. Er hielt nichts von schwuler Selbstghettoisiierung, obwohl ihn Jakob immer damit aufgezogen hatte. Er musste es ja nicht jedem unter die Nase reiben, er kam ja zum Training, nicht zum Flirten. Der Rest ging die anderen nichts an. Aber warum reagierte Kalteis derart darauf? Er hatte nun wahrlich nicht eindeutig vor ihm posiert, sondern nur das getan, was wohl fast jeder Mann, ob schwul oder hetero, in dieser Situation getan hätte. Und der dachte gleich ans Strippen? Hatte er eine derart sexualisierte Sicht auf die Welt? Aber die Reaktion war keinesfalls positiv gewesen.
 

Ein übler Verdacht keimte in Kunibert auf.
 

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Erschöpft ließ sich Cedric auf einen seiner Lieblingssteine nahe des Hauses fallen. Lerchenfels war weg. Schlag fünf Uhr hatte er ihm sein Vermessungsgerät hingelegt, und der andere hatte gewusst, was das bedeutete und hatte sich mit einem „Bis Morgen!“ verabschiedet. Aber bis Morgen waren ja noch viele Stunden.
 

Diese beschissene Brust hatte genau das gehalten, was die Arme verhießen. Kraft. Schiere, brutale Muskelkraft. So einen Waschbrettbauch hatte Cedric noch nie live zu Gesicht bekommen, und er hatte gewiss schon so Einiges gesehen. Nicht so eine angepumpte, künstliche Masse, sondern die natürlichen Formen eines Athleten – oder eines Kriegers. Welcher Vollidiot hatte diesen Typen zusammen geklont? Das ging doch echt auf keine Kuhhaut. Der hatte bestimmt einen Schwanz wie Napoleon, die Nummer kannte er, außen hui, innen – in der Hose – pfui. Viel mehr hatte da auch nie eine Rolle gespielt, solange er mit Etienne im Gefolge dem Tier im Menschen gehuldigt hatte. Nichts weiter als sich für intelligent haltende Affen waren sie, sie mochten denken zu denken, aber die Grundbedürfnisse forderten ihren Tribut und ihnen wollte gehuldigt werden. Essen, schlafen, trinken, ficken, Primitivität in höchster Raffinesse, das war ihr Credo gewesen.
 

Und dann zog sich dieser Strunz-Germane, Abbild simpelster Bedürfnisse, einfach vor ihm aus und zeigte ihm seinen Traumkörper, der nur den Schrecken wieder rief. Er fand ihn nicht scharf, er fand gar nichts scharf – aber er hätte ihn scharf gefunden, und in diesem „hätte“ lauerte die Vergangenheit, der ganze Mist.
 

Aber der hatte gleich gespurt, sich wieder eingepackt, um ihn armen Irren nicht fertig zu machen, was auch immer er sich dabei denken mochte. Er dürfte Etiennes Abschiedsvorstellung mitbekommen haben, wahrscheinlich dachte er, dass das das wirre Gelabere einer neben der Spur hängenden Schwuchtel sei. Zumindest letzter Punkt schien ihn nicht gestört zu haben, aber heutzutage war so manche Hete über dämliche Vorurteile erhaben, vielleicht traf das nur auf ihn zu. Vor ihm rumgewackelt wie eines dieser Disco-Hühner von einst hatte er jedenfalls nicht, das hatte er nicht gemacht, um ihn anzumachen. Gut für ihn.
 

Warum war das keine Tussi oder ein hässlicher Familienpapi, dann wäre das alles nur halb so schlimm.
 

Er lehnte sich zurück und ließ sich den salzigen Wind fühlen. Dazu war sein Körper noch gut. Keine Raffinesse. Nur die Natur wie sie eben war.
 

Dazu gab es ihn noch, das war noch gut.
 

Als eine Böe ihn traf, erlaubte er sich ein leichtes Schnurren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  AzurSmoke
2011-07-30T17:46:57+00:00 30.07.2011 19:46
Ich liebe die Details und Bilder in deiner Geschichte. "Kunibert mochte die Shetland-Ponys auch wenn sie bei seinem Anblick immer etwas panisch aus der Wäsche guckten" oder auch die Beschreibung von Cedric "Er mochte zwar nur eine Handbreit über einem Ferkel groß sein..."

LG
Grinsekatz66


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