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Phönixfedern

»OS-Sammlung zu Phönixasche«
von

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A n t i s e p t i k u m

A N T I S E P T I K UM
 

Dr. Martens saß mir mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenüber, die Hände sorgfältig gefaltet und schaute mich abwartend an. Ich seufzte, strich durch meine Haare und beugte mich vor, sodass ich mich mit meinen Unterarmen auf meinen Knien abstützten konnte. Es war meine letzte Sitzung mit ihr vor Weihnachten. Dann war erst einmal zwei Wochen Pause, in denen ich mich selbst arrangieren musste.
 

»Sie haben Adrian also erzählt, dass Ihre Eltern tot sind?«, reflektierte Dr. Martens und sah mich immer noch an. Sie wartete geduldig darauf, dass ich ihr antwortete. Wieder seufzte ich. »Wie hat er darauf reagiert?«
 

»Wie soll er schon reagiert haben?«, fragte ich zurück und hoffte, dass ich nicht anmaßend klang. »Wie alle anderen auch. Das erste, das er sagen wollte, war ›Es tut mir Leid.‹ Aber das kann ich ihm nicht vorwerfen, so hat bis jetzt jeder angefangen. Ich hab ihm gesagt, er soll es nicht machen. Diese ganze Mitleidsnummer und so. Dass ich es nicht will.«
 

»Hat Adrian das akzeptiert?«, fragte Dr. Martens.
 

»Jup«, sagte ich und nickte abwesend, während ich an den Abend zurückdachte. »Er hat sich sogar dafür entschuldigt, dass er mich ›gezwungen‹ hat, über meine Eltern zu reden« — zeichnete Gänsefüßchen in die Luft — »Nicht, dass er mich gezwungen hätte.«
 

»Wie haben Sie sich dabei gefühlt, als Sie Adrian von Ihren Eltern erzählten?«, hakte sie nach und schaute mich aufmerksam an. Ich lehnte mich wieder zurück und strich mir mit den Händen über die Oberschenkel. Die Frage ließ mich kurz nachdenken. Ich blieb eine Weile still, sinnierte gedanklich über meine Gefühlslage und versuchte, eine passende Beschreibung zu finden.
 

»Raphael?«
 

»Na ja … «, murmelte ich und sah Dr. Martens an. Sie nickte nur, wirkte aber, als würde es nicht mir gelten.
 

»Lassen Sie mich die Frage umformulieren«, sagte sie dann. »Was hat es in Ihnen ausgelöst, sich jemandem anzuvertrauen und den Tod Ihrer Eltern vor Adrian laut zuzugeben? Haben Sie es nur aus der Not der Situation« — sie meinte vermutlich die Tatsache, dass Adrian meinte, meine Eltern sollten mir nicht peinlich sein — »heraus getan oder weil Sie sich ihm öffnen wollten?«
 

Erneut hielt ich inne und dachte nach. Ich war Adrian ins Wort gefallen, weil er gedanklich offensichtlich in eine völlig falsche Richtung gegangen war, aber ich hatte ihn nicht unterbrochen, weil ich ihn zum Schweigen bringen wollte.
 

»Ich hab es auf jeden Fall nicht aus der Not der Situation heraus getan«, antwortete ich dann langsam, sorgfältig abwägend, was ich sagen sollte, damit es richtig klang. »Es war … ungeplant und unkontrolliert. Ich hab es nicht geplant. Aber dann war es einfach raus und … ich weiß auch nicht. Es erschien mir nicht falsch. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, damit es nicht falsch klingt, aber es gibt im Moment niemanden, dem ich es lieber gesagt hätte.«
 

»Weil Adrian ein Unbeteiligter ist?«, fuhr Dr. Martens fort.
 

»Auch«, gestand ich nachdenklich. »Aber einfach weil … ich weiß nicht. Ich muss mich nicht verstellen, wenn wir zusammen sind. Ich weiß, ich kann ihm solche Dinge erzählen und er bohrt nicht weiter nach und will irgendwelche Details wissen. Er hört zu, akzeptiert es und ist eben einfach nur da. Er drängt mich nicht.«
 

Dr. Martens sah mich ununterbrochen aufmerksam an. »Wie war es für Sie, diesen Satz laut zu sagen? ›Meine Eltern sind tot.‹«
 

Ich atmete tief ein. »Es war … fatal und so … endgültig. Ich meine, nur, weil ich das nie so direkt gesagt habe, heißt es ja nicht, dass es nicht passiert ist, aber …«
 

Ich schüttelte den Kopf. »Es war nicht einfach, aber ich war an diesem Abend nicht allein und Adrian und die anderen … es war gut, dass sie da waren und deswegen war es nicht ganz so unerträglich.«
 

»Es ist gut, wenn Sie darüber reden«, sagte Dr. Martens. Sie klappte den schwarzen Notizblock auf ihrem Schoß zu. Ab und zu machte sie sich Notizen, wenn ich sprach. »Dass Sie es jetzt ausgesprochen haben, ist ein wichtiger Schritt. Mit einem Freund über Ihr Erlebnis zu sprechen, ist ein Fortschritt, es tut Ihnen gut. Wenn Sie sich bereit fühlen, dann reden Sie mit Adrian oder auch mit anderen Freunden über Ihre Eltern.«
 

Ich nickte nur langsam. Zu Beginn der Therapie hatte Dr. Martens gesagt, dass es wichtig sei, dass ich mich frei über den Tod meiner Eltern unterhalten könnte, denn das wäre wichtig für den Verarbeitungsprozess. Außerdem hatte sie auch festgestellt, dass meine Flucht aus Berlin in eine andere Stadt und weg von allem und allen, das und die ich kannte, eine Reaktion darauf gewesen war, dass ich nicht über den Tod meiner Eltern sprechen konnte — geschweige denn, ihn richtig verarbeiten.
 

»Was machen Sie an Weihnachten?«, fragte Dr. Martens dann.
 

»Adrian hat mich zu sich und seiner Familie eingeladen«, erwiderte ich, während mich wieder ein Kribbeln erfasste. Das war gerade sehr unpassend, ich versuchte, es zurückzukämpfen, um mich auf die Sitzung konzentrieren zu können. Aber es war, als würden abertausende Insektenbeine über mich hinwegkrabbeln. Dr. Martens sah mich abwartend an. Ich sollte so viel wie möglich selbst reden, ohne, dass sie Fragen stellte.
 

»Er hat mich davon überzeugt, die Einladung anzunehmen … na ja, eine Einladung war es eigentlich gar nicht, sondern viel mehr ein Befehl«, sagte ich dann mit einem kleinen Grinsen. »Wir fahren morgen. Es ist ein wenig eigenartig, aber es war sehr aufmerksam von ihm. Und ich bin schon sehr auf seine Familie gespannt.«
 

»Sehr gut«, sagte Dr. Martens. »Es ist besser so, wenn Sie in Gesellschaft sind. Vielleicht ist es Ihnen zusätzlich eine Hilfe, wenn Sie eine zwar fremde Familie um sich haben, aber die eines Freundes.«
 

Die Zeit war um, stellte ich mit einem Blick auf die Uhr fest. Dr. Martens erhob sich, legte den Block auf ihren Schreibtisch und reichte mir, nachdem ich ebenfalls aufgestanden war, die Hand zum Abschied. »Wir sehen uns dann in zwei Wochen wieder, Raphael. Ich wünsche Ihnen erholsame Feiertage.«
 

»Danke. Ihnen ebenso«, sagte ich. Ich nahm meine Jacke und verließ den Raum. Die Sekretärin an der Anmeldung lächelte mir zu.
 

»In zwei Wochen wieder, Herr Lockner?«, fragte sie nach, während sie schnell auf die Tastatur des Computers eintippte. Ich bejahte und ließ mir von ihr einen neuen Termin geben, bevor ich mich verabschiedete.
 


 

Adrian und ich stiegen aus dem ICE aus, der uns nach Hannover gebracht hatte. Der Bahnsteig war voller Menschen, es war laut und kalt. Ich warf einen Blick auf die Anzeigetafel. Der Zug, mit dem wir gekommen waren, hatte vierzig Minuten Verspätung, was vergleichsweise noch eine geringfügige, zeitliche Verzögerung war. Adrian und ich hatten zur Genüge mitbekommen, dass viele Züge ausgefallen waren oder mehr als eine Stunde Verspätung hatten. Unsere Fahrt hatte sich ebenfalls durch Ausfälle und Verzögerungen in die Länge gezogen.
 

»Und jetzt?«, fragte ich etwas träge. Zug fahren war eigentlich gar nicht mein Ding, ich vermied es, wenn ich konnte, und die Verspätungen und Zugausfälle machten es nicht gerade besser. Adrian klamüserte sein Handy aus der Hosentasche, bevor er sich auf dem Bahnsteig umsah.
 

»Jetzt … muss ich meinen so-etwas-wie Onkel finden …«, antwortete er etwas abwesend und reckte den Hals, um über die Köpfe der Leute schauen zu können. »Der hat nämlich den Autoschlüssel …«
 

Ich betrachtete ihn dabei, während er konzentriert nach jemandem Ausschau hielt. Seine dunklen Haare waren zerzaust, der Schal war nur sehr nachlässig um seinen Hals gewickelt und der leichte Dreitagebart ließ ihn ein wenig verwegen wirken. Adrians Mund stand ein kleines Stück offen. Ich sah auf seine Lippen, während in meinem Hirn wieder diverse Bilder erblühten. Schluckend schloss ich die Augen und nahm mir ein paar Augenblicke Zeit, um mich zu beruhigen und sämtliches, unanständiges Material aus meinem Kopf zu verbannen.
 

Adrians Gesicht hellte sich auf, als er jemanden erkannte, und er winkte. Ein hochgewachsener Mann mit dunklen, an den Schläfen angegrauten Haaren kam auf uns zu. Er und Adrian sahen sich kein Stück ähnlich. Sie grüßten sich mit einem Handschlag, lachten und tauschten ein paar kurze Worte über die Fahrt, die deutsche Bahn und den Winter.
 

»Julian, das ist Raphael. Raphael — Julian«, stellte Adrian uns vor und ich reichte Julian die Hand. Julian lächelte freundlich.
 

Adrian und ich schnappten uns unsere Koffer und folgten Julian die Treppe hinunter. Soweit ich aus dem Gespräch der beiden mitbekam, hatte Adrians Vater sein Auto hier am Bahnhof stehen lassen, damit wir damit fahren konnten. Am Bahnhofsausgang erklärte Julian, wo genau der Wagen stand, überreichte Adrian den Schlüssel und verabschiedete sich wieder.
 

»Wie kommt das Auto denn hierher?«, wollte ich dann wissen. Insgeheim war ich froh darüber, dass wir jetzt nicht noch auf einen Zug warten mussten.
 

»Mein Vater ist heute Mittag aus beruflichen Gründen nach Oberhausen gefahren, mit dem Zug, und hat das Auto hier stehen lassen für mich. Aber wenn ich zu Weihnachten komme, dann holen meine Eltern mich entweder hier ab oder sie lassen den Wagen da, damit ich nicht durch die Straßen eiern oder S-Bahnen, Straßenbahnen oder U-Bahnen warten muss. Julian ist meist der Bote, der die Schlüssel holt und bringt. Manchmal machen das aber auch Andi, Christin oder Leonard«, erklärte Adrian, während wir das Auto ansteuerten.
 

»Wer sind denn Andi, Christin und Leonard?«, fragte ich interessiert. Adrian warf mir grinsend einen Blick zu.
 

»Meine Cousins und meine Cousine. Julians Kinder, und Julian ist der Lebensgefährte meiner Tante. Die beiden sind aber nicht verheiratet. Sie sind schon seit ich denken kann — im wahrsten Sinne des Wortes — zusammen«, erwiderte er und strich sie die Haare aus den Augen. Sein Atem verpuffte in weißen Wolken in der kalten Abendluft.
 

»Hast du nur die beiden Cousins und die Cousine?«, wollte ich neugierig wissen. Ich hörte Adrian auch nicht sehr oft von seiner Familie reden, aber lag wohl weniger daran, dass er es nicht gerne tat, sondern weil sich nie die Gelegenheit ergab.
 

»Nee, ich hab noch einen dritten Cousin«, erzählte er. Wir kamen am Auto an, Adrian entriegelte die Türen und öffnete den Kofferraum. Nacheinander hievten wir die Koffer hinein, bevor wir uns ins Cockpit setzten.
 

»Sind sie jünger als du?«, hakte ich weiter nach. Adrian steckte den Schlüssel in die Zündung, startete den Motor und drehte als erstes die Heizung auf.
 

»Nicht alle. Yannik, mein Cousin väterlicherseits, ist ein paar Jahre jünger; Andi ist auch jünger, aber Christin und Leonard sind beide so alt wie ich. Christin und Leonard sind Zwillinge.«
 

»Kommt ihr gut aus?«, wollte ich wissen, während Adrian sich in den abendlichen, hannoveranischen Verkehr einfädelte. Ich schaute ihn an, sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet. Er machte vorbildlich einen Schulterblick, bevor er in eine Straße abbog.
 

»Christin, Leonard und ich sind quasi Geschwister im Herzen«, sagte Adrian dann. »Mit Yannik und Andi komme ich auch sehr gut aus, aber das ist einfach anders. Wir haben zwar keinen extremen Altersunterschied, aber der, den wir haben, macht doch etwas aus.«
 

»Du scheinst eine große Familie zu haben«, stellte ich ein kleines bisschen staunend fest. Ich hatte keine lebenden Verwandten mehr. Meine Großeltern, sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits waren früh gestorben, ich hatte keine Geschwister, meine Eltern hatten keine Geschwister gehabt, und ich war jetzt ganz allein. Bei dem Gedanken schwappte eine eiskalte Welle über mich hinweg, alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen.
 

»Oh ja«, sagte Adrian in diesem Moment und lachte fast. »Der Rohlfing-Koch-Clan ist nicht ohne. Die Cousins und Cousinen meiner Eltern sind auch noch da, die haben auch Kinder und teilweise auch schon Kindes Kinder. Aber mit denen habe ich eher weniger zu tun. Die leben auch in einer ganz anderen Ecke, wir sehen uns meistens nur zu runden Familiengeburtstagen.«
 

Ich fragte mich, wie es war, wenn man so eine große Familie hatte. Nachdenklich lehnte ich den Kopf gegen die Nackenstütze des Beifahrersitzes und schaute auf die dicht befahrene Straße vor uns. Eigentlich hatte es mich nie gestört, dass es meistens nur Mama, Papa und ich gewesen waren. Aber mir ist erst nach ihrem Unfall bewusst geworden, dass es jetzt außer mir niemanden mehr aus unserer Familie gab. Waisenkind. Obwohl Kind vielleicht nicht mehr angebracht war, aber trotzdem nagte es an mir. Klar, ich hatte noch Richard und Henri, bei denen ich etwas wie Familienstatus hatte, aber das war eben nicht dasselbe.
 

Ich sah, wie Adrian mir einen Blick zuwarf, als wir an einer roten Ampel standen. Erschöpft schloss ich die Augen, konzentrierte mich auf meinen Herzschlag, um nicht über meine Eltern nachzudenken. Ein kleiner Teil von mir wartete auf die Frage von Adrian. ›Alles okay?‹, ›Geht es dir gut?‹, ›Möchtest du darüber reden?‹. Der Fragenkatalog wurde in meinem Kopf abgespielt. Ich hatte sie alle schon gehört, zur Genüge und darüber hinaus. Jeder, der von dem Unfall erfahren hatte, und halbwegs gut mit mir auskam, hatte sein Mitleidsrepertoire an mir ausgelassen.
 

Doch Adrian blieb stumm. Wie immer.
 

Diese Eigenschaft an ihm hatte ich schnell zu schätzen gelernt. Natürlich hatte er gemerkt, dass ich ihm nicht immer alle Details meines Lebens aufgetischt hatte, dass es da etwas gab, das ich ihm nicht erzählte und über das ich nicht sprach. Ich konnte es an diesen aufmerksamen, prüfenden Blicken sehen, die er mir zuwarf, wenn wir wieder an einem kritischen Punkt einer Konversation angekommen waren. Er merkte schnell, wenn ich nicht reden wollte, und dann hielt er sich zurück und bohrte nicht mit aufdringlichen Fragen.
 

Während der Fahrt sprachen wir eigentlich nicht, ich schwelgte in Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste und versuchte meine Aufgeregtheit im Zaun zu halten, die größer wurde, je näher wir Adrians Zuhause kamen. Ich war gespannt auf seine Familie und ich freute mich darauf, zu erfahren, wie Adrian drauf war, wenn er von seinen Liebsten umgeben war. Vor allem aber war ich gespannt darauf, seine Schwester kennenzulernen, den Menschen, wegen dem er Psychologie studierte.
 

Das Haus von Adrians Eltern lag in einer ruhigen, vornehm wirkenden Gegend mit zahlreichen weiteren Einfamilienhäusern. Die Grundstücke wurden von hohen Hecken und Zäunen gesäumt, die Fassaden waren piekfein, in den Fenstern brannten die Weihnachtsbögen. Adrian manövrierte das Auto problemlos rückwärts in die Garage. Er schaltete den Motor ab, bevor der den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und sich abschnallte.
 

Das Licht im Hausflur ging automatisch an, als wir durch die Tür kamen. Gerade zu befand sich eine weitere Tür, die, wie ich vermutete in Küche und Wohnzimmer führte. Links ab ging eine Treppe nach oben und rechts befand sich eine weitere Tür. Eine weitere Treppe führte nach unten.
 

Die gegenüberliegende Tür wurde geöffnet und eine Frau mit vollen, dunklen Locken tauchte auf. Sie war ein wenig kleiner als Adrian, aber ich konnte die Ähnlichkeit sehen. Dieselben Haare, dieselbe Nase, derselbe Mund. Ihre Augen wanderten von Adrian zu mir. Sie stand auf der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Flur, eine helle Strickjacke eng um sich gezogen.
 

»Hallo, Mama«, sagte Adrian munter und streifte sich dabei die Schuhe von den Füßen. Ein wenig achtlos kickte er sie von sich, bevor er seine Mutter umarmte. Frau Rohlfing sah nicht gerade so aus, als würde sie sich sehr freuen, Adrian zu sehen, umarmte ihn aber ebenfalls.
 

»Hey«, erwiderte sie müde. Sie warf mir einen Blick zu.
 

»Mama, das ist Raphael. Raphael, das ist meine Mutter«, stellte Adrian uns vor. Ich streckte Frau Rohlfing meine Hand entgegen, nach der sie griff und schüttelte. Sie lächelte mir knapp zu. Ein wenig unschlüssig zog ich ebenfalls meine Schuhe aus, stellte sie weg und ließ mir von Adrian die Jacke abnehmen.
 

Ich folgte Adrian und seiner Mutter durch die Tür, die tatsächlich ins Wohnzimmer führte. Rechts von der Tür befand sich der Durchgang zur Küche, direkt daneben war eine geöffnete Durchreiche. Die Küche war recht klein, der Esstisch stand gegenüber der Durchreiche in einem Erker. Links befand sich das Wohnzimmer, das ohne Tür oder Wand vom Rest des Raumes getrennt war. Die Rollos waren allesamt heruntergelassen, es war angenehm warm.
 

»Einen Tee, Raphael?«, fragte Frau Rohlfing freundlich aus der Küche.
 

»Danke«, sagte ich nickend. Adrian bedeutete mir, dass ich mich an den Tisch setzen konnte. Er ließ sich mir gegenüber sinken, während ich seine Mutter in der Küche werkeln hörte.
 

»Wie war die Fahrt?«, rief sie uns zu.
 

»Ein Albtraum!«, antwortete Adrian Augen rollend. Er legte die Arme und seinen Kopf auf den Tisch. »Wie jedes Jahr.«
 

Frau Rohlfing kam mit einem dampfenden Becher aus der Küche. Sie stellte die Tasse vor mir ab. Ich bedankte mich noch einmal. Vorsichtig legte ich meine Hände um das Porzellan und schaute zwischen den beiden hin und her.
 

»Adrian, kommst du mal bitte?«, fragte sie ihn dann und ging ins Wohnzimmer. Adrian verdrehte wieder die Augen, seufzte kurz und folgte dann der Aufforderung seiner Mutter. Das hatte nicht gut geklungen. Ich schaute den beiden zu, wie sie sich voreinander im Wohnzimmer aufbauten — Adrian einen Kopf größer als seine Mutter. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen zusammengepresst.
 

Ihre Unterhaltung war leise, in der Küche spielte Musik und ich bekam keine zusammenhängenden Sätze ihrer Konversation mit, aber es war ersichtlich, dass Frau Rohlfing ziemlich verärgert war. Ich zwang mich, die beiden nicht anzustarren, sondern sah mich in dem großen Raum um. Vor den weitläufigen Fenstern des Erkers standen viele Pflanzen. Im Wohnzimmer befand sich eine Terrassentür, die allerdings auch von außen von einem Rollo verdeckt wurde.
 

Ich kam nicht umhin, den beiden immer wieder einen Blick zuzuwerfen. Offenbar hatte Adrian seinen Eltern nicht erzählt, dass er mich mitbringen würde. Zumindest erschien mir das als die plausibelste Antwort auf die Frage, warum Frau Rohlfing so missgelaunt wirkte. Wenn ihr Sohn mich angekündigt hätte, würde sie Adrian wohl kaum zu einem Gespräch unter vier Augen bitten und dabei aussehen, als würde Adrian eine tote Ratte vor ihrem Gesicht baumeln lassen.
 

Frau Rohlfing löste sich aus dem Gespräch und kam, von Adrian gefolgt, zurück an den Tisch. Sie lächelte mir freundlich zu.
 

»Ist der Tee in Ordnung?«, fragte sie mich. Wenn sie sauer war, dann zeigte sie es mir nicht und ließ es auch nicht an mir aus. Adrian hingegen sah ein wenig angesäuert aus.
 

»Ja, danke, Frau Rohlfing«, antwortete ich ihr. Sie schaute mich zufrieden an, bevor sie sich an Adrian wandte.
 

»Holst du bitte die Luftmatratze aus dem Keller? Die Pumpe müsste dort auch irgendwo herumliegen«, bat sie. Adrian sah für einen Moment so aus, als würde er protestieren wollen, doch dann verließ er wortlos das Wohnzimmer.
 

Frau Rohlfing setzte sich auf den Stuhl, auf dem Adrian kurz zuvor gesessen hatte. Die dunklen Locken rahmten ihr helles Gesicht ein. Sie sah noch recht jung aus, ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Anders als Adrian hatte sie helle, blaugraue Augen mit ausgesprochen dichten Wimpern. Adrian hatte dunkelbraune Augen, vermutlich von seinem Vater.
 

»Das Zimmer ist oben«, sagte sie, als ich den Tee ausgetrunken hatte. Sie nahm die Tasse und brachte sie in die Küche. Frau Rohlfing nahm mich mit die Treppe hinauf. Oben gingen vier Türen ab. Adrians Mutter verschwand in einem Zimmer und tauchte kurz danach mit einem zweiten Satz Bettzeug wieder auf. Sie zeigte mir Adrians altes Zimmer.
 

Der Raum war recht groß und hatte eine Dachschräge, unter der das Bett stand. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schreibtisch mit Regalen darüber und daneben stand ein großer Schrank.
 

Ich hörte Adrian die Treppe hinaufkommen. Er zog die Matratze hinter sich her, die Pumpe unterm Arm. Beides ließ er neben dem bereits fertig bezogenen Bett fallen und nahm seiner Mutter das Bettzeug ab. Sie wünschte uns eine gute Nacht, ehe sie das Zimmer wieder verließ.
 

Adrian machte sich daran, die Matratze auseinanderzufalten, als ich nach der Pumpe griff.
 

»Lass mich das machen«, wandte ich ein. »Wenn ich schon auf der Matratze schlafe, dann—«
 

Adrian sah mich eindringlich an. »Du schläfst auf dem Bett«, unterbrach er mich. Er klang, als würde er keine Widerworte dulden. Ein Teil von mir wollte zum Protest ansetzen, aber da ich hier keine Diskussion vom Zaun brechen wollte, stellte ich die Pumpe wieder hin und setzte mich auf das Bett. Ich sah ihm dabei zu, wie er anfing, Luft in die Matratze zu pumpen. Adrian sah alles andere als hoch motiviert aus, aber das konnte ich ihm nicht einmal verübeln.
 

Ich beugte mich vor und öffnete meinen Koffer, um meine Kulturtasche herauszuholen. Adrian sagte mir, welche Tür die zum Bad war, bevor ich das Zimmer verließ, um mich waschen zu gehen.
 

Das Bad war recht groß und hatte ebenfalls eine Dachschräge. Neben einer geräumigen Duschkabine befand sich eine ovalförmige Badewanne im Raum. Als ich das Licht einschaltete, ertönte gleichzeitig die Stimme eines Radiomoderators. Das war ungewohnt, wir hatten zwar auch ein Radio im Bad gehabt, aber das war nicht mit dem Lichtschalter gekoppelt.
 

Während ich mich ans Waschbecken stellte und Zahnbürste und Zahnpaste aus der Tasche hervorkramte, überkam mich wieder das schlechte Gewissen. Wenn ich gewusst hätte, dass es Adrian eine Auseinandersetzung mit seiner Mutter einbringen würde, wenn ich über Weihnachten zu ihm kam, dann hätte ich die Einladung von vornherein abgelehnt. Frau Rohlfing schien nicht unfreundlich zu sein und obwohl ich mitbekommen hatte, dass sie über meine Anwesenheit nicht sehr begeistert schien, hatte ich nicht das Gefühl, dass sie mir unsympathisch war. Ich fragte mich nur, weshalb Adrian mich seiner Mutter offensichtlich nicht angekündigt hatte.
 

Ich stopfte mein Zahnputzzeug zurück in die Tasche und ging wieder ins Zimmer. Adrian schien gerade damit fertig geworden zu sein, die Matratze und das neue Bettzeug zu beziehen, als hereinkam. Er lächelte kurz, dann machte er sich auf ins Bad.
 

Während er weg war, zog ich mein Schlafzeug an. Ich setzte mich aufs Bett und griff nach meiner Tasche, um mein altes Jojo daraus hervorzuholen. Als die Dinger noch Mode gewesen waren, hatte mein Vater mir mal dieses mitgebracht, weil ich ziemlich begeistert von dem Spielzeug gewesen war. Ich hatte es eigentlich immer dabei, so konnte ich in Momenten der Langeweile oder so etwas anderes anstatt Däumchendrehen machen. Momente der Langeweile bedeuteten in meinem Fall, dass meine Gedanken zu meinen Eltern abschweiften und ich diverse Szenarien durchspielte, in denen sie noch am Leben waren. Solche Art Gedanken waren umso schlimmer, weil ich wusste, dass sie niemals wahr würden.
 

Als Adrian das Zimmer wieder betrat, hatte er eine dunkle, lange, schlabberige Hose an und ein graues Shirt mit Aufdruck, das ziemlich alt aussah. Unter seinem Arm klemmten die Klamotten, die er heute den ganzen Tag getragen hatte. Es war ungewohnt, ihn in so einem Aufzug zu sehen. So … privat. Es war das erste Mal, dass ich etwas von Adrians privater, persönlicher Seite sah. Sonst war ich meist nur in der Öffentlichkeit mit ihm zusammen. Ich war noch nie in seinem Zimmer im Wohnheim gewesen. Diese ganz eigene, heimische Seite an ihm erlebte ich zum ersten Mal. Es war natürlich nicht so, dass ich ihn sonst nur an öffentlichen Orten sah, er war auch schon bei mir gewesen, ich hatte ihn zum Raclette bei Christie begleitet, aber das war nicht vergleichbar.
 

Er wirkte ein bisschen anders. Ich konnte es nicht genau beschreiben. Vielleicht entspannter. Vielleicht gelassener.
 

Adrian ließ seine Sachen achtlos an das Fußende seiner Matratze fallen, bevor er sich auf letztere sinken ließ. Ihm war mein Jojo aufgefallen, das er einen Augenblick lang verwundert anschaute.
 

»Du hast ein Jojo«, stellte er dann überflüssigerweise fest. Ich musste grinsen.
 

»Ja«, bestätigte ich amüsiert. »Das ist ein Tick von mir. Meine Beschäftigungstherapie. Es lenkt mich von meinen Gedanken ab, wenn ich gerade wieder ein Stimmungstief habe oder so.«
 

»›Stimmungstief‹«, wiederholte Adrian ein wenig irritiert.
 

»Wegen meiner Eltern«, sagte ich dann. Jetzt konnte ich es einfach loswerden. Er wusste es ja schon. »Wenn ich an sie denke, dann … ich hab’s noch nicht verarbeitet.«
 

Ich schaute auf das Jojo in meiner Hand. Darüber zu reden war nicht so einfach, es war schlimmer, als nur darüber nachzudenken. Es war gar nicht so leicht, meine Eltern loszulassen. Wenn man mich vor einem Jahr gefragt hätte, wie ich damit umgehen würde, wenn meine Eltern bei einem Unfall sterben würden, hätte ich nicht gesagt, dass ich es fast ein Jahr lang mit mir herumtragen und sogar bei einem Therapeuten auf der Couch sitzen würde.
 

Ich ließ das Jojo los und schaute ihm dabei zu, wie es gen Boden sauste, bevor es sich wieder von allein aufwickelte und in meine Hand sprang.
 

»Du musst nicht über deine Eltern sprechen, wenn du nicht möchtest«, sagte Adrian leise. Ich hob den Kopf und schaute ihn an. Adrian sah mich besorgt an. Nicht mitleidig. Besorgt. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte. Ich wollte schon gar nicht, dass er dachte, er würde mich dazu zwingen, über meine Eltern zu sprechen. Wie er überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war …! Trotzdem wollte ich gerade wirklich nicht weiter über meine Familie sprechen.
 

Ich zog die Schlaufe des Bandes von meinem Finger und legte das Jojo weg, bevor ich mich unter die Decke verzog und mich hinlegte. Adrian machte das Licht aus. Ich hörte, wie er sich hinlegte, die Decke raschelte leise.
 

»Deine Mutter sah vorhin nicht sehr begeistert aus«, sagte ich schließlich. Ich verschränkte die Arme auf dem Kopfkissen und legte meinen Kopf seitlich hin, sodass ich in Adrians Richtung schauen konnte. »Ist es wegen mir?«
 

Adrian seufzte nur sehr tief. Also doch. Wirklich wegen mir. Warum machte er so einen Aufriss wegen mir? Er hätte sich das doch auch sparen können. Wir kannten uns nicht mal sehr lange und sehr gut, aber er machte sich dennoch die Mühe, nahm Ärger mit seiner Mutter in Kauf … Das ließ mich beinahe wieder in süße Selbsttäuschung abdriften. Warum sollte er all das tun, wenn er nicht auch etwas … empfand? Ich schloss kurz die Augen und verbannte den Gedanken aus meinem Kopf.
 

»Du hast ihr nicht erzählt, dass du mich mitbringst, oder?«, fuhr ich fort.
 

»Nein.«
 

»Warum nicht?«, fragte ich. Ein kleiner Teil von mir fühlte sich ein wenig gekränkt, aber der größere Teil dachte logisch und wusste, dass Adrian einen Grund gehabt haben musste.
 

Adrian seufzte erneut. »Meine Mutter ist … sehr pingelig«, erklärte er dann langsam. »Weihnachten ist für sie eben ein Familienfest, da hat sie es nicht gern, wenn jemand da ist, der nicht zum engsten Kreis der Familie gehört. Das ist nichts Persönliches und nichts gegen dich. Sie ist sauer auf mich. Ich wusste, dass sie nein sagen würde, wenn ich vorher frage, deswegen hab ich einfach gleich die Klappe gehalten. Das hätte mir eine Diskussion am Telefon erspart. Es tut mir Leid, dass es so gelaufen ist. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du nicht unwillkommen bist. Mama wird sich schon einkriegen und was meinen Vater angeht: Der sieht das nicht so eng. Und für Lydia die Hauptsache, dass ich hier bin. Ich denke nicht, dass es für die beiden ein großes Problem sein wird, dass du hier bist.«
 

Ich musste lächeln. Mir reichte es, dass er mich dahaben wollte. Alles andere hielt ich aus.
 

»Was hast du denn deiner Mutter erzählt, weswegen ich mitgekommen bin, anstatt Weihnachten mit meiner Familie zu verbringen?«, fragte ich dann. Das interessierte mich brennend. Frau Rohlfing hatte keinen einzigen Moment gewirkt, als hätte Adrian ihr etwas von meiner Lage erzählt, daher ging ich davon aus, dass er ihr nichts davon gesagt hatte.
 

»Ich hab ihr gesagt, dass ich dich so toll finde, dass es ich es keine zwei Wochen ohne dich ausgehalten hätte und ich dich deswegen mehr oder minder mitgeschleift habe«, sagte er. Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören, den amüsierten Ton. Kurz schloss ich die Augen. Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Adrian hatte wahrscheinlich gar keine Ahnung, was seine Worte mit mir anstellten. In meinem Bauch fand ein kleines Feuerwerk statt, obwohl mir durchaus bewusst war, dass es natürlich nicht stimmte, was er mir eben gesagt hatte.
 

»Hätte sie dir geglaubt, wenn du ihr das wirklich gesagt hättest?«, wollte ich wissen. Adrian antwortete nicht sofort. Ich hörte ihn gähnen.
 

»Wohl eher nicht«, meinte er nur. Ich schwieg und betrachtete ihn durch die Dunkelheit. Adrian hatte sich auf den Bauch gedreht und sein Kopfkissen umarmt. Seine Augen waren schon geschlossen, sein Atem ging gleichmäßig. Einige Zeit sah ich ihn an, lauschte seinen Atemzügen, die langsam tiefer geworden waren.
 

»Schade«, sagte ich leise, als ich mir sicher war, dass er schon schlief. Die Haare fielen ihm in sanften Wellen in die Stirn. Sein Gesicht sah entspannt aus. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal tatsächlich wach liegen würde, um jemanden beim Schlafen zu beobachten. Aber gerade tat ich das. Ich rutschte näher an die Bettkante, um ihn besser sehen zu können.
 

Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, mit ihm gesprochen und Billard gespielt hatte, hatte ich nicht gedacht, dass ich mal Weihnachten mit ihm bei seiner Familie verbringen, in seinem alten Bett schlafen und ihm von meinen Eltern erzählen würde. Diese Gesamtsituation, das war mehr, als ich erhofft hatte. Zögernd streckte ich eine Hand aus und strich mit den Fingerspitzen durch seine Haare. Sie waren ziemlich dicht, dichter, als man auf den ersten Blick sagen konnte, und weich.
 

Ich hatte mich tatsächlich unrettbar in einen Hetero verknallt. Ohne es zu wollen. Was war ich doch für ein Trottel.
 

Es war neun, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Adrian schlief noch tief und fest, die Decke bis zur Brust hochgezogen. Ein Arm lag über seinem Kopf, der andere über seinem Bauch. Ich gähnte kurz. Eigentlich schlief ich meistens mindestens bis zehn, aber wenn ich bei jemandem zu Besuch war oder anderweitig nicht in meinem eigenen Bett schlief, wachte ich früher auf.
 

Leise stand ich auf, kramte frische Klamotten aus meinem Koffer und verschwand im Bad. Ich wusch mich, zog mich um und kämmte meine Haare durch, die wieder aussahen, als würde ein Vogel darin nisten. Danach brachte ich mein Schlafzeug zurück ins Zimmer, bevor ich die Treppe runterging. Aus der Küche waren Stimmen zu hören.
 

Ich öffnete vorsichtig die Tür und lugte in den Raum. Der Tisch war mit Frühstück gedeckt. Adrians Mutter, sein Vater und seine Schwester waren bereits wach und saßen zusammen, um zu essen. In der Küche lief das Radio. Es roch nach Kaffee und Brötchen.
 

»Guten Morgen«, sagte ich, bevor ich ganz in das Zimmer trat und die Tür hinter mir schloss. Frau Rohlfing lächelte, Lydia schaute mich an und Herr Rohlfing … strahlte. Anders konnte man das nicht beschreiben.
 

»Guten Morgen!«, sagte er überschwänglich. »Raphael, richtig?«
 

»Richtig«, antwortete ich. Frau Rohlfing bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Es war für fünf gedeckt.
 

Herr Rohlfing reichte mir mit einem breiten Lächeln im Gesicht die Hand über den Tisch. »Sebastian«, stellte er sich vor, während wir die Hände schüttelten. Ich lächelte zurück. Ich war mir nicht sicher, ob er mir das Du damit angeboten hatte, aber ich war nicht bereits, es darauf anzulegen.
 

»Was möchtest du trinken, Raphael?«, fragte Frau Rohlfing mich und erhob sich. »Tee? Kaffee? Orangensaft?«
 

»Kaffee, aber ich kann auch selbst …«, meinte ich und wollte wieder aufstehen, als sie den Kopf schüttelte.
 

»Bleib sitzen und iss«, sagte sie milde. Verstärkend legte sie ihre Hand auf meine Schulter. Ich sank zurück auf den Stuhl.
 

Lydia saß mir gegenüber, sie musterte mich neugierig. Als ich ihr ins Gesicht schaute, blickte sie weg. Adrians Vater reichte mir den kleinen Korb, in dem viele verschiedene Brötchen drin lagen. Dankend nahm ich ihn ihm ab.
 

»Und, Raphael, hast du gut geschlafen?«, fragte er mich dann, während aus der Küche ein lautes Surren zu hören war. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Frau Rohlfing stand an der Kaffeemaschine.
 

»Ja«, antwortete ich, als ich mich wieder zu Herr Rohlfing umdrehte. »Sehr gut, vielen Dank.«
 

Herr Rohlfing hatte blondes Haar mit leichten Wellen. Die Wellen hatte Adrian wohl von ihm. Seine Augen waren dunkelbraun, er hatte hohe Wangenknochen und ein schmales Kinn. Was Adrian von seiner Mutter hatte, hatte Lydia von ihrem Vater. Lydia wirkte zierlich, das lange, blonde Haar fiel über ihre schmalen Schultern. Der kurze Blick, den ich auf ihr Gesicht erhascht hatte, sagte mir, dass sie Frau Rohlfings Augen hatte.
 

Adrians Mutter kam mit einem Kaffeebecher für mich zurück an den Tisch. Sie stellte die Tasse vor mir ab und setzte sich.
 

»Adrian schläft sicher noch?«, wollte sie dann wissen. Ich nickte. Sie wollte ihn aufwecken, immerhin hatte er einen Gast — mich —, aber ich winkte nur ab und sagte, er sollte ruhig schlafen. Herr Rohlfing lachte laut — wirklich laut, wirklich dröhnend, wirklich ausgelassen. Ein überaus sympathischer Laut. Es gab Leute, die laut lachten, und es klang einfach nur schrecklich. Adrians Vater gehörte nicht dazu. Ich wusste zwar nicht genau, was so witzig war, dass er lachen musste, aber trotzdem …
 

Ich frühstückte mit Adrians Familie. Als wir alle fertig waren, begann Frau Rohlfing den Tisch abzuräumen. Adrian schlief offenbar immer noch und das schien für keinen Beteiligten eine große Überraschung zu sein. Ich half seiner Mutter beim Abdecken.
 

»Ich decke immer für ihn mit«, erklärte Frau Rohlfing mir, als ich ihr dabei half, das Geschirr in den Geschirrspüler zu räumen. »In der Hoffnung, dass der Herr sich bequemt, einmal rechtzeitig aufzustehen, um mit uns zu frühstücken. Aber leider ist es vergebene Liebesmüh.«
 

Obwohl sie ein wenig anklagend geklungen hatte, sah ich sie lächeln. So übel nahm sie es Adrian wohl doch nicht. Ich musste grinsen. Meine Mutter hatte sich auch immer beklagt, dass ich so lange schlief.
 

Als ich wieder aus der Küche kam, saßen Herr Rohlfing und Lydia am Tisch. Sie hatten ein Schachbrett zwischen sich. Lydia hatte die weißen Figuren, Herr Rohlfing die schwarzen. Ich stand neben Lydia und schaute ihr zu, wie sie ihren Springer setzte.
 

Frau Rohlfing trat an mich heran, griff nach meinem Oberarm und zog mich zwei Schritte zur Küche. Sie warf Lydia, die mit auf dem Tisch verschränkten Armen dasaß und konzentriert auf das Schachbrett schaute, dann sah Adrians Mutter mich aufmerksam an.
 

»Ich weiß nicht, ob Adrian dir schon erzählt hat, dass …«, fing sie an und hielt kurz inne.
 

»Dass Lydia autistisch ist?«, fragte ich. Adrians Mutter nickte.
 

»Da ist noch etwas«, fügte sie hinzu. »Lydia kann nicht allein mit Fremden in einem Raum sein. Wenn jemand von uns dabei ist, ist es kein Problem. Und auf Berührungen reagiert sie ausgesprochen … heftig, daher …«
 

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. »Ich werde darauf achten«, versprach ich Frau Rohlfing. Sie lächelte wohlwollend, bevor sie das Wohnzimmer verließ. Ich setzte mich neben Herr Rohlfing, um den beiden beim Schachspiel zuzusehen. Mein Vater hatte mir Schach beigebracht, als ich sieben war. Seitdem haben wir mehr oder minder regelmäßig gegeneinander gespielt, bis ich irgendwann sogar besser geworden war als er.
 

»Spielst du auch Schach, Raphael?«
 

Ich hob den Kopf und sah noch, wie Lydias Blick mich streifte. Ihre Stimme war ruhig, melodisch, sehr angenehm. Sie schaute mich noch einmal flüchtig an.
 

»Ja, ich spiele auch«, antwortete ich ihr, während Adrians Vater seinen Turm bewegte. Lydia ließ sich mit ihrem Zug ein wenig Zeit.
 

»Spielst du gut?«, fragte sie dann weiter, ohne den Blick vom Schachbrett zu nehmen. Ihre Frage überraschte mich. Das war ich noch nicht gefragt worden und überhaupt war ich nicht sonderlich gut darin, meine Fähigkeiten zu beurteilen. Zumindest nicht, wenn ich mich mit jemandem vergleichen musste, den ich nicht kannte.
 

»Na ja … ich bin kein Weltmeister, aber … ich denke schon«, erwiderte ich schließlich und kratzte mich am Hinterkopf. Lydia lächelte ganz leicht.
 

»Dann spielen wir, wenn Papa und ich die Partie beendet haben«, sagte sie. Ich lächelte. Es war ein gutes Gefühl, dass sie mich offenbar akzeptierte, wenn man das so sagen konnte, und ich freute mich darüber, dass Lydia mit mir spielen wollte. Inzwischen es war auch schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal Schach gespielt hatte. Herr Rohlfing konnte noch einmal setzen, ehe Lydia ihn Matt setzte. Zufrieden lächelte Lydia ihn an.
 

Adrians Vater erhob sich, um mir Platz zu machen, während Lydia ihre Figuren wieder aufstellte.
 

Es war gar nicht so einfach, gegen sie zu spielen, aber irgendwie hatte ich das auch erwartet. Sie spielte sehr vorausschauend, vermutlich dachte sie nicht nur drei Züge im Voraus, sondern noch mehr.
 

Ich bekam nicht mal wirklich mit, wie Adrian ins Zimmer kam. Erst, als Herr Rohlfing anfing zu lachen, hob ich den Kopf. Adrian wirkte noch ein bisschen verpennt, auf seinem Kopf herrschte Chaos und er trug eine weite, schlabberige Jogginghose und einen dunkelblauen Kapuzenpullover. So … schlampig angezogen hatte ich ihn noch nie gesehen und trotzdem war er nie attraktiver gewesen. Während Adrian Lydia begrüßte und sich ganz offensichtlich sehr darüber freute, sie mal wieder zu sehen, starrte ich ihn an. Meine Konzentration ging total flöten, meine Rübe schien wie leer gefegt. Nur am Rande nahm ich noch wahr, dass Adrian sich kurz mit Lydia unterhielt. Adrian schaute mich aufmerksam an, ich konnte nur zurückstarren. Lydia schlug mich schließlich. Kein Wunder, mein Hirn war nur noch eine breiige Masse, die drohte mir aus den Ohren zu laufen.
 

Die kommenden Tage vergingen wie im Flug. Ich beobachtete, wie Adrian mit Lydia umging, und ich stellte fest, dass die beiden eine sehr innige, geschwisterliche Beziehung hatten. Adrian vergötterte seine kleine Schwester, er hätte ihr wahrscheinlich Sterne vom Himmel geholt, wenn sie danach gefragt hätte. Sie war unglaublich schlau und wusste so viele fachliche Dinge, von denen ich nie im Leben etwas gehört hatte. Jedes Mal, wenn sie mir irgendetwas Neues erzählte, saß ich da und bestaunte die Kapazitäten ihres Gehirns. Lydia war ausgesprochen liebenswert, ein wenig schüchtern vielleicht, aber auch sehr neugierig. Ich verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, mich mit ihr über mein Germanistik-Studium zu unterhalten.
 

Und Adrian … war Adrian. Jedes Mal, wenn wir uns bei einem Gespräch mit seinen Eltern meinen Eltern näherten, lenkte er die Konversation auf ein anderes Thema und passte auf, dass mir keine unangenehmen Fragen gestellt wurden. Er coverte ständig irgendwie für mich. Er war immer zuvorkommend, zurückhaltend, geduldig. Ich verging fast dabei. Vor allem, wenn ich daran dachte, dass ich dabei war, ihn an ein Mädel vom Speed-Dating zu verlieren. Das hatte ich nun davon, dass ich mich in ihn verguckt hatte.
 

Ich gab mich damit zufrieden, ihn völlig ehrlich, ungeschminkt und privat zu erleben. Ich empfand es als Privileg. Und ich war tatsächlich ein wenig schadenfroh, immerhin war ich jetzt über Weihnachten 24/7 mit Adrian zusammen, während seine neue Flamme ihn mindestens zwei Wochen lang nicht sah.
 

An Heiligabend verbrachten Adrian und ich den Vormittag und Teile des Nachmittags allein im Haus, da Adrians Eltern in der Kirche und anschließend bei Freunden waren. Seitdem Adrian an unserem ersten Tag in Hannover mitbekommen hatte, dass ich früher wach wurde, stand er mit mir zusammen auf. Meistens lag er nach dem Aufwachen noch eine halbe Stunde rum, während ich im Bad war, mich wusch und umzog. An diesem Tag aber war er vor mir aufgestanden und ich hörte ihn in der Küche lauthals zum aufgedrehten Radio vor sich hin singen. Wenn ich sang, klang ich wie eine Katze, der man den Schwanz absägte. Adrian hingegen war gar nicht mal so ein schlechter Sänger, zur Karriere in der Musik reichte es aber dennoch nicht.
 

Ich hatte die Zeit für eine Dusche genutzt und stand danach in seinem Zimmer und rieb meine Haare handtuchtrocken, als Adrian die Tür aufstieß. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er mich sah. Ich war zwar nicht komplett nackt, aber es schien ihn doch unerwartet zu treffen.
 

Adrian selbst trug eine dunkle Jeans und ein olivgrünes, langärmeliges Oberteil mit V-förmigem Ausschnitt. Er konnte anziehen, was er wollte, ich hechelte ihn gedanklich immer an, aber dieser Aufzug … brachte mich dazu, mich beinahe an meiner eigenen Spucke zu verschlucken. Herrgott, ich musste mich langsam wirklich mal unter Kontrolle kriegen, sonst würde das nicht gut enden …
 

»Sorry«, murmelte er. Ich brachte ein Grinsen zustande.
 

»Kein Problem«, erwiderte ich und legte das Handtuch zusammen. »Ich bin gleich fertig.«
 

Adrian nickte nur und starrte mich weiterhin an. In meinem Bauch fing es an, wie wild zu kribbeln, ich verfluchte mich selbst. Das hatte nichts zu bedeuten. Man konnte einfach so jemanden ansehen, ohne dass es gleich hieß, dass man auf die Person stand. Trotzdem überrollte mich der Gedanke, dass Adrian vielleicht gerade seine sexuelle Orientierung überdachte, wie ein Tsunami. Blödsinn, sagte ich mir. Warum sollte er? Doch dieser Gedanke ließ sich nicht so einfach beiseite schieben.
 

Ein Funken Hoffnung flackerte in mir auf. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und versuchte mich abzulenken, ehe ich über Adrian herfallen konnte. Nachdenklich strich ich über mein Gesicht und bemerkte, dass ich mich in den letzten paar Tagen nur sehr nachlässig um meine Gesichtspflege gekümmert hatte.
 

Ich fragte Adrian nach Rasierschaum und verzog mich anschließend hastig ins Bad, um mich zu rasieren. Es gelang mir sogar, beim Rasieren nicht an FSK-18-Material zu denken, das hätte nur zu hässlichen Schnitten in meinem Gesicht geführt. Aber kaum, dass ich meinen Rasierer aus der Hand gelegt hatte, fantasierte mein Hirn automatisch wieder los. Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare. Wie es sich wohl anfühlte, richtig durch seine Haare zu streichen? Oder seine Lippen oder seinen Bauch oder seinen Arsch oder …
 

Ich drehte das Wasser bis zum Anschlag auf heiß und hielt kurz meine Hand darunter. Vor Schmerz japsend zog ich sie wieder zurück. Zumindest hatte es geholfen. Danach ging ich runter zum Frühstück.
 

Der Tag war recht ereignislos, Adrian und ich schauten uns diverse Filme auf DVD an. Wir hingen im Wohnzimmer auf dem Sofa dicht nebeneinander und lagen mehr, als dass wir saßen. Adrians Knie drückte gegen meins, unsere Schultern berührten einander und seine Hand lag so nah an meinem Oberschenkel, dass ich seine Finger an meiner Hose spüren konnte. Als Adrians Familie wieder da war, erzählte Herr Rohlfing begeistert über Panzer und Adrian spielte eine Runde Schach gegen Lydia. Er stellte sich ziemlich schrecklich dabei an, sodass Lydia ihn in drei Zügen Matt setzte. Ich konnte mich vor Lachen kaum einkriegen.
 

Als Adrian mir später am Abend, als wir alle im Wohnzimmer saßen und die Geschenke auspackten, ein Päckchen in die Hand drückte, wallte das Kribbeln in mir erneut auf. Allein, dass er sich die Mühe gemacht hatte, mir etwas zu Weihnachten zu besorgen, knockte mich vor Freude beinahe aus. Er hatte es ganz sauber in Weihnachtspapier eingepackt. Vorsichtig löste ich den Klebestreifen und wickelte das Geschenk aus. Es war Tron Legacy auf DVD. Ich musste unweigerlich lächeln.
 

»Ich hoffe, die hast du noch nicht«, sagte er mit gerunzelter Stirn und machte sich offenbar Sorgen darum. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und verschwieg ihm die Tatsache, dass ich mir gerade heute den Film bei Amazon bestellt hatte. Aber das war kein Ding, ich konnte die Bestellung problemlos stornieren.
 

Ich griff nach dem Geschenk, das ich für Adrian besorgt hatte, und reichte es ihm. Es hatte ein wenig gedauert, bis mir eingefallen war, was ich ihm schenken konnte, und ich war mich nicht sicher gewesen, ob es ihm wirklich gefallen würde. Aber im Endeffekt war mir nichts Besseres eingefallen: ein Poster des Taj Mahal. Vor einem Jahr war ich mit meinen Eltern in Indien gewesen und meine Mutter hatte eine großartige Aufnahme des Mausoleums gemacht. Adrian hatte in einem unserer ersten Gespräche erwähnt, dass er das Taj Mahal unbedingt einmal mit eigenen Augen sehen wollte, und dass ihn Indien generell interessierte.
 

Behutsam packte er die Rolle aus. Seine Augen wurden groß, als er das Poster auseinanderrollte und betrachtete. Aufmerksam ließ er seinen Blick über die Aufnahme wandern. Er sah so fasziniert aus, dass ich erleichtert aufatmete. Es war wohl das genau Richtige gewesen. Lächelnd beobachtete ich ihn dabei, wie er das Bild studierte.
 

Frau Rohlfing fragte mich, ob ich schon einmal in Indien gewesen wäre, und nachdem ich bejaht hatte, begann sie ein Gespräch über das Land mit mir. Sie war während ihres Studiums einmal in Indien gewesen und seitdem war sie hin und weg. Von ihr hatte Adrian wohl die Faszination für Indien. Ich lächelte. Es war schön, wenn die Begeisterung des einen auf den anderen überging.
 

Es war schon ziemlich spät, als wir ins Bett gingen. Ich war vor Adrian im Bad gewesen und während er sich dorthin verzog, setzte ich mich aufs Bett, nahm meinen Laptop und rief Amazon auf, um meine Bestellung zu stornieren. Danach loggte ich mich bei Twitter ein.
 

Bestes Geschenk: As Gegenwart & Tron2 von ihm. Die letzten Tage war ich sorglos wie lange nicht mehr. As Präsenz tut gut. #hakunamatata
 

Als Adrian wieder ins Zimmer kam, schloss ich alle geöffneten Fenster, fuhr den Computer herunter und klappte ihn zu, ehe ich ihn weglegte. Adrian schaute mich kurz an, dann klemmte er wieder die Pumpe an die Matratze um Luft nachzupumpen.
 

»Wie bist du auf die Idee mit dem Taj Mahal gekommen?«, fragte er mich währenddessen.
 

»Du hast es mal erwähnt«, antwortete ich. »Dass du es mal sehen möchtest und so.«
 

»Daran erinnerst du dich noch? Ich hab’s doch nur mal mit einem Nebensatz erwähnt oder so«, meinte er erstaunt. Ich grinste und zuckte mit den Schultern. Er war niedlich, wie er sich darüber wunderte. Es war ja nun nicht so, als würde alles, was er mir erzählte, völlig an mir vorübergehen.
 

»Ich höre eben zu«, sagte ich.
 

»Danke«, meinte Adrian schließlich. »Es sieht toll aus.«
 

»Ich hab es nur in Auftrag gegeben«, sagte ich langsam und plötzlich war sie wieder da, die Kälte, die über mich hinwegrollte, wenn ich an meine Eltern dachte. »Meine Mutter hat das Foto gemacht. Ihr gebührt der Dank.«
 

Adrian löste die Pumpe und schloss das Ventil an der Matratze, bevor er sich setzte. Er sah wieder so aus, als würde er sich schuldig fühlen; als wollte er irgendetwas sagen, um es leichter zu machen, aber es kam nichts. Er wusste, dass ich keine beruhigenden Worte hören wollte. Aber es war wohl normal, dass man irgendetwas sagen wollte in so einer Situation.
 

»Du musst nicht …«, setzte er wieder an. Ich schüttelte den Kopf und sah auf meine Hände.
 

»Schon okay«, meinte ich nur, tief Luft holend. »Meine Therapeutin meint, es wäre gut, wenn ich darüber rede. Es würde mir helfen, die ganze Sache besser zu verarbeiten.«
 

Ich schaute Adrian wieder an. Er sah verdutzt aus, damit hatte er offenbar nicht gerechnet. Was er jetzt wohl von mir hielt, dass ich bei einem Seelenklempner war? Für total bekloppt wahrscheinlich. Aber wenn ich jetzt schon mal bei der Wahrheit war, konnte ich ihm auch gleich alles erzählen. Adrian hatte schon zur Genüge und darüber hinaus bewiesen, dass ich ihm vertrauen konnte und dass er weder mit Fragen bohrte noch irgendwelche Mitleidsgestiken auspackte.
 

»Ich bin wegen des Todes meiner Eltern in psychotherapeutischer Behandlung. Noch nicht sehr lange. Am Anfang dachte ich noch, dass ich damit alleine klarkommen würde, aber irgendwann hab ich gemerkt, dass es nicht geht. Deswegen dachte ich … ein bisschen Hilfe kann sicherlich nicht schaden.«
 

»Tut es das?«, erkundigte Adrian sich leise.
 

»Es ist besser geworden«, antwortete ich wahrheitsgemäß und lächelte leicht. Adrian nickte schweigend. Er sagte nichts weiter dazu, sondern saß nur da und lauschte. Und dann überkam es mich. Ich wollte ihm alles erzählen. Weswegen ich Germanistik abgebrochen und Medizin begonnen hatte, warum ich keinen Alkohol trank und … einfach alles.
 

»Ich studiere wegen meiner Eltern Medizin«, begann ich dann und sah ihn an. »Kurz nach ihrem Tod saß ich in einer Germanistik-Vorlesung und hab mich plötzlich gefragt, wem dieser Kram etwas bringt. Es erschien mir alles auf einmal so sinnlos, deswegen hab ich mich dann für Medizin beworben.«
 

Adrian hörte mir aufmerksam zu, als sich sein Gesichtsausdruck auf einmal verändert. Etwas wie Erkenntnis legte sich auf seine Züge.
 

»Du trinkst wegen deiner Eltern keinen Alkohol, oder?«, meinte er dann. Ich lächelte und nickte.
 

»Es war ein Unfall«, fuhr ich schließlich fort und sah dabei wieder auf meine Hände. Adrian schaltete das Licht aus, sodass nur noch der Lichterbogen den Raum erhellte. »Im Februar. Sie waren bei Freunden gewesen. Der Unfall ist auf dem Weg nach Hause passiert. Irgendwann zwischen neun und zehn, haben mir die Polizisten später gesagt. Ihnen ist ein Geisterfahrer entgegengekommen. Mein Vater hat das Lenkrad herumgerissen, aber der Typ am anderen Steuer auch, beide in dieselbe Richtung. Sie sind ineinander gekracht.«
 

Ich holte tief Luft, während die Erinnerungen von dieser Nacht durch meinen Kopf geisterten. Der Anruf der Polizei, die Erklärung, dass meine Eltern einen Unfall gehabt hätten, kritischer Zustand, Krankenhaus …
 

»Mein Vater ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Meine Mutter ist operiert worden, aber die Schwellung in ihrem Hirn war zu groß und konnte nicht unter Kontrolle gebracht werden. Die Ärzte haben sie für hirntot erklärt. Na ja, meine Mutter hatte mich als die Person eingetragen, die im Zweifelsfall über lebenserhaltende Maßnahmen entscheiden sollte, neben meinem Vater.«
 

Ich fuhr mir durch die Haare. Die Erinnerung an meine Mutter in diesem Krankenhausbett, angeschlossen an ein Beatmungsgerät und diverse andere Maschinerie hämmerte unerbittlich auf mich ein. Ich versuchte, nicht weiter an dieses Bild zu denken.
 

»Der andere Fahrer war so ein junger Typ. Er ist betrunken gefahren, mit dem Auto seines Vaters. Bis auf einen einfachen Beinbruch ist ihm nichts passiert. Nur die Karre war Schrott«, fügte ich hinzu. Als mir das damals erzählt worden war, hatte ich fast angefangen zu schreien. Das war so absurd, so unglaublich und so gnadenlos unfair, dass ich diesen Kerl am liebsten in einen Kernreaktor geworfen hätte. Dass er auf jeden Fall ein Verfahren am Hals hatte, wegen fahrlässiger Tötung oder was weiß ich, war mir in diesem Moment total egal, weil es keine angemessene Strafe für ihn gab.
 

Bis dieser Typ irgendwann einmal vor meiner Tür gestanden hatte. Sein Bein hatte tief in einem dicken Gipsverband besteckt und er war auf Krücken gelaufen. Als ich ihn gesehen hatte, hatte ich nicht übel Lust gehabt, mit einer seiner Krücken auf ihn einzuprügeln, stattdessen hatte ich ihn ins Haus gelassen. Er hatte geheult. Er war völlig am Ende mit den Nerven gewesen. Und er hatte es ernst gemeint. So etwas konnte man nicht schauspielern. Das machte es natürlich nicht ungeschehen und es löste meine Probleme nicht, aber es veränderte etwas in mir. Ich hatte diesem Typen verzeihen können, meine Wut war verschwunden. Seitdem schwelgte ich in Trauer.
 

»Ich hab aufgehört Alkohol zu trinken, damit ich zu keinem einzigen Zeitpunkt irgendwie in Versuchung kommen kann, betrunken oder angetrunken zu fahren«, erklärte ich, bevor ich Adrian wieder ansah. Aufmerksam betrachtete er mich, ein gemäßigter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Die erste Zeit war die schlimmste. Meine Freunde und Bekannten haben ziemlich schnell davon erfahren, natürlich, und es hagelte von allen Seiten Beileidsbekundungen, alle haben ständig gefragt, wie es mir ging und wie ich mich fühle, immer diese Blicke, immer diese Vorsicht, als hätten sie Angst gehabt, ich würden jeden Augenblick einen Nervenzusammenbruch haben. Deswegen bin auch aus Berlin weg. Ich musste einfach weg in eine neue Stadt, ein mehr oder minder neues Leben aufbauen, mein Ich wiederfinden und neu erfinden. Ich musste weg von dort und irgendwo hin, wo niemand mich kannte, damit mich niemand mehr wehleidig ansah und wo ich nicht mehr der arme Junge war, der seine Eltern verloren hatte.«
 

Ich sah ihn aufmerksam an. Adrian strich nachdenklich über seine Knie. Ich konnte kein Mitleid, kein Bedauern in seinem Gesicht erkennen. Es war erleichternd. Nicht nur, dass er mich ganz normal behandelte, sondern auch es ihm erzählt zu haben. Beinahe fühlte es sich an, als wäre eine große Last von mir abgefallen. Ich hatte nur mit Dr. Martens darüber gesprochen, aber das war nicht dasselbe. Richard und Henri hatten mir ständig versichert, dass ich mit ihnen darüber reden konnte, und das wusste ich, aber sie hatten es so oft gesagt, dass ich irgendwann das Gefühl bekommen hatte, dass sie mich dazu bewegen wollten, wirklich mit ihnen zu sprechen. Adrian hatte gesagt, dass ich ihm alles erzählen konnte, aber er hatte es nur einmal erwähnt und sonst geduldig gewartet und einfach zugehört. Er zeigte mir kein Mitleid, er versuchte nicht, es mir irgendwie schön zu reden, er tat nicht so, als würde ich jeden Moment durchdrehen vor Trauer.
 

Ich seufzte. »Keine Mitleidsbekundungen?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.
 

»Keine Mitleidsbekundungen«, versicherte Adrian kopfschüttelnd.
 

»Keine wehleidigen Blicke?«
 

»Negativ.«
 

»Keine Samthandschuhe?«
 

»Nope.«
 

Ich seufzte erleichtert auf und lächelte ihn dankbar an. »Danke, Adrian. Dafür, dass du meine Launen ertragen hast und mich nicht gedrängt hast, fürs Covern, fürs Zuhören und … vor allem danke dafür, dass du mich mit hierher genommen hast. «
 

»Keine Ursache«, sagte Adrian milde und lächelte mich aufmunternd an. »Jederzeit.«
 

Während ich ihn anschaute und dieses leichte Gefühl genoss, fragte ich mich — und das nicht aus Gehässigkeit, sondern in vollem Ernst —, ob das Mädchen, das Adrian sich angelacht hatte, überhaupt zu schätzen wusste, was für ein wunderbarer Mensch er war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von:  Schniefe
2011-09-02T09:58:31+00:00 02.09.2011 11:58
Der arme Raphael, er ist echt gebeutelt vom Schicksal =(
Von: abgemeldet
2011-08-31T10:17:27+00:00 31.08.2011 12:17
Ich hatte mich tatsächlich unrettbar in einen Hetero verknallt. Ohne es zu wollen. Was war ich doch für ein Trottel.

Es tut mir leid, aber AWWWWWWW! *Q* <3 <3 <3
Raphael ist ja sowas von wunderbar und niedlich ^-^! Und ich hatte Recht, er steht wirklich schon die ganze Zeit auf Adrian! WAHAHAHAHA XDDDD!

Und weil du das Video so mochtest, hier noch etwas für dich, das meine momentane Gefühlslage ganz exzellent ausdrückt^^!

Ach ja. Ich hab ja noch einen "Gutschein" für einen OS zu Your Smile, oder? Wäre es theoretisch möglich, ihn auf "Schwanenflug & Phönixasche" zu übertragen? Zu den beiden würden mir nämlich haufenweise Szenen einfallen, die du mir zu gern aufschreiben kannst ^-^
Von:  W-B-A_Ero_Reno
2011-08-01T16:07:48+00:00 01.08.2011 18:07
Endlich einmal Raphaels Sicht <3 Es ist ja so aufschlussreich, wenn man einmal in sein Köpfchen blicken kann. Er ist also Hals über Kopf in den guten Adrian verliebt =) Das finde ich sehr süß, aber es muss für ihn auch sehr sehr schwer seine seine Gefühle zu unterdrücken und nicht direkt um Adrian zu kämpfen, jetzt wo er sich etwas mit Amita angenähert hat.
Das erinnert mich an eine Stelle aus einem meiner Lieblingsbücher (vllt seh auch nur ich den zusammenhang aber egal^^)
"I can't just storm in and proclaim my intentions. I can't 'steal' you away. I just have to wait and hope that, someday, you'll ask."
"And if I don't?" Laurel said, her voice barley above a whisper.
"Then I guess I'll wait forever." -Aprilynne Pike (Spells)

hoffe du schreibst noch so ein tolles Kapitel aus Raphaels Sicht!

Alles Liebe
Reno
Von:  Yeliz
2011-07-25T09:38:55+00:00 25.07.2011 11:38
Hey, ich habe mich gefreut zu erfahren, dass du dieses Kapitel noch aus Raphaels Sicht geschrieben hast und ich bin wirklich mehr als zufrieden damit! (:

Es war so angenehm seine Gedankengaenge und seine Gefuehl zu verarbeiten und sich in seine Lage zuversetzten.
Jetzt sind auch einige Fragen geklaert, die mich ja schon laenger geplagt haben ^>^" !

Danke'schoen fuer dieses Kapitel! Ich fand es interessant von Raphaels Sicht zu lesen, wie er mit dem Tod seiner Eltern umgeht und auch der Anfang war sehr gut gewaehlt. Ich konnte mir vorstellen, wie schwer es fuer ihn ist und dass es natuerlich soviel in ihm bewegt hat.

Ich habe die ganze Zeit so den verdacht gehabt, dass Raphael schon weit mehr fuer Adrian, als nur Freundschaft empfindet, aber ich fand es so schoen zu lesen, wie er sich fuehlt. Dieser verliebte Raphael mit seinen ganzen Gedanken gibt mir ein total flauschiges Gefuehl in der Magengegend. (:

Ein groszes Lob an dich und ganz liebe Gruesze.

Liza
Von:  Bloody_princess
2011-07-25T05:52:10+00:00 25.07.2011 07:52
Hey,
ich bin echt froh das du diese One-Shot-Reihe gestartet hast!

Da kann man das Kapitel mal aus einer ganz anderen Sichtweise lesen!

Und ich bin ehrlich gesagt überrascht, wie sehr Raphaels Sichtweise sich von Adrians unterscheidet! Nicht nur vom "anzüglichen" her, sondern auch wie er sich ausdrückt...

Na ja,
auf jedenfall war ich ehrlich überrascht wie sehr er Adrian
eigentlich schon "vefallen" ist! Merkt man ihm ehrlich gesagt
bei Adrians Sichtweise überhaupt nicht an!

Davon ist, finde ich zumindest, bis auf ein, zwei kleine Andeutungen
nicht sonderlich viel davon zu sehen...

Na ja egal!
Auf jedenfall ein super Kapitel!
Und ich freu mich schon wenn du wieder ein's schreibst! :D

Bis zum nächsten Mal!
Liebe Grüße,
Bloody princess! <3
Von:  Minouett
2011-07-24T22:02:18+00:00 25.07.2011 00:02
Irgendwie tut es gut mal was von Raphs Seite zu hören...
Normalerweise bin ich skeptisch, wenns darum geht dieselben Situationen aus der anderen Position zu hören, weil es einfach langweilig ist, das selbe noch mal zu lesen...
Aber du hast den Bogen gut hinbekommen und es war echt schön einfach mal in seine Gedankenwelt quasi abzutauchen.
Anders als RockFee bin ich nicht sicher, wie hetero Adrian wirklich ist. Natürlich spielt Wunschdenken mit, wer will die beiden nicht zusammen sehen? XD
Aber ich finde die Beziehung zu Raph (schon allein wegen der Kapitel jetzt), dreimal so tief wie zu Amita. Und dieser Moment in dem er Raph angestarrt hat, war jetz für mich nich ganz hetero...Er braucht einfach Zeit, denk ich...hoff ich...(Omg wehe das wird nichts ;_;")

Nein okay. Egal wie es ausgeht, es macht Spaß zu lesen und ich würd mit jedem Ende zufrieden sein, weil ich jetzt schon überzeugt bin, dass du als Autorin es schon ins rechte Licht rücken wirst :)
Ich freu mich auf weitere Kapitel!
Von:  RockFee
2011-07-24T16:19:00+00:00 24.07.2011 18:19
Schön, ein Kapitel aus Raphaels Sicht zu lesen. Wenigstens ist jetzt eindeutig, dass er schwul ist und auf Adrian steht. Bisher war das zwar zu vermuten, aber eben nicht eindeutig klar.

Ich finde es toll, dass Adrian so mit Raphaels Trauer umgehen kann, wie Adrian es braucht.

Nur, wie Adrians Beziehung zu Mimi zeigt, ist er wirklich hetero. Gut, das mit Amita läuft bisher eher unter dem Begriff "Freundschaft". Mehr wird es aber zwischen den beiden Jungs wohl auch nicht werden, oder?
Ich lass mich von dir überraschen.

lg
Von:  SessyFuchs
2011-07-24T13:26:02+00:00 24.07.2011 15:26
Hey,

Ich kann mich Cess nur anschließen^^ du hast wirklich einen Wunderbaren Schreibstil.
War der Name der Therapeutin eigentlich Absicht? Denn jetzt habe ich Lust mir Schuhe zu kaufen...

Liebe Grüße
sessy
Von:  tamci
2011-07-24T12:51:44+00:00 24.07.2011 14:51
Hallöchen :3

Mir hat dieser kleine OS sehr gefallen. Obwohol, klein kann man ihn nicht nennen, denn er hatte ja schon eine ganz schöne Länge. Ich muss sagen, dass ich deinen Schreibstil einfach nur total genial finde. Kenne nicht viele Autoren, auf Animexx, die so flüssig schreiben. Nun gut. Was soll ich sonst noch so schreiben. Raphael tut mir leid, was mit seinen Eltern passiert ist. Ich kann sehr verstehen, dass er nicht immer diese Mitleidstour haben möchte. Geht einen bestimmt ganz schön auf den Sack.
Adrian 'kümmert' sich sehr toll um ihn. Kein Wunder, dass Raphael ihn so viel anvertraut. Er braucht auch einfach mal eine Schulter zum anlehnen. Gut.
Ich freue mich jetzt schon auf mehr :)

Liebe Grüße

tamci


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