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Lebenswert

ein alternatives Ende
von

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Wohlverdiente Rache

Blut hatte seine Kleidung durchtränkt, klebte in seinem Haar und lief ihm warm über das bleiche Gesicht. Das Blut Richter Turpins. Nach all den Jahren hatte dieser endlich sein verdientes Schicksal erhalten!

Genießerisch kostete Sweeney Todd den Nachklang seiner Rache aus, während er versonnen seinen Freund in die Höhe hielt. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, nun sollte er ruhen. Doch bevor er das blutbesudelte Rasiermesser der ewigen Ruhe übergeben konnte, drang plötzlich ein Geräusch an sein Ohr, das klar und deutlich in seinen vom Wahnsinn getrübten Gedanken widerhallte.

Ruckartig wandte er sich um. Sein Blick fiel auf die Truhe, deren Deckel unmerklich angehoben war. Wieder spürte er, wie ihm jegliche Kontrolle entglitt. Hatte er anfangs noch geglaubt, seine Mordgelüste würden mit Vollendung seiner Rache getilgt sein, so wurde er nun eines Besseren belehrt.
 

Langsam richtete Sweeney sich auf und schritt auf die Truhe zu. Seine Gedanken waren zäh und doch zerrannen sie wie Wasser zwischen den Fingern. Einzig und allein die Gewissheit blieb zurück, erfüllte ihn voll und ganz. Die Gewissheit, dass es nicht vorbei war – noch nicht.

Mit einem heftigen Ruck stieß er den Truhendeckel auf und starrte auf einen Jungen, der sich ängstlich zusammengekauert hatte und voller Furcht unter dem Rand seiner Schirmmütze zu ihm empor spähte.

„Willst du dich rasieren lassen, mein Junge?“

„N-nein, ich …“, doch bevor der Bursche mit seinem Anliegen herausrücken konnte, hatte Sweeney ihn schon gepackt. „Jeder kann eine Rasur gebrauchen“, erwiderte er mit unheilschwangerer Stimme, zerrte den Jungen aus der Truhe und stieß ihn grob auf den Rasierstuhl, auf dem wenige Minuten zuvor Turpin sein Ende gefunden hatte. Sweeney wollte keine Zeit verlieren. Dieses neugierige Bürschlein sollte dem elenden Richter folgen!

In einer geübten Bewegung holte er aus und erstarrte.
 

Ein markerschütternder Schrei drang an sein Ohr, riss ihn für einen winzigen Moment aus seinen von Rache getrübten Gedanken. Es konnte sich nur um Mrs Lovett handeln, die da geschrien hatte. Ob was geschehen war? Flüchtig entsann er sich wieder seines unfreiwilligen Kunden. Warum musste diese Frau immer im falschen Moment dazwischen kommen?

Erneut widmete sich Sweeney der schmächtigen Gestalt des zu Tode geängstigten Jungen. Und plötzlich handelte sein Körper wie von selbst. Statt sein Rasiermesser dem Genuss des frischen Blutes zu übergeben, beugte er sich vor und hielt es drohend vor das zarte Gesicht. Sein mordlüsterner Blick bohrte sich in den der furchtsam dreinblickenden blauen Augen, als er zischte: „Vergiss mein Gesicht!“

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ mit großen Schritten den Barbier Salon. Die Schreie im Keller waren wieder verstummt. Dennoch beschlich ihn das ungute Gefühl, auf schnellstem Wege dorthin zu müssen. Etwas war dort unten, etwas von höchster Wichtigkeit.

Der Junge im Barbier Salon hingegen konnte warten. Wenn er noch nicht die Flucht ergriffen hatte, so würde Sweeney ihn bei seiner Rückkehr umbringen. Ansonsten würde ihn das soeben Erlebte heimsuchen, in den tiefen Schatten der Nacht auflauern und Albträume bescheren. Ob er sich in seiner Angst an die Gesetzeshüter wenden würde, war fraglich. Aber selbst wenn, was machte das schon aus?
 

Sweeney hatte die Kellertür erreicht. Sie stand offen und gab den Blick auf Mrs Lovett frei, die sich mit einem Leichnam abmühte.

„Warum haben Sie geschrien?“, fragte er, als er den Keller betrat.

Erschrocken sah Mrs Lovett auf, hielt dabei jedoch nicht inne, die Leiche fortzuzerren. „Ach nichts. E-er hat nach meinem Kleid gegriffen, aber jetzt ist er hinüber.“

Sweeneys Gesicht verfinsterte sich. Es war eine Sache zu behaupten, er übe seine Arbeit nicht sorgfältig genug aus, zumal er bei Turpin ein wahres Blutbad veranstaltet hatte, aber war es etwas ganz anderes ihn mitten beim Morden wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten zu stören! Wut brodelte in Sweeney auf und während er Mrs Lovett weiterhin beobachtete, fasste er einen Entschluss.
 

„Ich erledige das“, bestimmte er und ging auf die Leiche zu, die er für Turpin hielt. Ungehalten stieß er Mrs Lovett beiseite, als sie keinerlei Anstalten machte, von dem Leichnam zu weichen. „Machen Sie auf“, befahl er und schob sich die Ärmel hoch, bereit den toten Körper seinem endgültigen Schicksal zu übergeben. Es war ohnehin am besten, würde er sich eigenhändig um dessen Entsorgung kümmern. „Öffnen Sie die Tür habe ich gesagt!“

Da endlich befolgte Mrs Lovett seinen Befehl. Widerwillig trat sie in den Hintergrund zurück und entriegelte die schwere Ofentür. Licht ergoss sich in den dunklen Keller und entriss den Schatten die leblosen Körper, gab dem Betrachter ihre blutigen Gestalten wieder frei.

Geblendet kniff Sweeney die Augen zusammen und sah auf die vermeintliche Leiche des Richters hinab. Es war nicht Turpin! Doch konnte es möglich sein…?
 

Wie in Trance ging Sweeney in die Hocke, den Blick unverwandt auf den Leichnam der Bettlerin gerichtet. Eine dunkle Vorahnung war in ihm erwacht, die wuchs, je näher er dem leblosen Körper kam. Noch war es nicht zu spät, noch konnte er umkehren.

Mrs Lovetts seltsames Verhalten hatte jedoch sein Misstrauen geweckt – Sweeney musste sich Gewissheit verschaffen!

Vorsichtig beinahe schon zögerlich drehte er den ausgemergelten Körper ins warme Licht des Ofenfeuers und strich behutsam das dreckige verfilzte Haar aus dem Gesicht der verwahrlosten Frau. Plötzlich zog sich alles in ihm schmerzhaft zusammen. Der verzehrende Wunsch, das alles nie getan zu haben, übermannte ihn. Der ganze Unglaube, den er kurz zuvor noch empfunden hatte, war mit einem Mal von der grausamen Realität fortgespült. Voller Entsetzen erkannte er, dass sich seine schreckliche Vorahnung bestätigt hatte, der wirre Traum zu einem Albtraum geworden war, der bloß einen einzigen Gedanken zuließ: Das alles durfte nicht wahr sein!

Schreckliche Erkenntnis

Wie nur? Wie konnte ein so kurzer Augenblick alles zerstören? Fassungslos starrte Sweeney auf die Leiche der Bettlerin … seiner Frau. Lucy! Er wollte nicht glauben, was passiert war, nicht akzeptieren, dass er ihr das Leben geraubt hatte und das, nachdem seine Hoffnung, sie je wieder zu sehen, beinahe erloschen war.

Gähnende Leere hatte all seine Sinne verschlungen. Er fühlte nichts mehr. Er konnte bloß wie betäubt auf den Leichnam seiner totgeglaubten Frau starren.

„Lucy“, flüsterte Sweeney mit schmerzerfüllter Stimme. Allmählich begannen sich wieder die Gefühle in ihm zu regen. Er empfand Entsetzen vor dem, was er getan hatte und einen unendlichen Schmerz, der ihn zu zerreißen schien. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, seine schreckliche Tat zu entschuldigen, denn nie und nimmer wäre es ihm in den Sinn gekommen, was geschehen war: Er hatte seine geliebte Frau umgebracht.
 

Und dann durchzuckte ihn die Erkenntnis. Langsam blickte Sweeney auf. All der Schmerz und die Trauer waren verschwunden, als sein Blick auf die Frau fiel, die eigentlich Schuld daran trug, dass er Lucy nicht erkannt hatte und…und. Nein! Es war nie seine Absicht gewesen!

Zorn loderte in den schwarzen Augen Sweeney Todds auf, während er dem Blick von Mrs Lovett begegnete. Diesem Blick voller Bedauern und Mitleid. Was gab es für sie schon zu bedauern? Sie hatte es ihm mit Absicht verschwiegen, da halfen auch die leeren Entschuldigungen nicht mehr, mit denen sie die Stille füllte und die ihn nur noch mehr in Rage versetzten.

Hass wallte in Sweeney auf, pulsierte durch seine Adern und vernebelte seinen Blick, als er sich erhob, seine vor Zorn lodernden Augen starr auf Mrs Lovett gerichtet.

„Sie haben mich angelogen“, flüsterte er tonlos.

„Nein, nein ich habe nicht gelogen“, verteidigte sich Mrs Lovett, die sich ihrer Situation bewusst zu werden schien. „Ich sagte bloß, sie habe sich vergiftet, nie…“

Doch da drangen die Worte gar nicht mehr bis zu Sweeney durch. Langsam schritt er auf die Frau zu, die mit angsterfülltem Gesichtsausdruck versuchte sich herauszureden, immer weiter vor ihm zurückwich, bis ihr Rücken gegen die Kellerwand stieß und sie nicht mehr weiter zurück konnte.

Diesen Moment nutzte Sweeney aus. „Nun kommen Sie her, meine Liebe“, sagte er und winkte sie mit seinen blutbeschmierten Fingern auffordernd heran. „Es gibt nichts zu fürchten.“ Der unmenschliche Ton in seiner Stimme jedoch strafte die Worte Lügen.
 

Alles um ihn herum schien so unwirklich. Wie durch einen Schleier sah er Mrs Lovett seinen Worten Folge leisten und zögerlich die dargebotene Hand ergreifen. Ein Lächeln verzerrte Sweeneys Gesicht, als er sie packte und den Tanz mit ihr begann. Den Tanz, den sie beide schon zuvor getanzt hatten an dem Tag, an dem der verlogenen Frau die geniale Idee mit der Beseitigung der Kunden in Form von Pasteten gekommen war. Doch dieses Mal handelte es sich um einen gänzlich anderen Anlass.

Obwohl es keinen Grund mehr zur Freude gab, versuchte der Barbier die Bäckerin von Gegenteiligem zu überzeugen, sie in Sicherheit zu wiegen. Während er deswegen irgendwelche zusammenhängenden Worte erzählte, welche Mrs Lovetts Vertrauen in ihm stärken würden, war sein Blick die ganze Zeit über starr auf sie gerichtet.

Sweeneys Gedanken drehten sich bloß noch um seinen letzten Akt der Rache und den immer näher rückenden Ofen. Er konnte die Hitze des Feuers schon spüren, das dem düsteren Keller mit seinem schwachen Flackern eine unheimliche Atmosphäre verlieh. Ja, es gab nichts mehr für ihn. Sein ganzer Lebensinhalt, der ihm geblieben war, war mit dem Tode seiner Frau und dem des Richters endgültig erloschen. Seine Welt war zerstört. Da war nichts mehr – niemand mehr…
 

Für einen kurzen Augenblick lichtete sich Sweeneys Sicht wieder und er sah auf Mrs Lovett, die ihm gerade etwas von ihrem Traum, ein Leben am Meer gemeinsam mit ihm, erzählte.

Es war vorbei, aus und vorbei! Wieder verschleierte roter Nebel des Zorns seinen Blick.

„And life is for the alive, my dear!“, rief Sweeney und drehte sich im Takt, der nur ihm und Mrs Lovett bekannt war. „So let’s keep living it.“

Da! Gleich hatten sie den Ofen erreicht! Es waren nur noch wenige Zentimeter, die Hitze des Feuers brannte bereits auf seinem Rücken.

Dumpf hörte Sweeney, wie Mrs Lovett ihm zustimmte, während er die letzte schwungvolle Umdrehung ihres Tanzes vollführte.

„REALLY LIVING IT!“, brüllte er. Sein abgrundtiefer Hass verlieh ihm unmenschliche Kräfte, sodass es ein Leichtes für ihn war, Mrs Lovett zu heben. Doch gerade, als er sie loslassen und den lodernden Flammen des Ofenfeuers übergeben wollte, schrie eine helle Jungestimme: „Mrs Lovett!“

Sweeney spürte, wie sich etwas mit ganzem Gewicht auf ihn warf, was nicht allzu viel war, ihn aber im Augenblick der Überraschung straucheln und die Bäckerin mit zu wenig Schwung loslassen ließ.

Die Flammen griffen nach Mrs Lovetts Kleid, doch gelang es ihr, sich aus dem alles verzehrenden Griff des Feuers zu befreien und die Glut, die in ihrem Kleid steckte wieder zu löschen. Dann starrte sie immer noch zu Tode erschrocken auf das Geschehen, was sich vor ihren Augen abspielte.
 

Sweeney hatte sich an Toby gewandt. Seine dunklen Augen funkelten den Jungen, der seine Rache an Mrs Lovett vereitelt hatte, hasserfüllt an. Das sonst so kalte und ausdruckslose Gesicht war zu einer unmenschlichen Fratze der Wut verzerrt. Wie konnte dieser Junge es wagen, ihn aufzuhalten? Diese Tat würde ihn das Leben kosten!

Der Griff um sein Rasiermesser verstärkte sich, sodass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit schnellen Schritten ging Sweeney auf Toby zu, der sich ihm tapfer entgegenstellte.

„Sie sind ein Monster!“, rief er mit dem Mut der Verzweiflung und wich allmählich zurück, wusste er schließlich, in welcher Gefahr er sich befand.

Doch Sweeney ignorierte die Beschimpfungen des Jungen. Unbeirrt folgte er ihm. Nicht mehr lange und es wäre seinem Opfer unmöglich, weiter zurückzuweichen. Als Toby jedoch die Kellerwand im Rücken spürte, drehte er sich flink um und versuchte an Mr Todd vorbei zur Kellertür zu hechten. Sein Vorhaben scheiterte.
 

Mit jedem Schritt, den Sweeney gegangen war, war er ungeduldiger geworden. Er fühlte förmlich, wie sein treuer Freund in der Hand nach dem Blut Tobys verlangte. Als der Junge nun zu entkommen versuchte, reagierte Sweeney blitzschnell. Er packte ihn am Arm und schleuderte ihn gegen die Kellerwand.

Hart schlug Tobys Kopf auf dieser auf und er sackte mit einem Stöhnen zusammen. Er glaubte schon, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch wurde ihm der Gefallen auf ein schnelles Ende nicht gewährt.

Eisern griff Sweeney nach Tobys Kehle und zog ihn, gegen die Wand gedrückt, auf Augenhöhe hoch. Durch einen schmalen Spalt sah Toby verschwommen auf das unmenschliche Antlitz des Barbiers. Er spürte, wie etwas Warmes, Klebriges seinen Nacken hinunterlief.

Keine Regung des Mitleids, war auszumachen, als Sweeney auf den Jungen starrte. Wenn er glaubte, Mrs Lovetts Tod verhindern zu können, so sollte er nun am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, zu sterben.

Sweeney verstärkte den Druck seines Griffes um Tobys Hals, sodass der Junge kaum mehr Luft bekam. Dann ließ er ihn los und holte aus. Im gleichen Augenblick als Toby seine Lungen röchelnd mit der köstlichen Luft füllte, besiegelte der Barbier sein Todesurteil. Mit einer vertrauten Bewegung schnitt er ihm die Kehle durch.
 

Blut sprudelte hervor, tränkte Sweeneys Kleidung und vertiefte bloß die Farbe, die so schon unverkennbar seine grausigen Taten verriet. Es war ihm jedoch gleichgültig. Der Blick, mit dem er auf sein neuestes Opfer starrte, war leer. Irgendetwas war in dem Moment, in dem aus Tobys Körper der letzte Funke Leben entwichen war, erloschen. Eine alles verschlingende Leere breitete sich in ihm aus und beraubte ihn jeden Gefühls. Schmerzlich und mit voller Härte drang die bittere Erkenntnis in sein Bewusstsein. Er hatte alles verloren, was das Leben lebenswert gemacht hätte und die Menschen um ihn herum, die ihm irgendetwas bedeuteten, waren tot!

Sein blutbeflecktes Rasiermesser fiel klirrend zu Boden.

Sein getrübter Blick irrte durch den Keller. Dieses Mal war es nicht unbändige Wut, die seine Sicht verschleierte, dieses Mal war es der Verlust seines Lebenswillen.
 

Doch halt! Sweeney stockte. Waren wirklich alle tot? Noch nicht! Erst da wurde ihm wieder Mrs Lovett gewahr, die ihn in einem sicheren Abstand zum Ofen beobachtete. Ja, auch sie sollte noch sterben, hatte das Leben nicht mehr verdient.

Langsam schritt Sweeney auf die Frau zu. Alles in ihm fühlte sich an, als sei es aus Blei und jeder Schritt, jede Bewegung kostete ihn mehr Kraft. Er verdankte es schließlich einer unglaublichen Willensanstrengung, dass er nicht einfach zusammengesunken war, um auf das Ende zu warten. Nur der Gedanke, dass er auch noch Lucys Tod rächen musste, zählte und hielt ihn am Leben.

Von diesem Gedanken beseelt, hatte Sweeney Mrs Lovett endlich erreicht. Mit grimmiger Miene starrte er sie an. Doch in seinen dunklen Augen spiegelte sich bloß die Leere, welche in seinem Inneren herrschte, wider. Nicht wie sonst pure Mordlust oder abgrundtiefer Hass.

In einer vertrauten Geste griff der Barbier nach seinem Rasiermesser, nur um feststellen zu müssen, dass es nicht da war, sondern außerhalb seiner Reichweite auf dem Kellerboden ruhte.

Egal! Es gab auch andere Mittel, mit denen er Mrs Lovett das Leben nehmen konnte. Als er jedoch nach ihrer Kehle greifen wollte, taumelte er und hielt sich stattdessen an ihrer Schulter fest. Mit verbissenem Gesichtsausdruck sah er in ihr Gesicht. Sein finsterer Blick, der die Verzweiflung nicht ganz verbergen konnte, begegnete dem der Bäckerin.
 

Diese sah den Barbier mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an. Als sie jedoch seinen Verfassungszustand erkannte, füllten sich ihre dunkelbraunen Augen mit Tränen. Es durfte einfach noch nicht enden! Nicht so!

„Mr T“, flüsterte sie und griff nach seiner eiskalten Hand.

Sweeney spürte die warme Hand auf der seinen und für einen kurzen Moment wünschte er sich, einfach die Augen zu schließen, alles zu vergessen und einzig und allein die wohltuende Wärme zu fühlen. Aber der Wunsch wurde sogleich von seinen Rachegedanken, an die er sich verbissen klammerte, als seien sie seine letzte Rettung, zunichte gemacht.

Unsanft schüttelte er Mrs Lovetts Hand ab. Ihre Tränen entgingen ihm dabei nicht, doch schenkte er ihnen keine Beachtung. Stattdessen wollte er sich von ihr abwenden, um mit seinem „Freund“ Vergeltung zu üben, bis ihm wieder einfiel wie unerreichbar dieser für ihn im Augenblick war.

Dennoch versuchte es Sweeney nicht so zu belassen. Er ließ von Mrs Lovett ab und machte einen Schritt auf sein Rasiermesser zu, als ihn plötzlich ein Schwindel ergriff, der ihn zu Boden zwang. Allmählich verstärkte sich das Gefühl in ihm von einer unbegreiflichen Schwere niedergedrückt zu werden, die ihn nicht mehr atmen ließ. Einem schleichenden Gift gleich hatte sie sich in ihm ausgebreitet, lähmte ihn und erstickte seinen kümmerlichen Rest an Lebenswille.
 

Warum sich nicht einfach hinlegen, auf einen Boden, der mit dem Blut der Opfer seiner eigenen grausigen Taten getränkt war? Warum nicht einfach die Augen schließen und vergessen? Vergessen, wie die Süße eines glücklichen Lebens schmeckte. Vergessen, was geschehen war. Vergessen, wie man atmete, am Leben blieb. Ja, das sollte sie sein. Seine Erlösung! Sweeney schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, als würde eine sanfte Brise sein Gesicht umspielen und gab den Verlockungen nach. Er gab das Leben auf.
 

Es zerriss Mrs Lovett nahezu, ihren geliebten Mr Todd so am Ende zu sehen. In ihr rangen die Gefühle miteinander, als sie langsam in die Hocke ging und sich ihm näherte. Sie musste etwas tun, das war ihr bewusst, denn ansonsten würde sie ihn verlieren. Und das wollte sie um keinen Preis zulassen! Eher würde sie sterben! Nur täte sie das nicht sowieso? Er hatte sich noch nie etwas aus ihr gemacht. Nicht nur das: Hatte sie nicht sogar beinahe durch seine Hand den Tod gefunden? Es war die Angst, die ihr immer noch tief in den Knochen steckte, welche ihr die Zweifel einflüsterte. Sie dazu bringen wollte, Mr Todd aufzugeben und ihr eigenes Leben weiterzuleben. Doch das konnte Mrs Lovett nicht mehr. Sie war schon längst an den dämonischen Barbier verloren, an Sweeney Todd. Ihr Herz schlug immer noch für ihn und es sollte wohl auch weiterhin so sein.

Schließlich hatte Mrs Lovett ihre Zweifel niedergerungen. Ihr letztes bisschen Furcht ignorierend, ergriff sie Sweeneys Arm.

„Mr T“, hauchte sie. „Es ist noch nicht vorbei, ihr Leben ist noch nicht zu Ende.“

Regungslos lauschte Sweeney den Worten. Nur langsam bahnten diese sich einen Weg bis in sein Bewusstsein. Länger brauchte es jedoch, bis er den vollständigen Sinn des Gesagten erfasst hatte. Er sah keinen Grund, warum sein Leben nicht zu Ende sein sollte.

Mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen, schaute Sweeney Mrs Lovett an. „Es ist vorbei, meine Liebe. Was hat das Leben jetzt noch für einen Sinn?“

Aber insgeheim wusste er die Antwort, war da schließlich auch diese Wärme an seinem Arm, diese Wärme, die ihm das Gefühl von Geborgenheit schenkte…

„Sie sollten schon längst tot sein“, fügte der Barbier finster hinzu. Zum Teufel mit der Wärme! Allein Lucy vermochte es, ihn zu retten, nur sie und sie war…tot! Der Gedanke an seine Frau genügte und seine Trübsal hatte ihn wieder fest im Griff.

„Doch bin ich es nicht“, erwiderte Mrs Lovett trocken und fügte mit einem Hauch von Zärtlichkeit in der Stimme hinzu: „Dank Ihnen, Mr T!“

Sweeney wollte darauf keine Antwort geben. Vielmehr plagte ihn die Frage, warum dem so war und die Bäckerin immer noch voller Leben neben ihm hockte.
 

Als Mrs Lovett klar wurde, dass sie keine Antwort erhalten würde, erhob sie sich seufzend wieder. Während sie ihr Kleid glatt strich, meinte sie: „Finden Sie nicht auch, dass es langsam an der Zeit ist, diesen unseligen Ort hier zu verlassen?“

Auch wenn sie damit eigentlich nur den Keller meinte, befand sie sich in Gedanken längst am Meer zusammen mit Mr Todd. Dort gab es keine Sorgen, die sie plagten, sie führten einfach nur ein verdientes glückliches Leben.

Kaum, dass die Worte ausgesprochen waren, befiel Sweeney die Gewissheit, nicht mehr den Keller verlassen zu wollen. Hier war seine Lucy. Bei dem Gedanken huschte sein Blick zu dem schattenhaften Umriss, der kurz vor dem Fleischwolf lag. Schon wieder zog sich alles in ihm zusammen und raubte ihm den Atem.

Es hatte keinen Zweck, das sah Mrs Lovett sofort. Also legte sie sich kurzerhand seinen Arm um den Hals und zwang ihn mehr oder weniger zum Aufstehen. Widerstandslos ließ es Sweeney geschehen. Warum nur konnte diese Frau nie Ruhe geben? Was hatte sie davon, wenn er aus dem Keller herauskam? Gar nichts. Oder?

Trotzdem ließ er sich hinauf in die Küche führen und von dort aus in seinen Barbier Salon.
 

„Vielleicht sollten Sie für heute Nach doch lieber in der Küche bleiben“, meinte Mrs Lovett nach einem kurzen Blick durch den Raum, der immer noch vom schrecklichen Blutbad zeugte. Das würde eine Menge Arbeit bedeuten, ging es ihr durch den Kopf. Doch verdrängte sie diese Gedanken schnell und widmete Mr Todd erneut ihre volle Aufmerksamkeit, der, wie sie es erwartet hatte, keine Antwort von sich gab.

Plötzlich aber kam wieder Leben in Sweeney. Mit einem Mal fiel ihm der Junge ein, der letzte noch verbliebene Zeuge seiner Gräueltaten. Ein kurzer Blick genügte und der Barbier sah, dass der Bursche längst verschwunden war. Dafür jedoch weckte der Anblick seines Barbiersalons die noch frische Erinnerung an seine kürzlich verübten Morde und unweigerlich an Lucy. Lucy… Sweeney unterdrückte ein qualvolles Stöhnen, als sich in seinem Geiste die schreckliche Tat wiederholte. Immer und immer wieder. Er konnte hier nicht die restliche Nacht verbringen. Nicht jetzt!

Sein Schweigen und der Schmerz in den dunklen Augen war Mrs Lovett schließlich Antwort genug. „Kommen Sie“, flüsterte sie und zog ihn sanft mit sich zur Tür hinaus.
 

In der Küche würde er gewiss nicht schlafen können, das war der ihr bewusst. Vor allem, wenn am nächsten Morgen ihre Kunden das Geschäft aufsuchten. Was diese wohl zu einem über und über mit Blut besudelten Barbier sagen würden? So genau wollte Mrs Lovett das gar nicht wissen. Aus diesem Grund führte sie ihn nach längerem Überlegen in ihr Wohnzimmer. Dass die blutgetränkte Kleidung ihr Sofa beflecken würde, daran verschwendete sie keinen Gedanken, als sie Mr Todd auf das weiche Möbelstück setzte.

Eine Weile lang geschah nichts. Keiner der beiden verlor ein Wort oder rührte sich auch bloß einen Zentimeter. Sweeney starrte mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere. In ihm herrschte ein einziges Durcheinander. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte, was er denken sollte, ob er lieber tot oder lebendig sein wollte. Er wollte nur eins: Seine Lucy zurückhaben – und das war unmöglich.
 

Mrs Lovett indessen beschäftigten vielmehr die Probleme, die Sweeneys Rache mit sich gebracht hatte. Im Keller warteten vier Leichen auf sie, darunter die Frau des Mannes, den sie liebte; der Barbiersalon sah schrecklich aus, dort hieß es erst einmal alle Spuren beseitigen, die das Blutbad an Turpin zurückgelassen hatte. Und wie sollte sie überhaupt das Verschwinden des Richters ebenso wie das des Büttels erklären? Doch am wichtigsten war: Was machte sie mit ihrem geliebten Mr Todd, der das Leben so gut wie aufgegeben hatte? Sie wusste es nicht und wünschte vergebens ein bisschen Hilfe von seiner Seite. Stattdessen kam ihr ein anderer Entschluss. An den Barbier gewandt, sagte sie: „Warten Sie hier!“, und verschwand.

Ausdruckslos sah Sweeney ihr nach. Was sollte er auch anderes tun, fragte er sich, doch es war ohnehin egal. Alles war ihm so gleichgültig. Selbst Zeit hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Deshalb konnte er auch nicht sagen, ob Mrs Lovett nun lange gebraucht hatte oder nicht.
 

„Hier bitte“, sagte sie und reichte ihm einen nassen Lappen, den sie zusammen mit einer Schüssel Wasser geholt hatte. „Sie sollten sich wenigstens das Blut aus dem Gesicht waschen, Ihre Kleidung können Sie meinetwegen noch anbehalten.“

Wortlos griff Sweeney nach dem Lappen und wusch sich sein Gesicht. Das kalte Wasser klärte seine Gedanken wieder ein wenig und holte ihn zurück in die Realität. Während sich Lappen und Wasser immer rötlicher färbten, bemühte sich der Barbier vergebelich seine Gedanken zu ordnen und zu entscheiden, was zu tun war.

Währenddessen Mrs Lovett ging wieder in den Keller, um dort mit der zurückgelassenen Arbeit zu beginnen. Ihre Abwesenheit war eine Wohltat für Sweeney. Er konnte es sich nicht erklären, doch verwirrte ihn die Anwesenheit der Frau in diesem Augenblick nur und das konnte er bei weitem nicht gebrauchen. Es war so schon schwierig genug, sein inneres Gefühlschaos unter Kontrolle zu bekommen, da brauchte er nicht auch noch unnötige Ablenkung.

Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er Wohl oder Übel eine Weile lang am Leben bleiben musste, bis er seine Erlösung bekommen würde. Solange gab es bloß eine Aufgaben, die er erfüllen konnte. Rache! Und langsam nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an. Sweeney wusste endlich, wie er seinen restlichen, lästigen Rest an Lebenszeit vollbringen würde.
 

Als hätte Mrs Lovett geahnt, dass er letztendlich wieder zu sich gefunden hatte, kam sie zurück ins Wohnzimmer und legte ihm sein blutiges Rasiermesser auf den Tisch. „Ich weiß nicht, wofür Sie das weiterhin gebrauchen wollen, doch denke ich, dass es nicht die ganze Zeit über im Keller, wo keiner etwas damit anfangen kann, liegen sollte. Finden Sie nicht auch?“

Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, griff Sweeney nach dem Rasiermesser. In dem Moment, als er das mittlerweile so vertraute Metall in seiner Hand spürte, wurde er von der Gewissheit gepackt, dass eine neue Zeit angebrochen war. Eine Zeit, die der vergangenen in ihrer Grausam- und Trostlosigkeit in nichts nachstehen sollte.

Gemeinsam mit dieser plötzlichen Erkenntnis fand eine Wandlung in ihm statt. Nie wieder wollte er sich noch einmal seinen Gefühlen hingeben, sich von ihnen kontrollieren lassen! Nein, von nun an, sollten es Kälte und Gleichgültigkeit sein, die in ihm herrschen würden.

Als der Barbier wieder aufsah, kam es Mrs Lovett vor, als sei er ein anderer. Sein einst so hasserfüllter Blick, gepaart mit einer Mischung aus Schmerz und Leere, war erloschen und einer kalten Gleichgültigkeit gewichen, die keine Gefühlsregung mehr preisgab. Mit ausdrucksloser Miene betrachtete er sein Rasiermesser, seinen treuen Freund, doch selbst ihm gegenüber zeigte er nicht das kleinste Fünkchen Zuneigung, wie es sonst immer der Fall gewesen war.

„Sie werden Hilfe benötigen, wenn Sie bis zum Morgengrauen alle Spuren beseitigt haben wollen“, sagte Sweeney knapp.
 

Erstaunt sah Mrs Lovett ihn an. Bis vor wenigen Minuten hatte sie überhaupt gezweifelt, dass er je wieder ein Lebenszeichen von sich geben würde und nun das… Sie wusste nicht, ob ihr sein neuer Zustand tatsächlich besser gefiel als der alte, depressive, in dem er jedes bisschen Lebenswillen aufgegeben hatte. Der neue jedoch beunruhigte sie vielmehr, machte ihr Angst und gab ihr das schreckliche Gefühl ein Niemand für Mr Todd zu sein.

Schnell beeilte sie sich, eine Antwort zu geben, auch wenn ihn diese wahrscheinlich gar nicht interessierte.

„Ja, da haben Sie Recht, Mr T-…Todd“, entgegnete Mrs Lovett hastig und dieses eine Mal zögerte sie, den Kosenamen für den Mann zu benutzen, der jetzt vor ihr stand. „Vielleicht können Sie mir im Keller helfen – der Richter und auch die anderen tun meinem Rücken nicht sehr gut…“

Sweeney nickte nur und ließ nicht erkennen, was er von ihrem Vorschlag hielt. Er dachte bloß daran, so schnell wie möglich alle Spuren seiner Taten zu beseitigen. Nichts sollte mehr darauf hindeuten, was in dieser Nacht geschehen war.
 

~***~***~***~***~
 

Nach bisherigem Stand der bereits fertigen Kapitel und der, die noch geschrieben werden müssen, wird wohl alle drei Wochen ein neues Kapitel hochgeladen werde. Auf diese Weise wird das hoffentlich ein fließender Ablauf an Kapiteln bis zum Fanficende bleiben. Außerdem muss ich mich noch für den Gebrauch der englischen Lyrics entschuldigen, aber auf Deutsch hätte es für mich einfach nicht gewirkt.

Ansonsten hoffe ich, dass das Kapitel gefallen hat :)

Lg, SweeneyL

Die Idee

Als Sweeney den Keller betrat, beschlich ihn das Gefühl, die Zeit sei an diesem Ort stehen geblieben, nachdem er ihn wieder verlassen hatte. Dem war jedoch keineswegs so, denn Mrs Lovett hatte schon ganze Arbeit geleistet und die Leichen des Richters und die des Büttels etwas abseits gezerrt. Und dennoch, die stickige Luft, die ihm entgegenschlug, rief alle Erinnerungen der letzten Stunden hervor und spielte sie vor seinen Augen in rasender Geschwindigkeit ab. Seine innere Mauer, welche er erst vor kurzem errichtet hatte, bröckelte letztendlich, als sein Blick auf Lucys Leichnam fiel. Mit Mühe kämpfte Sweeney darum, nicht die Fassung zu verlieren und die Kontrolle über sich und seine Gefühle zu bewahren.

Mrs Lovett hingegen bemerkte Sweeneys Zögern sofort und Hoffnung wallte in ihr auf, dass er all das überwinden würde, wenn sie es richtig anstellte. Und mit der Hoffnung kam eine Idee.
 

Vorsichtig trat sie dicht neben Mr Todd. Dem Drängen, seinen Arm zu berühren, gab sie dieses Mal jedoch nicht nach, sondern sagte, den Blick gedankenverloren auf Lucy gerichtet: „Sie hat ein ordentliches Begräbnis verdient, Ihre Frau.“

Die Ablenkung, die dieser Satz mit sich brachte, riss Sweeney aus seinem inneren Kampf heraus. Für einen Moment schien ihm, alles zu entgleiten, doch stattdessen hatte er sich darauf fester als zuvor im Griff.

Nachdenklich musterte er die Frau neben sich, ohne recht zu wissen, was er von all dem halten soll. Er konnte ihre Beweggründe nicht nachvollziehen, vielmehr waren sie ihm unverständlicher denn je und doch wollte etwas in ihm, diesen Vorschlag annehmen. Das hatte seine Lucy verdient. Er würde auch noch nach ihrem Tode dafür sorgen, dass sie bekam, was ihr zustand, ihr … dem Engel, seinem Engel.

„Ja, das hat sie … das und so viel mehr“, erwiderte Sweeney, wobei seine Stimme trotz der Worte emotionslos blieb.

Mrs Lovett presste verbissen die Lippen aufeinander. Sie wollte sich nicht eingestehen, wie sehr diese Worte sie schmerzten. Jedes einzelne war wie eine Ohrfeige für sie und dämpfte ihre Hoffnung erheblich. Nie würde sie das Herz Mr Todds gewinnen, nie! Einzig und allein sein Leben, sein Leben ohne Lucy erträglicher machen, das konnte sie.
 

„Wir werden sehen, was sich machen lässt“, sagte sie, den Ärger unterdrückend, der langsam in ihr hochstieg. Ärger auf ihren unsäglich dummen Vorschlag. „Vorerst aber sollten wir alle Spuren beseitigen.“

Die Antwort von Mr Todd blieb aus. Wortlos ging er auf die beiden Leichen der Männer zu, die sein Leben zerstört hatten. Ein Gefühl der Unwirklichkeit hatte sich in ihm ausgebreitet und es schien, als durchlebe er einen Traum, nichts weiter. Jedoch war alles bloße Realität und das wusste er nur zu gut, weshalb er sich nicht seinen vorgegaukelten Gefühlen hingab, während er auf den Leichnam Turpins starrte, welchen Mrs Lovett soweit vorbereitet hatte, dass er ohne weiteres in den Fleischwolf konnte.
 

Nach getaner Arbeit blickte Sweeney suchend im Keller umher. Irgendjemand fehlte, das wusste er! Bloß wer? Bamford und Turpin waren soweit entsorgt und der Körper seiner geliebten Lucy sollte anders bis zum Jüngsten Tag auf dieser Erde verweilen, doch war da ja schließlich noch der Junge!

Langsam schritt der Barbier zu der Stelle, wo er Toby sein Ende bereitet hatte. Ein Anflug von Missbilligung huschte über sein Gesicht, als er Mrs Lovett über den Jungen gebeugt vorfand. Das konnte nur Probleme bedeuten. Sweeney konnte ohnehin nicht verstehen, was die Frau an Pirellis ehemaligem Gehilfen gefunden hatte. Toby war nur ein dummer Junge gewesen, der zu allem Übel auch noch seine Rache an Mrs Lovett vereitelt hatte.

Bei diesem Gedanken loderte vertraute Wut in ihm auf, doch gab er sich ihr nicht hin, wie er es sonst so viele Male schon getan hatte, sondern verdrängte sie, bis sein Inneres wieder von Leere erfüllt war. Dann ging er langsam neben Mrs Lovett in die Hocke. „Wir werden den Jungen nicht auch noch beerdigen können.“

Überrascht sah sie auf. In ihrer Trauer hatte sie Mr Todd gar nicht kommen gehört. Ihr war bewusst, dass er recht hatte, aber Toby verdiente kein Ende als Pastete! Es war sein guter Wille gewesen, der ihr Leben gerettet und das seine gekostet hatte, nun sollte er nicht auch noch für diese Tat bestraft werden! Schließlich verdiente nicht nur Lucy ein ehrliches Grab, wenn sie dies überhaupt tat, denn was sie einst hatte tun wollen, war Selbstmord gewesen.
 

Und mit einem Male begann Trotz in Mrs Lovett zu erwachen. Ja, sie liebte Mr Todd, sie würde alles für ihn tun und dennoch – sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als das glückliche Zusammensein einer Familie gemeinsam mit ihm und Toby zu führen. Nun war alles zerstört, ihr Traum geplatzt. Warum sollte ihr es wenigstens nicht vergönnt sein, das Bisschen, was noch übrig geblieben war, zu retten?

„Er hätte es verdient“, widersprach Mrs Lovett bedächtig und überlegte fieberhaft, wie sie das Unvermeidliche verhindern konnte.

Gleichgültig zuckte Sweeney die Achseln und ein verächtliches Lächeln huschte auf einmal über sein Gesicht. „Tatsächlich würde doch niemand ein ehrliches Grab verdienen…“

Da er jedoch kein Verlangen spürte, länger mit der Frau über dieses Thema zu diskutieren, fügte er nach einem kalten, abschätzigen Blick auf Tobys Leichnam hinzu: „Aber wenn es Ihr Wunsch ist, lassen Sie sich etwas einfallen, wie Sie dem Jungen die letzte Ehre erweisen wollen.“

Genau das war es, was Mrs Lovett verzweifelt versuchte: Sich etwas einfallen lassen. Nur schaffte sie es nicht. Sie konnte ihren Blick nicht vom leblosen Körper des Jungen lösen. Ihr Kopf fühlte sich leer an, all die unterdrückten Schuldgefühle wallten plötzlich in ihr auf und erstickten die gerade erst erwachten Trotzgefühle. Hätte sie Mr Todd doch nie belogen! Hätte Toby doch bloß nicht versucht, sie zu beschützen! Dann wäre all das vielleicht nicht geschehen und er noch am Leben.

Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Ihr Magen war zu einem dicken, festen Klumpen verkrampft und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, der immer weiter anschwoll, so sehr sie auch versuchte, ihn hinunterzuschlucken.
 

In dem Versuch ihre aufsteigenden Tränen wegzublinzeln, sah Mrs Lovett auf, direkt auf den Ofen, der beinahe ihren Tod bedeutet hätte und stattdessen mehr oder weniger den von Toby gefordert hatte. Nachdenklich verweilte ihr Blick darauf, während in ihrem Kopf ein einziges Chaos herrschte.

Was sollte sie jetzt tun? Wie konnte sie Mr Todd helfen, ihm beistehen, dass er wieder so wurde, wie sie ihn kannte und seine Leere überwand? Wäre Lucy doch bloß an dem Arsen gestorben damals … Dann hätte sie nun nicht das Problem mit der Beerdigung, sie hätte überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt! Alles wäre gut geworden und bald schon wäre sie mit Mr Todd und Toby ans Meer gezogen!

Toby … wieder stiegen Mrs Lovett hartnäckige Tränen in die Augen, die sie krampfhaft unterdrückte. Irgendetwas musste es einfach geben, das sie für den Jungen tun konnte!

Und auf einmal kam ihr eine Idee. Den Blick die ganze Zeit über auf den Ofen gerichtet, wusste sie welche Möglichkeit es noch gab, um dem Jungen wenigstens ein halbwegs anständiges Begräbnis zu ermöglichen – wenn auch ohne Pfarrer.
 

Mrs Lovett bedachte Tobys Leiche noch einmal mit einem schmerzerfüllten Blick. Sie hatte den Jungen sehr gemocht, in ihr Herz geschlossen, als sei es ihr eigener Sohn gewesen. Nun aber, das war ihr bewusst, musste sie das Geschehene ruhen lassen, sie durfte sich nicht darin verlieren! Nein, sie musste stark sein!

Sie atmete noch einmal tief durch, dann stand sie auf und wandte sich an Mr Todd, der weiter abseits auf Lucys Leiche starrte, in qualvollen Erinnerungen verloren.

Langsam ging Mrs Lovett auf ihn zu, stellte sich neben ihn und verweilte eine Weile lang mit ihm schweigend auf der Stelle. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sah zu ihm auf.

„Mr Todd“, begann sie vorsichtig, „vielleicht sollten Sie sich die restlichen Stunden der Nacht über ausruhen, bevor wir für Ihre Frau eine Beerdigung beauftragen.“

„Nein!“

Das Wort zerriss die erdrückende Stille und verhallte erst nach und nach. Blitzschnell hatte Sweeney sich zu Mrs Lovett umgedreht. Seine altbekannte Wut wollte wieder von ihm Besitz ergreifen und nur mit Mühe gelang es ihm, diese zu verdrängen. Doch, als er die Bäckerin ansah, erinnerte sie ihn auch daran, dass Mrs Lovett noch seine Rache zu spüren bekommen musste. Aber nicht jetzt. Später… Er brauchte sie noch – für die Beerdigung zumindest.

Und er wollte nicht länger warten, bis der Verwesungsprozess einsetzte und das Antlitz seiner geliebten Lucy zerstören würde.
 

„Ich brauche mich nicht auszuruhen“, knurrte Sweeney beherrscht, „das hat Zeit. Lucys Beerdigung ist im Augenblick wichtiger! Das sollte Ihnen doch klar sein, oder?“

Mrs Lovett nickte. Etwas wie Erleichterung erfüllte sie. Sie erkannte ihn in seinen Worten wieder – ihren Mr Todd, der starrsinnig eine Sache verfolgte. Nur in seinem Gesicht sah sie, dass etwas in ihm zusammen mit seinem Lebensinhalt gestorben war. „Natürlich Mr Todd. Auch wenn es dafür schon reichlich spät ist…“

„…kann es nicht bis zum Morgen warten!“, beendete Sweeney mit Nachdruck den Satz der Frau und funkelte sie kalt an. Diese eine, kleine, lächerliche Tat, das war das Einzige, was er noch für Lucy tun konnte und das würde er auch! Nichts sollte ihn davon abhalten.

„Wie Sie meinen“, sagte Mrs Lovett ergeben und sah weg. Dennoch konnte sie den kalten Blick Mr Todds auf sich ruhen spüren. „Jedoch sollten wir dann auch keine Zeit mehr verlieren.“

„Was ist mit dem Jungen?“, fragte Sweeney auf einmal skeptisch, der ihrem Blick gefolgt war.

Überrascht sah Mrs Lovett ihn an und tadelte sich dafür sogleich. Selbstverständlich erwies sich ihre flüchtige, närrische Hoffnung, Mr Todd würde doch etwas an Toby liegen, als falsch. Ihr war schnell klar, dass ihm nur daran gelegen war, nicht durch den Jungen irgendwelche Ablenkungen zu erleiden.
 

Mit schwerer Stimme antwortete sie: „Es … es wird wohl das Beste sein, wenn wir … seinen Leichnam verbrennen werden.“

Verstohlen musterte Sweeney die Frau. Ihre Idee, das musste er sich eingestehen, war gar nicht mal so schlecht – nein, sogar ziemlich gut. Sie verstand es wirklich, Leichen so unproblematisch wie möglich zu beseitigen.

„Dann werden wir das so machen“, nickte Sweeney. Einen flüchtigen Moment noch ruhte sein kühler Blick auf Mrs Lovett, dann wandte er sich an den Leichnam seiner geliebten Frau und ging in die Hock. Er konnte nicht anders, er musste ihr noch einmal durch das einst so seidige Haar streichen, mit seinem Finger einer Liebkosung gleich ihr Gesicht entlangfahren. Zum allerletzten Mal.

Danach nahm er den leblosen Körper Lucys langsam und behutsam auf den Arm und machte sich auf den Weg zur Treppe, um diesen schrecklichen Ort hinter sich lassen zu können.
 

„Aber Mr Todd, wo wollen Sie hin? Was ist mit dem Jungen – was ist mit Toby?“, fragte Mrs Lovett beinahe vorwurfsvoll.

Verärgert hielt Sweeney inne. Sein eiskalter Blick, in dem ein Anflug von Ärger glomm, traf den Mrs Lovetts. Ihre Worte hatten die Atmosphäre der Trauer, mit der er sich und seine Lucy umgeben hatte, platzen lassen wie eine Seifenblase.

„Das kann warten“, antwortete er knapp und ging unbeirrt weiter, verließ den Keller mit all den entsetzlichen Hinterlassenschaften seiner grausigen Taten. Was in diesem Augenblick zählte war einzig das Seelenheil seiner geliebten Frau, sonst nichts.
 

Mrs Lovett erkannte Mr Todds Vorhaben und so blieb ihr gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie wollte ihn nicht allein lassen, so irrsinnig dies auch war, konnte ihm schließlich kaum jemand etwas anhaben. Doch in seinem derzeitigen Verfassungszustand… Wer wusste da schon, zu welch unbedachtem Handeln er sich hinreißen ließ? Mit einem leisen Seufzer raffte sie ihr Kleid, verriegelte sorgfältig den Keller und hastete dem Barbier nach.

„Warten Sie bitte einen Moment, Mr Todd“, bat ihn Mrs Lovett, kurz bevor dieser das Geschäft verlassen konnte. Etwas widerwillig unterdrückte er den Drang einfach weiterzulaufen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Ein kleiner Teil von ihm sagte ihm, dass die Frau in diesem Falle wusste, was sie tat und sich ihm vielleicht noch einmal als nützlich herausstellen konnte.

„Es wird nicht lange dauern“, versicherte die Bäckerin schnell, als sie Mr Todds Ungeduld bemerkte und verschwand eilig in ihrem Wohnzimmer. Hastig zog sie dort die Schublade einer alten Kommode auf und durchwühlte den Inhalt auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, das sie letztendlich versteckt in einer der hinteren Ecken fand. Erleichtert griff sie danach, verstaute es in ihrem Mieder, während sie geistesabwesend die Schublade zustieß.
 

Als sie wieder in die Küche trat, ergriff die unerklärliche Angst, Mr Todd sei ohne ein Wort verschwunden, von ihr Besitz. Doch stellte sich ihre Sorge als nichtig heraus. Er stand immer noch an derselben Stelle und schien sich keinen Zentimeter gerührt zu haben.

Nun aber, da Mrs Lovett bereit war, erfüllte ihn eine kribbelige Unruhe, der er nur allzu gerne nachgab. Er konnte nicht länger warten! Seinem Tatendrang folgend, wollte er die Tür öffnen und wurde sich mit einem Mal Lucy in seinen Armen gewahr. Widerwillig wandte er sich an Mrs Lovett und gab ihr mit einem auffordernden Blick zu verstehen, was er von ihr verlangte.

Bedrückt kam sie seiner stummen Aufforderung nach, öffnete die Ladentür und beobachtete ihn. Sah, ihn hinaustraten, eintauchen in die nächtliche Finsternis, die ihn grüßend aufnahm wie einen guten Freund.
 

Zögernd folgte Mrs Lovett dem Barbier, nachdem sie hinter sich das Geschäft verschlossen hatte und kämpfte gegen die aufsteigende Beklemmung an. Noch nie hatte sie sich dabei wohlgefühlt, des Nachts in den Straßen Londons umher zu gehen. Schon bei Tag war das Gesindel beunruhigend, dem man begegnen konnte, wenn man sich nicht gut genug in der Stadt auskannte und versehentlich ins falsche Viertel oder bloß in eine falsche Gasse geriet. In der Nacht hingegen erwachte es zum Leben, des Nachts begann es aufzublühen in einer eifrigen Geschäftigkeit, dann wurden die dunklen Abgründe der Stadt offenbart. Die Pracht wurde verschluckt vom Schatten, den die Begierde der Einwohner auf diese warf und die es nicht mehr länger vermochte den trügerischen Schein zu wahren.

„Mr Todd?“, flüsterte Mrs Lovett in die Dunkelheit hinein, die nur der schwache Schein vereinzelter Gaslampen an den Straßenrändern durchbrach.

Ein unwilliges Brummen des Barbiers gab ihr zu verstehen, dass er willens war, auf ihre kommende Frage zu antworten.

„Sie wissen doch hoffentlich, was sie zu dieser späten Stunde tun.“

Natürlich wusste er das! Schon wieder wollte Ärger in ihm aufwallen. Was gab dieser Frau Anlass, an ihm und seiner Entschlossenheit zu zweifeln? Wieder einmal maß sie sich in seinen Augen viel zu viel an. Dennoch unterdrückte er, so schwer es ihm auch fiel, den Ärger. Er hatte sich geschworen, sich nicht mehr von unbedeutenden Gefühlen kontrollieren zu lassen! Jedoch musste er sich eingestehen, dass dies viel schwerer war als gedacht.

„Ja, weiß ich“, murmelte er schließlich und hoffte die Frau damit ruhig gestellt zu haben.
 

Und das hatte er. Mrs Lovett merkte es Mr Todd an, dass ihm nicht nach Reden zumute war. Sie glaubte, zu verstehen, was er in diesem Moment fühlen musste, weswegen sie sich seinem unausgesprochenen Wunsch fügte und stumm neben ihm herging.

Eine Zeit lang liefen sie schweigend die dreckigen Straßen entlang. Dennoch kam Mrs Lovett nicht umhin, dem Barbier gelegentlich einen heimlichen Blick zu zuwerfen. Sein Anblick ließ ihr Herz höher schlagen und doch; je weiter er voran schritt, desto mehr glich alles einem Traum, desto tiefer schien er von den Schatten verschluckt zu werden. Es war als gehörte er in die Umarmung der Finsternis. Doch jedes Mal wenn das kraftlose Licht einer Gaslampe auf den leblosen Körper in seinen Armen fiel, schien es falsch mit diesem durch die tintenschwarze Dunkelheit zu gehen. Einst war sie ein Engel gewesen und dennoch, er wirkte fehl am Platz in der tiefen Finsternis.

Ja, dachte Mrs Lovett im Stillen, ein Engel war sie – seine Lucy, zerbrochen am grausamen Schicksal, gefallen durch Arsen und nun getragen von ihrem Gemahl, einem Geschöpf der Nacht, dem der Tod mit jedem Schritt folgte. Er selbst verkörperte ihn, an seinen Händen klebte das Blut unzähliger Opfer und das seines Engels, mit dem er nun schweigend durch die Dunkelheit schritt, um ihn seinem verdienten Ende zu übergeben.

Ergriffen seufzte Mrs Lovett. Längst hatte sie sich in diesen Anblick verloren und etwas wie Schuldgefühle legte sich auf sie nieder, wollte sie mit der schweren Last erdrücken, bis sie sich in Erinnerung rief, dass es bereits zu spät gewesen war bei Mr Todds Rückkehr. Das Arsen hatte zu diesem Zeitpunkt schon lange seine Wirkung entfaltet und Lucy ihres klaren Verstandes beraubt. Nur seinen eigentlichen Zweck, den Tod herbeizuführen, das hatte es nicht vermocht gehabt. Hach, wäre das verzweifelte Ding damals nur gestorben! Nichts wäre so, wie es jetzt war – alles wäre viel besser.
 

Sweeney indessen war in seinen eigenen Gedanken verloren. Wie einen Traum durchwanderte er die Dunkelheit. Nichts um ihn herum schien real. Alles wirkte unwirklich. Jedes kleine Bisschen, die Umgebung, die dunkle Nacht, der kalte Leichnam in seinen Armen, er selbst – einfach alles.

Eigentlich befand er sich an einem Ort, der in goldenes Sonnenlicht getaucht und in seiner Schönheit so einzigartig war wie das Lachen seiner geliebten Frau. Eigentlich musste sie doch noch leben, seine Lucy, die er trug, ohne ein Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Seine Lucy, die bloß schlief, die er wieder zurück nach Hause brachte, an einen besseren Ort. Er schluckte. Ja, dort, wo sie nun war, den Ort hatte sie sich verdient, fern von all dem Schrecken, der ihr in dieser abscheulichen Stadt auflauerte.

Ein Anflug von Schmerz spiegelte sich in den dunklen Augen des Barbiers wider, als er aufsah und seinen Blick durch die Straße irren ließ. Wenn er sich nicht täuschte, so musste er nun sein Ziel erreicht haben. Jedoch konnte er es nicht entdecken.

„Wonach suchen Sie?“, fragte Mrs Lovett leise, die neben ihn getreten war.

Ein letztes Mal spähte Sweeney in die finstere Nacht und versuchte mit Hilfe des kläglichen Lichts der Gaslampen in den Schatten das gesuchte Gebäude auszumachen.

Vergebens.
 

„Die Kirche“, murmelte er, „hier stand eine Kirche! Genau gegenüber dem Gebäude dort.“

„Ja, das stimmt. Hier stand mal eine…“, bestätigte Mrs Lovett gedankenversunken.

„Aber wo-“, brachte Sweeney beherrscht hervor, dann verstand er. Die Kirche, zu der er gewollt hatte, die Kirche, die er regelmäßig mit Lucy aufgesucht hatte, gab es nicht mehr.

„Sie ist abgebrannt“, fuhr Mrs Lovett, den Blick ins Leere gerichtet und die Bilder der Vergangenheit vor Augen fort. „Man befand es nicht für nötig, sie noch einmal neu aufzubauen, stattdessen steht dort nun ein prächtiges Herrenhaus.“

Glasklar drangen die Worte an Sweeneys Ohr. Er wollte es sich nicht eingestehen, doch schmerzten sie wie einer der Peitschenhiebe, denen er in den fünfzehn Jahren Verbannung zur Genüge ausgesetzt gewesen war. Wieder musste er erkennen, dass sich vieles verändert hatte, immer mehr der Verbindungen zu seiner Vergangenheit – zu seiner gemeinsamen Zeit mit Lucy – zerstört waren, und zwar endgültig.

„Ich verstehe“, kam es leise über seine Lippen. Seine Zielstrebigkeit schwand je mehr er sich in seinen Erinnerungen verlor. Er hatte für Lucy hier ein Grab gewollt, hier, wo sie so oft gemeinsam gewesen waren, doch war dies nicht mehr möglich. Was sollte er nun tun? Wohin sollte er gehen? Er wusste es nicht. Aber aufgeben konnte er nicht – noch nicht – erst musste er seiner geliebten Frau ihre verdiente Beerdigung geben.

Überredungskünste

Kapitel 3: Überredungskünste
 

Sweeney blieb keine andere Wahl, er wandte sich an Mrs Lovett: „Kennen Sie einen geeigneten Ort, wo…“ Seine Stimme brach. Schnell versuchte er sich zusammenzureißen und nutzte dafür den Widerwillen, mit dem er der Frau diese Frage gestellt hatte. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er sie immer noch brauchte. Sie, diese … Mörderin! Jedoch musste dieses Problem warten. Er würde sich darum kümmern, darauf war Verlass!

Währenddessen rang Mrs Lovett mit sich selbst. Es tat so weh, verletzte sie so sehr, wenn sie mit ansehen musste, wie er sie benutzte für seine Lucy. Sie war versucht, ihm die Antwort schuldig zu bleiben, jedoch brachte sie es nicht übers Herz – um seinetwillen.
 

Stumm nickte die Bäckerin. „Folgen Sie mir einfach“, sagte sie mit schwerer Stimme und ging voraus. In tiefes Schweigen gehüllt führte Mrs Lovett ihn durch die finsteren Straßen Londons, bis sie die Kirche erreichten, die sie selbst oft genug aufgesucht hatte. Der Anblick des Gebäudes weckte in Mrs Lovett schlimme Erinnerungen. Hier war ihr Albert bestattet worden, hier sollte er bis zum Jüngsten Tag ruhen.

Skeptisch musterte Sweeney Todd die Kirche, die vor ihm aufragte und die sich ohne viel Pracht begnügte. Das musste reichen, entschied er nach kurzem Überlegen und suchte das Pfarrhaus. Schließlich entdeckte er eine kleine Gasse, die in eine Art Hinterhof führte, der bloß noch vom schwachen Licht des Mondes, den graue Wolkenschleier versteckten, beleuchtet wurde. Die schlichte Tür des Pfarrhauses war in den Schatten nur schwer auszumachen, jedoch wusste Mrs Lovett, wo sie sich befand und ersparte Mr Todd die Suche.
 

„Klopfen Sie an!“, bestimmte dieser, kaum dass sie vor dem Eingang des Hauses standen und deutete mit dem Kinn auf den bronzenen Türklopfer.

Zögernd kam Mrs Lovett der Aufforderung nach und ließ zaghaft den Ring gegen die Tür fallen. Leise hallte der Schlag in der Stille wider. Dann warteten sie darauf, dass ihnen geöffnet wurde.

Als sich nach langer Zeit des Wartens immer noch nichts tat, wandte sich Sweeney verärgert an die Frau an seiner Seite. Zu leise, viel zu leise hatte sie angeklopft, so würde niemand mitten in der Nacht geweckt werden. „Noch einmal!“, wies er sie an. „Und dieses Mal lauter!“ Hätte er seine geliebte Lucy nicht getragen, hätte er es sofort selbst in die Hand genommen.

Mrs Lovett wusste nicht, was sie von Mr Todds starrsinnigem Vorhaben halten sollte. Zu solch einer Zeit – es hatte schon lange Mitternacht geschlagen – eine Beerdigung zu verlangen, war wahrlich ein gänzlich falscher Zeitpunkt – das musste ihm doch bewusst sein! Aber als sie in sein starres Gesicht sah, das bis auf einen Anflug von verbissener Entschlossenheit nur Kälte offenbarte, fasste sie sich ein Herz und tat wie ihr geheißen. Kräftig ließ sie den bronzenen Ring gegen die Tür donnern. Die dröhnenden Schläge mussten im ganzen Haus zu hören sein und jeden aus seinem tiefsten Schlaf reißen.
 

Schließlich ertönte ein verärgert klingender Laut aus dem Hausinneren, der den beiden Wartenden bedeutete, dass der Pfarrer bald komme und ein weiteres Klopfen unnötig sei.

Trotzdem dauerte Sweeney die Warterei viel zu lang. Ungeduldig starrte er auf die Tür, als wolle er den Geistlichen mit der bloßen Kraft seines Willens herbeizwingen, bis sie sich endlich öffnete und den Blick auf einen schlaftrunkenen alten Mann freigab.

Müde blinzelte dieser in die Nacht hinaus, die nun von der kleinen Gaslampe in seiner Hand erleuchtet wurde, wenn er auch nur sehr spärlich.

„Ist Ihnen bewusst, wie spät es ist?“, gähnte er und zupfte geistesabwesend an seinem Gewand, das er in aller Eile über sein Nachthemd angezogen hatte. „Welch ein wichtiger Anlass hat sie dazu bewegt, mich zu dieser unchristlichen Zeit aus dem Schlaf zu reißen?“

Die Worte klangen anklagend, doch störte sich Sweeney nicht daran. Alles, was in diesem Augenblick zählte, was für den kümmerlichen Rest seines Lebens zählen würde, war Lucy alles zu geben, wozu er imstande war.
 

„Eine Beerdigung“, brachte er zusammenhangslos hervor und verbesserte sich sogleich: „Ein plötzlicher Tod eines lieben Menschen war es, der mich zum Trotz der späten Stunde dazu getrieben hat, eine Beerdigung zu ersuchen.“

Erst langsam sickerten die Worte zu dem Pfarrer durch und noch länger dauerte es, bis er den vollständigen Sinn erfasst hatte. Stöhnend riss er sich zusammen, bemüht darum, die Augen offen zu halten.

Dann sah er den Leichnam.

„Grundgütiger!“, entfuhr es ihm entsetzt, als er Lucys leblosen Körper in den Armen des Barbiers sah. „Aber hätte das, so schwer der Tod eines guten Menschen auch ist, nicht bis zur Morgendämmerung warten können? Es ist mitten in der Nacht!“
 

„Nein!“, zischte Sweeney bedrohlich. Schnell hatte er sich wieder unter Kontrolle und fügte in einem ausdruckslosen Tonfall hinzu: „Mir bleibt nicht viel Zeit hier in London. Wissen Sie, wir waren auf der Durchreise, am Abend hatten wir London wieder verlassen wollen und dann geschah es: Unsere Kutsche wurde überfallen, rücksichtslos plünderten die Halunken unsere Reisetaschen...“ Er hielt kurz inne, als müsse er das Geschehene noch überwinden. Währenddessen rief er sich die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte, noch einmal in Erinnerung.

„Schließlich hatten sie alles Wertvolle unseres Besitzes gefunden. Doch war da auch ein kleiner, schlichter Ring, der nicht mal einen allzu hohen Wert hatte, ein Erbe der Mutter von Lucy. Dieser war die letzte Erinnerung, die sie noch von ihrer Mutter hatte, Sie müssen wissen, dass diese gestorben war, als die kleine Lucy sich im zarten Alter von sechs Jahren befand. So ist es nur verständlich, dass sie vergeblich versuchte, den kostbaren Ring vor den dreckigen Händen zu retten. Doch machten diese schrecklichen Unmenschen nicht einmal vor so einem lieben Wesen, wie es Lucy war, halt. Gnadenlos fielen sie über sie her, entrissen ihr den Ring und … und…“ Sweeneys Stimme versagte. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er dieser schreckliche Unmensch war, von dem er sprach. Er war es gewesen, nicht irgendwelche Halunken. Er hatte Lucy umgebracht!

„…und schnitten ihr die Kehle durch“, beendete Mrs Lovett den Satz mit rauer Stimme. „Tapfer hat Mr Todd diese furchtbaren Halunken in die Flucht geschlagen, als er sah, dass sie Lucy bedrohten, doch kam jede Hilfe zu spät…“
 

Erstaunt sah der Barbier auf, zu Mrs Lovett. Wieder hatte sie ihm geholfen. Aber dieses Mal war es ihm gleichgültig. Alles war ihm gleichgültig. Eine dunkle Woge der Leere drohte, ihn mit sich zu reißen, in seinen grässlichen Erinnerungen zu ertränken und nicht mehr gehen zu lassen.

Plötzlich war ihm, als greife eine strahlende Wärme nach ihm, die ihn aus der Dunkelheit zog, sanft aber bestimmt. Und dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Als er jedoch den Grund dafür sah, entglitt ihm diese fast wieder. Es war Mrs Lovett, die ihm mitfühlend ihre Hand auf die Schulter gelegt und ihn so vor dem Nichts in sich bewahrt hatte – dabei trug er Lucy auf den Armen, die das hätte tun sollen! Zum zweiten Mal verlor er beinahe die Kontrolle, als er die brodelnde Wut in sich aufsteigen spürte. Wut, auf diese verdammte Frau, die er töten sollte und doch nicht konnte, da er sie für kurze Zeit noch brauchen würde.

Mrs Lovett bemerkte den gefährlichen Stimmungsumschwung Mr Todds und nahm traurig die Hand wieder fort. Stattdessen wandte sie sich an den Pfarrer. Mr Todd, dessen war sie sich gewiss, würde in seiner derzeitigen Gefühlslage nicht dazu fähig sein, die gewünschte Beerdigung zu erreichen. Vielmehr befürchtete sie, dass es letzten Endes einen weiteren Toten geben könnte.
 

Mitfühlend erwiderte der alte Mann ihren Blick. „Es tut mir aufrichtig Leid für Sie. Der Tod unter solch einem Umstand ist fürwahr grauenhaft.“

„Ich danke Ihnen“, antwortete Mrs Lovett mit belegter Stimme. „Aber umso schlimmer ist es nun, dass wir kaum mehr Zeit haben, eigentlich schon längst London hätten verlassen haben müssen und jetzt durch diesen schrecklichen Umstand aufgehalten werden. Darum bitte ich Sie, Vater, tun Sie Ihr Möglichstes, um unserer geliebten Lucy ein schnelles und anständiges Begräbnis zu ermöglichen, wie sie es verdient hätte.“

„Ich verstehe Sie, aber so schnell wird das nicht möglich sein. Ich habe viele Pflichten zu erfüllen und Sie wissen doch sicherlich auch, dass eine Beerdigung nicht in solch einem kurzen Zeitraum vonstatten gehen kann“, meinte der Pfarrer, dem die Situation langsam unangenehm wurde. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag, doch strahlten die beiden Reisenden etwas Bedrohliches aus und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich wieder in sein Bett begeben zu können.

Mit dieser Antwort hatte Mrs Lovett gerechnet. Sie konnte die Absicht ihres Gegenübers, die sich hinter dieser Ausrede verbarg, förmlich in seinem Gesicht lesen. Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken, spielte das Spiel mit, darauf bedacht, den Sieg davon zu tragen. Einen Sieg, von dem sie nicht wusste, ob er sich lohnte.
 

„Ja, das weiß ich“, seufzte die Bäckerin bedauernd. „Doch hoffte ich, dass Sie mir helfen können. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den guten Albert Lovett, dessen Beerdigung Sie einst gemacht hatten. Sie waren in dieser Zeit wirklich eine sehr große Hilfe gewesen und ich hegte die Hoffnung, dass Sie mir bei meinem zweiten schweren Schicksalsschlag beistehen könnten…“

Erst nach diesen Worten sah der Pfarrer genauer hin und erkannte in der fremden Frau Mrs Lovett, die ihn einst in tiefer Trauer aufgesucht hatte, als ihr Mann verstorben war. Aber nicht nur das…

„Ach Sie sind es tatsächlich, meine Liebe! Verzeihen Sie mir, in der finsteren Nacht habe ich Sie gar nicht erkannt“, rief er entschuldigend. „Nun, dann ist die Situation natürlich eine andere. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
 

Geistesabwesend hatte Sweeney dem Gespräch zugehört und sich in seinen Gedanken verloren. Nun aber, nach diesen Neuigkeiten, sah er verwundert auf und schenkte Mrs Lovett einen fragenden Blick, den sie mit einem siegesgewissen Lächeln erwiderte. Ja, das musste er ihr lassen, die Frau wusste, was sie tat, doch gefiel ihm das nicht. Schon wieder fühlte er sich benutzt, hatte keinen Einfluss mehr auf die derzeitige Situation und war zu seinem Missfallen auf sie angewiesen. Dennoch war er sich dieses Mal darüber im Klaren, dass es töricht wäre, sie jetzt noch stoppen zu wollen, dafür war er durch sie seinem Ziel schon zu nah gekommen.
 

Mrs Lovett hatte Mr Todds Reaktion bemerkt und für einen kurzen Moment gefürchtet, was geschehen würde. Jedoch schien es, als ließe er sie machen, vertraute ihr vielleicht sogar! Fest entschlossen sein Vertrauen nicht zu missbrauchen und ihm damit zu verstehen zu geben, dass er ihr trotz allem, was vorgefallen war, immer noch viel bedeutete – viel zu viel - , fuhr sie fort: „Vielen Dank, das weiß ich wirklich zu schätzen, aber wäre es irgend möglich Lucy am kommenden Abend zu beerdigen?“

Überraschung spiegelte sich in den trüben Augen des Pfarrers wider und langsam schlich sich zu dem Gefühl der Beunruhigung auch etwas wie Misstrauen. „Wozu diese Eile? Soweit mir bekannt ist, leben Sie doch hier in London, warum ist die Beerdigung dann so dringlich?“

Mrs Lovett gefiel die Richtung nicht, in die das Gespräch verlief. „Mr Todd ist der jüngere Bruder meines lieben Alberts“, erklärte Mrs Lovett bedächtig, jedes Wort wohl gewählt, „und mietet derzeit die Wohnung über meinem Geschäft. Nun ist ihn seine Cousine Lucy aber vom Land besuchen gekommen, um mich und Mr Todd auf den Landsitz seines Onkels einzuladen, wo die Hochzeit des Sohnes von der Schwester Mr Todds stattfinden wird. Zuvor aber wollten wir seiner lieben Cousine noch London zeigen, was mehr Zeit in Anspruch genommen hatte, als gedacht. Nun aber hat sich dieser schreckliche Zwischenfall ereignet und es ist höchste Zeit zum Aufbruch, sonst werden wir letztendlich zu spät kommen. Das möchten wir beide vermeiden, wo doch sein Neffe so sehr auf unsere Anwesenheit hofft. Selbstverständlich ist dies kein Grund, um einen Beerdigung ja nahezu an Ort und Stelle zu vollbringen, statt sie einfach aufzuschieben, doch müssen Sie wissen, Lucy hatte große Angst davor, dass ihr Körper nach ihrem Tode erst Tage oder auch Wochen später in die geweihte Erde kommt. So ist dies nun eins der letzten Dinge, die wir noch für sie tun können, damit sie auf ewig in Frieden Ruhen kann.“

„Nun gut, ich verstehe“, brummte der Geistliche und strich sich nachdenklich über das Kinn, um seine Verwirrung zu verbergen. „Wir werden einen Sarg brauchen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich in dieser kurzen Zeit einer beschaffen lässt…“

„Das soll kein Problem sein. Der Sarg muss nicht nach Maß sein, solange er für Lucys Größe ausreichend ist“, meinte Mrs Lovett und versuchte vergeblich den bohrenden Blick Mr Todds zu ignorieren. Sie wusste, dass ihm das nicht recht war, doch mussten sie die Beerdigung so schnell wie möglich vonstatten gehen lassen, ohne viel Aufsehen oder am Ende gar einen verheerenden Verdacht zu erregen.
 

Die Worte der Frau überraschten den Pfarrer. Ihm kam das alles sehr absurd vor und er fühlte sich merklich unwohler, wenn er an die kommende Beerdigung dachte. Trotzdem raffte er sich zusammen und nickte bereitwillig. „Dann ist auch das geklärt“, stellte der alte Mann erleichtert fest. „Wenn Sie mir nun bitte folgen würden… Zwar ist dies kein Ort, an dem sonst die Leichen aufbewahrt werden, doch zu der späten Stunde werden wir wohl eine Ausnahme machen müssen. Außerdem wird es sicherlich Erleichterung für Sie sein, von der schweren Last befreit zu werden - Mr Todd?“

Stumm schüttelte Sweeney den Kopf. Nie würde es zu anstrengend für ihn sein, Lucy zu tragen, sie in seinen Armen zu haben und vor dem wimmelnden Abschaum Londons zu schützen. Trotzdem folgte er dem Pfarrer zu einem Raum, in dem er ihn anwies, den Leichnam abzulegen. Langsam ging der Barbier in die Hocke und legte den kalten Körper seiner geliebten Frau auf das weiße Tuch, das der Geistliche vor ihm ausgebreitet hatte. Obwohl das Gewicht Lucys, das wahrlich nicht viel war, von seinen Armen verschwunden war, verspürte Sweeney keine Erleichterung. So sehr seine Muskeln auch schmerzten, von der langen Zeit, in der sie den ausgemergelten Körper hatten tragen müssen, so breitete sich in ihm schlagartig das schreckliche Gefühl aus, einen lebenswichtigen Teil für immer verloren zu haben. Und der Verlust schmerzte, überlagerte die belanglosen Schmerzen seiner Arme. Viel zu oft hatte er in den vergangenen Jahren solche schwere Arbeit verrichten müssen, nach der er geglaubt hatte, sein Körper sei durch die schwere Last in Stücke gerissen, als dass ihn dieses eine Mal gestört hätte. Nein, viel, viel schlimmer waren diese schrecklichen Schmerzen die der plötzliche Verlust in ihn geschlagen hatte.

Mit starrem Gesicht sah er ein letztes Mal auf seine geliebte Frau hinab, deren Schönheit auch all die grausamen Jahre, die sie hatte durchleiden müssen, nichts hatten anhaben können. Bloß versteckt unter all dem Dreck, Elend und Leid war sie, doch er konnte sie erkennen.

Erst da bemerkte er, wie sauber Lucys Antlitz war. Das Blut war von der Haut gewaschen und einzig getrocknete Überreste klebten in den Kleidern sowie an der grausamen Wunde, die er ihr zugefügt hatte. Ihm dämmerte, dass dies Mrs Lovetts Werk war, dass sie in der Zeit, in der er untätig in dem Wohnzimmer gesessen hatte, Lucy gewaschen hatte. Ein Gefühl wie Dankbarkeit wollte sich seiner bemächtigen. Erst als er sich das selbstsüchtige Handeln der Frau, das hinter diesem Tun stecken musste, vor Augen rief, schaffte er es, das aufkommende dankbare Gefühl zu ersticken.
 

Mit einem Mal wurde er wieder zurück in die Realität gerissen, als sich etwas Warmes, ja Unangenehmes auf seine Schulter legte. Einem Reflex gleich schüttelte sich Sweeney und vertrieb somit die Hand wieder, die er gespürt hatte. Doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass es sich gar nicht um die Mrs Lovetts gehandelt hatte, sondern um die des Geistlichen, der ihm in einer vorgeheuchelten Geste des Mitgefühls seine Hand auf die Schulter gelegt hatte.

„So Leid es mir auch für Sie tut, muss ich Sie nun bitten zu gehen. Ein bisschen Schlaf wird Ihnen sicherlich gut tun, Mr Todd. Sie sehen schrecklich aus und trotz der Tatsache, das es lange dauert, bis man den Tod eines lieben Menschen verwunden hat – manchmal nie über diesen hinwegkommt – möchte ich Ihnen in guter Absicht raten, sich auszuruhen und sich selbst Erholung zu gönnen“, sagte der Pfarrer. Dann wandte er sich an Mrs Lovett. „Zu meinem großen Bedauern wird es mir aber nicht möglich sein, die Beerdigung noch am kommenden Abend vorzubereiten. Ich will nichts unversucht lassen und werde versuchen, Ihnen diese für spätestens in einer Woche zu versprechen – mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Der gierige Glanz in den Augen des alten Mannes, straften die Worte jedoch Lügen.
 

Von Anfang an war sich Mrs Lovett der Gier bewusst gewesen und gab nun den entscheidenden Anstoß, um ihren Willen zu bekommen. Seufzend holte sie unter ihrem Mieder eine prall gefüllte Geldbörse hervor und ließ das Säckchen mit ihrem gesamten Ersparnis klimpern. Der metallene Klang erfüllte das bedrückte Schweigen und verlieh den trüben Augen des alten Mannes ein gieriges Funkeln.

„Zwar waren die Halunken recht gründlich gewesen, doch haben sie das hier übersehen“, erklärte Mrs Lovett in einem unbekümmerten Tonfall und ließ wie unbeabsichtigt die Münzen erneut klimpern.

Voller Abscheu betrachtete Sweeney indessen den Pfarrer, in dem eine Wandlung vorgegangen war. Sein Blick klebte an dem dicken Säckchen in Mrs Lovetts Hand und vor Gier rieb er seine schweißnassen Finger aneinander, als würde er das Geld schon fühlen. „Natürlich würde sich Ihr gewünschtes Begräbnis auch für diesen Abend einrichten lassen, nur bin ich ein armer, alter Mann, mein Beruf gibt nicht viel her und die Zeiten sind hart…“

„Ja, das sind Sie in der Tat“, erwiderte Mrs Lovett mit einem harten Ton und fuhr schnell in einem beiläufigeren hinzu: „Ich dachte mir, dass wir Ihren guten Willen belohnen sollten. Ich bin mir sicher Lucy hätte das gewollt, wenn Sie sähe, wie sehr Sie doch für die Erfüllung Ihres letzten Willens sorgen.“

„Ja, ja“, nickte der Pfarrer eifrig, den Blick immer noch auf die Geldbörse geheftet. „Das tue ich. Ich hoffe doch, dass ein Begräbnis beim siebten Glockenschlag am Abend in Ihrem Sinne stand…“

Dieses Mal warf Mrs Lovett Mr Todd einen fragenden Blick zu, der hinter dem Geistlichen stand, wie ein dunkler, unheilverkündender Schatten. Unmerklich nickte Sweeney.

„Aber das ist doch wunderbar!“, rief Mrs Lovett überschwänglich und drückte dem Pfarrer ein paar Münzen in die Hand. „Ich werde morgen früh vorbeikommen, um alles Weitere mit Ihnen zu besprechen, wenn Ihnen das recht ist. Ich möchte Sie schließlich nur ungern weiterhin von Ihrem wohlverdienten Schlaf abhalten.“

Hastig umschloss der Geistliche die Münzen mit den dürren Fingern, in Gedanken schon längst bei der Bezahlung, die er noch erhalten würde.

Währenddessen trat Mrs Lovett neben Mr Todd. Nach längerem Zögern umfasste sie schließlich seinen Arm sanft und leicht, ohne aufdringlich zu erscheinen.

„Kommen Sie“, flüsterte sie leise. „Lassen Sie uns gehen und noch das Bisschen der verbliebenen Nacht ausruhen.“
 

Doch Sweeney hörte die Worte der Frau nicht. Sein ausdrucksloser Blick war starr auf den Rücken des Pfarrers geheftet. Hinter dieser Leere in seinen dunklen Augen jedoch glomm eine erschreckende Mordlust, die er nur schwer bezwingen konnte. Alles in ihm schrie danach sein Rasiermesser zu ergreifen, sich auf dieses Stück Abschaum zu stürzen und ihm das Leben zu nehmen. Solch ein abartiges Geschwür schimpfte sich Geistlicher! Wie konnte nur so jemand leben, wie konnte so jemandem das wertvolle Leben vergönnt sein? Wie nur? Warum mussten solch reine Geschöpfe wie seine geliebte Lucy sterben, wo doch dieses Ungeziefer am Leben blieb! Der Drang zu töten wurde immer stärker. Ja, dieser Pfarrer hatte es verdient zu sterben, vor seinen Gott zu treten und sich zu erklären!

Ein Lächeln wollte sich auf Sweeneys Lippen stehlen. Ein Hauch von Wahnsinn zeichnete sich darin ab, der jedoch schnell von Mrs Lovett zunichte gemacht wurde.Sie hatte Angst um ihn. Sie wollte nicht, dass er immer weniger Herr seiner Selbst wurde. Und in diesem Augenblick war es ihr gleichgültig, wie er reagieren würde, solange sie ihm nur irgend helfen konnte.

„Mr Todd!“, sagte sie eindringlich und zog ihn immer noch sanft aber bestimmt in Richtung Tür. „Kommen Sie, wir müssen gehen, schließlich steht uns noch eine Menge Arbeit bevor!“

Den Blick weiterhin starr auf den alten Mann gerichtet, ließ er sich von der Frau mitziehen in Richtung des Ausgangs, bis er sich mit einigen Schwierigkeiten zusammengerissen hatte. Verärgert schüttelte er Mrs Lovetts Arm ab, sagte jedoch dieses Mal nichts dazu, denn ihm war bewusst, dass sie ihn gerade davor bewahrt hatte, die Kontrolle zu verlieren… Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Sollte er ihr nun dankbar sein? Nein!, fauchte es in ihm. Nicht ihr!
 

Mit einem kurzen Wort des Abschieds an den Pfarrer verließen sie den Raum und traten hinaus auf die Straßen Londons. Während sie den Weg zur Fleet Street einschlugen, konnte Mrs Lovett nicht mehr an sich halten. „Mr T!“, rief sie, in ihrem Ärger so aufgebracht, dass sie unwillkürlich seinen Kosenamen benutzte. „Sie müssen sich zusammenreißen! Sie können doch nicht einfach mit der Leiche ihrer Frau im Arm durch die Stadt gehen und dann auch noch eine sofortige Beerdigung erwarten! Vor allem zu dieser Zeit…!“

Sweeney aber hörte der Frau nicht zu. Er war in seinen Gedanken gefangen, die sich alle darum drehten, wie er den Geistlichen, dieses Stück Dreck, töten würde.

„Er verdient es zu sterben“, sagte er auf einmal, den Blick starr ins Leere gerichtet.

Mrs Lovett entfuhr ein Seufzer. Er hatte ihr nicht zugehört. Was hätte sie auch anderes erwarten können? Was machte sie sich überhaupt all die Mühe?

„Bieten Sie ihm als Dank eine kostenlose Rasur an, Mr Todd. Dann wäre das Problem aus der Welt geschafft“, erwiderte sie schließlich in einem unbekümmerten Tonfall.

Sweeney antwortete ihr nicht. In Schweigen gehüllt, lief er einfach immer weiter, alles um sich herum ausblendend, bis sie schließlich das Pastengeschäft erreicht hatten. Ohne ein einziges Wort zu verlieren, ging er die alte knarrende Holztreppe zu seinem Barbiersalon hinauf. Er wollte in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als einfach nur für sich sein und das konnte er nur in seiner kleinen Wohnung, wie sehr sie auch schmerzhafte Erinnerungen in ihm wachrief.
 

Mit einem Ausdruck der Erschöpfung, sah Mrs Lovett ihm nach. Am liebsten wäre sie ihm gefolgt, hätte versucht, in vor seiner inneren Leere zu bewahren, doch wusste sie, dass das in diesem Augenblick vergebens war. Und wie konnte sie ihm überhaupt den Wunsch, allein zu sein, verübeln? Nun, da er die Wahrheit erfahren hatte und schlimmer: Für den Tod seiner geliebten Lucy verantwortlich war?

Ein Seufzer entglitt Mrs Lovett bei den Gedanken, während sie sich langsam zu ihrem Bett begab, das ihr die dringend benötigte Ruhe versprach. Sie war müde, so unendlich müde. Für kurze Zeit wollte sie einfach alles vergessen. Ihre Sorgen, ihre Ängste, das Geschehene. Sie wollte einfach nur wissen, dass alles gut werden würde.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  -Atropos-
2011-05-07T20:50:22+00:00 07.05.2011 22:50
mehr davon, bitte. :)
allein, dass doch nicht alle überlebt haben, also toby doch noch dran glauben musste wirkt schon mal realistischer als das, was ich in so manch anderen st ffs gelesen hab. genial find ich vorallem auch sweeney todds gedanken und gefühle beschrieben. erst dieser hass und dann wie er bemerkt wie inhaltslos sein leben jetzt ist und dieses gefühlsbad, das passt einfach und ist zu 100% in character. wirklich genial die atmosphäre, aber ich sag ja, du bist die sweeney todd ff spezialistin nr. 1! :) weiter so! ;)


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