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Schneegestöber

[Takari/Sorato/Kenyako]
von

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Erste Schneewehe


 

Erste Schneewehe
 


 

***
 

Lippenstiftberge
 

Mit gerunzelter Stirn stierte ihr Spiegelbild sie an. Die mandelförmigen Augen wirkten mit jeder Minute die verstrich müder und müder. Frustriert griff sie nach der Packung Abschminktücher und machte sich daran, die Katastrophe zu beheben. Zwei Mal hatte sie nun schon die Prozedur durchgeführt, doch nie schien das Ergebnis zufrieden stellend. Die "Smokey Eyes" wollten ihr einfach nicht gelingen, für einen sauberen Lidstrich war sie zu nervös und das Rouge wirkte wie die rosigen Wangen eines Zirkusclowns.

„Was mach ich hier nur“, murmelte sie verzweifelt, während sie langsam unter dem Make-up wieder zum Vorschein kam.

„Ich verstehe sowieso nicht, warum du so einen Aufwand betreibst, Hikari-chan…“ Tailmon schüttelte den Kopf und begutachtete die Lippenstifte, die ausgebreitete auf dem Waschbeckenrand lagen. Ganze 67 Minuten hatte es stillschweigen zugesehen, wie sein Partner sich bemalte, doch nun war es aufgestanden und verschränkte die Pfoten vor der weißfelligen Brust. Seine Augen musterten sie von oben bis unten.

Sie presste die Lippen aufeinander, während die Hitze in ihre Wangen schoss, das konnte sie im Spiegel erkennen. Rasch wanderte ihr Blick weg von der Tomatenröte hin zum digitalen Zifferblatt der Badezimmeruhr. 17 Uhr, 42 Minuten und 14 Sekunden.

Nicht mehr lang und er stünde vor der Tür. Sie versuchte sich auf die Lippenstifte zu konzentrieren, während ihr Herz gegen den Brustkorb hämmerte. Er hatte sie gefragt, ganz beiläufig, so als sei es nichts besonderes – aber das war es. Sehr besonders sogar, da waren sich ihr Herz und ihr Kopf einig. Die Welt um sie herum schien prächtiger, wenn er bei ihr war, lässig an die helle Mauer des Schuleinganges gelehnt, während seine eisblauen Augen über den Schulhof streifend und sie fanden. Er wartete jeden Morgen auf sie.

Jeder Schultag begann mit einem Blick in diese strahlend blauen Augen, begleitet von diesem makellosen Lächeln, welches ihr fast den Atem raubte. Natürlich erzählte sie niemandem davon – nicht mal Miyako. Sie hatte überlegt, sich Sora anzuvertrauen; aber letztendlich war Sora viel zu sehr Tais Sora, als dass sie sich dabei wohl fühlte.

Und Mimi war einfach zu weit weg, um sich mit Jungs-Problemen an sie wenden zu können – außerdem konnte sie sich sehr gut vorstellen, was Mimis Art der Problemlösung wäre; und schon bei dem Gedanken daran schoss ihr das Blut wieder in den Kopf und sie sah aus, wie ein überreifer Apfel.
 

Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen, hastige Schritte wetzten über den Parkettboden, bevor die raue Stimme ihres Bruders durch die Wohnung hallte, dann fiel die Haustür ins Schloss. Verwundert spähte sie durch die Badezimmertür.

„Tai – du hast deinen Schal vergessen!“, hörte sie ihre Mutter, doch einen kurzen Augenblick später war sie wieder in der Wohnung, den Schal in der Hand, von Taichi Yagami keine Spur.

„Ich weiß gar nicht, was jetzt wieder so dringend war, dass er alles stehen und liegen lassen muss“, seufzte sie und rückte ihre Schürze zurecht. Ihre haselnussbraunen Augen wandten sich nun an sie und füllten sich mit Sorge und Angst. „Es ist doch nichts passiert oder? Ich mein, es gibt doch keinen Grund, dafür, dass dein Bruder so schnell verschwindet? Ihr würdet doch mit uns sprechen, bevor ihr wieder kämpft? Nicht dass wir euch nicht vertrauen würden – oder Tailmon und Agumon… Aber es ist doch alles in Ordnung, oder?“

All die Zweifel sprudelten aus ihr hervor, während ihre Haare ihr müde ins Gesicht fielen. Der letzte Kampf gegen Belial Vamdemon hatte ihnen allen einiges abverlangt, auch denen, die zusehen mussten…

Sie versuchte ein beruhigendes Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern und griff nach der warmen Hand ihrer Mutter, die immer noch den roten Schal umklammerte.

„Alles ist gut, Mama.“

Taichis Zimmertür quietschte, während Agumon langsam aus dem Zimmer hervortrat und seinen saurierartigen Körper an das Bein ihrer Mutter schmiegte.

„Ich passe doch auf Taichi auf, Yagami-san.“, murmelte es und verzog die Schnauze zu einem aufmunternden Lächeln. Sie tätschelte dem Digimon den Kopf. Ihre Mutter hatte Tailmon und Agumon viel zu sehr ins Herz geschlossen und freute sich immer wieder, wenn die beiden sie besuchten – auch wenn sie ein Menü für eine ganze Familie fast alleine verputzen konnten.

„Wo wollte Tai denn jetzt noch hin? Wir treffen uns doch gleich mit den anderen?“ wandte sie sich nun an Agumon.

„Taichi hat gesagt, er habe noch was zu erledigen“, brummte es. „Er hat gesagt, ich solle mit dir gehen. Er käme dann nach.“ Die letzten Worte gingen fast vollständig in einem empörten Grollen unter, während sich Agumon auf den Badewannenrand plumpsen ließ und sie dem Digimon folgte, dem die Beleidigung förmlich ins Gesicht geschrieben war.

Ihr Blick fiel erneut auf die Uhr. 17 Uhr und 48 Minuten, sie seufzte. „Auf einen mehr oder weniger kommt es jetzt wohl auch nicht an…“

Agumon legte seinen großen Kopf schief und musterte das Chaos, das sie im Bad angestellt hatte, überall lagen Abschminktücher und Haarspangen verstreut, während sich die Lippenstiftbergen am Waschbeckenrand türmten.

„Takeru holt Hikari ab“, erklärte Tailmon in verschwörerischem Unterton, setzte ein keckes Grinsen auf und spitze die Ohren.

„Ja und?“ erwiderte Agumon verständnislos.

Tailmon kicherte, sprach jedoch nicht weiter als es ihre Miene sah. Schnell sammelte sie den Müll auf, griff nach den Glitzerhaarspangen und machte sich ohne ein weiteres Wort erneut ans Werk.
 


 

***
 

Territorialkämpfe
 

Atemlos drückte auf den Klingelknopf neben dem Namensschild, während Armadillomon japsent zum Stehen kam. Die Außenbeleuchtung im Eingangsbereich des Hochhauses flackerte nervös, während sich sein Pulsschlag langsam wieder beruhigte. Mit einem Summen sprang die Tür auf und er hastete die Treppen hinauf, so schnell, dass das Geländer aufgeschreckt unter seinen Händen vibrierte. Im zweiten Stock öffnete sich eine der grauen Wohnungstüren, und kaminrote Haare blitzen auf. Sie gehörten einem Jungen der langsam mit seinen Hausschuhen auf den Flur trat und diesen mit seinen fast kohlrabenschwarzen Augen absuchte.

„Iori? Was willst du denn hier?“ Verwundert blieb Izumi Koushiros Blick an ihm kleben. „Ich dachte wir treffen uns in einer Stunde an der Shinjuku-Station?“

„Ich weiß, ich weiß“, stieß er zwischen zwei raschen Atemzügen hervor und stemmte sich mit den Händen auf seinen Knien ab. Es kam ihm vor, als wäre er stundenlang gerannt. „Aber ich brauche deine Hilfe. Taichi geht nicht an sein Telefon, Yamatos Handy ist ausgestellt und bei Jyou ist besetzt, und das wo wir unbedingt in die Digiwelt müssen…“

„Jetzt?“ Koushiro runzelte die Stirn, während er sein Handy in die Hosentasche steckte. „Ich habe eigentlich keine Zeit…“

„Aber sie streiten!“, fuhr er ungeduldig dazwischen. „Die Digimon streiten.“

Verständnislos sah Koushiro ihn an, gab den Weg jedoch frei und deutete ihm an, ihm zu folgen.
 

Koushiros Zimmer spiegelte den Freund haargenau wider. Die Schuluniform hing glatt auf einem Bügel am Kleiderschrank, das Bettlaken war sorgsam auf dem Bett zusammengefaltet und auch sonst hatte alles seinen Platz und lag nicht unnütz im Wege. Aber am auffälligsten war wohl der Schreibtisch des Computergenies auf dem drei Bildschirme thronten und allerlei Kabel zusammen liefen. Immer wieder leuchteten Fenster auf, Nachrichtenfelder öffneten sich und das Faxgerät spuckte fortwährend neue Zettel aus. Koushiro hatte sich eine kleine Zentrale aufgebaut, in der alle Kontakte zusammen liefen und er so mit den Digirittern in aller Welt in Kontakt blieb, um jede Anormalität aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass kein neuer Kampf losbrach.

Er selbst versuchte so oft wie nur möglich in die Digiwelt zu reisen um dort zusammen mit Armadillomon nach dem Rechten zu schauen. Das war er Oikawa schuldig gewesen…

Er wollte nicht, dass die Welt für die sie so hart gearbeitet und gekämpft hatten, für die Oikawa sich geopfert hatte, erneut ins Wanken geriet.

Er verbrachte gerne Zeit in der Stadt des Ewigen Anfangs und half Elecmon dabei seine Schützlinge aufzuziehen. Doch heute hatte es ihn nach Little Edo verschlagen. Das kleine Städtchen am östlichen Rand des Servers hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als er die Gerüchte vernahm, die ein umherwanderndes Gottsumon, das von einem Pumpmon begleitet wurde, aufschnappte. Dem felsartigen Digimon zufolge waren die Bewohner Little Edos wenig mit der Versorgung von Touristen beschäftigt, sondern hätten viel mehr Interesse daran, sich zu zanken und zu bekämpfen. Und sein kürbisköpfiger Begleiter fügte hinzu, dass die Stadt bis zum Himmel stinken würde, weil ihre Bewohner sich nicht mehr darum kümmerten.
 

„So, es kann losgehen“, Koushiro ließ von der Tastatur ab und richtete sich auf, während das kleine Digivice in seiner Hand aufblitze. Auch er griff nach seinem gelben Vice und schon wurde das Zimmer in gleißendes Licht getaucht. Der gewohnte Strudel aus bunten Farben nahm ihn in sich auf und er spürte das Knistern und Kitzeln kleiner Elektroden, die ihn in die Digiwelt beförderten. Armadillomon seufzte, ihm bekam diese Art des Reisens nicht besonders und es nahm die ganzen Strapazen nur für ihn auf seinen Panzer.

Langsam bekamen sie Boden unter den Füßen zu fassen. Backsteinmauern reihten sich aneinander, während über ihren Köpfen die Bergkette die Stadt einkreiste und dort Shougungekomos Schloss zu sehen war, dessen Fahnen im Wind wild wehten und sehr an den Palast des japanischen Tennos erinnerte.

„Tentomon wird auch jeden Augenblick hier auftauchen, eigentlich wollte es erst später zu uns in unsere Welt stoßen“, murmelte Koushiro über sein D-Terminal gebeugt, „Aber die Sachlage hat sich wohl geändert …“

Aus der Ferne vernahm er bereits das Zetern und Kreischen, welches ihn zuvor alarmiert hatte. Man konnte hören, wie die Attacken der Digimon wütend aufeinander prallten, während sie sich wüst beschimpften und bedrohten.

„Was ist hier denn los?“ Koushiro starrte mit halb geöffnetem Mund auf den Kampfplatz, der sich vor ihren Füßen erstreckte und in eine riesige Staubwolke gehüllt war. Hier waren einmal Restaurants und Niederlassungen für Reisende gewesen, doch im Zuge der Kämpfe, blieb nicht mehr viel davon übrig.

„Hiro!“ Ein Summen drang durch das Getöse zu ihnen hindurch und Tentomon tauchte zwischen den unzähligen Digimon auf, die mit Fäusten, Pranken und Flossen aufeinander einprügelten. Das Insektendigimon konnte gerade noch einem rosa Häufchen ausweichen, das durch die Luft schwirrte, bevor es erschöpft vor ihnen zur Landung ansetzte.

„Sie wollen einfach nicht auf mich hören, diese unvernünftigen Narren.“ Wütend starrte Tentomon seine Artgenossen an. „Ihr benehmt euch wie unzivilisierte Wüstlinge!“

Doch diese schienen es nicht zu hören oder sich daran zu stören.

Er warf Armadillomon einen Blick zu, welches entschlossen nickte.

Sogleich durchfuhr ihn ein Energiestrom der direkt zu seinem Digivice wanderte und Armadillomon mit einem Lichtstrahl erfüllte.

Armadillomon – Shinka! Ankylomon.

Mit einem Aufschrei stürmte sein Partner auf die Meute zu und fegte mit seinem harten Panzer durch das Meer aus Streithähnen. Verwirrt hielten die Digimon inne. Unter ihnen befanden sich unzählige Gekomon, Otamamon und eine nicht viel geringere Anzahl der abstoßenden Numemon, die mit ihren rosa Häufchen den Platz übersät hatten und nun mit heraushängenden Zungen und großen, glupschigen Stielaugen auf Ankylomon starrten.

Ehe sich der erste Schrecken legte, erhob er seine Stimme.

„Was geht hier vor? Warum streitet ihr euch und kämpft gegeneinander?“ Er drängte sich an den Gekomon vorbei, die unruhig von einem dünnen Froschbein aufs andere sprangen und ihn mit ihren unterschiedlich großen Augen beobachteten, während ihre Trompetenhälse im Sonnenlicht aufblitzten.

„Man sollte meinen, dass euch nach all den Kriegen und dem Beinahe-Untergang eurer Welt die Lust aufs Kämpfen vergangen ist“, fuhr er mit scharfer Stimme fort. Es machte ihn wütend diese Wesen so zu sehen, nach allem was seine Freunde und er für sie getan hatten, nachdem andere ihr Leben für sie gegeben hatten.

„Wir verteidigen nur, was uns gehört!“ Ein Gekomon trat mutig vor und verschränkte störrisch die langen Arme vor der grünen Brust. „Diese dreckigen Monster glauben, sie könnten sich einfach so in unserer Stadt breit machen. Überall hinterlassen sie ihren Dreck und benehmen sich einfach furchtbar!“

„Das ist ja gar nicht war!“, schrie ein heran kriechendes Numeon und hinterließ eine Schleimspur auf dem Boden. „All die Jahre mussten wir uns mit dem Abwasser der Digiwelt zufrieden geben – es war in Ordnung, draußen war es eh zu gefährlich, aber jetzt ist es das nicht mehr… Uns sagt niemand mehr, wo wir hingehören oder was wir zu tun haben. Wir haben genauso ein Recht darauf, hier zu sein, wie alle anderen auch.“ Vor Wut spuckte das Numemon bei jedem Wort einen grünen, übel riechenden Haufen Schleim aus.

Hilfe suchend blickte er sich nach Koushiro um, doch der starrte mit seltsam verklärtem Blick auf sein Handy und war kaum zu gebrauchen.

„Dafür gibt es doch sicherlich eine einfach Lösung“, er räusperte sich laut und Koushiro wandte sich endlich wieder dem Geschehen zu. Er besah die Situation einen Augenblick und meinte dann nur sehr trocken und in einem Koushiro-untypischen Tonfall: „Ihr Gekomon solltet dankbar für neue Gesellschaft sein nachdem ihr alle Touristen mit euren Streitereien vergrault habt. Und ihr Numemon solltet euch an Müllbeseitigung veruschen – das wäre doch ein perfekter Job für euch und würde Little Edo auch noch nützen. Und jetzt stellt diese lächerlichen Zankereien endlich ein. Wir haben an Weihnachten schließlich noch was anderes vor!“

Verwirrt und erstaunt hörte er dem älteren Jungen zu, der jegliche Reserviertheit (die er eigentlich sehr an ihm schätzte – wer mit Miyako im gleichen Viertel lebte, der konnte einen ruhigen, weniger emotionalen Zeitgenossen gut gebrauchen…) abgelegt hatte.

„Na ja, die Touristen machen schon viel Dreck…“, murmelte eines der Otamamon halblaut. „Ich habe keine Lust immer den Mammon-Dung aus der Stadt zu karren.“

„Oder die Spinnenweben der Dokugumon..“, warf ein weiteres ein. Zustimmendes Murmeln war zu vernehmen.

Das Numemon räusperte sich: „Nun, wir wären diesem Angebot nicht abgeneigt.“ Dann gab es einen zufriedenen Rülpser von sich und grinste, so dass die schiefen Zähen zum Vorschein kamen.

Erleichtert atmete er auf, Koushiro unterdessen war wieder mit seinem Handy beschäftigt.

Da zupfte etwas an seinem Hosenbein. Ein Otamamon, hatte sich zu ihm durchgeschlagen: „Du, sag mal, was ist denn dieses Weihnachten? Kann man das essen?“
 


 

***
 

Kollision
 

„Wir kommen zu spät“, stellte Gomamon fest, während es den Kopf aus dem Fahrradkorb streckte und seine Ohren im Zugwind flatterten, und deutete auf eine Uhr, die über dem U-Bahn-Eingang hing und deren Zeiger auf 18 Uhr standen und mit jeder Sekunde weiter eilten.

„Tun wir nicht!“, presste er zwischen den Zähnen hervor und trat schwungvoll in die Pedale. Er war kein Zuspätkommer, er war pünktlich und verlässlich, mit einem flinken Handgriff pressten sich die Bremsklötze an die Reifen so dass er direkt vor der Hongo-sanchome Station zum Stehen kam. Rasch umfassten seine Hände das Rahmengestell seines Rades während Gomamon aus dem Fahrradkorb hüpfte. Er musste sich eingestehen, dass die Zeit tatsächlich etwas knapp bemessen war, während er die Treppenstufen herunter eilte und seine Brille im dabei fast von der Nase rutschte.

Der Campus der Tokio Universität war einfach so eindrucksvoll gewesen, dass er darüber hinaus einfach die Zeit vergessen hatte. Die medizinische Fakultät war exzellent und wenn er es zu etwas bringen wollte dann war diese Bildungsstätte genau das richtige. Doch nachdem er all die Studenten gesehen hatte, die wie selbstverständlich über das riesige und komplexe Campusgelände liefen, war er sich nicht ganz sicher, ob er wirklich zu ihnen gehören konnte.

Der Gedanke die Oberschule zu beenden und wieder bei null anzufangen verursachte bei ihm Magenkrämpfe und Migräne.

Doch heute wollte er sich nicht von seinen Zukunftsängsten bedrängen lassen. Es war der 24. Dezember und in weniger als dreißig Minuten würde er sich mit den anderen treffen.

Der Automat spuckte ihm ein Ticket aus, noch zwei Minuten hatte er, bis die Oedo-Linie eintraf.

Er machte sich nicht viel aus Karaoke, und sicherlich war er nicht besonders versessen darauf Daisukes Interpretation von „Eye of the Tiger“ abermals zu hören, aber er genoss es mit den anderen etwas Zeit zu verbringen, mit ihnen befand er sich immer auf gewohntem Terrain.
 

Die Türen der Oedo-Linie schlossen sich mit einem lauten Zischen und schon setzte sich die Bahn in Bewegung. Er lehnte sein Rad gegen die Wand, woraufhin Gomamon seinen Platz am Lenkrad wieder einnahm und neugierig aus dem Fenster schaute. „Schau Jyou, die vielen Lichter“, seufzte es und presste seine Nase gegen die Scheibe. „Ich mag dieses Weihnachten.“ Sie rauschten an riesigen Weihnachtsbäumen vorbei, mit bunten Lichterketten die in der Dunkelheit leuchteten. Zwar galt Weihnachten hierzulande nicht als Feiertage, aber er wusste dass die Menschen in Europa und Amerika ganz versessen darauf waren. Sie beschenkten sich und feierten zwei Tage lang, davon war Japan natürlich weit entfernt.

Die Bahn begann sich zunehmend zu füllen, neben den Berufspendlern mit gehetzten Blick fanden sich vor allem junge Leute im Abteil, die wahrscheinlich wie er das Shinjuku-Viertel ansteuerten.

Ein Husten riss ihn aus seinen Gedanken. Eine junge Frau griff sich an den Hals und röchelte. Ihr Gesicht war ganz rot angelaufen, die dunklen Augen quollen förmlich hervor, während sie auf den Boden sank und nach Luft rang.

Vorsichtig berührte er ihre Schulter. „Kann ich ihnen helfen?“

Doch die Frau – sie dürfte kaum älter als er selbst sein – bekam kein Wort heraus. Ihr Atem rasselte, während die anderen Bahnfahrer beunruhigt von ihren Sitzen erhoben.

„Versuchen sie sich aufzurichten.“ Vorsichtig half er ihr auf die Beine und führte sie zu einem Sitzplatz. Sie trug weiße Winterstiefel und einen knielangen karierten Rock. Langsam lockerte er den Wollschal, den sie sich um den Hals geschlungen hatte und auf dem er kleine weiße Schneeflocken erkennen konnte.

„Jyou? Was hast du vor?“ Gomamons Stimme hallte schrill in seinen Ohren nach, während die Frau mit zittrigen Händen am Reißverschluss ihrer grünen Lederhandtasche zerrte.

„Sind sie Asthmatikerin?“ Ihm ging ein Licht auf. Sie nickte schwach, während ihr das dunkle Haar ins Gesicht viel. Schnell riss er den Reißverschluss auf und kramte in der Tasche nach dem erlösenden Asthmaspray. Mit den Fingerspitzen stieß er gegen einen kühlen Gegenstand – da war es. Hastig schüttelte er das Behältnis, bevor er ihren Kopf ein wenig anhob und den Druckknopf betätigte. Einmal, zweimal, dreimal.

Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich langsam, die Atmung normalisierte sich und das Rasseln verschwand. Zur Kontrolle fühlte er noch einmal ihren Pulsschlag. Während seine Finger auf ihrem Handgelenk ruhten, öffnete sie ihre jadefarbenen Augen und lächelte ihm schwach zu.

„Danke“, flüsterte sie. Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss und nickte nur stumm. Das Zischen der U-Bahn-Tür riss ihn aus seinen Gedanken und er konnte gerade noch sehen, wie die Shinjuku-Station aus seinem Blickfeld verschwand.

„Wie fühlen sie sich? Können sie aufstehen?“ Er wandte sich wieder an die Frau, die etwas Farbe im Gesicht wieder gefunden hatte.

„Ich hätte das Asthmaspray eher nehmen sollen, es tut mir leid, dass ich ihnen solche Umstände gemacht habe“, plapperte sie drauf los. „Ich war einfach zu unvorsichtig, bitte entschuldigen sie.“ Bei den letzten Worten hatte sie sich erhoben und senkte den Kopf, verbeugte sich und entschuldigte sich abermals.

„Das…das ist nicht nötig“, stieß er nervös hervor und hielt sie an den Schultern fest, um einem erneuten demütigenden Verbeugung zuvor zu kommen.

„Ich hatte selbst Asthma, als Kind“, erklärte er, „Ich weiß, wie das ist. Manchmal kommen die Anfälle einfach so schnell, dass man nicht mehr klar denken kann.“

Sie hielt inne und fuhr sich über das seidige, kinnlange Haar.

„Wie kann ich ihnen danken?“ Sie lächelte wieder und wieder wurde er rot. „Sie haben mir schließlich das Leben gerettet.“

„Ach was…“ warf er ein und schüttelte den Kopf, doch da kramte sie schon in ihrer grasgrünen Tasche und umfasste mit ihren bunt lackierten Nägeln seinen Arm.

„Wenn ihnen etwas eingefallen ist, rufen sie mich doch an.“ Die Miene des Kugelschreibers drückte auf seine Haut und hinterließ ein wohliges Kribbeln.

Die U-Bahn kam quietschend zum stehen, während sie den Stift zurück in ihre Tasche schob und ihn dabei anlächelte mit ihren funkelnden Jadeaugen.

„Jyou!“ Durchbrach Gomamon den Moment. Das Digimon hüpfte ungeduldig auf und ab.

„Ich… ich…“ stotterte er, „Ich muss jetzt los…“ Und stolperte mit seinem Rad aus dem Abteil.

Die Türen schlossen sich und weg war sie.

„Wir sind zu weit gefahren“, stellte Gomamon fest und deutete auf das Schild der Station.

„Ja das sind wir“, murmelte er und blickte den Lichtern der Bahn hinterher, die im Tunnel verschwanden.

„Jetzt kommen wir ganz sicher zu spät.“

„Mhhh…“

„Du hast ihr das Leben gerettet!“ Gomamon stieß ihm grinsend mit dem Kopf in die Seite während es sich in seinem Fahrradkorb bequem machte und er das Rad Richtung Ausgang schob. Er stutzte. Er hatte ihr wirklich helfen können.

„Das war ziemlich cool“, stellte Gomamon fest und strahlte übers ganze Gesicht.

„Ja, das war es.“ Er lächelte zurück und das Schmerzen in seinem Magen schien wie verschwunden, stattdessen war ihm ganz wohlig warm ums Herz.

„Hey, sieh mal Jyou!“ Gomamon hatte sich aufgerichtet und deutete mit seiner flossenartigen Pfote in den Himmel. Unzählige Schneeflocken segelten auf sie herab.
 

***
 

Author's Note

So hier erhaltet ihr den ersten Teil der Antwort, darauf, warum die anderen Daisuke alleine in der Kälte warten lassen.

Diese kleine Geschichte spielt nach dem Kampf gegen Belial Vamdemon. Etwa drei Jahre später, denke ich. Ich wollte damit zeigen, dass die Nachwehen dieser Zeit eben auch jetzt noch spürbar sind, nicht nur für die Digiritter sondern eben auch für ihr Umfeld, andere Unbeteiligte aber auch die Digimon, die sich das erste mal seit langer Zeit nicht mit großartig böse Schurken herumschlagen müssen und darüber immer mal wieder in Streitereien geraten. Ihr seht also, die Arbeit ist noch lange nicht getan.

Das Numemon widme ich ganz und gar Heruvim, denn er weiß es zu schätzen, das weiß ich ;D.

Ich habe noch nie so viel aus Ioris Sicht beschrieben, das war mal eine glatte Herausforderung, ich denke aber das sein Verhalten seinem Charakter mit einigen Jahren mehr Erfahrung gerecht wird. (so viel hat mir die Serie da nun nicht an Grundlage gegeben.)

Bei den beiden Reisenden handelte es sich by the way um das Gottsumon und das Pumpmon aus Staffel 1, die mit Vamdemon in die reale Welt kamen und dort in der Stadt umherwanderten (und ihr Leben für Yamato und Takeru gaben, aber das ist nicht meine Geschichte.) Ihr seht, dass ihre Wanderlaune auch jetzt noch anhält.

Das Schloss von Shougungekomo ist ürbigens ein Wiederaufbau des Schlosses in dem Mimi sich in Staffel 1 aufhielt und gesungen hat. Nur als kleines Schmankerl am Rande, dass ihr mir auch abkauft, dass ich mich auch ans Serienuniversum halten kann ;D.

Jyous Perspektive gefällt mir sehr. Ich musste dafür einmal virtuell in Tokio eintauchen. Er befindet sich zu Beginn im Bunkyo-Bezirk, der liegt nord-östlich von Shinjuku und dort befindet sich auch ein Campus der Tokio Universität, wo er zuvor war.

Ich mag Jyou in dieser Szene sehr, er symbolisiert in diesem Falle auch das "richtige Erwachsenwerden", sprich er beendet bald die Schullaufbahn, ein Jahr vor den anderen und wird dann Medizin studieren, logischerweise hat er Angst und zweifelt, ob es das richtige ist. Aber er rettet der Frau das Leben und räumt damit die Zweifel beiseite. Sie heißt übrigens Sachiko und ist absolut zuckrig, aber sehr tollpatschig. Oh und hier: www.youtube.com/watch?v=NeaDmNFHu9c bekommt ihr einen Eindruck von Daisukes Lieblings-Karaokelied. Er schreit allerdings mehr ins Mikro als das man von "SINGEN" sprechen könnte.

Nun denn, wer kommt noch alles zu spät?

Bis dahin

PenAmour



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Heruvim
2011-01-03T00:54:55+00:00 03.01.2011 01:54
Mmmm, how amusing <3
Ich haette die FF frueher lesen sollen. Ich habe mich gestern und heute die ganze Zeit gefragt, wie du Nume-Nume-chan einbringen willst und siehe da: Es wirft mit rosa Haefchen und spuckt, sich auf die Zunge beissend, haufenweise gruenen Schleim aus. Hach, dieses Digimon ist einfach nur so adorable, ein richtiges Mutterschif des Digimon Slapstick ^^

Ich muss sagen, dass mir dieser One-Shot sehr gefallen hat.
Besonders der Teil, der aus Ioris Perspektive erzaehlt wurde und seine und Koushiros Reise in die Digiwelt und eben die ganze Nume-action haben mir so ein ganz tolles Gefuehl gegeben, das ich nur verspuert habe, als ich in fruehen Jahren, im letzten Jahrzent, Digimon World gespielt habe.
Der Konflikt war unwichtig, aber die Szene war fuer mich herzerwaermend. Ich habe schon ganz vergessen, dass ich viele frohe Momente meiner Kindheit Adventure und den dazugehoerigen Spielen zu verdanken habe :)

Nun zurueck zur Geschichte: Hikari bemalt sich im Bad, Taichi verschwindet spurlos, aber Agumon und Tailmon verstehen sich xD
Die Szene im Bad hat mir gut gefallen, genau wie der Abschnitt, in dem Taichis Mutter sich wieder Sorgen um die Kinder macht, weil sie eben zwei mal mitansehen musste, was ein boeses Vamdemon alles anrichten kann.
Die Jyou-Szene fand ich auch toll, wobei ich sagen muss, dass Iori nicht weniger gut getroffen ist. Ich bin schon fast ueberrascht, weil Iori ein schwieriger Charakter ist, aber Pen hat ihn gut umgesetzt.

Dass du speziell fuer die Beschreibung virtuell in Tokyo eintauchst ist mal wieder PenAmour :D
Detailverliebt und symbolisch.

Ich habe die Geschichte genossen, bald bist du an der Reihe ;)
Von:  darkfiredragon
2010-12-31T15:34:18+00:00 31.12.2010 16:34
Hm, gefällt mir bisher^^ Is mal was anderes und ich mag es wie du im Prinzip zuerst die Folge darstellst (Davis allein im Schnee) und jetzt erst anfängst die Gründe dafür herauszuarbeiten. Ich bin mal gespannt wieso die anderen Digiritter nicht rechtzeitig anwesend sind ;)

Bis dahin liebe Grüße und einen guten Rutsch^^


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