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Caught by the Moon

Fortsetzung von Poison in my veins
von

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Blood

Rubeus fuhr mit dem Zeigefinger über Joeys Lippen und neigte sich zu ihm, um ihn zu küssen. Wie es aussah, würden sie bald von hier verschwinden, um ihren Flirt in privaterer Umgebung fortzuführen. Die Reaktionen ihrer beiden vom Tanz erhitzten Körper sprachen auf jeden Fall eine eindeutige Sprache. Ihm war das nur recht, mit dem Jungen konnte er sich eine schöne lange Nacht machen. Wenn Joey am nächsten Morgen aufwachte, würde er längst fort sein, während sich sein williges Opfer an eine heiße Nacht erinnerte, nicht aber daran, dass er sich noch in anderer Weise an ihm gelabt hatte. Davon würde für wenige Stunden, bis sie vollends verheilt war, lediglich eine kleine Bisswunde an seinem Hals zeugen.

Natürlich ahnte Joey nicht, in welche Richtung sich die Gedanken seines Tanzpartners bewegten, sonst hätte er schleunigst das Weite gesucht.

„Wie wär’s, wenn du deine Jacke holst und wir uns ein gemütlicheres Plätzchen suchen?“, raunte ihm Rubeus ins Ohr und beobachtete zufrieden, wie seinem Gegenüber ein heißer Schauer den Rücken herabrieselte.

„Klar ... ich sag nur schnell meinen Freunden Bescheid.“

Nach einem intensiven Blick auf Rubeus wandte er sich ab, um Duke und Yami zu sagen, sie müssten heute nicht auf ihn warten. Er war nur noch wenige Schritte vom Rand der Tanzfläche entfernt, als es geschah. Blitze zuckten vor seinen Augen, er meinte einen Schrei in seinem Kopf zu hören und etwas, das wie ein Schuss klang. Ein paar Schritte bewegte er sich noch auf unsicheren Beinen vorwärts, dann gaben sie nach und er fiel mitten unter die Tanzenden. Ein Mädchen, dem er direkt vor die Füße gestürzt war, schrie auf. Tristan löste sich von seinem Tanzpartner, der sich ihm als Alister vorgestellt hatte, und bahnte sich durch die Umstehenden einen Weg zu seinem Freund.

„Hey, Joey! Komm zu dir, was ist los?“

Eine gut gemeinte und ebenso schmerzhafte Ohrfeige brachte den Blonden ins Bewusstsein zurück.

„Was is’n passiert?“, nuschelte er benommen und sah sich um.

„Du bist umgekippt.“ Tristan half ihm auf die Beine und schob ihm einen Arm unter den Achseln durch, um ihn zu stützen. Er führte ihn zum Rand der Tanzfläche, wo Duke und Yami ihm einen Stuhl hinschoben. Rubeus, der ihnen gefolgt war, sagte:

„Ich bringe ihn gern nach Hause, wenn ihr wollt.“

„Danke, wir kümmern uns schon um ihn“, erwiderte Yami freundlich, aber bestimmt. Etwas an Joeys neuer Bekanntschaft war ihm nicht ganz geheuer.

„Auf dich wartet jemand, Tris.“ Joey deutete auf Alister, der abwartend ein Stück von ihnen entfernt stand.

„Aber ich kann dich doch nicht allein –“

„Doch, das kannst du. Nur weil ich schlappmache, wirst du nicht auf dein Date verzichten. Ab mit dir, na los, das ist ein Befehl!“

Er grinste ihn schwach an und richtete sich langsam auf. Die Stimme von eben hallte in seinem Kopf nach, nur noch ein schwaches Echo. Sie kam ihm bekannt vor, er konnte sie nur gerade nicht einordnen. Duke, Joey und Yami gingen zur Garderobe und verließen das Heaven, früher und in Joeys Fall anders als ursprünglich geplant. Die eisige Nachtluft klärte seinen Kopf. Bis sie seine Haustür erreicht hatten, musste er seinen Freunden mehrmals versprechen, sich sofort ins Bett zu legen und sich die nächsten Tage etwas zu schonen, das könne das erste Anzeichen für eine Grippe gewesen sein.

In der Wohnung streifte er sich die Schuhe von den Füßen, huschte kurz ins Bad und ließ sich aufs Bett fallen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. In der Ruhe seiner vier Wände konnte er besser über das eben Erlebte grübeln. Ein Schrei ... oder ein Jaulen ... beides zusammen.

„Bakura!“

Plötzlich saß er senkrecht im Bett, die Augen weit aufgerissen. Bei dem Gedanken an ihn hatte er ein ganz miserables Gefühl, als wäre etwas nicht mit ihm in Ordnung.

„Ich bilde mir das nur ein“, murmelte er und drehte sich auf die Seite, um zu schlafen, da er sich wie erschlagen fühlte.

Eine Dreiviertelstunde später war er immer noch wach, an Schlaf war nicht zu denken. Er hatte es deutlich im Gefühl, etwas stimmte nicht mit Bakura. Mit einem Ruck zog er die Bettdecke von sich, schaltete die Lampe auf seinem Schreibtisch an und fuhr den Rechner hoch. Seine Finger trommelten ungeduldig auf der Tischplatte herum, bis das Gerät so weit war, dass es ihn ins Internet ließ. Ein paar Klicks und Eingaben später erschien auf seinem Bildschirm eine Liste von Zügen. Joey brummte unzufrieden. Der nächste Zug, der in den Ort fuhr, von dem aus er damals heimgefahren war (sein Motorrad hatte er dort zu jener Zeit in Reparatur geben müssen), ging erst am Morgen und von da aus würde er mit dem Bus weiterfahren müssen, wie es aussah. Eine direkte Verbindung zu dem Dorf, in dessen Nähe Bakura lebte, existierte nicht.

Selbst wenn er dafür eine Fahrt von über anderthalb Stunden in einem Bummelzug und eine Bustour auf sich nehmen musste, er wollte wissen, was mit dem Weißhaarigen war. Er stellte den Wecker auf halb fünf (eine für ihn sonst absolut unmenschliche Uhrzeit) und zur Sicherheit sein Handy so, dass es ein paar Minuten später klingelte, und ging zurück ins Bett.
 

Die schrillen Töne des Weckers rissen ihn knappe dreieinhalb Stunden später aus einem Traum, in dem er kurz davor gewesen war, sich eine große Schokoladentorte einzuverleiben, die ihm Seto Kaiba überreicht hatte. Noch schlaftrunken überlegte er, ob das nun ein gutes Zeichen gewesen war, dass ihm sein früherer Erzfeind etwas schenkte, oder ob er davor bewahrt worden war, an einer Vergiftung zu sterben. Nachdem er den Wecker ausgeschaltet hatte, drehte er sich auf die andere Seite, um noch ein wenig zu dösen, bis ihn sein Handy endgültig wachrüttelte. Die Erinnerungen an den letzten Abend und seine Pläne brachen sintflutartig über ihn herein. Joey stürmte ins Bad unter die Dusche, zog sich in Windeseile an und eilte in die Küche weiter, um zu frühstücken.

Die Bücher und Notizmappen wurden aus dem Rucksack auf das Bett gekippt, ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln und Zahnputzzeug wanderten an ihrer Stelle hinein. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wie ihr Wiedersehen ausschauen würde, war er lieber gewappnet. Eine letzte kurze Überprüfung, ob er an alles gedacht hatte, und die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss.

In der U-Bahn erwischte er sogar einen Sitzplatz – den er zwei Stationen weiter an eine ältere Dame abtreten musste, dies aber mit einem Lächeln tat. Jeden Tag eine gute Tat. Im Bahnhof herrschte der übliche Betrieb einer Großstadt. Am Fahrkartenautomaten musste er ein paar Minuten warten, ehe er an der Reihe war und seine Karte ziehen konnte. Er sah sich nach der Anzeigetafel um, die über den Köpfen der Menschen angebracht war, und schrak zusammen. Bis sein Zug fuhr, waren es keine fünf Minuten mehr und als hätte das Schicksal heute etwas gegen ihn, befand sich das Gleis am anderen Ende des Bahnhofs.

Joey packte seinen Rucksack und raste, Leute anrempelnd und sich im Weiterlaufen entschuldigend, an den Aufgängen zu den Gleisen und den Bahnhofsgeschäften vorbei. Die Rolltreppe zu den Gleisen 11 und 12 war defekt, wie ein Schild verkündete. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Treppe hoch, verglich hastig die Nummer auf seinem Ticket mit der des Gleises und stieg hinter einem Mann mit Aktenkoffer in den Zug. Die Tür schloss sich automatisch hinter ihm, auf dem Bahnsteig ertönte ein Pfiff und der Zug rollte an. Der Blonde durchquerte mehrere volle Waggons und fand in einem Großraumabteil einen Platz, auf den er sich erleichtert fallen ließ.

So weit, so gut. Das hat schon mal geklappt.

Zwei Minuten später fiel ihm ein, was er vergessen hatte, ein Buch oder etwas ähnliches, um sich die Fahrt über zu beschäftigen. Andererseits hätte er sich kaum auf die Lektüre konzentrieren können. Je mehr der Zug an Fahrt aufnahm, umso schneller flogen seine Gedanken um die Wette und formten sich zu den unterschiedlichsten Ideen, wie Bakura reagieren könnte, wenn er da war. Würde er sich freuen, ihn zu sehen, ihm Vorwürfe machen, weil er trotz seiner Warnungen zurückgekommen war oder ihn gar anschreien? Er hatte keinerlei Ahnung. Bakuras Reaktion vorherzusagen, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Landschaft zog an ihm vorbei, ohne dass er ihr große Beachtung schenkte. Erst als ihn der Schaffner ansprach und nach seiner Fahrkarte fragte, schreckte er auf und kramte sie aus seiner Jacke hervor. Der Mann nickte zufrieden, stempelte sie ab und ging weiter. Joey lehnte sich nach einem kurzen Blick auf seine Uhr wieder zurück. In einer knappen Stunde war er an seinem Zielbahnhof, dann ging es mit dem Bus weiter.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“

Neben ihm im Gang stand eine junge Frau mit gewelltem, rotem Haar, die eben eingestiegen war. Sie schien Jura zu studieren, wie Joey an dem Buch erkannte, das aus ihrer Tasche heraus sah.

„Ja, klar doch.“ Er nahm seinen Rucksack von dem Sitz neben sich und stellte ihn vor sich auf den Boden, um ihr Platz zu machen.

„Vielen Dank.“ Sie ließ sich neben ihm nieder und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Ich bin schon durch den halben Zug durch, nirgends mehr ein Platz zu kriegen. Keine Ahnung, warum die Leute heute alle so früh unterwegs sein müssen. Ich bin übrigens Juliane und wie heißt du?“

Das alles kam in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihrem Mund.

„Joey“, antwortete er knapp. Ihm war nicht nach Reden zumute, er versuchte sich zurechtzulegen, was er Bakura sagen wollte. Schnell musste er erkennen, dass es bei seiner neuen Bekanntschaft genau gegenteilig aussah und so erfuhr er unfreiwillig, dass sie aus Süddeutschland stammte und für ein halbes Jahr zu einem Auslandsstudium hier war. Nach einer Viertelstunde, von der sie die meiste Zeit geredet hatte, entschuldigte er sich bei ihr höflich, er sei heute sehr früh aufgestanden und brauche noch etwas Ruhe vor einem sehr wichtigen Termin. Seine Augen richteten sich konsequent gen Fenster, um ihr zu zeigen, dass er kein weiteres Gespräch wünschte. In der Spiegelung der Scheibe sah er zufrieden, wie sie nach ihrem Buch griff und sich darin vertiefte.
 

Der Blonde war kurz davor, in einen Dämmerschlaf zu fallen, als die Stimme des Zugbegleiters nach einem Knacken durch den Lautsprecher drang und seine Station aufrief, die sie in wenigen Minuten erreichen würden. Juliane stand auf, um ihn vorbeizulassen und wünschte ihm viel Glück für seinen Termin. Mit zwei anderen Männern stellte sich Joey an die Tür und wartete ungeduldig, dass der Zug in den Bahnhof einfuhr. Er hatte nicht viel Zeit, um den Bus zu erwischen, und der nächste fuhr erst in einer Stunde. Sobald die Tür aufglitt, sprang er auf den Bahnsteig, nahm die Treppe nach unten in den Bahnhof und marschierte im Eilschritt durch selbigen.

Am Informationsschalter erkundigte er sich, wo die Busse abfuhren, und weiter ging es. Der Fahrer wollte gerade die Türen schließen. Joey rannte über die Straße, wild mit den Armen gestikulierend, und wurde zu seiner Erleichterung eingelassen. Ein tief empfundenes „Danke“ keuchend, zeigte er dem brummig dreinschauenden Busfahrer sein Ticket vor und suchte sich einen Platz. Bis auf eine alte Frau mit einem voll bepackten Einkaufstrolley war der Bus menschenleer.

Für die Fahrt aus der Stadt, die laut Fahrplan eine Viertelstunde dauerte, brauchten sie wegen eines von einem Unfall verursachten Staus doppelt so lange. In Joey machte sich mehr und mehr Nervosität breit. Er war sich, auch wenn er es nicht rational erklären konnte, mittlerweile absolut sicher, dass etwas mit Bakura nicht in Ordnung war, dass es ihm nicht gut ging, und er wollte wissen, warum. An den Straßenrändern türmten sich weiß-graue Schneehaufen; im Gegensatz zu Domino, das an der Ostküste lag, hatte es westlich im Landesinneren bereits die ersten Schneefälle gegeben. Serenity hatte ihrem Bruder gestern bei einem kurzen Telefonat erzählt, sie und der kleine Sohn der Nachbarin könnten bald den ersten Schneemann bauen, wenn es weiterhin so schneie.

Außerhalb der Stadt schlängelte sich die Straße durch weite Felder, Wiesen und kleine Ortschaften mit einer, höchstens zwei Bushaltestellen, an denen ein paar Fahrgäste ein- oder ausstiegen. Die Augen des Blonden wanderten im Minutentakt zu der Digitaluhr, die über der Fahrerkabine angebracht war. Ungeduldig zählte er die Stationen, bis endlich die angezeigt wurde, an der er aussteigen musste.

Ein Bauernhof mit Scheunen und ein paar Häuser, zu denen die Straße neben der Haltestelle abzweigte, waren weit und breit die einzigen Gebäude. Direkt an die schneebedeckten Felder, von denen der Hof umgeben war, grenzte der Wald. Joey schulterte seinen Rucksack und wanderte los, immer der Straße folgend. Der Wind pfiff ihm schneidend kalt um die Ohren, er zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht und war froh, die Fäustlinge doch mitgenommen zu haben. Sein Magen knurrte. Das Essen, das er sich eingepackt hatte, war zum größten Teil schon auf der Zugfahrt in seinen Magen gewandert.

Nach einer Weile kam die Forststraße in Sicht, eine breite, in das Holz gehauene Schneise, die hauptsächlich von den Waldarbeitern und dem Förster benutzt wurde. Er war erst ein paar Schritten gewandert, als er eine wenig elegante Bruchlandung hinlegte und sich auf dem Boden wiederfand. Vor zwei Tagen hatte es Eisregen gegeben und ließ seinen Marsch nun zu einer einzigen Schlitterpartie werden.

Ich hätte Schlittschuhe mitnehmen sollen, dachte er grimmig und wich einer großen gefrorenen Pfütze aus, die sich quer über den Weg zog. Auf halber Strecke ging ein Pfad ab, gerade breit genug, dass ein Auto darauf fahren konnte, der von einer Schranke aus dickem Holz versperrt und mit einem „Zufahrt verboten“-Schild versehen war. Ein erleichtertes Seufzen kam über seine Lippen, er hatte schon gefürchtet, sich doch im Weg geirrt zu haben. Von hier aus konnte es nicht mehr allzu weit sein. Er versuchte weitere, ihm bekannte Stellen auszumachen, an denen sie vorbeigekommen waren, doch im Winter sah der Wald ganz anders aus als vor einigen Monaten. Schnee und Eis bedeckten die Zweige und Wipfel der Bäume; in denen ein paar Krähen saßen und zu ihm herabsahen, scheinbar neugierig, was dieser fremde Mensch in ihrem Wald zu suchen hatte.

Zwischen zwei Fichten kam die Lichtung mit Bakuras Haus in Sicht. Der Pfad machte eine Biegung und Joey stand am Rand der großen Wiese, die zum Grundstück gehörte. Er war etwas außer Atem, mit der Zeit war ihm der Rucksack doch reichlich schwer geworden, aber froh, am Ziel zu sein.

Wehe Bakura, wenn er jetzt nicht zu Hause ist, dachte er und ging weiter, den Blick immer wieder zu Boden senkend, um den Eisflächen auszuweichen. Er stockte, als er die Spuren im Schnee bemerkte. Diese Fährte erkannte er im Schlaf, in seinen Büchern und im Internet war er praktisch auf jeder Seite darüber gestolpert. Es waren die Pfotenabdrucke eines Wolfs, was Joey zum Grübeln brachte. Entweder lebten in den Wäldern auch gewöhnliche Wölfe oder Bakura hatte kürzlich einen Ausflug gemacht, statt sich im Keller einzuschließen. Die Abdrücke liefen kreuz und quer über die Wiese und verloren sich zwischen den Bäumen, an einigen Stellen mischte sich etwas Rotes in den Schnee ...

Er schreckte aus seinen Betrachtungen auf, lief quer über die Wiese, um sich besagte Spuren näher anzusehen, und hoffte inständig, seine Vermutung würde sich nicht bestätigen. Diese Zuversicht zerschlug sich, sobald er sich über die ersten Flecken beugte. Blut hatte den Schnee getränkt. Er sprang auf, hastete und stolperte weiter, der roten Spur folgend, die ihn Richtung Haus führte. Einige Meter von dem Zaun entfernt, der den verwilderten Garten umgab, hörten die Wolfsspuren ganz plötzlich auf. Stattdessen fanden sich die Abdrücke von menschlichen Füßen. Mit jedem Schritt wuchs die Angst in Joey. Die Gartenpforte stand weit offen, mehrere große Blutflecke breiteten sich auf dem Weiß aus.

„Bakura?“

Der Schnee unter seinen Schuhen knirschte, die letzten Schritte bis zur Haustür kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Sie war unverschlossen, mehr noch, sie stand sogar einen winzigen Spalt offen.

„Bist du da, Bakura? Ist alles in Ordnung?“, rief er noch einmal und trat, als er keine Antwort erhielt, ein.

Die blasse Wintersonne stand noch nicht sehr hoch. Sie schien durch die Fenster herein, ließ ihr Licht auf einen zusammengekrümmten, nackten Körper fallen, der unbeweglich mitten auf den hellen Kacheln des Eingangsbereichs des Hauses lag. Joey hielt entsetzt den Atem an, er hatte das Gefühl, ihm würde das Herz stehen bleiben. Sekundenlang verharrte er auf der Stelle, zu keiner Bewegung fähig, bis er seinen Körper gedanklich mit einigen harschen Befehlen zur Ordnung rief.

„BAKURA! Nein, nein, nein!“

Mit wenigen Schritten war er bei ihm, bemerkte das blutgetränkte Stoffbündel auf seiner Schulter, die Schnitte und Aufschürfungen, die der Weißhaarige überall auf seiner Flucht davongetragen hatte. Joey legte zwei Finger an seine Halsschlagader, tastete nach dem Puls, immer mehr in Panik geratend, bis er endlich ein schwaches Pochen wahrnahm. Erste Erleichterung machte sich in ihm breit. Bakura war nicht tot – jedenfalls noch nicht –, aber würde es bald sein, wenn er nichts unternahm. Er zog vorsichtig den Stoff beiseite, der sich als T-Shirt herausstellte, und eine Schusswunde offenbarte. Sie hatte aufgehört zu bluten, aber er wollte sich nicht ausmalen, wie viel der andere von dem kostbaren Lebenssaft schon verloren hatte, wie viel davon im Schnee versickert war.

Joey sah sich nach einem Telefon um, fand es in seiner Hektik aber

nicht und zog sein Handy aus der Tasche. Sein Finger schwebte über der Wahltaste, die Nummer des Notdienstes war vollständig eingegeben, als er innehielt und schwer seufzend den Kopf schüttelte. Bakura brauchte dringend Hilfe, aber wenn er den Notarzt rief ... Er wusste nicht, was Bakuras Blutgruppe war und wenn sie sein Blut untersuchten, würden sie auf so viele Ungereimtheiten stoßen, herausfinden, was er war ... Gleich ob tot oder lebendig, er würde im Labor auf dem Seziertisch enden und von Ärzten und Wissenschaftlern als Versuchskaninchen und Forschungsobjekt missbraucht werden. Die Menschen fürchteten alles, was sie nicht verstanden, und oft genug zerstörten sie es am Ende in ihrer Angst und Unwissenheit. Allein bei dem Gedanken wurde Joey schlecht. Er musste ihm allein helfen.

Verzweifelt kramte er in seinem Gedächtnis nach den Erinnerungen an den Erste-Hilfe-Kurs, den er für den Führerschein gemacht hatte. Allgemein sollten Personen nach einem Unfall möglichst wenig bewegt werden, wenn er sich richtig erinnerte ... und er musste ihn warm halten, sein Körper fühlte sich viel zu kühl an. Aber hier im Flur, auf den kalten Steinen konnte er ihn nicht liegen lassen. Joey schob seine Arme vorsichtig unter Bakuras Körper durch und hob ihn vom Boden auf. Bei jeder zweiten Stufe, die er nahm, glitt sein Blick hinab zu der Wunde, immer in der Angst, sie könnte sich durch die Bewegung wieder öffnen.

Im ersten Stock angekommen sah er sich suchend nach dem Schlafzimmer um, öffnete erst die Tür ins Bad und gelangte, als er die Tür daneben mit dem Ellbogen aufstieß, in den gewünschten Raum. Es musste Bakuras Schlafzimmer sein, über einem Stuhl hingen ein T-Shirt von ihm, das er Joey einst geliehen hatte, und ein Paar Socken. Das aus geschwärztem Metall gefertigte Bett war noch von den Stunden Schlaf zerwühlt, die sich der Weißhaarige am Nachmittag gegönnt hatte, wohl wissend, dass er die ganze Nacht lang unterwegs sein würde. Joey bettete ihn in seitlicher Lage auf die weißen Laken und deckte ihn zu, den Bereich um seine Schulter aussparend. Das war das nächste, um das er sich würde kümmern müssen. Er hatte keine Austrittsstelle gesehen und das hieß, die Kugel musste noch in seinem Körper stecken. Joey biss sich auf die Lippen und schmeckte Blut. Verdammt, das war Arbeit für einen Arzt, nicht für einen kleinen Kunstgeschichtsstudenten wie ihn!

Und was erzähl ich dem, wo er die Schussverletzung her hat? Von einem Jagdunfall oder was in der Art? Womöglich noch von einem Jäger, der es auf Werwölfe abgesehen hat ...

Er raufte sich die Haare. Das brachte ihn alles nicht weiter – und dabei rann ihm die Zeit hier buchstäblich unter den Fingern weg. Je länger er sich mit seinen Überlegungen aufhielt, desto geringer wurden Bakuras Chancen, dass er ihm noch helfen konnte. Ein leises Stöhnen ließ ihn herumfahren und sich dem Bett zuwenden. Mit zwei Schritten war er an Bakuras Seite und wurde von halb geöffneten, desorientiert dreinblickenden Augen angesehen.

„J ... Joey?“, murmelte er kaum hörbar, doch schon im nächsten Moment trübte sich sein Bewusstsein wieder. Vergeblich versuchte der Angesprochene, ihn durch Tätscheln seiner Wangen und eine sich anschließende Ohrfeige zurückzuholen.

„Hey, mach keinen Scheiß, Bakura, wach auf!“

Er rüttelte ihn an der nicht verletzten Schulter, Tränen stiegen ihm in die Augen. So hatte er sich ihr Zusammentreffen nicht vorgestellt, nicht mit der Aussicht darauf, ihn auf diese Art zu verlieren. Schon wieder zu verlieren. Die salzigen Perlen rannen ihm über die Wangen, tropften auf die Bettdecke und den flach atmenden Körper. Noch nie in seinem Leben hatte er sich dermaßen hilflos gefühlt. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zusammenzuklauben. Unter all dem, was er über Werwölfe gelesen hatte, musste doch etwas bei sein, das ihm weiterhelfen konnte! In vielen Schriften wurden ihnen außerordentliche Selbstheilungskräfte zugesprochen – wenn dem so war, müsste es ihm eigentlich ein Leichtes sein, damit fertig zu werden. Müsste ... dass dem nicht so war, war offensichtlich und ihm war nur ein Stoff bekannt, der einem Werwolf richtig gefährlich werden konnte.
 

Nach einem letzten Blick auf den Bewusstlosen hetzte Joey aus dem Schlafzimmer, runter in die Küche und zog dort sämtliche Schubladen auf, auf der Suche nach einem geeigneten Messer. Wenn sein Verdacht stimmte, musste er die Kugel rausholen, egal wie, oder Bakura würde sich auf keinen Fall erholen. Sie steckte schon viel zu lange in seinem Körper.

Die ersten Messer, die ihm unter die Finger kamen, legte er beiseite, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Große Fleischmesser, wie man sie in der Küche zum Zerteilen größerer Brocken verwendete, erschienen ihm für seine Arbeit mehr als ungeeignet. In einer anderen Schublade stieß er auf ein Klappmesser mit hervorragend geschärfter Klinge, wie er selbst jaulend an einem Schnitt in den Finger feststellen musste. Er stellte einen Topf mit Wasser zum Erhitzen auf den Herd und widmete sich weiter der Suche nach Geräten, die ihm bei seinem Vorhaben hilfreich sein konnten. In der Werkzeugkiste, die der Hausherr unter der Spüle aufbewahrte, fand er einige Zangen, wie sie unter anderem zum Abklemmen von Drähten benutzt wurden.

Besser als nichts, sagte er sich und warf Zangen und Messer in das heiß blubbernde Wasser, um sie zu sterilisieren, bevor er sich selbst die Hände desinfizierte. Allmählich funktionierte sein rationales Denken wieder und übernahm die Steuerung seiner Handlungen.

Mit den abgekochten Instrumenten und einem Stapel frischer Tücher lief er zurück zu Bakura, an dessen Zustand sich in seiner Abwesenheit nichts verändert hatte. Ob er das als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte, konnte er nicht sagen. Wenigstens würde der andere nichts von den Schmerzen mitbekommen, die er ihm gewiss zufügen würde. Er stellte das Tablett mit den Sachen auf dem Nachtschrank ab, zog seinen Pullover aus und krempelte sich die Ärmel des Hemds hoch, das er darunter trug. Ein letztes Mal tief durchatmend, griff er zum Messer und setzte einen ersten, zaghaften Schnitt, um die Wunde noch etwas weiter zu öffnen. Sofort trat Blut hervor, floss über die helle Haut und mischte sich mit dem, das bereits getrocknet war.

In den folgenden Minuten hätte sich Joey mindestens ein Paar Hände mehr gewünscht. Immer wieder musste er unterbrechen und das Blut wegtupfen, um etwas zu sehen, während er sich vorsichtig vorarbeitete, bis er mit der Messerspitze auf etwas stieß, das ein metallisches Schaben hören ließ. Das musste das Mistteil sein, nach dem er gesucht hatte. Er wandte sich ab, um nach der Zange zu greifen. Als er sich wieder umdrehte, hätte er sie um ein Haar fallen lassen.

Unter zusammengezogenen hellen Brauen sah ihn ein Paar rehbrauner, zu schmalen Schlitzen verengter Augen mit einer Mischung aus Schmerz, Verwirrung und Wut an.

„Was ... wird das?“, presste Bakura zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor und kämpfte bei jedem Wort damit, nicht in die Ohnmacht zurückzugleiten, aus der sich sein Geist eben mühevoll befreit hatte. Er konnte sich nicht erinnern, sich je in seinem Leben so schwach und verletzbar wie jetzt gefühlt zu haben.

Der Blonde strich ihm beruhigend über den Arm.

„Die Kugel ist noch in deiner Schulter; ich versuche sie rauszuholen. Das wird wahrscheinlich gleich ziemlich wehtun ... Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du bleibst noch so lange bewusstlos, bis ich fertig bin.“

„Wie überaus freundlich“, kam die gezischte Antwort des Werwolfs. „Jetzt mach schon.“

„Ja ... Warte kurz, ich hab eine Idee.“

Bakura beobachtete verwundert, wie Joey aufsprang und das Zimmer verließ.

„Wo willst du hin?“

„Komme gleich wieder!“, drang seine Stimme von der Treppe her, die er herunter lief.

Die Finger des Weißhaarigen trommelten ungeduldig auf dem Bettlaken herum. Er hasste es, wenn er warten musste und noch mehr, wenn er wie jetzt keine Ahnung hatte, worauf überhaupt. Ein dumpfes Poltern und ein unterdrückter Schmerzenslaut sagten ihm kurz darauf, dass sich sein unerwarteter Besuch auf dem Rückweg befand und wieder einmal seiner Tollpatschigkeit erlegen war. Sein Gesichtsausdruck wechselte beim Anblick des hölzernen Kochlöffels von genervt wartend zu verwirrt-skeptisch.

„Sag nicht, du willst damit in mir rumstochern.“

„Unsinn. Mund auf, draufbeißen“, kommandierte Joey und hielt ihm den Löffelstiel hin.

„Wozu?“

„Hab ich im Fernsehen gesehen, das soll verhindern, dass du dir auf die Zunge beißt.“

Widerwillig gab Bakura nach. Joey griff nach der Zange und platzierte sie an der gleichen Stelle wie zuvor das Messer. Sein Patient zuckte unter der Berührung mit dem immer noch sehr warmen Instrument zusammen. Die Enden glitten auseinander, fuhren über Metall und versuchten die Kugel zu packen. Joey rutschte ab, versuchte es erneut. Ein Stöhnen, das zu einem Brummen zu unterdrücken versucht wurde, ließ ihn innehalten. Sein Blick ging immer wieder zu Bakura, nahm dessen Gesicht in Augenschein, auf dem sich die Schmerzen deutlich abzeichneten.

Zum dritten Mal versuchte er es, bekam die Kugel kurz zu packen, verlor sie dann aber. Dem Weißhaarigen stiegen Tränen in die Augen. Wenn das hier vorbei war, konnte er eine Menge kleine Holzstückchen ausspucken, aber besser das als eine zerbissene Zunge.

Die Hände des zwangsweisen Aushilfschirurgen zitterten, es kostete ihn die größte Mühe, sie so weit wieder unter Kontrolle zu bekommen, dass er fortfahren konnte, ohne Bakura noch mehr Schaden zuzufügen. Beim vierten Versuch spürte er endlich, wie sich die Zange um den Fremdkörper schloss. Unter leichten Drehungen zog er sie langsam zurück, musste mehrmals nachfassen, um den Halt an dem Geschoss nicht zu verlieren. Eine nervenaufreibende Ewigkeit später kam es ans Tageslicht und fiel in seine Hand. Unter den blutigen Schlieren schimmerte Silber hervor.

„Geschafft“, flüsterte er, sowohl das Herausholen der Kugel als auch seinen Zustand in diesem einen Wort einschließend, und ließ das Corpus Delicti auf das Tablett fallen. „Alles mit dir okay?“

Der Angesprochene nickte, nahm den Löffel aus dem Mund, an dem sich Bissspuren zeigten, und spuckte ein paar Holzsplitter auf das Laken. Joey konnte sich ein kurzes schiefes Grinsen nicht verkneifen.

„Ich muss die Wunde noch schließen. Hast du Nadel und Faden im Haus?“

„Sehe ich aus wie ein Schneider?“

Bakura blinzelte mehrmals, Joey verschwamm vor seinen Augen, obwohl er ihm so nahe war. Er versuchte die Bettdecke weiter von sich zu schieben, es kam ihm viel zu heiß vor, doch er hatte kaum noch die Kraft, den Arm ein Stück zu heben. Ein Rauschen erfüllte seine empfindlichen Ohren, anfangs leise, dann schnell lauter werdend. Er sah, wie sich Joeys Lippen bewegten, hörte nicht mehr, wie er seinen Namen rief und ihn bat, wach zu bleiben. Taubheit und Dunkelheit überfluteten ihn.

„Bakura! Nicht schon wieder ...“

Vergeblich versuchte er ihn aufzuwecken und beschloss dann, seine erneute Bewusstlosigkeit zu nutzen, um endlich die Operation abzuschließen und ihn zusammenzuflicken. Aus Mangel an Nähzeug oder etwas ähnlichem, mit dem er die Wundränder zusammenheften konnte, griff er zu den Verbänden, die er im Medizinschrank gefunden hatte, und verarztete ihn damit so gut es ging. Am Ende besaß Bakuras Oberkörper frappierende Ähnlichkeit mit dem einer Mumie.

Erschöpft und durchgeschwitzt ließ sich Joey neben das Bett sinken und schloss für einige Minuten die Augen. Die Spannung, die wie eine Ladung Strom durch seinen Körper gejagt war, ließ nach. Jetzt lag es an Bakura, ob er sich davon erholte. Er hatte vorerst getan, was er konnte.

Immer noch wie betäubt von dem, was er eben getan hatte, wankte er mit dem Tablett die Treppen herunter, musste sich zwischendurch mehrmals am Geländer abstützen, um nicht zu stürzen und sich bei seinem Glück noch das Genick zu brechen. Das improvisierte Operationsbesteck landete in der Küchenspüle, um die Reinigung konnte er sich später immer noch kümmern. Sein nächster Weg führte ihn ins Bad, wo er sich das Blut von den Händen wusch. Mehrere Ladungen des eiskalten Wassers fanden den Weg in sein Gesicht, ließen ihn allmählich etwas zur Ruhe kommen. Zurück bei Bakura zog er sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Er konnte nur hoffen und warten, dass er dieses Mal auch wieder zu sich kam.
 

Stille herrschte in dem hell getünchten Raum. Einzig das Ticken von Joeys Armbanduhr war zu hören, das ihm mit der Zeit immer lauter zu werden schien, bis das Tick-Tack das ganze Zimmer ausfüllte und er sich kurzzeitig sogar die Ohren zuhielt, nur damit er es nicht mehr hören musste. Erneut stieg das Gefühl von Hilflosigkeit in ihm auf, wie er Bakura da liegen sah, bleich wie das Bettlaken. Joey rieb sich über die Augen, sie brannten noch von seinen letzten Tränen, und griff nach dem Glas Orangensaft, das er sich aus der Küche geholt hatte. Über den Glasrand hinweg beobachtete er den Bewusstlosen. Auf einmal bewegte sich der Kopf, ging ruckartig von einer Seite zur anderen. Bakura schlug die Augen auf.

„Bakura! Dem Himmel sei Dank!“

Der Saft schwappte gefährlich nahe an den Rand, als Joey das Glas auf den Nachtschrank zurückstellte und seinen heimlich Geliebten freudig anlächelte.

„Was ... machst du hier?“

Die Stimme, die der Blonde so kraftvoll in Erinnerung hatte, klang hohl, geschwächt von den Anstrengungen.

„Ich hatte Angst, du wachst überhaupt nicht mehr auf“, antwortete Joey, dem nun doch ein paar Tränen die Wangen herunter liefen. „Du warst eine ganze Weile bewusstlos.“

„Wie spät haben wir es?“

„Gleich elf. Tut dir was weh? Brauchst du was?“

„Durst ...“, krächzte Bakura. Seine Kehle fühlte sich wie Sand in der Sahara an.

„Nimm erst mal den hier.“ Joey reichte ihm seinen Saft. „Kannst du das Glas selbst halten, dann geh ich inzwischen und hole dir noch was.“

Er umklammerte das kalte Glas mit beiden Händen und nickte ihm zu. Gierig stürzte er die Flüssigkeit in großen Schlucken herunter, fühlte sie durch die Kehle rinnen. Während er auf Joeys Rückkehr wartete, setzten sich die Bruchstücke in seinem Gehirn langsam zusammen. Dieser widerliche Kerl hatte ihn verfolgt und angeschossen. Er war den Hang hinabgestürzt, in die Kuhle hinein und ihm dadurch knapp entronnen. Kurz vor dem Morgengrauen war er wieder zu sich gekommen und hatte sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Jäger nicht mehr in der Nähe war, auf den Weg nach Hause gemacht. Nicht weit von seinem Ziel entfernt hatte ihn die Morgenröte eingeholt und die Wolfsgestalt aufgehoben. Was passiert war, nachdem er ins Haus gestolpert war, wusste er nicht.

Das Pochen in seiner Schulter erinnerte ihn daran, wo der Mann ihn getroffen hatte. Er betastete die Stelle und fühlte den Mull, mit dem sie verbunden war. Das musste Joey getan haben. Wie er hierher kam und was er hier zu suchen hatte, konnte er sich jedoch nicht erklären. Nach ihrem Treffen hatte er es sich strikt untersagt, mit ihm in Kontakt zu treten, und sei es nur über eine kurze SMS, um zu hören, ob er gut zu Hause angekommen war. Es sei besser so, für sie beide, hatte er sich eingeredet. Er hatte schon einmal erfahren müssen, was es hieß, wenn er die Bestie, die in ihm war, nicht unter Kontrolle halten konnte. Selbst wenn das für ihn ein Leben in Einsamkeit und Einsiedelei bedeutete, war es besser, als diejenigen zu verletzen, die ihm etwas bedeuteten.

Wie oft hatte er vor der Telefonnummer gestanden, die er mit einem Magnet an den Kühlschrank geheftet hatte, und überlegt, ob er bei ihm anrufen sollte ... viel zu oft. Er hatte gehofft, Joey würde nichts mehr von ihm wissen wollen, wenn er sich nicht zurückmeldete, das Interesse an ihm verlieren – und trotzdem war er gekommen.

„Alles okay?“, riss ihn die Stimme des Blonden in die Gegenwart zurück und er bemerkte, dass er die ganze Zeit auf den leeren Grund des Glases gestarrt hatte.

„Ja ... denke schon.“

„Du hast ’ne Menge Blut verloren.“ Er schenkte ihm Saft nach. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Den Arzt zu rufen ...“

„Das wäre blanker Wahnsinn gewesen“, beendete Bakura den Satz für ihn. „Die hätten mich sofort mitgeschleift, mein Blut unterscheidet sich von dem der Menschen ein wenig.“

„Das dachte ich mir.“

„Wenn du unbedingt was für mich tun willst, im Kühlschrank sind Steaks, hol mir ein paar davon.“ Bakura nahm einen weiteren tiefen Schluck Saft.

„Wi ... willst du sie gebraten oder roh?“

„Roh natürlich“, brummte er. „Vergessen, was ich bin? Ich brauche Fleisch, wenn ich mich erholen will. Silber ist hochgiftig für mich.“

„Natürlich.“

Joey stellte die Saftpackung ab und machte auf der Stelle kehrt. Über seinen Nacken zog ein Frösteln. Darauf hätte er auch von selbst kommen können; er hatte es nicht mit einem normalen Menschen zu tun, der sich erholte, wenn er genug gegessen und getrunken hatte, um den Verlust an Flüssigkeit auszugleichen. Ein paar Minuten später hatte Bakura das Verlangte und fing an zu essen. Wenn er kurz aufsah, versuchte er in Joeys Blick zu lesen, was der andere darüber dachte. Neugier? Abscheu? ... Schrecken? Ein Hauch Erleichterung? Er war nicht sicher, in seinem Gesicht schien sich alles und gleichzeitig nichts zu spiegeln.

Mit jedem Bissen Fleisch, den er hinunterschlang, spürte er, wie seine Kraft nach und nach zurückkehrte. Die Abschürfungen wurden von neuer Haut überzogen und verschwanden, ohne Spuren zu hinterlassen, die Schnittwunden schlossen sich. Nur seine Schulter schmerzte nach wie vor. Wahrscheinlich würde es einfach etwas länger dauern, sich dort zu regenerieren, die Kugel hatte lange in seinem Fleisch gesteckt und ihre giftige Kraft entfaltet, beruhigte er sich.

Er leckte sich zufrieden den Fleischsaft von den Fingern und lehnte sich gegen das Kopfende des Bettes. Sein Magen war gefüllt und er spürte eine angenehme Müdigkeit in sich aufsteigen. Schlaf und Ruhe, das wusste er, waren der schnellste Weg, um seine Verletzungen ausheilen zu lassen.

„Das tat gut“, sagte er zu dem Blonden, der mit dem leeren Teller neben seinem Bett stand und ihn unschlüssig ansah. Vier Herzschläge später fügte er hinzu: „Aber jetzt verschwinde, ich komm hier allein klar.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja, bin ich.“ Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Nur falls du es vergessen haben solltest, wir haben Vollmond. Also mach, dass du nach Hause kommst.“

Er rutschte nach unten, bis sein Kopf wieder auf dem Kissen lag und wartete, bis Joey das Zimmer verlassen hatte, ehe er die Augen schloss. Die Bettdecke dämpfte sein Seufzen. Was für ein hinterhältiger Zug des Schicksals, ihm zu seiner Rettung den Mann vor die Nase zu setzen, den er so dringend vergessen wollte. Mehr als jene eine Nacht konnte nicht zwischen ihnen sein, alles andere barg zu hohe, nicht kalkulierbare Risiken für sie beide.
 

Joey begab sich mit dem Teller nach unten, zurück in die Küche, und stellte ihn auf dem Esstisch ab. Die Spüle bot keinen Platz mehr, weil er dort sein Operationsbesteck abgeladen hatte, und auf der Fläche daneben türmte sich das schmutzige Geschirr der letzten Tage. Bakura nahm es meistens nicht so genau, ob er nun einen Tag früher oder später seinen Abwasch erledigte. Er kümmerte sich darum nach Lust und Laune – außer wenn ihm das Geschirr auszugehen drohte.

Wie das wohl mit uns beiden in einem Haushalt wäre ..., überlegte er, während er Geschirr und Besteck auf dem Tisch stapelte und Wasser in die Spüle laufen ließ. Wenn er schon so viel zusätzliches Chaos produzierte, musste er es wenigstens auch wieder beseitigen. Serenity würde wahrscheinlich spätestens nach dem ersten Besuch bei uns durchdrehen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Er lachte leise bei der Vorstellung und machte sich an den Abwasch. Stück für Stück wanderten die Sachen in das heiße Wasser und zum Abtropfen auf das Gestell. Wenn Bakura dachte, er würde brav seinem Befehl folgen und gehen, hatte er sich gehörig verrechnet. Er wollte wissen, was passiert war, wer ihm das angetan hatte, warum er sich nicht gemeldet hatte ... Einmal darüber nachgedacht, fielen ihm tausend Fragen ein, die er ihm stellen konnte.

Bis der Mond aufging, dauerte es noch ein paar Stunden und diese Zeit gedachte er nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Sollte Bakura ihn seinetwegen rauswerfen, wenn er ihn dann nicht hier haben wollte – aber erst, nachdem er seine Antworten bekommen hatte. Seit er wieder richtig bei Bewusstsein war, verhielt er sich ihm gegenüber so abweisend. Wenigstens ein kleines „Danke“ wäre ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn er ihm schon die Kugel rausholte.

Ich wüsste gern, wer sie abgeschossen hat und ... Oh Schande, das hab ich total vergessen!

Er warf die Gabel, die er gerade mit dem Lappen abwischte, ins Schaumwasser zurück, trocknete sich die Finger rasch am Küchenhandtuch ab und stürmte, im Flur nach seiner Jacke greifend, zur Haustür. An einem Haken daneben hing ein Schlüsselbund, den er in die Hosentasche schob. Kaum hatte er die Schwelle übertreten, fluchte er schon, keine Sonnenbrille zu haben. Die Sonne ließ den Schnee wie ein Diamantenfeld glitzern und blendete entsetzlich in den Augen, doch warten, bis sich ein paar Wolken vor sie geschoben hatten, konnte er nicht. Unter dem Vordach, an der Hausmauer lehnend, entdeckte er die Geräte, die er benötigte. Beladen mit Schneeschieber, Besen und einem großen Eimer machte er sich sogleich ans Werk, zunächst den Weg zur Gartenpforte und dann zur Garage, wo Bakura sein Auto stehen hatte, vom Schnee zu befreien. Die Stellen, an denen er Blut verloren hatte, schaufelte er in den Eimer, um den Schnee später anderweitig im Haus zu entsorgen. Ebenso verfuhr er mit der Spur, die Bakura hinterlassen hatte. An den blutfreien Stellen schaufelte er den Schnee so um, dass die Abdrücke überdeckt wurden.

Als er seine Arbeit schließlich mit kaum mehr spürbaren Fingern beendete, sah er sich zufrieden um. Der richtigen Untersuchung durch einen Spurenleser würde das Gelände zwar wahrscheinlich nicht lange standhalten, aber für einen oberflächlichen Blick musste es reichen. Wenn der Schütze explizit Jagd auf Werwölfe gemacht hatte – und davon musste er aufgrund der nicht eben alltäglichen Munition ausgehen –, war es gut möglich, dass er sich noch in der Nähe befand und nach ihm suchte. Er wollte bestimmt sichergehen, dass er ihn richtig erwischt und nicht nur gestreift hatte.

Joey sah sich nach allen Richtungen um. Weit und breit war niemand zu sehen. Er konnte nur hoffen, dass es so blieb.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  trinithy
2010-09-06T19:28:45+00:00 06.09.2010 21:28
Wah...doch ein Vampir! :D
Aber keine, der Bakura das Wasser reichen kann. So!

Und Joey spürt wenn Bakura in Gefahr ist? Die beiden haben also schon eine besondere Bindung^^

Und ich finde es gut, dass er sich auf den Weg macht nach Bakura zu suchen! Go Joey, GO!

Juliane, so so, wird sie noch wichtig, weil du ihr einen Namen verpasst hast? Ich werde einfach mal das Kapitel weiter lesen^^

Armer Joey in einer Zwickmühle...er kann keinen Arzt rufen, muss Bakura aber dennoch helfen *pat*
Aber er schlägt sich hervorragend, wenn man bedenkt, dass er keine Ahnung im Umgang mit sowas hat.

Ein dumpfes Poltern und ein unterdrückter Schmerzenslaut sagten ihm kurz darauf, dass sich sein unerwarteter Besuch auf dem Rückweg befand und wieder einmal seiner Tollpatschigkeit erlegen war. Sein Gesichtsausdruck wechselte beim Anblick des hölzernen Kochlöffels von genervt wartend zu verwirrt-skeptisch.
„Sag nicht, du willst damit in mir rumstochern.“
„Unsinn. Mund auf, draufbeißen“, kommandierte Joey und hielt ihm den Löffelstiel hin.

*lach*
Da musste ich ziemlich lachen! Ich Sehe Bakura vor mir, wie er Joey anguckt mit einem Blick, der andeutet "Sag 'doch' und du bist tot" xD

„Sehe ich aus wie ein Schneider?“
Da hat Bakura Recht, das "Tapfere Schneiderlein" war eine andere Geschichte^^

Aber ich muss an dieser Stelle einmal sagen, ich finde es rührend, wie sich Joey um Bakura kümmert! *nick*

Roh natürlich“, brummte er. „Vergessen, was ich bin? Ich brauche Fleisch, wenn ich mich erholen will. Silber ist hochgiftig für mich.“
Ich sehe einen trotziges, pampiges und ziemlich zickiges Kindergesicht vor mir *lach*

Aber jetzt weiß ich ja immer noch nicht wer dieser Jäger ist, wie gemein^^
Da muss ich wohl weiter lesen - was ich so oder so gemacht hätte xD

Wieder ein sehhr schönes Kapitel, ich mag deinen Schreibstil, falls noch nicht erwähnt^^

Von: Karma
2010-09-05T11:58:20+00:00 05.09.2010 13:58
Uh, das Kapitel fängt ja schon mal gut an! Erst der Fast-Sex mit einem Vampir (yay, ich mag Rubeus, aber Joey scheint Übernatürliches plötzlich ganz schön anzuziehen XD) und dann diese kurze Verbindung zu Bakura...
*___________*
Das ist toll. Und dass Yami was merkt im Bezug auf Rubeus, das finde ich auch klasse. Ich mag Yami.

Und ich mag Joey. Er ist einfach toll. Schickt Tris zurück zu Alister (yeah, ich hatte Recht!), rollt sich schlaflos in seinem Bett rum und steht dann tatsächlich mitten in der Nacht (jedenfalls für seine [und meine] Verhältnisse) auf, um zu Bakura zu fahren. Oh, und der Traum von der Schokotorte war ein tolles, liebevolles Detail. Ich muss ehrlich sagen, meine erste Frage war auch: Na, ob die nicht vielleicht vergiftet ist, wenn sie von Seto Kaiba kommt?

Joeys Reise ist auch toll. Immer dann Stau und nervige Leute, wenn man's am wenigsten gebrauchen kann. Er tut mir so leid, die arme Socke.
.____.

Das Wiedersehen ist toll.
;_________;
So richtig schön herzergreifend. Man fühlt richtig Joeys Panik bei Bakuras Anblick. Und dass Bakura kurz aufwacht, ehe er wieder wegsackt, ist auch einfach genial. Ich liebe die Story jetzt schon!
*weiterles*

Die Operation ist auch richtig gut gelungen. Joey als Aushilfschirurg (tolles Wort übrigens), der erst total panisch wird und dann aber erst mal die Panik verdrängt und einfach rational handelt. Dazu der kleine Anfall von Tollpatschigkeit auf der Treppe, der Kochlöffel und die Tatsache, dass er die Kugel nicht sofort zu fassen kriegt - das sind richtig schöne Details, die das Ganze sehr realistisch zu lesen machen.
*_______*
Und dass Bakura zwischendurch aufwacht und hinterher die Holzsplitter ausspuckt, hat mich einfach nur zum Lachen gebracht.
*kicher*
*weiterles*

Bakura ist ja so putzig, wenn er grummelig ist!
*grins*
*angeknurrt wird*
Aus, Kura! Mach sitz!
XD

Joeys Gedankengänge zum Ende des Kapitels hin finde ich toll. Jaja, wie wäre das wohl mit euch beiden Chaoten in einem Haushalt? Ich kann's mir lebhaft vorstellen.
*kicher*
Übrigens bewundere ich Joey dafür, dass er ans Schneeschippen und ans Beseitigen der Spuren denkt. Das würde mir wahrscheinlich auch erst ganz zum Schluss einfallen, aber immerhin denkt er dran.
*Joey pat*
Ich bin mal gespannt, ob er seine Antworten kriegt. Bakura war ja doch sehr verstockt, aber er hat ja auch seinen Grund dafür.

Irgendwie frage ich mich gerade, wie Joeys Freunde wohl auf seine Abwesenheit reagieren werden. Immerhin werden sie sich ja wohl Sorgen machen, nachdem er am Abend vorher so zusammengeklappt ist. Und wenn sie dann zu ihm kommen und er einfach verschwunden ist, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben... Ich glaube, Yami, Duke und Tris werden ihn kräftig treten, sobald sie ihn wiedersehen.
^____^
Und ich bin auch ganz schön gespannt, was jetzt mit dem Jäger ist.
>.<

Last but not least eine Sache, die eigentlich gar nichts mit der Story zu tun hat: Ist es bezeichnend, wenn ich bei der Stelle, als Rubeus' wahres Wesen erwähnt wurde, "Kind der Nacht" von Agonoize im Ohr hatte?
*lol*
*weiter zum nächsten Kapitel saus*


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