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Hungerstreik

von

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Hungerstreik. Er sitzt einfach da, starrt die Wand an, während er das Wort zu begreifen versucht. Hungerstreik. Jede Nahrungsaufnahme verweigern. Und das bis zum Schluss. Nicht einen Moment kann er daran zweifeln, dass Kieran das durchhält. Er ist so einer, war immer schon gewesen, jemand, der nie aufgibt. Nie. Und diese Sache, diese eine Sache, ist wichtig. Wichtig für ihn, für alle anderen Gefangenen. Er ist nicht allein dort, versucht er sich Mut zu machen, doch es funktioniert einfach nicht. Es ist geradezu ein erbärmlicher Versuch, sich selbst besser zu fühlen.

Mit schnellen Schritten geht er zum Radio, das auf dem Boden liegt, und stellt es aus, seit einiger Zeit kommt sowieso nicht mehr als ein undeutliches Rauschen. Er hat es einfach fallen gelassen, eben gerade, als ihm mitgeteilt wurde, dass Kieran Doherty nun auch mit dabei ist. Dabei. Das klingt so positiv. Und vielleicht ist es das ja auch, vielleicht bewirkt es tatsächlich etwas. Vielleicht. Wer weiß das schon? Tatsache ist jedenfalls, dass bereits vier Männer gestorben sind. Und keiner, der die Macht hatte, etwas zu tun, hat etwas unternommen. Keiner, der es wirklich verhindern konnte. Der Gedanke wandert zu Margaret Thatcher, der Premierministerin. Fast ganz von allein. Er blickt aus dem Fenster, an das er sich noch eben gerade gestellt hat, um einen besseren Empfang für das Radio zu bekommen, ohne zu wissen, was gerade mit dem besten Freund seiner Schulzeit geschah. Dann hatte das Telefon geklingelt. Die Forderungen der Gefangenen waren die gleichen wie bei Bobby Sands, hatte ihm eine aufgelöste Geraldine erzählt. Aufgelöst, jedoch nicht überrascht. Sie war nicht überrascht davon, dass Kieran sein Leben aufs Spiel setzt, dass er nun auch dazugehört. Genau wie seine Familie. Sie hatten es erwartet, erzählt sie.

Er jedoch war es gewesen. Er kennt den neuen Kieran nur aus dessen Briefen, persönlich hatten sie sich das letzte Mal 1971 gesehen, mit 16, ein Jahr vor dem Bloody Sunday in Derry. Sie waren umgezogen, weg von der Insel, weg von den Problemen, wie seine Mutter so schön gesagt hatte. Erst hatten sie eine Weile in England gewohnt, dann Wales und dann waren sie doch zurückgekommen, dieses Mal allerdings in den Südwesten Irlands, nach Cork. Dort waren sie geblieben und seine Eltern hatten nicht im Traum daran gedacht, jemals nach Nordirland zurückzukehren.

Er beginnt, langsam im Raum herumzugehen. Bobby Sands, der erste der Hungerstreikenden, bald darauf gefolgt von Francis Hughes, Raymond McCreesh und Patsy O'Hara, hatte für die ersten Tage seines Streikes Tagebuch geführt. Der letzte seiner Einträge war auch bei ihm angekommen. Kieran selbst hat ihm den Brief geschrieben, wie genau er nun an den Text gekommen ist, weiß er nicht, aber es ist ihm auch reichlich egal. Aus irgendeinem Grund muss er jetzt daran denken und er verspürt das Bedürfnis, den Eintrag nochmal zu lesen, dieses Mal genauer. Hastig beginnt er, in dem Zettelchaos auf dem Schreibtisch zu suchen, bis er schließlich ein zerknittertes Papier in Händen hält.

Lieber Seán.

Wie geht es dir da unten in Cork? Gut, hoffe ich doch? Mir geht es eher mittelmäßig. Das Essen ist nicht sonderlich toll, aber ich habe angenehme Gesellschaft. Noch. Hast du eigentlich etwas von dem Hungerstreik mitbekommen? Bobby Sands? Er ist vor einigen Tagen gestorben. Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich dazu aufraffen kann, so etwas durchzuhalten. Du musst ja schließlich nicht nur vor den Wärtern widerstehen, sondern auch vor dir selbst! Das ist wohl das Schwerste, denke ich. Und ich würde mich nicht dazu in der Lage fühlen. Warum also überhaupt erst anfangen?

Er hält inne. Der Brief war am 09. Mai geschrieben worden. Innerhalb weniger Monate hatte sich Kierans Einstellung also komplett geändert. Oder nicht? Seine Freundin hatte gesagt, sie wäre nicht überrascht gewesen. Das kann doch nicht alles in den letzten paar Monaten passiert sein, diese Veränderung. Er wendet sich wieder dem Brief zu, er will über so etwas nicht nachdenken, kann es auch nicht.

Frank Hughes ist ihm gefolgt – aber das weißt du ja. Francis. Ich glaube, er liegt mittlerweile ebenfalls im Sterben. Und es wird nicht reagiert. Allerdings scheint es so, als hätten sie.. bald wir.. die Weltaufmerksamkeit mittlerweile. Wahrscheinlich weil Bobby zum Parlamentsmitglied gewählt wurde. Was ich dich aber eigentlich fragen wollte, ist, ob du wusstest, dass Bobby Sands Tagebuch geschrieben hat? Natürlich nicht alle 66 Tage durch – du musst dir das mal vorstellen, Seán, 66 Tage! Ich habe neulich etwas von 3 Wochen gelesen, die ein Mensch ohne Nahrung aushalten kann!-, aber zumindest die ersten 17. Der letzte Eintrag lautet folgendermaßen:

“Mura bhfuil siad in inmhe an fonn saoirse a scriosadh, ní bheadh siad in inmhe tú féin a bhriseadh. Ní bhrisfidh siad mé mar tá an fonn saoirse, agus saoirse mhuintir na hEireann i mo chroí.

Tiocfaidh lá éigin nuair a bheidh an fonn saoirse seo le taispeáint ag daoine go léir na hEireann ansin tchífidh muid éirí na gealaí.“

Ich hoffe doch, du kannst Irisch noch? Wenn nicht, hier die Übersetzung: „Sie werden mich nicht unterkriegen, weil das Verlangen nach Freiheit und die Freiheit der Iren, in meinem Herzen ist.Der Tag wird kommen, an dem alle Einwohner Irlands das Verlangen nach Frieden zeigen. Es ist dieser Tag an dem wir das Aufgehen des Mondes sehen.“

Vielleicht hat dich das ja zum Nachdenken gebracht. So wie mich.

Man liest sich.

Ciarán

Er greift nach den anderen Briefen, die darunter liegen. Irgendwie verspürt er auf einmal das Bedürfnis, sie zu lesen. Alle. Nacheinander. Um sich Kieran ins Gedächtnis zu rufen. Und eventuell, um nach einem Anzeichen zu suchen. Für was eigentlich? Dass er ein Revolutionär ist? Er muss auflachen. Trocken, kurz. Freudlos. Revolutionär. Ist das hier eine Revolution? Mit welchem Ziel? Und wer ist daran beteiligt? Was kann man als Außenstehender überhaupt tun?

Er muss daran denken, wie sich die Familie von Bobby Sands wohl fühlen musste. Bestimmt hatten sie sich gewünscht, dass er den Streik abbrechen würde. Aber was hätte das für Folgen gehabt? Sicherlich nichts, was sie für sich selbst und ihren Sohn gewollt hätten. Wäre also jede Entscheidung falsch gewesen?

Er fühlt sich seltsam dabei, es als falsch zu empfinden, so für seine Rechte zu kämpfen. Aber es ist ja nicht das. Es ist die Tatsache, dass diese Männer für ihre Rechte sterben. Und dass keiner etwas tut. Er beginnt, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Auf und ab. Ab und auf. Er möchte so gerne an etwas anderes denken, an etwas, das nicht damit zu tun hat. Damit? Unwillkürlich muss er nicht nur an den Hungerstreik denken, der aktuell ist, sondern allgemein an die Probleme. An den Konflikt ansich. Viel hat er davon nicht mitgekriegt, in seiner Zeit im Vereinigten Königreich. Aber er erinnert sich noch gut an seine Kindheit in Derry. Vielleicht zu gut.

Er hatte immer ein IRA-Kämpfer werden wollen. Sie waren Helden in seinen Augen gewesen. Wenn er ehrlich ist, weiß er mittlerweile nicht mehr, wie er dazu steht. Wie seine Meinung dazu ist. Und im Gegensatz zu damals ist er verdammt froh, nicht mehr dort zu wohnen. Dort. Im Norden. Denn sein Zuhause ist jetzt hier. Er könnte weiterhin so tun, als ginge ihn das alles nichts an, jetzt, wo ihn eigentlich nichts mehr mit Nordirland verbindet. Doch er weiß, dass ihn das alles sehr wohl etwas angeht. Schließlich spielte sich fast die Hälfte seines Lebens dort ab. Er wirft einen Blick auf ein Bild, das auf dem Tisch in der Ecke steht. 15 Jahre ist er alt. Neben ihm ein strahlender Kieran. Daneben John. John Duddy. Genannt Jackie. Eine Weile blickt er es bloß an. Schnell wischt er sich über die Augen, als ihm bewusst wird, dass er weint.

Langsam sollte er es doch verarbeitet haben. Hilflosigkeit macht sich in ihm breit, als sich ihm der Gedanke aufdrängt, dass er vielleicht bald der einzig Lebende auf dem Foto ist. Schnell schiebt er ihn beiseite. Er möchte nicht so pessimistisch denken.

Nach einigen weiteren Minuten, in denen er nichts weiter tut als die Wand anzustarren, muss er etwas erkennen, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen möchte. Dass sein einziger Wunsch eine Beendigung des Hungerstreikes ist. Auch wenn das Aufgeben bedeutet. Und er tief in seinem Inneren weiß, dass Kieran das nicht tun würde.
 

-”I am standing on the threshold of another trembling world. May God have mercy on my soul.“



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