Bruder-Bruder
Geschwisterfluff. Weil's so schön ist :) Spielt nach Bennis und Anjos Abi (heißt: Benni wohnt nicht mehr bei Familie Sandvoss).
Viel Freude beim Lesen!
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Ich finde es leicht, ein großer Bruder für Franzi und Eileen zu sein. Ich kann meinen angeborenen Beschützerinstinkt ausleben, Eileen in der Gegend herum kutschieren – was mich zugebenermaßen manchmal den letzten Nerv kostet – und Franzi bei den Hausaufgaben helfen. Wie früher, als sie noch sehr viel kleiner war. Franzi kommt immer noch hin und wieder zu mir ins Bett gekrochen, wenn ich über die Ferien einige Wochen zu Hause bin. Dann schleicht sie morgens zu mir ins Zimmer, barfuß und in ihrem Snoopy-Nachthemd, und ich halte wortlos und verschlafen meine Decke hoch. Franzi, Sina und Eileen werden womöglich auf ewig die einzigen Frauen sein, die ich in mein Bett lasse.
Mit Tim ist das schon was anderes. Da gibt es nicht unbedingt großartig was zu beschützen. Ich hab mich einmal für ihn geprügelt, als Tim noch ziemlich jung war. Ich war dreizehn und er neun und eine kleine Gruppe Jugendliche hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf den Schulhof der Grundschule zu spazieren und nichtsahnende Kinder zu schikanieren. Ich hab eigens für Tim den Englischunterricht sausen lassen – mein Vater hat mir tatsächlich sogar eine Entschuldigung dafür geschrieben – mich mit drei Fünfzehnjährigen angelegt. Blutige Nasen, blaue Augen und Zeit für Tim, um ein paar Lehrer zu holen, die bisher immer zu spät kamen, um die Übeltäter zu maßregeln.
Das war das einzige Mal, dass ich Tim tatsächlich beschützen musste. Dadurch, dass er so ein Clown ist und aus allem einen Scherz macht, kommen viele ernste Dinge kaum an ihn ran. Klar, ich erinnere mich noch an das Debakel mit Annika, das erste Mädchen, in das Tim wirklich verknallt war und das ihn nach Strich und Faden ausgenutzt hat. Tim würde es selbstredend nie zugeben, aber ich glaube, dass diese Sache ihn dermaßen abgeschreckt hat, dass er jetzt nichts mehr von Beziehungskram hält. Oder von Verliebtsein. Prinzipiell bin ich froh darüber, denn die Gespräche über Annika mit einem sechzehnjährigen Tim waren sehr merkwürdig und es ist eindeutig nichts, was ich unbedingt wiederholen wollen würde. Auch, wenn ich selbstredend immer für Tim da bin. Ich glaub allerdings nicht, dass ich mittlerweile noch sein erster Ansprechpartner bin. Er hat einen ziemlich großen Freundeskreis.
Umso merkwürdiger ist es, als mitten in den Sommerferien und meinem zweiwöchigen Urlaub zu Hause die Tür aufgeht, sich dann wieder schließt und Schweigen das Zimmer erfüllt, während ich über einen Chemie-Wälzer gebeugt am Schreibtisch sitze und arbeite. Meine erste Vermutung ist, dass Franzi stille Gesellschaft möchte. Aber als ich mich umdrehe und zum Sofa hinüberschaue, stelle ich fest, dass mein Bruder dort hockt und die Arme verschränkt hat. Ich hebe eine Augenbraue und mustere ihn fragend, aber er scheint entschlossen zu sein, nicht zu sprechen. Also zucke ich die Schultern, drehe mich wieder um und wende meine Aufmerksamkeit erneut dem Buch zu. Wenn Tim irgendwas loswerden will, dann muss er schon von selber damit rausrücken.
Nach einer Viertelstunde Stille hat Tim weder etwas gesagt, noch ist er wieder gegangen. Ich kann mich wirklich nicht konzentrieren, wenn mein Bruder mir Löcher in den Rücken starrt, also drehe ich den Schreibtischstuhl wieder in seine Richtung, stütze meine Ellbogen auf den Knien ab und mustere ihn.
»Willst du damit rausrücken, oder wolltest du einfach nur mal meine seltene Anwesenheit genießen?«, erkundige ich mich. Tim gibt ein amüsiertes Schnauben von sich und löst seine Arme aus der Verschränkung.
»An deiner Anwesenheit gibt’s nichts zu genießen«, informiert Tim mich trocken und nun ist es an mir zu schnauben.
»Dann kannst du ja auch woanders deinen Redestreik durchziehen«, schlage ich vor. Tim grummelt ungehalten und zappelt ungeduldig auf dem Sofa herum.
»Na schön«, mault er, rutscht auf den Sitzkissen herum und entscheidet sich schließlich für eine Position im Schneidersitz. Ich sehe ihn erwartungsvoll an. Tim scheint sich regelrecht zu winden, als gäbe es nichts Schlimmeres, als sich mit mir zu unterhalten.
»Eventuell ist etwas Schreckliches passiert.«
Ich richte mich gerade auf. Das klingt nicht gut. Wenn es nicht wirklich schrecklich wäre, würde Tim wohl kaum zu mir kommen.
»Ok«, sage ich wachsam. Tim runzelt die Stirn und mustert mich verwirrt.
»Du siehst aus, als wärst du im Bereitschaftsmodus um irgendwen zu schlagen, Alter«, informiert er mich. Ich verziehe das Gesicht.
»Wenn du schon hierher kommst und mit Grabesmiene verkündest, dass was Schreckliches passiert ist–«
»Nicht so schrecklich. Anders schrecklich! Entspann dich, Mann«, fordert er mich auf und wedelt mit einer ungeduldigen Hand in meine Richtung. Also sinke ich wieder etwas in mich zusammen, beuge mich vor und warte darauf, dass ich endlich mitgeteilt bekomme, was denn genau so schrecklich sein soll. Und dann dämmert es mir plötzlich.
»Wie heißt sie denn?«, will ich seufzend wissen und Tim sitzt so schnell kerzengerade, als hätte ihm jemand ins Ohr geschrien.
»Wovon sprichst du?«, fragt er und sieht aus, als wäre er einer ernsthaften Panikattacke nahe. Das verrät mir, dass ich direkt ins Schwarze getroffen habe.
»Von deinem Liebesleben. Es geht doch um eine Frau, oder? Was solltest du sonst schrecklich finden?«
Tim sackt in sich zusammen und gibt ein leicht verzweifeltes Geräusch von sich.
»Es ist ein Desaster!«, erklärt er schließlich und sieht aus, als würde er mich gern schütteln, um mir klarzumachen, wie furchtbar sein Zustand ist.
»Wieso?«, will ich wissen.
»Weil es Esther ist! Und ich bin saugut mit Esther befreundet. Wir haben denselben Freundeskreis und wenn das in die Hose geht, dann ist alles Mist. Mal ganz abgesehen davon, dass dieser ganze Liebesscheiß sowieso nicht mein Ding ist.«
Ich räuspere mich. Die Geschichte kommt mir ein wenig bekannt vor. Natürlich nicht eins zu eins, aber die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt in einen guten Freund verknallt zu sein, die kenn ich sehr wohl.
»Will sie denn auch was von dir?«, frage ich. Tim fummelt an seinem Hosensaum herum, der ziemlich ausgefranst ist.
»Keine Ahnung. Vielleicht. Wahrscheinlich? Woher soll ich das wissen, Alter?«, mault er ungnädig. Diese ganze Sache scheint ihm tatsächlich zuzusetzen.
»Was weiß ich? Ich hab keine Ahnung, was bei euch abgeht«, gebe ich ungehalten zurück. Tim grummelt vor sich hin und fängt an, unsanft an einem der Sofakissen herumzufummeln.
»Willst du von ihr erzählen?«, frage ich etwas ruhiger.
»Nein«, kommt prompt die Antwort. »Ja. Keine Ahnung. Ich hab echt keinen Nerv mit dir da drüber zu reden!«
Ich verdrehe die Augen.
»Wieso bist du dann hier reingeschneit?«
»Mit wem soll ich denn sonst drüber reden? Außerdem weiß ich nicht, was ich machen soll. Und du warst mit deinem Marzipantörtchen schließlich auch befreundet, bevor ihr angefangen habt, euch gegenseitig aufzuessen«, erwidert Tim schlecht gelaunt und ich räuspere mich verhalten bei der Erwähnung von Anjo.
»Anjo ist nicht mein Marzipantörtchen und wir essen uns nicht gegenseitig auf«, informiere ich meinen kleinen Bruder so gelassen wie möglich. Tim hebt seine Brauen. Er sieht mir wirklich ziemlich ähnlich.
»Tatsächlich? Wem gehörte dann die Hand unter seinem Shirt, als ihr letztes Mal hier wart? Schien ziemlich dringend zu sein«, stichelt der Idiot. Ich grummele und verschränke meine Arme vor der Brust.
»Ich muss nicht mit dir darüber reden«, erkläre ich.
Tim brummt wortlos vor sich hin, dann legt er sich auf den Rücken und starrt an die schräge Decke. Unweigerlich muss ich an einen Patienten und seinen Therapeuten denken, auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass die Patienten meiner Mutter auf einem Stuhl sitzen.
»Also schön. Ich kenn sie seit sieben Jahren, sie studiert Pädagogik und jobbt nebenbei im Tierheim. Sie ist nach einem Glas Sekt angeheitert, findet das Innere von Honigmelonen supereklig und hört gern Kate Nash. Jedenfalls kann ich sie gut leiden. Und letztens hat sie mich gefragt, ob ich später Kinder will und ich hab gesagt, ich hätt gern ‘ne ganze Rockband und sie hat gelacht und meinte, dass ich bestimmt ein cooler Vater werde und dann hat sie mich angeguckt, als fände sie mich irgendwie schon ziemlich gut, aber ich bin’s sonst nur gewöhnt, dass Mädchen mich auf eine… äh… eher kurzlebigere, rein körperliche Art gut finden, deswegen hab ich keinen Schimmer, ob ich mir das nur einbilde. Und dann hab ich angefangen mir auszumalen, wie ich sie Oma vorstelle, die dann sicher völlig aus dem Häuschen wäre, und da war mir klar, dass ich wahrscheinlich hoffnungslos bekloppt bin. Wehe du lachst!«
Ich presse die Lippen zusammen und bin sehr bemüht, so seriös wie möglich dreinzuschauen. Es ist fast ein wenig niedlich, wie Tim sich in Rage geredet hat und beim Sprechen über Esther ziemlich begeistert aussieht, ob er nun alles schrecklich findet oder nicht. Zu seiner Beschreibung davon, wie Mädchen ihn für gewöhnlich gut finden, sage ich nichts. Ich möchte wirklich nichts über das Sexleben meiner Geschwister erfahren. Liebe, ok. Von mir aus. Wenn auch mit einem inneren Winden. Aber Sex? Nein. In meiner utopischen Vorstellung hat kein Mitglied meiner Familie jemals Sex. Außer mir, versteht sich. Ich hab… aber das ist nicht das Thema hier.
»Du solltest es ihr sagen«, rate ich Tim unumwunden und mein Bruder starrt mich verwirrt an.
»Was? Einfach so?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Du machst dir unnötigen Stress. Hab ich auch. Aber es war beknackt und ich hab eingesehen, dass es sich nicht lohnt, solche Gelegenheiten wegen irgendwelchen noblen Bedenken sausen zu lassen. Schnapp sie dir, Tiger.«
Tim öffnet den Mund, zweifellos, um mir zu widersprechen. Dann schließt er ihn wieder, hebt eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, öffnet den Mund erneut und lässt die Hand fallen.
»Einfach so?«, wiederholt er matt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht laut zu lachen.
»Jap. Einfach so. Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen«, stichele ich. Tim schnaubt und sieht aus, als würde er mich gern gegen den Oberarm boxen.
»Du bist echt ‘n beschissener Ratgeber, weißt du das?«, sagt Tim nachdenklich und setzt sich auf. Ich verdrehe die Augen.
»Ja, sicher. Sag mir das noch mal, wenn du mit Esther in den Sonnenuntergang reitest«, gebe ich zurück. Tim sieht von der Vorstellung empört und begeistert zugleich aus.
»Vielleicht findet sie mich gar nicht gut!«
»Dann kannst du immer noch so tun, als wäre es ein Witz gewesen. In so was bist du doch gut. Sag Bescheid, wie’s gelaufen ist. Ich muss jetzt wirklich weiter arbeiten…«
Tim steht auf und marschiert in Richtung Tür. Da bleibt er kurz stehen, sieht mich an, als würde er eventuell ›Danke‹ sagen wollen, aber dann grinst er nur, meint »Arschloch« und verlässt meinen Dachboden. Ich schnaube amüsiert und wende mich wieder meinem Chemiewälzer zu.
Eine Stunde später klopft es leise an meine Tür und Franzi kommt herein.
»Hat Tim angefangen Drogen zu nehmen?«, will sie besorgt wissen. Ich hebe zum gefühlt hundertsten Mal die Augenbrauen.
»Drogen? Was?«, frage ich perplex.
»Er tanzt allein Walzer durchs Wohnzimmer, hat Renja eine Liebeserklärung gemacht und mir gesagt, dass du der… äh… irgendwas mit dem Dalai-Lama und einem Liebesguru oder so…«
Franzi fährt sich durch die Haare, während ich laut lache.
»Ich gehe davon aus, dass er meinen Rat direkt befolgt hat und jetzt mit Esther in den Sonnenuntergang reitet«, erkläre ich. Franzi sieht aus, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich jetzt auch durchgedreht bin.
»Wer ist Esther?«, will sie wissen. Ich grinse breit.
»Wir werden sie wohl bald kennen lernen. Er freut sich schon drauf, sie Oma vorzustellen.«
Ich bin zufrieden. Vielleicht bin ich doch kein so übler Bruder-Bruder, wie ich dachte.