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Milchglas

von

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Auftritte

(Hannah)
 

Mein kleiner Toyota Corola (Baujahr 1987) hustete so mitleiderregend beim Anspringen, dass ich umgehend das Amaturenbrett tätschelte.
 

Es war Sonntag und ich auf dem Weg zu meiner Familie, was ich schon seit Wochen hatte tun wollen (Originalton: „Wir kriegen dich ja gar nicht mehr zu Gesicht!“) – für dieses Wochenende hatte mich mein Vater mit den Worten „Pass auf, du erziehst deine Brüder und wir kochen für dich!“ überredet.
 

Eigentlich hatte ich keine richtige Lust, weil es immer das Gleiche war, wenn ich sie besuchte. Ich war pünktlich zum Essen da, stritt mich scherzhaft mit meinen Brüdern, erzählte von der Uni, wir gingen spazieren, es gab Kaffee und Kuchen und ich fuhr wieder nach Hause.
 

Aber was sein musste…
 

Ich fuhr an dem Spielplatz vorbei, auf dem ich neulich mit Linda gewesen war. Wir hatten uns auf das Karussell gesetzt und gedreht, bis wir nicht mehr konnten; wir hatten geschaukelt und mit kleinen Kindern um die Wippe diskutiert (woher nahmen diese kleinen Blagen bloß immer diese unschlagbaren Argumente?!).
 

Ich runzelte die Stirn. Linda hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet.
 

Eigentlich war das nicht weiter ungewöhnlich, sagte ich mir, bei Licht betrachtet kannten wir uns noch gar nicht so lange, und selbst Miriam und ich hörten manchmal eine halbe Woche nichts voneinander… aber irgendwie kam es mir trotzdem komisch vor.
 

Anscheinend ging es Linda ähnlich, denn es war ihre Nummer im Display, als ich einen Blick auf mein spontan klingelndes Handy auf dem Beifahrersitz warf.
 

Ruckelnd kam mein kleines Auto an der roten Ampel zum Stehen.
 

„Ich hab grade an dich gedacht!“
 

Sie lachte. „Brav, Hannah, brav. Immer schön an mich denken. Stör‘ ich dich grade?“
 

„Mich nicht, aber angesichts der Tatsache, dass ich im Auto sitze, vermutlich

die Polizei. Von daher solltest du dich kurz fassen…“, teilte ich ihr mit und drückte aufs Gas – besorgniserregend langsam setzte sich mein Gefährt in Bewegung.
 

„Oh, okay. Ich stehe grade vor der Stadtbibliothek und wollte fragen, ob du nicht Lust hast, dich mit mir zu treffen.“
 

„Ich würde sehr gerne, aber ich bin grade auf dem Weg zu meinen Eltern... aber du kannst mitkommen, wenn du möchtest!“, schlug ich hoffnungsvoll vor.
 

„Sicher, dass das geht?“ Linda klang skeptisch.
 

„Meine Eltern sind nett, weißt du noch?“
 

„Ach ja… wenn du mich abholst, komm ich mit.“
 

Ich grinste. „Yes! Danke dir, bist ein Schatz.“
 

Sie lachte wieder. „Wie könnte ich dich mit deinen Kindheitstraumata alleine lassen?“
 

#
 

Meine Eltern liebten Linda von dem Moment an, in dem sie ihnen die Hände geschüttelt hatte, mit dem strahlendsten Lächeln, das man sich nur denken kann.
 

Meine Brüder waren nicht weniger begeistert von ihr – für den Kommentar „Scheiße, ist das Mädchen scharf“ ertränkte ich Felix im Spülwasser. Oder versuchte es wenigstens.
 

Er rächte sich, indem er mit Antonio einen Komplott ausheckte: Während des Essens erzählten sie eine peinliche Geschichte meiner Kindheit nach der anderen. Linda bekam einen Schluckauf vor Lachen und ich trat den beiden unter dem Tisch die Beine blau – was sie allerdings wenig zu stören schien.
 

Meine Eltern genossen die Tatsache, dass ihre Kinder sich so sehr liebten („Das bedeutet Krieg, du kleine Ratte“ übersetzten sie anscheinend mit „Oh Anto, du hast mir so gefehlt…“) und dass ihr spontaner Besuch seinen Spaß hatte.
 

Beim Spazierengehen versuchte ich, Linda davon zu überzeugen, dass die beiden Landplagen mich nur hatten ärgern wollen und keine der Geschichten wahr war („Ehrlich, ich war NIE als Bibi Blocksberg verkleidet, geschweige denn, dass ich damit zur SCHULE gegangen wäre!“). Als das nicht gerade von Erfolg gekrönt wurde, ging ich zum Gegenangriff über und berichtete von den Barbies unter Antonios Bett und Felix‘ Versuchen, ein Mädchen zu erobern (was eher nach Folter als nach ‚modernem Minnesang‘ geklungen hatte).
 

Die ganze Aktion endete in einer brutalen Schlacht mitten auf der Parkwiese – was bedeutete, dass meine Brüder und ich uns bis aufs Blut auskitzelten, bis Linda mir zu Hilfe kam („Es gibt noch Treue und Hoffnung in der Welt!“) und wir die Alpträume meiner Jugend knapp besiegten.
 

Meine Mutter, die schon immer auf der Seite der Gerechtigkeit gestanden hatte, sah das selbstverständlich ein und räumte Linda und mir beim Kaffee einen Schlag Sahne auf den Kuchen mehr ein als gewöhnlich. Was Felix mit einem vor Neid nur so triefenden „Pah, ich mag Sahne eh nicht so gerne. Sportler müssen schlank bleiben“ quittierte. Antonio sagte lieber gar nichts.
 

Als wir uns auf den Rückweg machen, waren wir beide völlig erschlagen, aber zufrieden. Lachend ließ Linda sich auf den Beifahrersitz fallen.
 

„Gott, war das genial… ist es irgendwie möglich, dass ich meine Familie

zurückgebe und du dafür deine mit mir teilst?“

„Klar“, räumte ich kichernd ein, „wenn du bereit bist, dafür Anto oder Felix zu heiraten.“
 

„Oh Gott! Kann ich nicht dich heiraten?“
 

„Na gut. Aber nur ausnahmsweise!“
 

Ich startete den Motor und fuhr fast in Schlangenlinien vor lauter Lachen.
 

(Linda)
 

Ich schwenkte auf meinem Schreibtischstuhl herum und trommelte mit den nackten Füßen auf den Boden. „Hannah!“, quengelte ich, „Mach was! Ich hasse Typen…“
 

„Hm? Warum?“
 

Sie lag auf meinem Sofa und zappte wild durch die Programme.
 

„Meine Eltern versuchen schon seit Wochen, mir einen Kerl namens Alexander schmackhaft zu machen, den ich seit Kindertagen kenne, und irgend so ein Typ aus der Uni will andauernd meine Mitschriften aus den Vorlesungen oder Tipps für seine Facharbeit.. ich meine, hallo? Sein Problem?“
 

„Na, dann sag ihm das doch.“ Hannah, pragmatisch wie immer. Ich verzog das Gesicht.
 

„Nee…“, widersprach ich lahm.
 

„Warum nicht?“
 

„Weil das total assi ist. Vielleicht ist der ja echt krank und kann nicht zu den Vorlesungen kommen, und braucht wirklich meine Hilfe, dann würde mich total schlecht-“
 

Hannah schaltete entschiedenen den Fernseher aus und sah mich streng an.
 

„Herzchen. Der Kerl ist nie im Leben krank. Mal davon abgesehen, dass er dann immer noch irgendwelche Kumpels hätte, die das für ihn machen könnten. Der will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – nicht selbst arbeiten müssen und sich dabei ein hübsches Mädchen anlachen.“
 

Ich wand mich.
 

„Aber was wenn-“
 

„Du kannst doch nicht allen helfen! Bist du Mutter Theresa oder was?“
 

„Hannah!“
 

„Was?“
 

Sie sah mich mit gehobenen Augenbrauen an.
 

„Ach nichts… ich kann dem nicht einfach sagen, dass ich ihm nicht helfe.“
 

Sie ließ kurz den Kopf auf die Brust fallen, hob ihn wieder und seufzte.
 

„Was krieg‘ ich, wenn ich dir beweise, dass der Typ putzmunter ist?“
 

Ich überlegte. „Einen Videoabend auf meine Kosten.“
 

Sie war sofort auf den Beinen, zog mich hoch und lief in den Flur.
 

„Worauf wartest du noch?“
 

Mit diesen Worten flogen mir meine Schuhe entgegen.
 

#
 

Ich jammerte die ganze Fahrt über.
 

„Das ist Spionage, ich wette, dafür kann man jemanden anzeigen...“
 

„Ach, was. Wir gehen ihm doch nur ein paar Notizen vorbeibringen – WENN er

wirklich krank ist.“
 

Hannah sah in den Rückspiegel und bog dann rechts ab. Ich fühlte mich elend.
 

„Das können wir nicht machen…“
 

Ihr klappriger alter Wagen blieb ruckartig stehen.
 

„Ey, wenn du jetzt nicht aufhörst, geh ich alleine hoch und sag, ich sei Privatdetektiv und von dir angeheuert!“
 

Wir sahen uns einen Augenblick lang an – und stiegen aus.
 

Zehn Minuten später öffnete uns mein hilfebedürftiger Mitstudierender – halbnackt und mit einer Flasche Bier in der Hand, im Hintergrund gedämpfte Partymusik.
 

Und machte die Tür angesichts unserer synchron gehobenen Augenbrauen und in die Seite gestützten Hände ganz schnell wieder zu.
 

(Miriam)
 

Ich war vollkommen übermüdet, weil ich die ganze letzte Nacht damit verbracht hatte, meine Skulptur zu vollenden. Manchmal war echt nervig, künstlerisch veranlagt zu sein – wenn mir nachts um Drei eine gute Idee kam, konnte ich unmöglich weiterschlafen und die Idee erst am nächsten Tag umsetzen. Das musste einfach sofort passieren.
 

Und deswegen hing ich jetzt auf meinem Sitzsack und hatte Augenringe bis zum Boden, während Linda und Hannah sich fleißig über mich lustig machten.
 

„Wenn Marc dich sehen könnte“, tadelte Linda.
 

„Ja, oder der ach-so-heiße Typ, der da auf uns zukommt“, fiel Hannah ernsthaft mit ein.
 

„Ach, lasst mich doch in…“ Warte. Hatte sie ‚heißer Typ‘ gesagt?
 

Ich setzte mich auf.
 

Und in der Tat: der Kerl, der mir vorhin schon aufgefallen waren, kam geradewegs auf uns zu. Oh nein. In meinem Zustand konnte das nur schlecht ausgehen.
 

„Hi“, begrüßte er uns mit einem nahezu umwerfenden Lächeln. „Ich bin Robert.“
 

Linda schien nur geringfügig beeindruckt. „Linda.“ Sie lachte. Auch Hannah

stellte sich vor.
 

„… Miriam …“,murmelte ich etwas verspätet. Robert, der mich irgendwie an James Marsden erinnerte (Oh Gott, jetzt war der Abend eindeutig gelaufen) –lächelte.
 

„Darf ich mich zu euch setzen?“
 

„Setzen darfst du dich, ja.“
 

Lindas Augen glitzerten spöttisch – was zum Teufel tat diese Verräterin da?
 

Prompt setzte sich mein Verderben für den heutigen Abend zu uns.
 

„Was meinst du“, Der James-Marsden-Verschnitt sah natürlich ausgerechnet mich

an, „Wenn deine Freundin Linda sagt, dass ich mich setzen kann, meint sie dann,

dass ich sonst nichts darf?“
 

Kein Typ dieser Welt interessierte sich für mich, wenn ich gerade zurechnungsfähig war! Aber natürlich ausgerechnet jetzt, wo ich vor lauter Müdigkeit kaum mein Glas gerade halten konnte…
 

„Kommt drauf an“, hörte ich mich sagen und fragte mich, ob er wohl merkte, wie verpeilt ich war.
 

„Naja… zum Beispiel könnte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast, mit mir tanzen zu gehen.“
 

„Tja, vielleicht solltest du lieber Linda selbst fragen, was sie gemeint hat“, mischte sich Hannah ein und nahm einen Schluck von ihrem Drink.
 

„Seh‘ ich auch so. Findest du nicht, dass dein Verhalten sehr, sehr unhöflich ist?“
 

Linda drohte mit dem Finger. Ich musste grinsen. Robert ließ sich zurücksinken.
 

„Was meintest du denn?“
 

„Naja, uns dreist unsere Freundin zu klauen würde ich eindeutig als Missbrauch unserer Gastfreundschaft einstufen.“
 

Ich kicherte; vielleicht war sie doch keine Verräterin.
 

„Das ist aber schade. Dabei wäre ich so gerne mit ihr tanzen gegangen.“
 

„Tja, sie gehört aber uns“, klärte Hannah ihn auf. Linda nickte.
 

„Und sie ist absolut unverkäuflich.“
 

„Ich wollte sie nicht kaufen – lediglich entleihen…“, startete Robert einen weiteren Versuch.
 

„Entleihen?!“ Linda setzte ihr Getränk ab.
 

„Wie einen Gegenstand?!“ Hannah war entrüstet.
 

„Unsere Miriam musst du dir erkämpfen!“
 

„Stück für Stück!“
 

„Ganz langsam!“
 

„Nix mit Entleihen!“
 

Ich verschluckte mich bald an meinem Getränk vor unterdrücktem Lachen, während Robert beschwichtigend die Hände hob und lächelnd vorschlug:
 

„Sollten wir sie nicht lieber selbst fragen?“
 

Ups.
 

„Aber sicher!“
 

Die beiden drehten sich synchron zu mir um.
 

„Was sagst du, Schätzchen“, Hannah sah mich prüfend an, „vertraust du eher uns -“
 

„- oder eher jemandem, den du seit fünf Minuten kennst?“, vollendete Linda für

sie.
 

Ich sah sie abwechselnd an. Und musste lachen.
 

Die beiden arbeiteten zusammen als könnten sie die Gedanken des anderen lesen – nein, das war falsch. Mehr so, als hätten sie eine Art gemeinsamen Topf Gedanken. Das war eine interessante Idee, das musste ich unbedingt mal malen…
 

Hannah drehte sich zu Robert um. „Wie du siehst, ist sie heute Abend nicht ganz

zurechnungsfähig.“
 

„Sie ist nämlich Kunststudentin und hatte letzte Nacht eine ganz brillante Idee“, verriet Linda.
 

„Und deshalb ist sie vollkommen übermüdet.“
 

Robert schmunzelte. „Und ihr passt auf sie auf?“
 

„Ganz genau.“
 

„Tut uns leid für dich, Robert.“
 

„Und ich hab echt keine Chance?“
 

Doppeltes Kopfschütteln. Bedauernd: „Nicht heute Abend.“
 

Linda griff nach einem Bierdeckel und kritzelte etwas darauf.
 

„Aber wenn du sie echt magst...“, ihre Kollegin sah den James-Marsden-Verschnitt kritisch an, „…kannst du sie ja mal anrufen.“
 

„Gerne.“ Woah, umwerfendes Lächeln.
 

Linda reichte ihm den Bierdeckel. „Das ist ihre Nummer.“
 

„Alles klar. Myladies “, Robert stand auf und deutete eine Verbeugung an, „es war mir ein Vergnügen.“ Er zwinkerte mir zu. „Ich ruf‘ dich an.“
 

Damit verschwand er.
 

Ich wusste nicht genau, wie sie es angestellt hatten, aber irgendwie hatten meine telepathischen Freunde gerade ein absolutes About-to-be-Desaster in ein Maybe-Date umgewandelt.



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