Zum Inhalt der Seite

Another Side, Another Story

The Traitor's Tale
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

In der Höhle des Löwen

Jowy fuhr herum und starrte seinen ehemaligen Befehlshaber geschockt an, doch dieser betrachtete die Jungen mit einem fast schon sadistischen Lächeln. Seine Nase sah seltsam eingedellt aus und auf seiner Oberlippe entdeckte man bei genauem Hinsehen noch eine Spur getrockneten Blutes.
 

„Ich habe schon geahnt, dass die Prinzessin alles tun würde, um Lord Luca zu sabotieren“, sagte er, während er langsam auf sie zuschritt, die Hand auf dem Heft seines Schwerts. „Deshalb habe ich mich auf die Lauer gelegt… Und wer taucht auf? Ihr Jungs.“ Rowd zog das Schwert mit einer einzigen, schnellen Bewegung und bellte:
 

„Ergreift sie!“
 

Natürlich hatten sie keine Waffen dabei, natürlich nicht! Wie dämlich konnte man eigentlich sein?! Gehetzt sah Jowy sich um, als um sie herum Highlander auftauchten und sie umstellten.
 

Wenn er sich nicht irgendetwas einfallen ließ, würde man sie beide gefangen nehmen und Nanami und Pilika würden ganz allein sein. Das konnte er nicht zulassen. Er musste etwas tun, er musste…
 

„Diesmal entkommt ihr mir nicht“, zischte Rowd und Jowy sah die Wut in seinen Augen. In diesem Moment wusste Jowy, was er tun musste.
 

Er rammte einem der Männer, der versuchte, ihn von hinten zu packen, den Ellenbogen in den Magen, fuhr herum und schlug ihm ins Gesicht, ehe er Riou zurief:
 

„Ich will, dass du verschwindest!“
 

„Was?!“ Riou tauchte unter einem Schwert hinweg, das auf ihn zusauste, entriss es dem Besitzer und trat ihm zwischen die Beine, dann nutzte er die Klinge dazu, um eine weitere abzuwehren. „Bist du völlig übergeschnappt?“
 

„Riou, wenn sie uns beide kriegen, geraten Nanami und die anderen vielleicht auch in Schwierigkeiten!“ Jowy rammte einen seiner Angreifer mit der Schulter und nutzte dessen kurzzeitige Verwirrung, um ihm den Speer abzunehmen. Er ließ die Waffe kreisen, parierte zwei Schwertklingen und stieß das stumpfe Ende mit voller Kraft einem Soldaten in den Rücken, der Riou von hinten attackieren wollte.
 

„Ich werde dich hier nicht alleine zurücklassen!“, erwiderte sein bester Freund fast schon wütend, ehe er das Heft des entwendeten Schwerts unsanft gegen den Kiefer eines Highlanders krachen ließ. Der Mann stolperte zurück, doch an seine Stelle sprangen sofort zwei neue.
 

Sie konnten nicht so weiter machen…
 

„Wir haben keine Zeit für lange Diskussionen!“, raunzte Jowy, riss den Speer hoch und wehrte eine hinuntersausende Schwertklinge nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht ab. „Hau schon ab, ich komme nach, versprochen!“
 

Ihre Blicke trafen sich, nur für den Bruchteil einer Sekunde – dann nickte Riou ruckartig, biss sich auf die Lippe und stieß das Schwert dem erstbesten Soldaten in die Seite, ehe er den Tumult ausnutzte und die Beine in die Hand nahm.
 

„Hinterher!“, blaffte Rowd und ein paar der Männer folgten dem flüchtenden Jungen. Der Captain selbst stürzte nun mit gezogenem Schwert auf Jowy zu, der dem Angriff nur mühsam ausweichen konnte.
 

„Versuchst du etwa, deinen kleinen Freunden etwas mehr Zeit zu verschaffen? Das ist sehr niedlich“, ätzte Rowd. „Aber auch sehr, sehr sinnlos.“
 

„Sei still!“, rief Jowy wütend und schlug eine weitere Schwertklinge zur Seite. „Ich sehe sogar sehr viel Sinn darin, meine Freunde zu retten!“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da traf ihn etwas schmerzhaft im Rücken und er schnappte geschockt nach Luft – der Speer rutschte ihm aus den Fingern und er selbst fiel auf die Knie, während sich der Schmerz wellenartig in seinem gesamten Körper ausbreitete.
 

„Was für ein leeres Geschwätz“, hörte er Rowd verächtlich murmeln. „Keine Sorge, Junge – deinen Freund Riou kriegen wir auch noch.“
 

Grob wurde Jowy von mehreren Händen gepackt, jemand ergriff ihn an den Haaren und riss seinen Kopf gewaltsam nach hinten, damit er zu Rowd aufsah; ein Ächzen entwich dem Aristokraten und er starrte hasserfüllt in das Gesicht seines ehemaligen Kommandanten.
 

Runen, wie er diesen Mann verabscheute…!
 

Benutze mich!, flüsterte die Rune des Schwarzen Schwerts eindringlich in seinen Gedanken und diesmal protestierte er nicht.
 

Wenn du wirklich eine der 27 Wahren Runen bist, dann… gib mir die Kraft, die ich…!
 

Er hatte keine Möglichkeit, den Gedanken zu Ende zu formulieren, da er von etwas Schwerem am Hinterkopf getroffen wurde. Vielfarbige Sterne explodierten vor seinen Augen, dann spürte er, wie sein Bewusstsein ihm entglitt.
 


 

Als er wieder zu sich kam, bemerkte er als erstes den dröhnenden Schmerz in seinem Kopf. Dann wurde ihm klar, dass man seinen regungslosen Körper einfach so hinter sich herschleppte… wohin auch immer es ging.
 

Die zwei Soldaten, die ihn wie einen nassen Mehlsack hinter sich hergeschleift hatten, blieben stehen und Jowy entkam ein leises Stöhnen. Oh, verdammt, er hatte nicht aufgepasst…
 

Er zwang sich dazu, die Kopfschmerzen zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, herauszufinden, wo er sich befand. Zwar verschwamm seine Sicht alle paar Augenblicke – der Schlag war wohl sehr hart gewesen… – aber dennoch kam ihm seine Umgebung bekannt vor. Aber andererseits sah alles in diesem Camp irgendwie gleich aus, daher…
 

„Bringt ihn rein!“, ertönte in diesem Moment nur eine allzu vertraute und vor allem verhasste Stimme.
 

Jowy wurde auf die Beine gezogen und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass man ihm die Hände auf dem Rücken festgebunden hatte – und das nicht zu locker. Die Stricke schnitten in seine Handgelenke, trotz der Handschuhe, die er trug, und er unterdrückte ein Ächzen, als die Soldaten ihn in das Innere eines Zeltes schleiften.
 

Er hörte jemanden aufjapsen und sah auf, realisierte jedoch im selben Moment, dass es unter Umständen besser gewesen wäre, wenn er sich weiter bewusstlos gestellt hätte.
 

Rowd und seine Männer hatten ihn geradewegs in das Zelt der Blights gebracht – und diesmal war nicht nur Jillia anwesend, sondern auch ihr Monster von einem Bruder.
 

„Das ist er, Lord Luca“, teilte ihm Rowd, der direkt neben dem Kronprinzen stand, mit. „Der Spion, von dem ich Euch berichtet habe.“ Jowy entwich ein wütendes Knurren, dann bemerkte er plötzlich den blonden Gefreiten, der sie vorhin in das Vorratszelt gelassen hatte. Was im Namen aller Runen tat er hier? Und warum starrte der junge Mann ihn genau so entsetzt an, wie Jowy selbst war?
 

„Wenn das so ist“, brummte Luca Blight unzufrieden, dann wandte sich der bohrende Blick seiner fast schwarzen Augen dem jungen Aristokraten zu. „Wer bist du, Bengel? Oder zittern dir zu sehr die Knie, um dich an deinen Namen zu erinnern?“
 

Jowy presste die Zähne aufeinander und stieß ein hasserfülltes Geräusch aus, dann stieß er unwillig hervor:
 

„… Jowy.“
 

„Der kleine Bastard kommt aus der gleichen Stadt wie ich“, spie Rowd verächtlich aus. „Sein voller Name ist Jowy Atreides!“
 

„Atreides?“, wiederholte Luca eher milde überrascht. „Das ist doch diese Adelsfamilie aus Kyaro… Oder nicht, Jillia?“ Er wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu, einen überheblich-höhnischen Ausdruck im Gesicht. Die Prinzessin zuckte zusammen und starrte ihren Bruder mit riesigen, erschrockenen Augen an.
 

Dann räusperte sie sich, sah zur Seite und erwiderte leise:
 

„Ich fürchte, ich erinnere mich nicht.“ Eine Lüge. Natürlich wusste Jillia, wer die Atreides-Familie war, sie hatte immerhin ihr halbes Leben in Kyaro gelebt. Und als Mitglied der Königsfamilie kannte sie die Adligen aus ganz Highland…
 

Aber Rowd durchschaute diesen kläglichen Versuch, Jowys Leben zu retten, und sagte:
 

„Es stimmt, Lord Luca – er ist der älteste Sohn der Atreides-Familie… auch, wenn er enterbt wurde.“ Der Aristokrat biss sich auf die Lippe, um sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten zu bringen, um nicht noch mehr zu riskieren, um nicht vollends die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
 

Er musste die Nerven bewahren, sonst würde er seine Versprechen gegenüber Riou, Nanami und Pilika brechen.
 

„Bringt ihn näher zu mir, ich will mir sein Gesicht ansehen.“ Einer der Soldaten gab ihm einen Tritt und Jowy stolperte nach vorne, genau vor die Füße des Kronprinzen von Highland. Dieser ergriff den Jungen am Kragen und zog ihn wieder auf die Beine, ehe er knurrte:
 

„Wo habe ich dieses Gesicht schon einmal…?“ Ein undefinierbares Geräusch entwich Jowys Kehle, als Luca Blight ihm einen verächtlichen Blick von oben herab zuwarf. Und dann brach der Prinz plötzlich unerwartet in das abscheulich hohe, fast schon hysterische Gelächter aus, das dem Aristokraten einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.
 

„Du bist doch eine der Gören aus dem Söldnerfort!“, rief der Kronprinz mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen aus, nachdem er sich beruhigt hatte. „Sohn einer angesehenen Familie und dennoch Spion für Jowston, hm?“
 

„Was gibt dir das Recht, darüber zu urteilen?!“, rutschte es Jowy heraus, der inzwischen so wütend war, dass er weder auf Umgangsformen noch auf seinen gesunden Menschenverstand achtete. „Es ist deine Schuld, dass Pilika nicht mehr sprechen kann!“ Er machte Anstalten, sich auf sein Gegenüber zu stürzen – es war egal, dass er gefesselt war, egal, dass er sowieso keine Chance hatte – aber die Soldaten, die ihn hierher geschleppt hatten, ergriffen ihn gerade noch rechtzeitig an den Oberarmen, um ihn zurückzuziehen.
 

„Heh“, machte Luca, den Jowys Ausbruch regelrecht amüsiert zu haben schien. „Du bist ja richtig lebendig, Kleiner.“
 

Scharf explodierte die Wut in Jowys Innern, der Hass, die Abscheu. Die Rune des Schwarzen Schwerts schien aufzubrüllen, ein dunkelrotes Licht schien das kleine Zelt auszufüllen… Und dann hörte es plötzlich auf, als hätte die Rune es sich anders überlegt.
 

Er war so perplex, dass er jeglichen Widerstand gegen die Männer, die ihn festhielten, aufgab.
 

„Dieses rote Licht… Warst du das etwa, Junge?“ Jowy knurrte zur Antwort, während er verzweifelt versuchte, mental seine Rune zu rufen. Warum reagierte sie nicht? Für gewöhnlich bot sie sich ihm selbst an, drängte ihn geradezu dazu, sie zu nutzen…
 

„Natürlich war er es“, brummte Rowd. „Es muss eine Rune oder etwas in der Art sein, er hat vorhin auch versucht, sie gegen uns einzusetzen…“ Luca spuckte abfällig zu Boden und schnaubte:
 

„Jetzt schicken sie schon Kinder! Das Mutterschwein von Muse steht jetzt wohl endgültig mit dem Rücken zur Wand.“
 

„Wag es nicht, so über Anabelle zu sprechen!“, schnappte Jowy hasserfüllt. „Sie ist mehr wert als du jemals sein wirst!“ Hätte er auch nur einen klaren Gedanken fassen können, zwischen all der Angst, der Panik, der Wut, dem Hass, wäre ihm bewusst gewesen, dass er wahrscheinlich keinen größeren Fehler begehen konnte als den, Luca Blight zu beleidigen, aber in diesem Augenblick war es ihm egal, so egal.
 

Einen Moment lang verzerrte sich das Gesicht des Prinzen von Highland zu einer wütenden Grimasse, Jillia schlug die Hände vor den Mund und der Gefreite, der hinter ihr stand, biss sich auf die Lippe, doch dann schlich sich plötzlich ein listiger Ausdruck in Luca Blights Gesicht, der fast beängstigender war als seine Wut.
 

„Du kennst Anabelle?“, fragte der Prinz nach und sein Mund verzog sich zu einem blutrünstigen Grinsen. „Ich wusste, dass da noch etwas ist!“ Er kicherte leise, dann zückte er ein Messer und kam damit direkt auf Jowy zu.
 

Gerne hätte er in diesem Moment einen Schritt zurückgemacht, wäre geflohen, aber die Griffe der Soldaten um seine Oberarme waren fester als Granit.
 

„Ich gebe dir dieses Messer“, sagte der Kronprinz langsam, während er Jowys Kinn ergriff und ihn zwang, ihm in die Augen zu sehen. „Damit wirst du Anabelle umbringen und uns den Weg nach Muse ebnen – es ist ein passendes Ende für ein Weib wie sie.“ Ungläubig starrte Jowy hoch in das verhasste Gesicht, während Luca Blight das Messer in den Gürtel des Aristokraten gleiten ließ.
 

„Du… du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das tun werde?!“, zischte der Junge wütend. Wieder schnaubte Luca amüsiert und ließ Jowys Kinn los.
 

„Kleiner… Du hast das Land verraten, in dem du geboren bist, die Stadt, in der du aufgewachsen bist, und die Familie, die dich großgezogen hat. Gegen all das ist dieser Mord gar nichts mehr!“, rief der Kronprinz aus und lachte – alle Anwesenden außer dem blonden Gefreiten, Jillia und Jowy selbst fielen in das Gelächter ein.
 

„Nur über meine Leiche“, zischte der Aristokrat und Luca hielt abrupt in seinem Lachen inne.
 

„Ist das so?“, vergewisserte sich der Kronprinz, wieder das wahnsinnige, wütende Funkeln in den dunklen Augen. Dann grinste er wieder. „Wenn das deine endgültige Entscheidung ist, dann werden du und alle anderen Mitglieder der Atreides-Familie des Hochverrats am Königshaus der Blights bezichtigt. Und du darfst natürlich dabei zusehen, wie einer nach dem anderen gehängt wird, ehe du an der Reihe bist!“
 

„Ich bin kein Atreides mehr!“, rief Jowy. Seine gesamte Wut schlug schlagartig in blanke Panik um. „Sie haben nichts damit zu tun! Ich habe den Namen abgelegt!“
 

„Heh“, machte Luca Blight abfällig. „Du kannst vielleicht deinen Namen verneinen, aber nicht das Blut, das durch deine Adern fließt!“ Jowy sah zu Boden. Runen, was sollte er tun? Er konnte Anabelle nicht einfach umbringen, sie war die Hoffnungsträgerin einer ganzen Nation, er würde keinen Mord begehen – aber er konnte es seiner Mutter nicht antun, dass sie sich unter solchen Umständen wiedersahen. Sie war eine gute Frau, sie hatte den Tod nicht verdient, sie hatte schon genug daran zu leiden, dass er…
 

„Bringt ihn in das Vorratszelt und lasst ihn sich die Nacht über abkühlen“, brach Luca Blights geschnarrter Befehl durch seine rasenden Gedanken. „Vielleicht ändert er seine Meinung morgen früh…“
 

„Aber… L-Lord Luca…“
 

Was?“ Lucas genervter Blick wandte sich Rowd zu, der nun regelrecht zu schrumpfen schien.
 

„N-Nichts, Mylord!“, stammelte der Captain. „Z-Zu Befehl. Los, ihr habt es gehört!“ Die letzten Worte galten den zwei Männern, die Jowy noch immer eisern festhielten – doch inzwischen wehrte er sich gar nicht.
 

Seine gesamte Energie schien ihn mit einem Schlag verlassen zu haben, er fühlte sich schlapp und hilflos.
 

Als man ihn wieder nach draußen zerrte, hinaus in den strömenden Regen, sah er noch die großen, schreckgeweiteten blauen Augen von Jillia Blight… und die ernsten graugrünen Augen des jungen, blonden Soldaten, der ihm so furchtbar bekannt vorkam.
 

Dann verschwand all das hinter dem Regenvorhang.
 

Kalt.
 

Einsam.
 

Grau.
 


 

Seine Glieder waren steif, sein Kopf und sein Rücken taten noch weh von den Schlägen, doch er merkte nichts davon. Sein Unwohlsein war nur eine vage Ahnung am Rande seines Bewusstseins – seine Gedanken waren ganz woanders.
 

Was sollte er nur tun? Er konnte doch nicht einfach einen Mord begehen! Das hatten Anabelle und die Stadt-Staaten nicht verdient. Aber genauso wenig konnte er einfach riskieren, dass seine Mutter seinetwegen hingerichtet wurde.
 

Sie war seine Mutter. Er liebte sie! Auch wenn… Auch wenn er wohl nicht mehr als ihr Sohn galt, nach allem, was passiert war.
 

Er konnte nichts dagegen tun, wieder tauchte das Bild ihres traurigen Gesichtes vor seinem inneren Auge auf. Oh, warum, warum wusste Luca Blight genau, was er sagen musste, um Jowy vor ein auswegloses Dilemma zu stellen?!
 

Er hatte sich zwar verboten, vor lauter Verzweiflung in Tränen auszubrechen, konnte aber nicht verhindern, dass seine Augen trotzdem feucht wurden. Oh, Runen, was sollte er denn nur tun?
 

Man hatte ihn in das gleiche Vorratszelt gebracht, in das er vor nur wenigen Stunden zusammen mit Riou eingebrochen war. Seine Hände hatte man ihm hinter dem Hauptmast des Zeltes zusammengebunden, sodass er unmöglich entkommen konnte, obwohl er noch immer ein Messer in seinem rechten Stiefel hatte und der Dolch, den Luca Blight ihm zugesteckt hatte, noch immer in seinem Gürtel steckte.
 

Aber so sehr sich Jowy auch verbog und wand, er kam an keine der Waffen und überhaupt, wie sollte er denn entkommen, wenn das Zelt sowieso bewacht wurde…?
 

Sein Magen knurrte leise in der Dunkelheit und er dachte daran, dass er den ganzen Tag fast nichts gegessen hatte. Aber andererseits war es sowieso egal. Er wusste nicht, wie spät es war, aber die Nacht war wohl schon hereingebrochen. Wie lange saß er schon hier in der Finsternis des Vorratszeltes und lauschte den immer leiser werdenden Geräuschen des Militärlagers?
 

Als er ganz in seiner Nähe Schritte hörte, dachte er zunächst, er hätte sie sich eingebildet. Dann jedoch tauchte ein Licht in seinem Sichtfeld auf und er hob verwirrt den Kopf.
 

Vielleicht spielte ihm sein gemarterter Körper einen Streich – er wusste es nicht. Denn dort, direkt vor ihm, mit einer Laterne in der Hand und einem mitleidigen Ausdruck im Gesicht, stand Jillia Blight höchstpersönlich.
 

„Was…?“
 

„Es tut mir so leid“, flüsterte die Prinzessin, ehe sie sich auf die Knie sinken ließ und die Laterne neben sich abstellte. „Ich hätte so gern etwas gesagt oder getan, aber…“
 

„Warum seid Ihr hier?“, unterbrach er sie verwirrt. Jillia blinzelte überrascht und antwortete dann:
 

„Weil es nicht richtig ist, wozu mein Bruder Euch zwingen will!“ Das wusste Jowy auch selbst, aber er verkniff sich jeden sarkastischen Kommentar, als er in ihre Augen sah. Ihr Mitleid war aufrichtig.
 

„Mein Bruder ist ein blutrünstiges Monster“, wisperte Jillia. „Ihr dürft auf gar keinen Fall tun, was er von Euch verlangt! Ich werde Euch…“
 

„… Prinzessin.“ Sie zuckte überrascht zusammen und starrte ihn an. „Ich bin ein Spion. Euer Feind. Warum…?“
 

„Weil ich noch weiß, was richtig und was falsch ist!“ Jillia war etwas zu laut geworden und schlug sich schnell eine Hand vor den Mund, ehe sie sich gehetzt zum Zelteingang umsah. Als jedoch nichts geschah, ließ sie die Hand wieder sinken und sah ihn ernst an.
 

„Ich weiß, wer Ihr seid“, sagte sie leise, „und ich weiß auch, was Euch nach Jowston getrieben hat. Ich kann verstehen, warum Ihr auf der Seite des Staates steht, obwohl Ihr als Highlander geboren wurdet.“
 

Tat er das? War es so? War er zum Staat übergelaufen? Er wusste es nicht, er wusste gar nichts mehr, er war völlig überfordert…
 

„Ihr und ich, wir wünschen uns beide wahrscheinlich nichts sehnlicher, als dass dieser Krieg endlich endet“, fuhr die Prinzessin fort. „Und deshalb bitte ich Euch, tötet Lady Anabelle nicht! Gebt meinem Bruder keine Gelegenheit, dieses Land brennen zu sehen, bitte!“
 

Er starrte sie wortlos an und wusste nicht, was er sagen konnte. Jowy war ja selbst klar, dass er die Bürgermeisterin unmöglich umbringen konnte, aber… seine Mutter…
 

„Ich werde Euch gehen lassen“, erklärte Jillia ihm ernst. „Und dann könnt Ihr nach Kyaro zurückkehren und Eure Familie warnen!“ Ungläubig suchte er ihr Gesicht nach einer Lüge ab, doch da war keine. Sie war absolut ehrlich.
 

„Prinzessin…“
 

„Wartet einen Moment.“
 

„P-Prinzessin?“ Sie zuckte entsetzt zusammen und fuhr herum zum Eingang. Im schwachen Licht der Laterne war es schwer, sich sicher zu sein, aber Jowy hätte trotzdem schwören können, dass dort der junge Soldat stand, dem er schon mehrmals begegnet war.
 

„Was wollt Ihr?“, fragte Jillia abweisend und erhob sich. „Ich dachte, ich hätte gesagt, dass ich nicht gestört werden will?“
 

„Äh… Verzeiht, Prinzessin, aber… aber… mir wurde befohlen, den Gefangenen zu füttern…“ Der junge Mann kam näher und entpuppte sich tatsächlich als der blonde Gefreite, der allmählich etwas zu oft in Jowys Nähe auftauchte.
 

Jillia sah schnell zwischen dem Soldaten und dem Aristokraten hin und her, dann neigte sie ruckartig den Kopf und sagte:
 

„Dann tut das, wofür Ihr gekommen seid, Soldat.“ Sie ließ die Laterne stehen und ging eiligen Schrittes zum Zelteingang, wo sie neben dem jungen Mann stehen blieb und zischte:
 

„Ihr habt mich nicht gesehen!“
 

„Z-Zu Befehl, Prinzessin.“ Jillia warf Jowy noch einen letzten, traurigen Blick zu, dann verschwand sie.
 

„Habe ich etwas unterbrochen?“, fragte der Soldat nach einem Moment des Schweigens in einem schwachen Versuch, die Spannung etwas zu lockern.
 

„Nein…“ Jowy seufzte leise und sah zu Boden. Er wusste nicht einmal, ob er gewollt hatte, dass Jillia ihn laufen ließ – dadurch hätte sie sich doch nur selbst in Gefahr gebracht und außerdem konnte er nicht einfach nach Hause zurückgehen und seine Mutter warnen… Ihm würde ja doch keiner glauben…
 

„Die Suppe ist kalt“, murmelte der Gefreite, „und sieht ein bisschen wässrig aus, aber ich glaube, es ist besser als gar nichts…“ Der junge Mann kniete sich dort hin, wo Jillia noch wenige Minuten zuvor gesessen hatte, und Jowy bemerkte die Schüssel und den Löffel, den der Soldat ihm hinhielt.
 

„Ich will nichts essen“, sagte der Aristokrat und ignorierte das Brummen seines Magens. Er wollte nicht der Gnade der Highland-Armee ausgeliefert sein…
 

„Ich denke, du solltest es trotzdem tun“, erwiderte der Soldat. „Woher willst du sonst die Kraft zur Flucht nehmen?“
 

-----------------

A/N: Bevor einer fragt: Der Dialog mit Luca stammt mehr oder weniger direkt aus Suikogaiden Vol.1 - bei Ramsus-kun findet sich eine größtenteils vollständige Übersetzung der Szene, also entschuldige ich mich im Voraus für eventuelle Unlogik :D



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Flordelis
2010-11-28T13:03:43+00:00 28.11.2010 14:03
Er musste etwas tun, er musste…
... seine Panik überwinden und die Rune einsetzen~
Panik: Dumm nur, dass ich stärker bin. *an Jowy festklammer*

ätzte Rowd
Säure ätzt. Eine Situation kann auch "ätzen". :,D
Aber ich glaube, ein Mensch ächzt eher.

Ramsus-kun
Rult. Einer meiner Translation-Götter. :,D
Nach Nighty und Cheese, die rulen alles weg. *g*

Well, diesmal ist es wieder ein kürzerer Kommentar, mir gefiel das Kapitel sehr, sehr gut, daher lass ich das einfach mal so stehen, da in Mismars Kommentar ohnehin schon alles gesagt wurde.
Von:  Mismar
2010-11-23T12:36:50+00:00 23.11.2010 13:36
Ich werde manche Situationen nie im Spiel verstehen <_< wieso nutzt der Vollpfosten nicht seine Rune… wozu hat er das blöde Teil DX

„Was gibt dir das Recht, darüber zu urteilen?!“ <- irgendwie finde ich das viel besser als im Original o.o weil dieses „Halts Maul!“ ist schon irgendwie… krass >D

Allgemein fand ich einige Satzänderungen besser. Ich muss schon sagen, das Ende finde ich sehr gelungen. Besonders das Gespräch mit Jill und Nashs Worte am Ende~ awww, ganz ehrlich, die Worte waren echt gut ausgewählt, kein Zweifel.
Das Kapitel hat mir ziemlich gut gefallen, am meisten das Ende. Und ich finde diesen inneren Kampf von Jowy schön :D More Feelings~ Jaja, so wie es ist, könnte es bleiben.
Mach weiter so~


Zurück