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Another Side, Another Story

The Traitor's Tale
von

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Das Schweigen der Lämmer

Jowy starrte Riou an und der starrte zurück. Dann brachen die Bogenschützen um sie herum in triumphierenden Jubel aus und im Licht der Flammen sahen sie die anderen Söldner zurückkehren.
 

„Wir… wir haben es geschafft…“, sagte Riou leise und ungläubig, obwohl seine Worte in dem Lärm, der um sie herum herrschte, beinahe untergingen. Jowy zwang sich zu einem Lächeln und nickte.
 

„Gute Arbeit, Riou.“ Der Jüngere zuckte zusammen und sah ihn kurz unsicher an, ehe er auch lächelte.
 

„Du auch, Jowy.“
 

Sie kletterten vom Dach, begleitet von den Männern, die ihrem Befehl unterstanden, und die ihnen gratulierten und versicherten, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. Jowy selbst verspürte zwar unglaubliche Erleichterung darüber, dass sie die Schlacht gewonnen hatten, aber andererseits war da noch ein seltsames Gefühl in seinem Inneren, dass er nicht bestimmen konnte.
 

Er warf Riou einen Seitenblick zu und ihm fiel ein wahrer Findling vom Herzen, als er genau dieses Gefühl auch in den Augen seines besten Freundes entdeckte. War es etwas, das nur sie beide spüren konnten? Diese nagende Empfindung irgendwo in der Magengegend…
 

Der Hof füllte sich wieder mit Söldnern, die teils verletzt einander beglückwünschten, während Nanami, Millie, Barbara und Leona sich noch immer um die Schwerverletzten kümmerten. Wie viele von ihnen würden diese Nacht überleben…?
 

„Öffnet die Tore!“ Jowy half dabei, die Tore aufzuziehen, um die Einheiten von Viktor, Flik, Cedric und Andris wieder hinein zu lassen. Gengen hinkte auf sie zu und obwohl er sich die Seite hielt und das Fell in seinem Nacken blutverkrustet war, strahlten seine dunklen Augen.
 

„Captain Gengen hat es ihnen gezeigt!“, rief der Kobold triumphierend, als er bei den Jungen ankam. „Captain Gengen ist großer Kobold-Krieger!“ Riou lachte und drückte Gengen übermütig an sich.
 

„Der beste!“, versicherte er ihm und Jowy musste gegen seinen Willen grinsen. Im nächsten Augenblick schloss sich ein Schraubstock um ihn und Riou und jegliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Erst, als der Druck um seinen Oberkörper nachließ und die Sterne, die vor seinen Augen tanzten, verschwunden waren, erkannte Jowy, dass Viktor die Jungen enthusiastisch in seine Arme geschlossen hatte.
 

„Eure erste Schlacht war ein voller Erfolg!“, gratulierte er ihnen mit einem Grinsen und Jowy bemerkte besorgt, dass er übers halbe Gesicht blutete und sich auf seinem rechten Oberarm eine mittelschwere Verbrennung abzeichnete. Der Bär folgte seinem Blick und winkte ab.
 

„Alles okay“, beruhigte er sie, „ich sah schon schlimmer aus.“ Flik nickte und brummte:
 

„Ja, aber wessen Schuld war das?“ Viktor lachte röhrend und erwiderte:
 

„Sagt der Mann, den ich vor drei Jahren halb-bewusstlos aus Gregminster schleppen musste!“
 

„Ach, sei doch still.“ Doch Flik grinste dabei. Viktor tat es ihm gleich und trat dann zu Leona herüber. Sein Lächeln verblasste allerdings, als er leise mit ihr ein paar Worte wechselte und dann grimmig nickte, während sein Blick über einige der regungslosen Gestalten glitt, die auf dem Boden lagen.
 

Flik sah ebenfalls betrübt aus, dann räusperte er sich jedoch und sagte:
 

„Ihr Jungs habt euch eine Pause verdient. Warum haut ihr euch nicht aufs Ohr?“ Sehnsüchtig warf Riou dem Hauptgebäude einen Blick zu, dann schüttelte er jedoch den Kopf und erwiderte mit fester Stimme:
 

„Nein. Ich will den Verletzten helfen.“ Jowy nickte nur, da auch sein Gewissen sich mit einem leichten Ziehen in der Brust meldete. Wie konnten sie schlafen gehen, während die Söldner hier noch immer mit dem Tod rangen?
 

Flik betrachtete sie einen Moment lang aufmerksam, dann nickte er und lächelte schwach.
 

„Danke.“
 

Sie halfen Barbara, den Eintopf, den sie gekocht hatte – wann hatte sie das geschafft? – auf Schüsseln zu verteilen und brachten sie hinaus zu den erschöpften Söldnern, die im Hof den Frauen zur Seite gingen und Verbände anbrachten, Blut stillten und über den Verstorbenen Leinendecken ausbreiteten.
 

Irgendwann trat Viktor auf die Stufen vor dem Haupteingang und rief:
 

„Alle mal herhören! Ich bin stolz auf euch, ihr habt alle großartige Arbeit geleistet.“ Apple, deren Ärmel hochgekrempelt und voller Blutflecken waren, schob nervös lächelnd ihre Brille zurecht und nickte.
 

„Die Highlander sind müde und müssen sich zurückziehen und neu gruppieren. Wir werden nicht vor morgen mit einem erneuten Angriff rechnen, womöglich sogar noch später. Also ruhen wir uns aus!“ Jowy hatte das Gefühl, er hätte ein Leben lang auf diese Worte gewartet. Nanami, die sich neben Riou hatte in den Sand fallen lassen, lächelte schwach in seine Richtung, als sich ihre Blicke trafen und auch in ihren Augen erkannte er das seltsame Gefühl, das ihn noch immer nicht loslassen wollte.
 

Was konnte es sein? Sie hatten doch gewonnen…
 

„Ich bin todmüde“, gestand Nanami gerade und gähnte. „Am liebsten würde ich-“
 

„Die Highland-Armee! Sie greifen wieder an!!“
 

„Was?!“ Jowy war aufgesprungen und starrte ungläubig den Söldner an, der in einem der Wachtürme stand und gerade zu der Menge herumfuhr, die im Hof versammelt war.
 

„Das ist Irrsinn!“, hallte Apples Stimme über den Platz und durchbrach die gespenstische Stille, die sich ausgebreitet hatte. „Sie können diese erschöpften Soldaten nicht wieder in den Kampf zwingen!“
 

„Sie kommen!“, erwiderte der Söldner im Ausguck erschlagen und schüttelte den Kopf.
 

Jowy fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Wieder stieg die Übelkeit in ihm hoch, er begann zu zittern…
 

Sie griffen wieder an? Die Söldner hatten in der ersten Welle des Angriffs schon schwere Verluste erlitten…!
 

„Okay, wir haben keine Zeit!“ Viktor hatte sich als erster wieder gefasst. „Keiner verlässt das Fort! Verteidigt diesen Ort!“
 

„Wir dürfen sie nicht gewinnen lassen!“, stimmte Flik ihm zu. „Riou, Jowy, kommt her!“
 

„Ich komme mit!“, sagte Nanami sofort und rannte an Jowy vorbei, ihm gar keine Gelegenheit lassend, noch zu protestieren. Ein Teil der Söldner eilte bereits zu den Zäunen, um sie mit allem zu verstärken, was gerade zur Hand war, andere griffen zu den Bögen und bezogen wieder Stellung auf dem Dach.
 

Es ging alles viel zu schnell. In der nächsten Sekunde erschütterte ein erster Treffer die massive Mauer an der Nordseite des Forts und eine Stimme rief:
 

„Ihr habt mich das letzte Mal erniedrigt, ein zweites Mal wird euch das nicht gelingen!“ Solon Jhee! Jowy schnappte nach Luft.
 

Als sie Viktor, Flik, Cedric und Andris erreichten, die Befehle brüllten, fluchte Viktor gerade unschön.
 

„Aufs Dach mit euch!“, befahl Flik, als er die Jugendlichen bemerkte. „Und passt auf, dass es euch nicht erwischt!“
 

„Viktor!!“ Ein Söldner kam herbeigelaufen, auf seinem Gesicht ein Ausdruck puren Entsetzens.
 

„Was ist passiert?“
 

„Die Feuerspeere!“, keuchte der Mann. „Sie funktionieren nicht mehr!“ Er wies zu den Zäunen, wo sich eine Truppe Söldner mit den Speeren abmühte. Jowy glaubte, Tsai unter ihnen zu erkennen, aber sicher war er sich nicht.
 

„Was soll das heißen, sie funktionieren nicht?!“, rief Andris entsetzt.
 

„Verdammt!“
 

„Viktor!“ Doch bevor sie erfuhren, was nun geschehen war, ergriff Riou Jowy und Nanami an den Händen und zog sie hinter sich her.
 

„Wir sollten nicht herum stehen und entsetzt schauen“, sagte er ernst, während er die Leiter auf die Veranda erklomm, um von dort aus aufs Dach zu kommen, „sondern versuchen, unser Bestes zu tun.“ Jowy starrte ihm hinterher, riss sich dann aber zusammen und folgte Nanami, die ihrem Bruder bereits gefolgt war.
 

Es ging alles so verdammt schnell! Er wusste gar nicht wohin…
 

Oben angekommen, erkannte Jowy erst den ganzen Ernst der Lage. Die Highland-Armee schien sich verdoppelt zu haben und stürmte unbarmherzig die Mauern des Forts, obwohl Pfeile und Steine vom Himmel fielen und Zamza, der ganz in ihrer Nähe auf dem Dach stand und eine der Strohpuppen umklammerte, um nicht herunterzufallen, unermüdlich Feuerzauber auf die Highlander herabregnen ließ.
 

„Wir… wir können das doch unmöglich…“ Nanami schnappte nach Luft und presste fassungslos eine Hand auf den Mund.
 

„Doch, wir können!“, erwiderte Riou entschlossen. „Wir können hier nicht sterben!“ Nanami starrte ihren Bruder an, während um sie herum der Lärmpegel immer weiter stieg – die röhrende Feuerbrunst, die Schmerzenslaute, die Kampfschreie, die Flüche – dann nickte sie zögerlich.
 

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch eine Erschütterung, die so heftig war, dass Jowy kurzzeitig dachte, die Erde hätte sich aufgetan, brachte sie zum Taumeln und das Mädchen griff haltsuchend nach Rious Arm, der sie mühsam aufrecht hielt.
 

„Was zum…?“
 

Jowy fuhr herum und sah, dass das Tor in die Luft geflogen war und nun eine Flut von Highland-Soldaten den Innenhof stürmte.
 

„Bei den Runen…“ Um sie herum erstarrten auch die Bogenschützen vor Schreck und Nanami rief:
 

„Wir müssen hier weg, sofort!“ Weglaufen? Während Pilika irgendwo im Fort war?! Ein panischer Aufschrei irgendwo unten im Hof hinderte ihn daran, lautstark zu protestieren und er sah reflexartig hinunter.
 

„Oh, bei den Runen…!“
 

Es war unmöglich, den Mann, der gerade durch das zerstörte Tor trat, mit jemandem zu verwechseln, zu irre war der Blick, zu wahnsinnig das Lachen, das Jowy selbst oben auf dem Dach und durch all den Lärm hören konnte.
 

Luca Blight.
 

Der Kronprinz von Highland stach rechts und links Männer ab – ungeachtet dessen, dass die Hälfte der Erschlagenen seine eigenen Untergebenen waren – während er den Hof überquerte und aus Jowy Sicht verschwand.
 

„Wir müssen abhauen“, drängte Nanami schrill, „er wird uns alle umbringen!“
 

„Wir können nicht!“, blaffte Jowy heftiger als gewollt, „Pilika ist noch da drin!“ Einen Augenblick lang rührte sich keiner der drei, dann sagte Riou angespannt:
 

„Wir holen sie hier raus und verschwinden.“ Und damit war es entschieden. Während um sie herum die Söldner noch immer nicht daran dachten, ihr Fort – ihr Zuhause – einfach so dem Feind zu überlassen, klettern die drei Jugendlichen nach unten, dorthin, wo die Schlacht am stärksten tobte.
 

Vielleicht war es Glück, dass gerade keiner darauf achtete, ob jemand die Leiter benutzte, vielleicht dachten die Highlander auch, dass drei Kinder keine Gefahr darstellten. Sie kamen unbehelligt unten an… doch sie blieben nicht lange unentdeckt. Ein Highland-Soldat stürzte auf die drei zu, doch Nanami zückte ihren Nunchaku und rammte einen der Stäbe in die ungeschützte Magengrube des Mannes, ehe sie herumwirbelte und ihr Knie hochriss. Getroffen sackte der Soldat stöhnend zu Boden und Jowy beeilte sich, seinen Stab zu ziehen.
 

„Passt auf!“ Er hatte keine Zeit, um sich umzudrehen; im nächsten Moment wurde er zu Boden gestoßen und landete schmerzhaft auf dem Körper eines gefallenen Highland-Soldaten. Ein Ächzen entwich ihm, während Riou ihn wieder auf die Beine zog.
 

Erst jetzt sah Jowy, dass aus heiterem Himmel Hanna neben ihnen aufgetaucht war und zwei Highlander, die es auf die Jugendlichen abgesehen hatten, niedergestreckt hatte. Während das Blut von ihrer Schwertklinge tropfte, wandte sie sich den dreien zu und zischte:
 

„Seid ihr wahnsinnig, Kinder? Was tut ihr noch hier?!“
 

„Wir müssen Pilika retten!“, erklärte Jowy entschlossen und sah der Kriegerin direkt in die dunklen Augen. Sie musterte aufmerksam sein Gesicht, dann nickte sie abrupt und sagte:
 

„Ich gebe euch Rückendeckung! Beeilen wir uns.“ Vielleicht war es die Tatsache, dass sie in Toto versagt hatte, aber Jowy war sich sicher, dass nur Hanna ihnen dieses Angebot gemacht hätte. Alle anderen – Tsai, Rikimaru, Viktor, Flik – hätten sie wenn nötig mit Gewalt herausgezerrt…
 

Plötzlich bemerkte Jowy aus den Augenwinkeln eine Bewegung, riss seinen Stab herum und sah dann, dass er einen Highlander direkt im Gesicht getroffen hatte. Ein hässliches Knacken – war das der Kiefer gewesen…? – ertönte, dann zog Riou den älteren Jungen auch schon weiter.
 

Das kleine Grüppchen schlug sich einen Weg durch die Horden von Highlandern – Wo kamen sie alle her? Warum waren es so viele? Wie hatten sie unbemerkt das Fort umrunden können…? – bis es an der Eingangstür ankam, die aus den Angeln gehoben worden war und jetzt halb zerborsten den Weg hinein fast versperrte. Während Hanna dafür sorgte, dass niemand sie von hinten angriff, stürmten Nanami, Riou und Jowy hinein und kamen in der Halle schlitternd zum Stehen.
 

Alles war voller Highlander und Jowy spürte, wie Panik ihm langsam, aber sicher die Kehle zuschnürte. Wo war Pilika?!
 

„Leona!!“ Nanami war vorangestürmt, hinein in eine Gruppe Highland-Soldaten, die Leona und zwei Söldner umkreist hatten, von denen einer offensichtlich verletzt war. Riou und Jowy zögerten nicht lange und folgten ihr und auch Hanna tauchte wieder auf.
 

„Was macht ihr Kinder noch hier?“, rief Leona, die eine Bratpfanne in der Hand hielt und damit gerade ausholte und einen der Highlander mit einem metallischen Laut im Gesicht traf. „Verschwindet!!“ Jowy wich knapp einer Klinge aus, schwang seinen Stab und riss damit seinen Angreifer von den Beinen, der sogleich von Hanna abgestochen wurde.
 

„Wo ist Pilika?“, fragte der junge Aristokrat über den Lärm hinweg und hob seinen Stab abwehrend vor seinen Körper. Die Schwertklinge eines weiteren Highland-Soldaten knallte gegen das Metall und er spürte, wie sein rechtes Handgelenk wegknickte und Schmerz darin explodierte, gleich dem Feuer, welches das Eingangstor des Forts gesprengt hatte. Schon sah er das Schwert auf sich zukommen, doch Riou tauchte vor ihm auf und wehrte die Klinge mit seinem rechten Tonfa ab, dann stieß er mit seinem linken gegen den ungeschützten Hals des Angreifers.
 

„Pohl hat sie in den Konferenzraum gebracht“, japste Leona entsetzt und erstarrte so plötzlich, dass sie beinahe getroffen wurde; es war Nanami zu verdanken, dass die Barfrau aus dem Weg gezogen wurde.
 

Jowy selbst musste gegen die bleierne Schwere ankämpfen, mit der sich das Entsetzen in seinem Körper ausbreitete. Doch die Sorge um die kleine Pilika, die er zu beschützen geschworen hatte, verlieh ihm plötzlich Kräfte.
 

Mit einem Aufschrei rammte Jowy seinen Stab in die Magengrube eines Highlanders, fuhr herum und traf einen anderen in die Seite, dann rief er:
 

„Ich muss sie retten!“ Und dann stürmte er auch schon los, ignorierte die Schmerzen in seinem Handgelenk und focht sich einen Weg durch die Horde von Feinden. Ein paar Söldner kamen ihm zu Hilfe und als er sich plötzlich von fünf Männern umgeben sah, die er wahrscheinlich unmöglich allein hätte besiegen können, holten Riou, Nanami und Hanna ihn ein.
 

„Verschwinde nie wieder allein!“, schimpfte Nanami, wirbelte herum und schwang ihren Nunchaku. Vielleicht hätte er sich entschuldigen sollen, aber dazu hatte er weder die Gelegenheit noch die Nerven. Er musste hoch in den Konferenzraum und Pilika aus dieser Hölle holen…!
 

Als er an kämpfenden Highlandern und Söldnern vorbeieilte, rutschte er beinahe auf dem Blut aus, das inzwischen den Boden benetzte, und stolperte ein, zwei Mal über Leichen, doch das konnte ihn nicht aufhalten. Es durfte ihn nicht aufhalten!
 

„Vorsicht!!“ Hannas zog gerade Nanami aus dem Weg eines Speeres und Jowy war plötzlich froh, dass es im Inneren des Forts zu eng war, um mit Pfeil und Bogen zu hantieren. Speere, Schwerter, Dolche und Messer waren eine Sache – aber Pfeilen auszuweichen war ein Ding der Unmöglichkeit.
 

Als sie endlich, endlich den ersten Stock erreichten, war Jowy übersäht von kleineren Verletzungen und Schnitten und inzwischen völlig sicher, dass er sich das Handgelenk verstaucht hatte. Aber Pilika war wichtiger. Viel wichtiger.
 

„Hanna!“, rief er der Kriegerin zu, die gerade ihr Schwert in die Seite eines Highlanders stieß und dabei wie ein wütendes Tier grollte. „Pass auf, dass uns niemand von hinten angreift!“ Mit diesen Worten rannte er weiter, dicht gefolgt von Riou und Nanami.
 

Und dann erreichten sie die Tür des Konferenzraumes und rissen sie auf; doch der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie mitten in der Bewegung erstarren.
 

Luca Blight zog sein Schwert gerade aus dem Pohls blutüberströmten Körper, der

viel zu unbeweglich am Boden lag, und bemerkte abfällig:
 

„Staats-Schweine... Wie oft ich dieses Gejammer schon gehört habe…!“ Pilika, die vor ihm gestanden hatte, fiel zu Boden und begann zu weinen. Offensichtlich trugen ihre Beine sie nicht mehr.
 

Der highlandische Kronprinz fuhr zu ihr herum und brüllte:
 

„Halt dein Maul, du Gör! Du verdirbst mir den Spaß!!“ Er machte einen Schritt auf das kleine Mädchen zu und hob sein Schwert. Pilikas Blick folgte der Klinge und sie schrie:
 

„Nein! Nicht!“
 

„Sei still!“ Im nächsten Moment fand Jowy sich Seite an Seite mit Riou und Nanami wieder, die genau wie er mit ihren Waffen die niedersausende Klinge Blights aufgehalten hatten, die Pilikas Schädel zu spalten gedroht hatte.
 

„Du wirst ihr kein Haar krümmen!“, zischte Jowy, der unter größter Anstrengung seinen Stab festhielt. Luca Blight… Warum war er so stark?!
 

„Seid ihr etwa gekommen, um dieses Gör zu beschützen?“, höhnte der Prinz. Er verstärkte den Druck auf seine Klinge und Jowy stellte fest, dass seine Füße auf dem Teppich zu rutschen begannen, da er keinen Halt finden konnte. Und außerdem sandte sein verletztes Handgelenk Schmerzwellen durch seinen Arm…!
 

„Lass… sie in Ruhe…“, ächzte Riou, dem ebenfalls anzusehen war, wie viel Kraft es ihn kostete, Luca Blight zurück zu halten.
 

„Ha!“ Blight machte eine plötzliche Bewegung, die keiner von ihnen erwartete – und dann knallte Jowy auch schon gegen eines der Bücherregale, das im Raum stand, zur Seite gewischt wie eine Fliege von der ungeheuerlichen Kraft des Highland-Prinzen.
 

Stöhnend und mühsam richtete sich der Blonde sich auf seinen Ellenbogen auf, während ein paar Bücher auf ihn herabfielen. Von dem Aufprall tat ihm alles weh und die dicken Wälzer, die ihn trafen, während sie aus dem Regal kippten, machte es nicht besser. Und ein Blick hinüber die Riou und Nanami verriet, dass auch sie Schwierigkeiten hatten, wieder auf die Beine zu kommen.
 

„Lasst mich euch etwas erzählen“, sagte Luca Blight und grinste mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen zu ihnen herunter. „Auf dieser Welt gibt es schwache und starke Männer…“ Ein Kichern entwich ihm, das Jowy vollends davon überzeugte, dass der Prinz völlig verrückt war.
 

„Die starken Männer bekommen alles und die schwachen sterben!“, sinnierte Blight weiter, über den Kampflärm und Pilikas Schluchzen hinweg. „So wurde diese Welt geschaffen. Und jetzt werde ich euch demonstrieren, wie es funktioniert, ihr Schwächlinge!“
 

„Stop!“, rief Nanami entsetzt, als der Kronprinz erneut das Schwert hob und Pilika fixierte.
 

„Nein!“, schrie Riou, als Luca Blight nicht reagierte. Nun wandte der Highland-Prinz seinen glühenden Blick ihm zu und blaffte:
 

„Seid still und schaut zu, ihr elenden Würmer! Überlegt euch lieber eure letzten Worte, ihr seid nämlich als nächstes dran!!“ Jowy presste ohnmächtig die Zähne aufeinander, während er sich trotz der Schmerzen in die Höhe stemmte. Er musste sich zusammenreißen und Pilika helfen, er musste einfach!!
 

Wo war nur Hanna…?
 

„Was ist, Balg, hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte Luca Blight derweil Pilika, die vor Schreck aufgehört hatte, zu schluchzen und den Mann nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Der Prinz brach in Gelächter aus und rief dann:
 

„Keine Sorge! Ich habe Hunderte, Tausende Köpfe von Schultern geschlagen! Es wird ganz schnell gehen!“
 

Aufhören!“, brüllte Jowy verzweifelt, doch Blight beachtete ihn gar nicht. Er war fixiert auf Pilikas Augen und die Tränen, die ihre blassen Wangen hinunterrannen.
 

„Ich liebe es“, hauchte der Prinz erregt. „Diese Augen, so schwach! So voller Furcht!“ Wieder brach er in Gelächter aus. „Bei den Runen, wie ich das liebe!“ Und dann fuhr seine Klinge hinunter, Pilika kreischte schrill… und dann gab es plötzlich eine Erschütterung die so heftig war, dass er in die Knie ging.
 

Im nächsten Moment wurde Jowy auch schon auf die Beine und zur Tür gezogen und erst, als jemand die zitternde Pilika in seine Arme drückte, erkannte er, dass Flik, Viktor und Hanna plötzlich aufgetaucht waren und ihn, Riou und Nanami zur Tür drängten.
 

„Raus hier!“, kommandierte Viktor und scheuchte die Jugendlichen aus dem Raum. „Wir haben alle Feuerspeere in den Boiler im Keller geworfen, sie werden jeden Moment explodieren!“
 

„Beeilt euch und flieht nach Muse“, fügte Flik hinzu, „dort seid ihr sicher!“
 

„Wagt es nicht, jetzt zu sterben!“, drohte Viktor und dann erschütterte eine weitere Explosion irgendwo unter ihnen das Fort und Hanna zog die drei Jugendlichen mit sich.
 

Und dann rannten sie, fort vom Konferenzraum, durch die Masse der taumelnden Kämpfenden, die Treppe hinunter und in den Hof hinaus, inmitten einer Herde von Flüchtenden, Freund und Feind gleichzeitig.
 

Als hinter ihnen plötzlich Flammen aufloderten und die heiße Luft die Haut in Jowys Nacken zu rösten drohte, blieb er stehen und sah zurück zu dem lichterloh in Flammen stehenden Fort. Eine Explosion riss gerade das untere Stockwerk auseinander und um sie herum schrieen Menschen…
 

„Komm weiter!“ Eine Stimme drang wie durch Watte zu ihm und seine Arme waren so unendlich schwer, da er Pilika noch immer trug… Aber jemand ergriff ihn am Oberarm – wobei er beinahe seinen Stab verlor, an den er sich wie ein Ertrinkender klammerte – und zog ihn einfach weiter, während hinter ihnen weitere Explosionen ertönten und das Söldnerfort, das in den letzten paar Wochen zu etwas wie einem Zuhause für ihn geworden war, in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.
 


 

Erst, als es langsam zu dämmern begann und sie in der Nähe des Dorfes Toto ein Waldstück fanden, das sie im Halbdunkel fast völlig verbarg, kamen sie zum Stehen. Jowy spürte seine Beine nicht mehr, fühlte sich erschlagen und setzte mühsam Pilika ab, die sich in sein Hemd krallte. Erst jetzt erlaubte er es sich, einen Blick auf seine Gefährten zu werfen. Er war lediglich Riou gefolgt, hatte sich auf die rote Tunika fixiert und war einfach nur gelaufen… Dabei hatte er gar nicht mitbekommen, dass Zamza und Gengen zu ihnen gestoßen waren.
 

„Seid ihr alle in Ordnung?“, fragte Riou, der heftig atmete und so müde aussah, wie Jowy sich fühlte. Hanna rieb sich mit dem Handrücken über einen Schnitt auf ihrer Wange, um den das Blut inzwischen getrocknet war, und brummte zustimmend, Nanami nickte nur wortlos und Gengen bestätigte sein den Umständen entsprechendes Wohlbefinden mit einem leisen Bellen. Nur Zamza schien noch in der Lage zu sein, etwas zu sagen, da er in diesem Moment seinen zerlöcherten Umhang betrachtete und spitz bemerkte:
 

„Also ich bin unverletzt, aber den Umhang werden diese Widerlinge aus Highland mir bezahlen müssen!“ Niemand beachtete das Gemecker des Magiers, teils, weil sie zu erschöpft dazu waren, und teils, weil Zamza nur dann wirklich glücklich zu sein schien, wenn er meckern konnte. Jowy atmete durch und sah zu Pilika hinunter, die das Gesicht in seinem Hemd vergraben hatte.
 

„Pilika, ist alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte er sich sanft und strich ihr durchs Haar. Sie antwortete nicht, sondern verstärkte den Griff, mit dem sie den Stoff seines Oberteiles umklammert hielt.
 

„Was ist los, Pilika?“, fragte Nanami besorgt und Jowy spürte, wie sich erste Spuren einer furchtbaren Ahnung in seinem Herzen breit machten.
 

„Hey… Pilika…?“ Das kleine Mädchen hob nun endlich den Kopf und sah ihn mit diesen riesigen, braunen Augen an.
 

„Ee… ooo…“ Leise, unverständliche Laute drangen aus Pilikas Mund, als sie ihn öffnete und offensichtlich versuchte, etwas zu sagen. Als sie die Geräusche hörte, die sie von sich gab, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie begann zu weinen. Lautlos.
 

„Pilika?“ Blanker Horror hatte Jowy ergriffen, als er sich auf die Knie niederließ und seinen Schützling an den Schultern ergriff. Ihr Mund öffnete und schloss sich, als sie wieder etwas sagen wollte, doch diesmal kam kein Laut über ihre Lippen.
 

„Sie… Sie kann nicht sprechen…?“ Hannas entsetztes Flüstern schien lauter in seinen Ohren zu klingen, als es tatsächlich war.
 

„Pilika“, flehte Jowy, „sprich mit mir. Bitte, Pilika!“ Doch das Mädchen blieb stumm. Hilflos zog er sie an sich und umarmte sie fest. Hatte Luca Blight sie doch getroffen? War sie verletzt? Er traute sich nicht, nachzusehen…
 

„Jowy.“ Rious sanfte Stimme ließ ihn den Kopf heben und er blickte direkt ins Gesicht seines besten Freundes. Der Jüngere brachte ein schwaches Lächeln zustande und sagte leise:
 

„Mach dir keine Sorgen. Sie… hat sicher nur einen Schock erlitten.“
 

„Ja…“, hörte Jowy sich selbst sagen. „Du hast Recht.“ Doch eigentlich war er sich dabei gar nicht so sicher.
 

„Dieser Ort ist nicht sicher“, seufzte Hanna bedauernd. „Ich weiß, dass ihr alle müde seid, aber wir können nicht hier bleiben. Viktor sagte, dass wir in Muse in Sicherheit sind. Kommt schon, Kinder.“ Wortlos nickten alle und Jowy nahm Pilika wieder hoch, vermied es jedoch, sie anzusehen.
 

Wenn Unschuld in diesem Krieg nichts zählte… konnten sie ihn dann überhaupt überleben?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Flordelis
2010-06-05T20:26:31+00:00 05.06.2010 22:26
Mega-langer Kommentar of doom! X3

aber andererseits war da noch ein seltsames Gefühl in seinem Inneren, dass er nicht bestimmen konnte.
Das "dass" nach dem Komma schreibt man in dem Fall nur mit einem s, weil es sich auf das Gefühl bezieht. ;)

Findling
Jetzt muss ich bei deiner FF auch noch googeln, um sie zu verstehen. XD
Salles: Schadet dir nichts. u_û
Alo: Stimmt. ^^""""

„Die Feuerspeere!“, keuchte der Mann. „Sie funktionieren nicht mehr!“
Ich hab mich immer gefragt, warum sie plötzlich nicht mehr funktionierten. Folgen der schlechten Lagerung wahrscheinlich, oder?

und Zamza, der ganz in ihrer Nähe auf dem Dach stand und eine der Strohpuppen umklammerte, um nicht herunterzufallen, unermüdlich Feuerzauber auf die Highlander herabregnen ließ.
*sich das vorstell*
*grinsen muss*
Oh Mann, armer Zamza. XDDD

Ah, da ist Hanna, yay! =D
Habe ich mal erwähnt, dass ich sie immer mit Barbara verwechsle? ._.
Ich wollte schon fragen, seit wann Barbara mit einem Schwert umgehen kann. X"D

die eine Bratpfanne in der Hand hielt
Bratpfannen sind so praktisch und vielseitig~
Und ich habe noch gelacht, als Alberto und Lester in Teil 1 mit welchen ankamen. XD

der sogleich von Hanna abgestochen wurde.
Ich kann mir nicht helfen, das "abgestochen" klingt mir fast zu salopp. Ich denke da nicht an eine riesige Klinge, die einen durchbohrt, sondern eher an Michael Myers Küchenmesser oder Messerstechereien. X"D

aber Pfeilen auszuweichen war ein Ding der Unmöglichkeit.
Na ja, kommt, denke ich, immer drauf an. Auch darauf, wie gut der Schütze ist, welche Sicht er hat, wie der Wind weht, bla bla bla.
Natürlich ist es nur in Matrix möglich, einem Geschoss auszuweichen, wenn es direkt vor dir ist, aber ansonsten dürfte es möglich sein, sofern Reaktionsvermögen (und ein schlechter Schütze XD) mitspielt.
Nebenbei hat man bei Bogenschützen auch den Vorteil, dass man sich hinter Dingen verstecken und so nicht getroffen werden kann, da er es vermeiden wird, dir zu nahe zu kommen, da er sonst schutzlos ist - mach das mal bei nem Schwertkämpfer. X"D
Oh ja und Bogenschützen brauchen recht lange, bis sie wieder fähig sind, einen neuen Schuss abzugeben (neuen Pfeil aus dem Köcher ziehen, anlegen, zielen, schießen, das dauert alles seine Zeit) und sie laufen Gefahr, dass ihnen die Munition ausgeht (in "Herr der Ringe" lief Legolas während einer Schlacht umher und sammelte Pfeile ein, weil seine alle verschossen waren, was auch ein Vorteil für dich als deren Gegner ist. ;)
[/unwichtiges Blabla]

Luca Blight… Warum war er so stark?!
Ja, ey! DX
Was nimmt der Kerl, um so stark zu werden?
Und wo kann ich es kaufen? XD

Und dann fuhr seine Klinge hinunter, Pilika kreischte schrill… und dann gab es plötzlich eine Erschütterung die so heftig war, dass er in die Knie ging.
Und dann...
Allgemein gab es in diesem Kapitel sehr viele "dann"s. Fand ich persönlich ein wenig störend, was aber auch daran liegt, dass ich dieses Wort gar nicht so recht leiden mag. ^^"""

„Also ich bin unverletzt, aber den Umhang werden diese Widerlinge aus Highland mir bezahlen müssen!“
Ich liebe deinen Zamza. XD

weil Zamza nur dann wirklich glücklich zu sein schien, wenn er meckern konnte.
*gasp* Zamza ist Deutscher!!
XDDD

So, dann mal zum Kapitel an sich.
Ich fand es wieder sehr gut, hat mir wirklich gefallen - außer eben die genannten Dinge, die mir aufgefallen sind. ^^
Was Pohls Todesszene anging... ich fand die im Spiel immer recht nervig, da fand ich es bei dir um einiges besser.
Seltsamerweise kamen mir bei dir auch die Tränen, als sich herausstellte, dass Pilika nicht mehr sprechen kann - im Spiel dachte ich nur "Woot, endlich Ruhe!".
Alles in allem fand ich das Kapitel wirklich klasse. Besonders Luca gelingt dir immer wieder spitzenmäßig, ich würde mich nie an jemanden wie ihn herantrauen von der schreiberischen Sichtweise. XD
Also immer weiter so! X3
Von:  Mismar
2010-06-04T20:08:58+00:00 04.06.2010 22:08
So, tolles Kapitel wie immer

„Vorsicht!!“ Hannas zog gerade Nanami aus dem Weg eines Speeres <- hehe, von der Frau gibt es also zwei XD Zwei, kinderfeindliche Hannas~

Das ist der einzige Fehler, den ich gefunden habe. Hoffentlich~

Ansonsten war alles toll, mir hat das mit Luca auch gefallen, ich weiß nicht, du kannst sie eben toll beschreiben.
Aber was mich mehr faziniert ist die Tatsache, dass du alle Personen irgendwie einführst und das nicht zu kurz.

Nur das mit Pohl hätte man doch etwas mehr nach dem Spiel machen sollen, weil so fand ich es nicht ganz so herzzerreißend


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