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Dandelion

von

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Damage

 

Morning Glory

 

 

"Herzlich Willkommen zu unserer Morgenshow an diesem wunderschönen, verschneiten Mittwoch! Seid ihr schon in Weihnachtsstimmung?", dröhnte es etwas blechern aus dem alten Radio im Wohnzimmer hinüber in das kleine Bad, wo Leon wie jeden Morgen todmüde von der langen Schicht vom Vortag und einer zu kurzen Nacht vor dem Waschbecken stand und Zahnpasta aus einer malträtierten Tube auf die kleine Bürste in seiner Hand drückte.

"Für den Fall, dass ihr noch zuhause seid und nicht in einem der unzähligen Staus steht, auf einer Skala von Null bis unendlich: wie gefällt euch der Schnee da draußen? Okay, okay, den Schnee kann ich euch nicht ersparen, aber ich hätte hier etwas Lustiges für euch. Wenn ihr dachtet, ihr hättet schon alles gehört, was es an verrückten Nachrichten in der Welt so gibt, dann habt ihr euch getäuscht! Haltet euch fest! Hier sind die drei besten Geschichten der letzten zwei Wochen aus unserer geliebten Stadt der Engel-"

Wenn auch nur einer der Zuhörer außer ihm selbst D kannte, hätte man garantiert niemals das verrückteste gehört, weil immer wieder etwas neues nachkam...

Leon grinste wissend sein Spiegelbild an und schob sich die Zahnbürste in den Mund.

Die erste Nachricht, die der Moderator mit erfolgslos unterdrücktem Kichern vorzulesen begann, handelte von einer Auseinandersetzung auf dem Fischmarkt, wobei sich die beiden 80jährigen Kontrahenten – einer bewaffnet mit einem Oktopus und der andere mit Seeigeln – in einer Art bizarren Tennisturniers um eine angeblich nicht mehr frische Krabbe gestritten hatten. Wer schlussendlich gewonnen hatte und ob die Krabbe nun frisch oder verdorben gewesen war, hatten die Polizeibeamten vor Ort nicht mehr klären können.

Ok, der war gut, musste sich Leon eingestehen. Scheinbar hatten auch andere Dienststellen genug mit komischen Käuzen zu tun. Barfuß tappte Leon ins Wohnzimmer und drehte das Radio etwas lauter.

Im zweiten Beitrag ging es um einen Vogelschwarm aus Sperlingen, der täglich in einem Einkaufszentrum auf Raubzug ging und den man dank den hohen Decken dort noch nicht einmal zu fassen bekam, was zu weiteren zahllosen Diebstählen führte. Zuerst nur in den ansässigen Fast Food- und Lebensmittelläden, aber als die frechen Federviecher irgendwann damit begannen, auch noch den Besuchern das Essen aus den Händen zu stiebitzen, hatte sich eine Bürgerwehr der Ladenbesitzer gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den diebischen Sperlingen den Garaus zu machen.

Dass der zur Abschreckung der Sperlinge im Einkaufszentrum freigelassene und normalerweise handzahme Rabe sich allerdings mit den Sperlingen verbündete, hätte man ja nicht ahnen können, beklagte sich der Leiter der Bürgerwehr im Interview. Jetzt gäbe es leider noch ein zusätzliches Problem mit einem Raben, der es liebte, allerlei Spielzeug aus den Läden zu klauen und im gesamten Einkaufszentrum zu verteilen. Gerade in der Vorweihnachtszeit war das wohl der Hit unter den Besuchern, die den Raben zum Dank fütterten und somit diesen endlosen Teufelskreis immer weiter befeuerten.

Klang wie ein normaler Tag im Pet Shop...

Leon lachte, bis ihn die Klingel in die Wirklichkeit zurückholte. Er seufzte. Jetzt würde er die dritte und angeblich beste Geschichte nicht mehr mitbekommen, die, an den beiden anderen gemessen, schon sehr spektakulär sein musste.

„Moment“, nuschelte Leon unwirsch, so gut es mit der Zahnbürste im Mund eben ging, als die Klingel ein zweites Mal und schließlich ein drittes und viertes Mal schrillte.

Er riss die Tür auf und erstarrte. Vor ihm stand D.

 

„Guten Morgen, Officer Orcot“, begrüßte D sein überrumpeltes Gegenüber, das lediglich mit einer Pyjamahose bekleidet und mit einer schäumenden Zahnbürste im Mundwinkel vor ihm in der Tür stand.

Vor etwa einer Stunde hatte einer der für ihre Gegend äußerst seltenen Winterstürme getobt und ihnen eine stattliche Ladung Schnee beschert. D trug einen wahnsinnig aufwendig bestickten Wintermantel, der mit einer feinen Lage Schnee bedeckt war, und bestaunte gerade Officer Orcots weihnachtliche Pyjamahose. Den Zusammenhang von Dinosauriern, die Weihnachtsmützen trugen und sich mit Lebkuchenmännchen ein Duell mit Zuckerstangen lieferten, verstand er nicht. Egal, wie oft er Weihnachten noch feiern würde, einiges daran blieb ihm ein ewiges Rätsel.

Wie groß D's Kleiderschrank wohl sein musste, bei dem ganzen pompösen Zeug, das der sich ständig überwarf?, dachte Leon, während er sich seelenruhig die Zähne putzte und D ratlos anstarrte, der seinerseits den jungen Officer ratlos anstarrte, der in der Tür stand, eine Hand auf dem Türknauf und in der anderen eine lila Zahnbürste, als wäre es das normalste auf der Welt.

 

D räusperte sich verhalten, wobei der Schnee auf seinen Schultern zu Boden rieselte und in den Pfützen aus Tauwasser schmolz, die sich um die Füße des Counts gebildet hatten.

„Waswillsuhier?“, wollte Leon endlich wissen, wobei ihm Zahnpastaschaum aus dem Mund quoll. Er wirkte wie ein tollwütiges Tier. Ein verwirrtes, tollwütiges Tier.

„Ich ziehe bei Ihnen ein, Officer Orcot“, erklärte D gelassen.

„Ok, warum auch nicht“, murmelte Leon und zuckte leicht mit den nackten Schultern.

„Vielen Dank“, flötete D fröhlich und schob sich an Leon vorbei in die Wohnung.

Als das kalte Tauwasser von D's Wintermantelmonstrum Leons Schulter streifte, kehrte dessen Verstand endlich wieder zurück.

„WAS?“, rief Leon D hinterher, der ihm den Rücken zugewandt hatte und sich interessiert in dem schmalen Flur umsah. Ein feiner Schauer aus Zahnpastaschaum regnete auf D's Rücken.

„Shit“, murmelte Leon. Die Reinigung dieses Ungetüms konnte er sich dieses Jahr nicht leisten! Ach, was, nicht nur dieses Jahr nicht, sondern auch alle folgenden Jahre nicht! Er machte einen flinken Satz nach vorne zu D, der noch nichts von den weißen Sprenkeln ahnte, die sich wie ein Meteoritenschauer über den feinen Stoff seines Mantels zogen. Hektisch wischte Leon mit beiden Händen über den Rücken des Counts, was dieser wohl als höfliche Aufforderung verstand, seinen Mantel auszuziehen.

Leon verlor die Balance, als ihn der zu Boden gleitende Mantel mit seinem Gewicht nach unten zog, während sein Träger schon in Richtung Wohnzimmer von dannen stolzierte und dem verblüfften Leon ein nonchalantes „Mein Gepäck steht im Treppenhaus“, zurief, um gleich darauf ein entzücktes „Was ist denn das?“, von sich zu geben.

„Finger weg!“, schrie Leon, ohne zu wissen, was D überhaupt meinte. Aber es konnte nichts gutes sein. Nicht in seinem chaotischen Appartement...

 

 

„Wo sind denn die anderen Zimmer?“, erkundigte sich D interessiert bei Leon, der sich mit dem Gepäck des Counts abmühte, das aus einem riesigen Koffer und mindestens fünfzig Taschen bestand.

„Welche Zimmer?“, ächzte Leon. Er gab der letzten Tasche einen Tritt und atmete erst mal durch.

„Ihr Teesalon zum Beispiel, Officer, oder Ihre Bibliothek.“

Auf Leons Stirn bildete sich eine ungläubige Falte. „Oh, verstehe“, Leon deutete eine leichte Verbeugung an. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten“, säuselte er gekünstelt und streckte einen Arm aus, um damit in ein angrenzendes Zimmer zu deuten.

Unbedarft folgte D seinem unfreiwilligen Gastgeber brav, der nun die Küchentür öffnete.

„Der Teesalon, bitteschön.“ Mit verschränkten Armen sah Leon D an, der scheinbar keinen Sinn für Sarkasmus besaß oder zumindest so tat.

„Ich habe nur Kaffee. Wenn du Tee willst, kauf dir welchen.“ Leon hatte gehofft, D damit eindeutig zu verstehen zu geben, dass er seine Ansprüche nach unten schrauben musste, was Leons Wohnung anging. Sehr weit nach unten. Doch D zeigte weiterhin Interesse, ganz so, als wäre er tatsächlich einfach nur froh, hier sein zu können.

„Wo ist eigentlich der Rest deiner Gefolgschaft?“

„Wen meinen Sie, Officer?“

„Na deine Ziege und die anderen verfilzten Viecher...“

„Oh, verstehe.“ Auf D's Gesicht bildete sich eines seiner geheimnisvollen Lächeln. „Die sind in Urlaub“, fügte er knapp hinzu und begann damit, nacheinander die Schränke zu öffnen und auf ihren Inhalt zu überprüfen.

„Verarsch mich nicht, D“, zischte Leon dem Count zu und hielt dessen Hand fest, die gerade dabei war, eine weitere Schublade aufzuziehen. „Du kommst doch nicht hierher, um bei mir zu wohnen. Also, rück mit der Sprache raus, du Blindschleichenbeschwörer.“

„Ich versichere Ihnen, dass es stimmt, was ich sage.“ D's Stimme klang unbeschwert, aber ganz konnte er Leon damit nicht täuschen. Da war ein Hauch von Unbehagen. Ganz leicht.

„Dann werde ich dir das wohl glauben müssen“, entgegnete Leon zuckersüß und sah dem Count dabei fest in die Augen, auf das kleinste Blinzeln wartend. Doch der hielt den forschenden Blicken stand. „Ich sag dir nur eins“, fuhr Leon fort, „wenn du wieder unterwegs bist, um eins dieser stinkenden Viecher abzuholen, zähl nicht auf mich. Nimm dir ein Taxi!“

D's Lächeln verbreiterte sich minimal. „Ein Bett und ein Dach über meinem Kopf reichen mir völlig, Officer Orcot. Übrigens-“ D nickte zur Wanduhr hin, „haben Sie nicht bald Dienstbeginn?“

Leon erbleichte. Wortlos drehte er sich um und ließ D in der Küche zurück.

Stumm lächelnd hörte D seinem Gastgeber zu, wie der sich unter Flüchen anzog und anschließend seine Autoschlüssel suchte. Ein Klimpern sagte ihm, dass Leon sie gefunden hatte.

„Ach und D“, rief Leon aus dem Flur, während er in seine Schuhe schlüpfte und die Jacke von der Garderobe riss. „Die Bibliothek ist im Bad. Direkt neben der Toilette liegen ein paar Magazine. Bring mir keine Unordnung rein, verstanden?“

„Verstanden, Officer.“

 

 

Leon, der D's Ankündigung, bei ihm zu wohnen zuerst nur für einen Scherz gehalten hatte, wurde bald eines besseren belehrt. Als er am ersten Abend nach seiner Schicht nach Hause kam, schlief D tief und fest in Leons Bett, der daraufhin mit seiner Couch Vorlieb nehmen musste.

Und auch in der zweiten Nacht war es so. Und in der Woche darauf. Und als D auch nach der zweiten Woche nicht damit rausrückte, was eigentlich los war – und es musste schlimm genug sein, wenn er es vorzog, bei Leon zu wohnen – nahm es sich dieser vor, den eigentlichen Besitzer des Pet Shops heute abend darauf anzusprechen und auch nicht locker zu lassen, bis er eine ehrliche Antwort hatte!

 

Leon hob den Kopf, als er das Treppenhaus seines Appartements betrat, und schnupperte. Irgendetwas roch hier. Und zwar gut, statt wie sonst nach zu vielen Menschen, die auf zu engem Raum wohnten.

Es roch so, wie es früher bei ihnen zuhause gerochen hatte. Nach Geborgenheit und Wärme und nach Menschen, die auf einen warteten, wenn man nach Hause kam. Es roch nach heißem Kakao mit einer schmelzenden Schicht aus Marshmallows obendrauf. Und nach einer Umarmung, wenn man mit dem Fahrrad hingefallen war und sich die Knie aufgeschlagen hatte.

Vorsichtig öffnete Leon seine Wohnungstür. Stille empfang ihn und Schwärze. Kein Hallo und kein Schön, dass du wieder da bist. Nur dieser Geruch hing noch in der Luft und Leon folgte ihm in die Küche, bis er vor einer Schale stand, die bis oben hin mit Keksen gefüllt war. Sie waren sogar noch warm, wie Leon feststellte, als er sich einen nahm. Und sie schmolzen herrlich in seinem Mund.

D schien schon in bester Weihnachtsstimmung zu sein, dachte sich Leon und nahm sich gleich noch zwei Kekse aus der Schüssel. Sollte ihm recht sein. So lange er kochte und buk, konnte er so lange bleiben, wie er wollte, freute sich Leon und schob sich den nächsten Keks in den Mund.

Sie könnten allerdings noch etwas mehr Zucker vertragen, fand er. Und ein bisschen mehr von dem Vanillearoma, um diesen etwas seltsamen fischigen Geschmack zu übertünchen. Das Mehl war wohl schon älter gewesen und ranzig geworden. Das Zeug stand wohl schon seit seinem eigenen Einzug hier in der Küche. Das musste er D unbedingt sagen.

Die nächsten beiden Kekse nahm Leon mit ins Wohnzimmer, wo er es sich wohlig seufzend vor den Fernseher gemütlich machte.

D war ein Naturtalent!

 

„Schmecken Ihnen die Hundekekse, Officer Orcot?“

Leon fuhr erschrocken auf und verschluckte sich prompt an einem Krümel. Er hustete, bis er Tränen in den Augen hatte.

In der Tür stand D, der sich lächelnd die Krümelspur betrachtete, die sich von der Küche bis hin zum Sofa zog. Die halbleere Schüssel hatte er auch schon bemerkt.

„Die was?“, krächzte Leon.

„Kennen Sie etwa die drei Hunde nicht, die hier leben?“, fragte D scheinheilig grinsend. „Es sind doch praktisch Ihre Nachbarn.“

„Lass mal die Hunde aus dem Spiel, D!“ Leon hatte sich aufgesetzt und wischte sich die Krümel von seinem Shirt. „Was war in den verdammten Keksen drin und warum zur Hölle standen die in meiner Küche?“

„Nur das übliche, Officer.“ D konnte sich die Schadenfreude nicht verkneifen. Mit verschränkten Armen lehnte er gegen den Türrahmen. „Mehl, Honig, Eigelb für glänzendes Fell-“

„Das andere Zeug!“, zischte Leon.

„Kräuter“, fuhr D fort.

Leon nickte. Damit konnte er leben. „Was noch?“

„Vanille natürlich“, D's Grinsen reichte nahezu von einem Ohr zum anderen. „Alle lieben schließlich Vanille. Menschen wie Tiere-“

„Das andere“, fuhr Leon sein grinsendes Gegenüber an. „Das fischige“, erklärte er und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.

„Ach das“, zog D die Unterhaltung genüsslich in die Länge. „Lachsöl.“

Leon atmete erleichtert aus.

„Und Hühnerleber“, fügte D hinzu, als wäre es ihm eben erst wieder eingefallen.

Leon verzog das Gesicht. Nicht gerade seine Leibspeise, aber immerhin genießbar.

„Und etwas, das vor Würmern schützt“, schloss der Count seine Aufzählung.

„Oh verdammt“, entfuhr es dem entsetzt dreinschauenden Leon, dem nun alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. „Ok, das reicht, den Rest will ich nicht wissen...“

„Jedenfalls müssen Sie sich die nächste Zeit keine Gedanken mehr um Ihre Darmflora machen, Officer.“ D grinste unschuldig.

„Sehr beruhigend“, murmelte Leon tonlos.

„Nun, Officer, ich werde dann wohl wieder los müssen, um noch etwas Hühnerleber zu besorgen.“ D nahm seinen Mantel, der keine Spur mehr von Zahnpasta zeigte, und zog ihn an. „Die Kekse, die sie übrig gelassen haben, reichen leider nicht mehr für meine Freunde.“

„Ich komme mit“, erklärte Leon kurzerhand und folgte D aus der Wohnung.

 

„Warum bist du bei mir, D?“ Leon hatte die Frage wie nebenbei einfließen lassen, während sie in der Schlange vor der Metzgerei standen und darauf warteten, an die Reihe zu kommen.

D tat, als hätte er Leon nicht verstanden, doch Leons trainierten Blicken war nicht entgangen, dass sich seine gesamte Mimik einen Sekundenbruchteil verändert hatte wie ins Rutschen kommender Schnee, kurz bevor er als Lawine ins Tal stürzte. Aber D war ein Meister darin, alles, was in seinem Kopf vorging, nur zu offenbaren, wann er mochte.

Mit solchen Leuten hatte Leon während seines Dienstes tagtäglich zu tun. Demzufolge besaß er das Talent, Dinge, die ihn interessierten, selbst herauszufinden.

 

 

Und Leon besaß ein weiteres Talent: sich Eintritt zu verschaffen, selbst wenn man ihn abzuwimmeln versuchte. Nicht einmal die schnörkelige Tür des Pet Shops, vor der Leon nach einer gewohnt zu langen Schicht stand, konnte ihn abhalten. Nicht lange zumindest. Das metallische Schnappen im Schloss gab das Startzeichen und Leon schob die massive Holztür auf.

Es kostete ihn mehr Kraft, als er vermutet hatte und erst hatte er erwartet, dass man sie von innen zuhielt, so schwer ließ sie sich bewegen. Irgendetwas schien sich im Türrahmen verzogen zu haben. Die Schwarniere ächzten grauenvoll, als hätte man sie ewig nicht mehr geölt.

Die eisige Kälte, die Leon von drinnen entgegenschlug, erinnerte ihn an seinen Besuch hier, als dank eines Wächters, den D mitsamt einer Schildkröte hier versteckt gehalten hatte, alles zu Eis erstarrt gewesen war. Nur dass es dieses Mal kein Eis war, das den Boden bedeckte, sondern große Brocken aus antikem Stuck, der sonst die hohen Wände des Pet Shop zierte. Mit der Fußspitze stieß Leon ein großes Stück davon zur Seite, das augenblicklich zerfiel und eine Spur aus Sand hinterließ.

Leon griff in seine Jackentasche und kurz darauf flammte das kalte Licht einer Taschenlampe auf. Soweit der Lichtstrahl seiner Lampe es zuließ, wurde der zerfallene Zustand des Pet Shop immer schlimmer, je weiter der lange Gang in das Gebäude hinein führte.

Ohne Angst, aber mit der nötigen Vorsicht folgte Leon dem schwankenden Lichtstrahl, der mehr und mehr den Zerfall des eigentlich gemütlichen Zuhauses von so vielen Tierchen – und D – offenbarte. Der sonst vor Leben sprühende Pet Shop war nicht mehr als eine Ruine. Schleier aus Staub lagen auf den zierlichen Sesselchen, die den Flur säumten, und die für wartende Besucher des Pet Shop bestimmt waren. Der sonst in prächtig leuchtenden Tönen strahlende Teppich, hatte sämtliche Farben verloren und raschelte spröde unter jedem Schritt.

Gemessen an der Zeit, die D jetzt bei ihm wohnte, musste es entweder sehr schnell gegangen sein, was nur mittels eines schnell herbeigeführten Ereignisses passiert sein konnte, oder – Leon hielt kurz inne, als ihm dieser Gedanke bewusst wurde – oder D hatte das alles schon viel länger vor allen verheimlicht.

„Hallo?“, rief Leon in die Schwärze hinein. Alles, was zurück kam, war das Echo seiner eigenen Stimme, die von den kahlen, kalten Wänden zurückgeworfen wurde.

Leon stoppte vor der Tür am Ende des Flurs. Er atmete tief ein und schob die beiden Flügel auseinander.

 

Abgestandene Feuchtigkeit hüllte Leon ein, als er den hohen Kuppelsaal betrat. Von der Decke, wo sonst lange Lianen der tropischen Pflanzen hinabhingen, die D mit unglaublicher Hingabe pflegte, tropfte Schmelzwasser. Durch die zerbrochene Glaskuppel floss das kühle Mondlicht hinein und beleuchtete mit seinen kalten Strahlen die traurige Szenerie unter sich. Von den Pflanzen, die einst den gesamten Saal ausgefüllt hatten, war nicht mehr als verrottetes totes Gehölz übrig, das wie eine vor Gram gebeugte Trauergesellschaft herumstand.

Das hier übertraf alles, was Leon sich an Dingen vorgestellt hatte, was D vor ihm zu verheimlichen versuchte. Das hier war kein Zuhause mehr für irgendetwas. Das hier war ein riesengroßer Trümmerhaufen aus allem, was sich der Count mit Leidenschaft über Jahre oder Jahrzehnte hin aufgebaut hatte.

Und trotz allem stand dieser verdammte Kerl in seiner Küche und buk Hundekekse, was Leon zeigte, wie klein die heile Welt des Counts mittlerweile sein musste...

Etwas zerbrach mit hellem Klirren. Leon blieb stehen und sah zu seinen Füßen hinab, wo ein nun beschädigtes Porzellanschälchen lag, in dessen Scherben sich eine glänzende zähe Flüssigkeit gesammelt hatte.

Ohne zu zögern ging Leon in die Knie und streckte seine freie Hand nach dem Schälchen aus. Er tauchte eine Fingerspitze in die unbekannte Flüssigkeit und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war Honig, warum auch immer hier in diesem heillosen Chaos eine Schale davon gestanden hatte, aber es war tatsächlich Honig.

Leon hob den Blick und folgte mit den Augen den schwarzen Schlingen, die sich zwischen den vertrockneten Blüten und Wurzeln der toten Pflanzen wanden. Er nahm eine der Schlingen in die Hand und war überrascht von deren Struktur. Es war keine Pflanze, sondern „Haare?“

Leon ließ die dunkle Strähne fallen, in die plötzlich Bewegung kam, kaum dass sie den Boden berührte. Sie schien sich zurückzuziehen, als zöge jemand am anderen Ende und Leon, der wusste, dass er es sein lassen sollte, folgte den schwarzen Schlingen durch die raschelnden Blüten, die trocken unter seinen Schuhsohlen zerbröselten.

 

Leon musste nicht weit gehen. Direkt unter der zerbrochenen Deckenkuppel, wo abgestorbene Baumstämme dicht an dicht standen, nahm er eine Regung wahr, die nur von jemand anderem stammen konnte, der sich mit ihm hier befand.

„D?“, rief Leon in die vom Mondlicht beschienene Mitte des Saals. Wachsam näherte er sich der hellen Gestalt vor sich, die sich vor den dunklen Ruinen ihrer Umgebung deutlich abzeichnete. Ihre Bewegungen waren langsam fließend, ganz so als wäre es nicht nötig, sich vor dem sich behutsam nähernden Officer zu verstecken.

Leon stieß den angehaltenen Atem aus.

Inmitten der Scherben der Dachkuppel stand eine junge Frau in nichts als ihre unglaublich langen schwarzen Haare gehüllt, die sich wie ein Mantel um sie herum ausgebreitet hatten.

„Was zur Hölle-“, flüsterte Leon beeindruckt.

Das scharfkantige Glas unter ihren nackten Füßen knackte bedrohlich, als sie sich wieder in Bewegung setzte und ein bisschen weiter zur Mitte des Saals schritt.

„Nicht!“, rief Leon ihr eine Warnung zu, doch die Glasscherben, über die sie ging und die unter ihren Füßen weiter zerbrachen, schienen die Frau nicht im Geringsten zu stören. Wie einen Schleier zog sie ihre langen Haare hinter sich her, ihr im Mondlicht schimmerndes Gesicht hielt sie dem Himmel zugewandt und betrachtete sich stumm den Himmelskörper, als sähe sie ihn gerade das erste Mal in ihrem Leben.

„Was-wer sind Sie?“ Leon ärgerte sich kurz über das unprofessionelle Zittern in seiner Stimme.

Die Frau blickte ihn nun interessiert an. Ihre riesigen schwarzen Augen schimmerten wie zwei Seen in mondloser Nacht. Sie lächelte Leon zu, der sich ihr bis auf zwei Meter genähert hatte. Die Schale, die sie plötzlich in ihren Händen hielt, war mit der gleichen goldgelben Flüssigkeit gefüllt, die Leon beim Betreten umgeworfen hatte. Ohne einen Ton zu sagen, bot sie ihm die Schale an und Leon ergriff sie vorsichtig.

Sein gesamter Verstand musste sich in dem Augenblick verabschiedet haben, als die seltsame Frau sich mit einem Lächeln zu ihm umgedreht hatte. Ihr Gesicht, das frisch und ohne eine Spur irgendwelcher Sorgenfalten wirkte, ganz so, als wären ihr solche Emotionen völlig fremd, strahlte eine Ruhe aus, die Leon die letzten Wochen vergessen ließ. Er hob die Schale an seine Lippen und nahm einen Schluck.

Die süße Flüssigkeit kribbelte angenehm auf seiner Zunge und erfüllte ihn nur Augenblicke später mit einer nie gekannten Heiterkeit. Er fühlte sich wie neu geboren, als hätte der goldene Trank einen Schalter in seinem Körper umgelegt, der nun einen warmen Fluss aus Glückseligkeit durch seinen Körper strömen ließ. Bis in den letzten Winkel erfüllte ihn die neue Lebendigkeit.

Er nahm noch einen Schluck, bevor er die Schale der geduldig wartenden Frau zurückgab.

Schade, dass D nicht hier war, dachte Leon beschwingt, während er der Frau weiter durch den Mondbeschienenen Saal folgte, bis sie vor einem etwas länglichen Hügel stoppte.

Leon, der vergnügt über die Glasscherben schlenderte, vor denen er die Frau eben erst zu warnen versucht hatte, blieb nun ebenfalls stehen und lächelte die Unbekannte vor sich frohgemut an.

Seine Blicke folgten ihrer ausgestreckten Hand zu Boden, wo sie auf den Hügel zu ihren Füßen deutete.

Leons Lächeln gefror ihm im Gesicht, als er erkannte, was der Hügel tatsächlich war. Unter einem dünnen Schleier aus Schnee erkannte er das ausdruckslose Gesicht einer offensichtlich toten Person. Ihre Haut war bleich wie Wachs und die dunkel eingesunkenen Augenhöhlen deuteten auf einen bereits länger vergangenen Todeszeitpunkt hin.

Augenblicklich erwachten Leons beruflich antrainierte Instinkte. Er machte einen Schritt nach hinten und zog gleichzeitig seine Waffe aus dem Halfter unter seiner Jacke; das metallische Auge auf die Frau gerichtet, die den Polizisten vor sich interessiert und ohne Angst musterte, als hätte sie überhaupt keine Ahnung, was Leon da tat.

 

„Weg von der Leiche und Hände nach oben!“, schrie Leon die Frau an, die auf keinen seiner Befehle reagierte.

„Letzte Warnung“, brüllte Leon. Oder dachte zumindest, dass er das tat, denn aus seinem Mund kam nichts außer einem kaum hörbaren Laut. Mit Ensetzen spürte er, wie sein Körper sich zu verändern begann, während ihn die schwarzen Augen seines Gegenübers weiterhin gespannt, aber unbeeindruckt musterten.

Die Waffe in Leons Hand wurde immer schwerer, oder er selbst wurde immer schwächer. Er konnte nichts mehr richtig einordnen, was sein Körper gerade tat. Es fühlte sich an, als würde sich dieser wohlig warme Strom aus Glück in einen reißenden Fluss aus Lava verwandeln, der sein Innerstes zum Glühen brachte.

Nacheinander verlor er die Kontrolle über seine Muskeln und sackte schließlich in sich zusammen.

Verdammt, dachte Leon im Wegdämmern. Das letzte, was seine verschwommenen Sinne noch wahrnahmen, war ein immer lauter werdendes Summen, das sich ihm näherte, bis es in seinen Ohren schmerzte. Langes Haar streifte sein Gesicht und dann wurde es schwarz um Leon herum.

 

 

D hob bedächtig den Kopf als sich die Haustür des spärlich eingerichteten Appartements öffnete und Leon eintrat.

In aller Seelenruhe kam Leon ins Wohnzimmer, wo D in der anbrechenden Morgendämmerung auf dem Sofa saß und ihm schweigend entgegen sah. Der Officer nahm wortlos neben dem Count Platz.

Leons Kleidung triefte vor Schmutz und Wasser. Modrige Pflanzenreste hingen wie Fransen vom Saum seiner Jacke, ohne dass es ihn auch nur im Geringsten störte.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Leons Blicke glitten über den matten orangefarbenen Streifen Sonnenlicht, der durch das Fenster auf die relativ kahlen Wände fiel, und D beobachtete den Officer dabei stumm.

D sollte sich bloß nicht täuschen, dachte Leon bei sich. Er wusste alles, was im Pet Shop vorgefallen war. Alles!

„Tut mir leid, dass ich nicht ehrlich zu Ihnen war, Officer Orcot.“ D klang tatsächlich, als meinte er, was er sagte.

„Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“ Der Streifen Sonnenlicht kroch langsam über die Wand und wurde dabei immer länger und goldener.

„Ja, das wäre klüger gewesen“, gestand D bedrückt. Und dann erzählte er Leon vom Beginn dieser Katastrophe, die den Pet Shop befiel, als die Bienen verschwanden.

Ohne zu blinzeln hörte Leon D bis zum Ende seiner Schilderung zu. „Ich weiß leider nicht, was aus deinen Bienen wurde“, sagte er in die Stille hinein. „Aber ich weiß, dass du nicht der Typ bist, der sich einfach umdreht und die Tür hinter sich absperrt, sobald ein Problem auftaucht.“ Das erste Mal wandte sich Leon D zu und sah ihn direkt an. „Was ist mit deinen Tierchen? Vermisst du die denn nicht?“

Der letzte Satz hatte getroffen. D senkte die Blicke auf seine Hände hinab, die er verschränkt in seinem Schoß hielt.

„Außerdem hat sich da diese seltsame Frau in deinem Pet Shop eingenistet.“ Leon überlief ein kalter Schauer bei dem Gedanken an diese dürre Gestalt mit den meterlangen Haaren. „Oder ist das deine Nachfolgerin? Wenn ja, werde ich die wohl mal besser genauer unter die-“

„Frau?“, unterbrach D Leon. Er klang aufgeregt. „Welche Frau meinen Sie, Officer Orcot?“

„Was weiß ich, sie hat sich mir nicht vorgestellt“, brummelte Leon genervt. „Sie war etwa so groß“, er zeigte D mit der Hand die ungefähre Größe. „Schwarzes wahnsinnig langes Haar, keine Ahnung, sie wirkte teilweise echt verwirrt.“ Leon klopfte sich mit dem Zeigefinger bedeutsam gegen die Schläfe.

„Wir müssen sofort hin!“, rief D und schnellte auf die Füße hoch.

„Oh, 'wir'“, witzelte Leon trocken. „Das heißt wohl-“

„Ihre Autoschlüssel, Officer!“

„Ja genau, wie ich es mir dachte...“

 

 

 

„Bereit?“ Mit verschränkten Armen stand Leon neben D auf der obersten Treppenstufe zum Pet Shop. Langsam machte ihn der Count wahnsinnig. Er hatte schon fünfundzwanzig mal tief eingeatmet und den Türgriff gefasst, ohne ihn herunterzudrücken. Gerade wollte er die Treppen wieder hinab, doch Leon hielt ihn am Arm fest.

„Bitte“, versuchte es Leon nun einschmeichelnd. „Du willst doch sicher nicht noch Silvester hier stehen, oder? Ich jedenfalls nicht...“

Mit energischem Ruck öffnete Leon die Tür und schob D vor sicher her in den Flur.

 

D vermied es, sich allzu gründlich umzusehen. Zu sehr schmerzte ihn der Gedanke daran, was aus dem Pet Shop geworden war. Die Blicke fest geradeaus gerichtet schritt er durch den Flur und wenn er zögerte, spürte er sofort das leichte Schubsen in seinem Rücken. Leon würde ihn hier nicht mehr rauslassen, ohne dass das letzte Geheimnis geklärt war.

„Hier war sie doch irgendwo.“ Leons Stimme hallte in dem riesigen Kuppelsaal wieder. Er ließ seine Blicke über die triste Umgebung streifen und suchte jeden sichtbaren Flecken nach den langen schwarzen Haaren ab. „Da!“, rief er erfreut auf, als er die Schlingen schließlich entdeckte, die sich locker um eine tote Baumwurzel wanden. Er packte D und zerrte ihn mit sich. „Da ist sie!“

 

Auf einer zerbrochenen Säule saß, ihr Haar wieder wie einen Mantel um sich herum ausgebreitet, die unbekannte Frau. Eine ihrer schmalen Hände hatte eine weiß schimmernde Blüte ergriffen, die sich von der Decke zu ihr hinab wand. Sachte bog sie sie zu ihrem Gesicht hin und roch an der Blüte.

Ihre Haut schimmerte nun bronzefarben und nicht mehr so bleich, wie in der vergangenen Nacht. Ein zarter Roséton überzog ihre Wangen und sie lächelte ihre beiden Besucher glücklich an, die sich ihr ehrfürchtig näherten.

„Schön, dich wiederzusehen, Yma“, sagte D und schlenderte bedächtig zu der Frau, deren Freude nun Ratlosigkeit wich. Sie ließ die Blüte los und wich etwas zurück.

„Oh, tut mir leid“, entschuldigte sich D sofort, als er seinen Fehler bemerkte. „Ich habe mich geirrt. Du bist nicht Yma.“

Leon sah zwischen D und der Frau hin und her, die sich nun genauer musterten, als wollten sie ihre Kräfte gegenseitig abschätzen.

„Du bist Ymas Tochter“, flüsterte D schließlich versöhnlich und erleichtert sah Leon, wie die junge Frau wieder lächelte.

„Schön, dass ihr das jetzt endlich geklärt habt“, seufzte Leon. „Dann kann ich ja wieder-“

„Officer“, unterbrach D Leon forsch. „Könnten Sie mir bitte etwas geben, womit ich die neue Königin sicher transportieren kann?“

„Was faselst du da? Königin? Transportieren?“ Leon sah D an, als hätte der den Verstand verloren.

„Natürlich, ich möchte sie ja nicht verletzen“, erklärte D rätselhaft.

„Eine Kutsche, oder was?“, witzelte Leon hilflos.

„Seien Sie nicht albern, Officer Orcot“, rügte D seinen Nebenmann. „Eine Box ist völlig ausreichend.“

„Du hast echt einen an der Zimtwaffel“, platzte es aus Leon heraus. „Seit wann transportiert man Menschen in Boxen?“

„Ihre Flügel sind noch sehr empfindlich.“

„Flügel?“, stieß Leon tonlos hervor. Der Count war übergeschnappt. Schon länger, aber jetzt kam es mehr und mehr durch.

„Richtig, Sie lernen langsam dazu, Officer.“

Leon blieb die Antwort im Halse stecken, als er zur Säule hinübersah, wo gerade eine beeindruckend große Biene über das Marmor kroch und ihre schillernden Flügel im Sonnenlicht schwirren ließ.

„Wo zur Hölle ist die Frau hin?“, entfuhr es Leon, der sich hektisch in dem Saal umsah.

„Hier ist keine Frau, Officer, nur diese Biene“, belehrt D Leon in ruhigem Tonfall, während er das zarte Tierchen in eine Schachtel kriechen ließ, die er in den Händen hielt. „Die erste offzielle Bewohnerin, im neuen Pet Shop. Kommen Sie, Officer, wir bringen sie zu ihrem Platz.“

 

Misstrauisch beäugte sich Leon seine Umgebung, während er D in einen anderen Teil des Kuppelsaales folgte, wo die schönsten Miniaturhäuser standen, die er jemals gesehen hatte. Die meisten waren in dichte silbrigglänzende Schleier gehüllt, aber eines, das etwas abseits stand, schien noch intakt zu sein.

Jetzt bemerkte er auch, dass die Schlingen, die er für Haare gehalten hatte, in Wirklichkeit Blumenranken waren, die sich um die abgestorben wirkenden Pflanzen des Pet Shop wanden.

„Ich könnte schwören, dass das eine Frau war, die ich hier letzte Nacht getroffen hatte. Und ihre Haare-“

„Armer Officer...“ D kicherte leise. Er hatte sich bei Leon untergehakt und dirigierte ihn zu einem der kleinen Häuschen hin. Er zeigte auf die rankenden Pflanzen, deren Blüten sich wie Perlenketten um die Ruinen wanden und einen unglaublich süßen Duft verströmten. „Das ist eine Prunkwinde“, erklärte er Leon geduldig. „Sie wirkt psychoaktiv. Vermutlich sind sie ihr letzte Nacht zu nahe gekommen und haben etwas von dem Nektar abbekommen. Sie haben halluziniert, Officer Orcot, ganz einfach.“

Leon schwieg verwirrt. Er dachte an die Schale mit dem süßen Trank, den ihm die Frau gereicht hatte. Und an die Leiche, zu der sie ihn geführt hatte.

„Die Leiche!“, rief Leon auf.

„Ja, um die werde ich mich noch kümmern müssen“, entgegnete D in aller Ruhe. „Vielleicht möchten Sie mir ja bei der Beseitigung helfen, Officer. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

„Bist du völlig irre geworden?“ Mit offenem Mund starrte Leon D an, der zu dem unversehrten Häuschen ging und die Schachtel mit der Biene vor den kleinen Eingang hielt. Augenblicklich verschwand das Tierchen in der Öffnung und alles, was man von ihr noch hörte, war ein scheinbar zufriedenes Summen aus dem Inneren des Häuschens.

D wischte mit der Hand über eines der eingesponnenen Häuschen. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie mir dabei helfen könnten, die toten Motten hier zu beseitigen. Und die, die sich hier eventuell noch verstecken.“

Leon blickte zu Boden, wo unter den Häuschen eine staubige Schicht aus verendeten Motten und dem spinnwebartigen Gebilde lag, das auch die Häuser bedeckte.

„Diese Wachsmotten wurden vermutlich mit einer Lieferung hier in den Pet Shop eingeschleppt.“ D's Stimme klang ungewohnt traurig. „Sie befielen sofort sämtliche Bienenstöcke und töteten innerhalb kurzer Zeit die gesamte Brut. Und leider auch Yma, die Königin. Das Ende kennen Sie ja, Officer.“ Er hob den Kopf und betrachtete sich Leon, der stumm in Gedanken versunken die unterschiedlich Ereignisse zusammenführte.

Leon sah erst auf, als er die sachte Berührung an seinem Arm spürte.

„Bald wird es hier wieder so schön sein, wie früher. Und dann können Sie mich gerne wieder so oft besuchen, wie Sie möchten, Officer Orcot. Auch ohne Durchsuchungsbefehl.“

D hatte Humor, stellte Leon anerkennend fest. Er konnte vielleicht keine normalen Kekse backen, aber er hatte wohl Humor. Leon seufzte, als ihm bewusst wurde, dass er schon wieder wie ein vollkommener Trottel hier stand, der im Endeffekt einfach nur im Drogenrausch irgendwelche Dinge erlebt hatte. DAS wäre ein würdiger Anwärter für die nächste bizarre Nachricht der Morgenshow.

D lachte leise. „Auf keinen Fall“, beschwichtigte er Leon, als hätte er dessen Gedanken gelesen. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Officer. Sehen wir uns Weihnachten wieder?“

Leon zuckte mit den Schultern und murmelte ein verschämtes „Tun wir doch jedes Jahr...“

 

 

E N D E



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