Erinnerungen
Es regnet; trommelnd, prasselnd, schwer.
Es regnet; leicht und unbeständig.
Es hatte geregnet…
Es hatte Gift geregnet.
Stille und Dunkelheit herrschten rings um sie herum; sie schwebte, mit nur trägen Flossenbewegungen, wenn es angebracht erschien, um sich über dem Gestein zu halten. Farben, Geräusche und Formen bildeten einen Wirbel, in dessen Zentrum sie stand, ruhig, geschützt und zugleich gefährdet; sie hielt den langen, zerbrechlichen Körper still, als existiere dieser Strudel unmittelbar um sie herum, obwohl er nur vor ihrem inneren Auge tobte.
Mit den mächtigen Schwingen des Adlers schraubte sie sich hoch empor, legte die schmalen des Falken eng an, um im berauschenden Sturzflug der Erde wieder näher zu kommen; ließ sich von den Winden tragen inmitten eines Schwarmes Möwen als eine von ihnen und surrte schlingernd durch Wald und Wiese, mit hauchdünnen Flügeln, die zu zart schienen für den langen Schnakenkörper.
Dunkelheit, warm um sie herum, isolierend, die grabfähigen, starken Pfoten ruhend. Geruch und Geräusch offenbarten sich ihr, Nase und Ohren sacht zuckend, während die kräftigen Wolfspfoten sich Meter um Meter, pausenlos bewegten, in das stampfen von Hufen über gingen und sie vor ihrer eigenen Präsenz floh. Erst hoch über dem Waldboden hielt sie inne, gehalten von einem beinahe unsichtbaren Faden, an dem sie schnell und sicher empor krabbelte bis sie an der uneben rauen Rinde Halt fand. Von dort sprang sie leichtfüßig zum nächsten Baum, das rotbraune Fell schimmernd im Sonnenlicht.
Zwischen zwei Bäumen ergriff sie eine der Lianen, schwang sich daran weiter, das Licht gedämpft und die Geräuschkulisse, in die die selbst kreischend und keckernd einstimmt, überwältigend – dann wie plötzlich stumm gestellt für ihren schuppigen Körper, der sich durch die Astgabeln wand, den Baumstamm hinunter auf den feuchten Boden, während die gegabelte Zunge die warme, dicke Luft prüft und schmeckt. Nicht minder lautlos bewegte sie sich auf vier Beinen weiter, die Krallen zwischen den Pfotenballen verborgen, jeder Schritt kraftvoll, das schwarzgestreifte Fell geschaffen für das dämmrige Wechselspiel von Licht und Schatten.
Diesen Schatten hieß sie weiterhin willkommen, wie alle anderen Tiere des Löwenrudels träge im hohen Gras liegend; dann plötzlich näher an der Sonne, der Kopf hoch erhoben, Blätter von den Ästen der Baumkronen ziehend und zermahlend. Zur Abkühlung schlammiges Nass, das mit dem der braungrünen Echsenleib harmonierte, bewegungslos, lauernd…weiterhin Wasser, tiefer und klarer. Sie genoss die Stärke der riesigen Walgestalt und den Gesang der anderen Tiere, der bis in die dunkelsten Tiefen klang.
Ein helles, doch kaltes Licht erstrahlte, ausgehend von der Kugel, befindlich an dem dünnen, langen Fortsatz an ihrer Stirn. Ausgelöst nicht nur durch ihre eigenen Erinnerungen, sondern auch durch die des Wassers…das Licht erstrahlte heller, wärmer, und ein Echo des Walgesanges ertönte wie aus dem Nichts, erfüllte das Meer mit dem Schein von Leben, das nicht mehr war.
Mit den scharfen Augen eines Raubvogels hatte sie zur Zeit des Sonnenunterganges die aufziehenden Wolken beobachtet, aufragend in dunkelstem Grau, schattiert in mattem Rot, mit dem Grundton der Unaufhaltsamkeit. Dann fielen die ersten Tropfen, leicht und unbeständig, schließlich trommelnd, prasselnd, schwer – es hatte Gift geregnet.
Sie hatte nichts tun können außer zu fliehen, hinab zu tauchen, immer tiefer, bis hin zu Stein, Kälte und Dunkelheit mit dem Wissen, das all jenes Leben in ihren Erinnerungen weiter existieren würde, während es dort oben starb und verging.
Doch nicht nur; Wasser, der Quell allen Lebens, speicherte Erinnerungen, Gefühle, Bewegungen, Klänge…es ließ sich prägen, formen und wandeln. Dieses Tier, der knochig kantige Fisch mit der dünnen, braunschwarzen Haut, den scharfen, gekrümmten Zähnen und dem leuchtenden Fortsatz, dies war ihre liebste und wahre Gestalt, die das Wasser zu nutzen vermochte.
Doch sie musste noch ausharren – warten auf ihren ebenbürtigen Partner, der den verschmutzten Ozean reinigte, neu prägte, damit er wieder Leben hervorbringen konnte. Für sie war Zeit ohnehin nur ein Begriff, etwas, das sie weder berührte, noch antrieb, das ihr nichts schenkte und nichts nahm.
Als er schließlich auftauchte, mit nur einem Bruchteil ihrer Größe, doch von der gleichen Art, bewegte sie sich zum ersten Mal wieder, schwamm ihm entgegen, zog das kühle Leuchten schlingernd hinter sich her. Kurz umkreisten sie sich, wie schon so oft, dann versenkte er seine Zähne in ihrer Seite, winzig neben der Flosse; ihre Kreisläufe verbanden sich und pulsierten in gleichem Takt.
So schwamm sie aufwärts, strebte dem Licht entgegen, selber stets die Dunkelheit erhellend. Um sie herum entstanden kleine Strudel, verdichteten sich und schufen Schwärme von Fischen, groß und klein, bunt und eintönig; Haie, Wale und Delfine…aus Wasser und Erinnerung zog sie eine Spur aus Leben bis hinauf zur Oberfläche, hielt dort inne. Über ihr erhob sich aus den sachten Wellen ein Vogel, der durchscheinende Körper zuerst schwerfällig, dann trübte er sich zu mattem weiß und bildete Federn aus, die der Wind zu fassen vermochte, und trug ihn hoch; ein greller Schrei ertönte, einem Krächzen gleich, das bald vielstimmig wiederhallte vor einem nach Monaten klaren Himmel.
Sie setzte ihren Weg fort, in kalte Gewässer, deren Eisschichten dünn und zerbrechlich schienen; sie knackten und knirschten, als der unscheinbare Fisch darunter entlang schwamm, verdichteten sich zu einstiger Form und trugen das Gewicht von Robben und Walrossen, die emporwuchsen wie Eisstatuen. Die Sonne ließ die Eiskristalle schimmern, schmelzen, Grau und Braun hervortreten, zuckende Schnurrbarthaare und glänzende Augen.
An jedes Lebewesen erinnerte sie sich, jede Pflanze, jedes Gestein; jedes Leben. An das Gleichgewicht, an den Kreislauf, den sie erst wieder in die richtige Bahn lenken und bewegen musste.
Nur eines; nur an ein einziges Lebewesen konnte und wollte sie sich nicht erinnern…denn es hatte auch sie vergessen.