Der Zeitumkehrer
Der Wind rüttelte heftig an den Fenstern des Gryffindor-Gemeinschaftsraum im siebten Stock. Drinnen saßen drei Schüler vor dem Kamin. Ron Weasley arbeitete an seinem Aufsatz über die Verwandlung von Körperteilen. Zu seiner Rechten saß seine heimliche Liebe Hermine Granger und las ein Buch für ihre nächste Stunde in Alte Runen. Allein Harry Potter, der beste Freund der Beiden, tat nichts. Er war schrecklich gelangweilt. Seine Hausaufgaben waren gemacht, aber er wollte auch nicht zu Bett gehen. Stattdessen holte er die Karte des Rumtreibers aus seiner Umhangtasche und flüsterte: „Ich schwöre feierlich, ich bin ein Tunichtgut.“
Sofort konnte er alle Bewohner Hogwarts' sehen, aber es gab nichts wirklich Interessantes.
Die Lehrer waren in ihren Büros und die Schüler in ihren Gemeinschaftsräumen. Nur ein kleiner Punkt lief durch Hogwarts' Gänge: Draco Malfoy.
Harry biss sich auf die Lippe und sah zu seinen Freunden. Sie zweifelten an seiner Aussage, dass der Slytherin ein Todesser war. Harry war sich sicher, dass der Blonde etwas für Voldemort erledigen sollte. Er wollte wissen, welchen Befehl sein Rivale bekommen hatte. Harry sah wieder auf die Karte und stand auf.
Ich hab noch was zu erledigen“, sagte er kurz und ging zum Portraitloch. Draußen warf er sich den Tarnumhang über und lief in Malfoys Richtung.
Dieses Mal würde Harry extra vorsichtig sein. Es war nur Malfoys Glück gewesen, dass er Harry auf der Hinfahrt im Hogwarts-Express entdeckt hatte. Die Korridore waren dunkel und der Wind heulte.
`Das Wetter passt gar nicht zum Datum`, dachte Harry. In der Tat war das Wetter für den dreizehnten September ungewöhnlich stürmisch. Erneut sah Harry auf seine Karte und entdeckte, dass Malfoy in seiner Nähe war. Der Blonde kam vom fünften Stock und lief an Harry vorbei. Der Schwarzhaarige folgte ihm in einigem Abstand.
Malfoy betrat die Toiletten und Harry folgte ihm und sah, dass der Slytherin vor dem Waschbecken stand.
Während Malfoy seine Ärmel hochkrempelte und sein Gesicht wusch, trat Harry näher. Er sah in den Spiegel. Zum Glück bemerkte ihn Malfoy aufgrund des Tarnumhangs nicht.
Harry sah, wie Malfoy sich die müden Augen rieb. Der junge Mann wirkte so blass wie nie zuvor. Dann betrachtete Harry Malfoys Haltung. Der Blonde schien sehr erschöpft.
Harry wollte gehen, bevor er entdeckt würde, aber etwas Schwarzes zog seine Augen an. Er sah zurück und schnappte nach Luft. Auf Malfoys linkem Unterarm sah er ein schwarzes Tatoo. Einen Schädel, dem eine Schlange aus dem Mund kroch. Das dunkle Mal!
Harry war wie erstarrt. Die Gedanken durchfluteten sein Gehirn. Malfoy war ein Todesser!
Er hatte Recht, das war der Beweis! Er musste sofort zu Ron und Hermine.
Doch Malfoy bewegte sich zuerst. Er drehte sich um und ging zum Ausgang. Schnell reagierte Harry und trat zurück, um Malfoy vorbei zu lassen. Nachdem er sicher sein konnte, rannte er zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum.
Völlig außer Atem murmelte Harry das Passwort und schlüpfte durch das Portraitloch. Den Tarnumhang und die Karte hatte er vorher sicher in seinem Umhang verstaut. Als er in den Gemeinschaftsraum trat, sah er Hermine und Ron immer noch vor dem Kamin sitzen.
Harry sah sich kurz um, während er zu seinen Freunden trat. Der Raum hatte sich bis auf zwei Viertklässler gelehrt, die aber auch gerade zu ihren Schlafräumen gingen. Also nutzte er die Gelegenheit und setzte sich zu Ron und Hermine.
Die Braunhaarige nickte ihm kurz zu und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Ron hingegen lehnte sich gerade zurück, warf den Federkiel auf den Tisch und grinste: „Fertig!“
Hermine sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an: „Du wärst schon längst fertig gewesen, wenn du es gestern gemacht hättest.“
„Nun ja“, Ron wurde rot, „ich hab's geschafft, nicht?“
Hermine zuckte nur mit den Schultern und las weiter.
Plötzlich sah Ron zu Harry: „Wo warst du eigentlich?“
Harry grinste. Er hatte schon gedacht, Ron würde nie fragen.
„Ich hab Malfoy gefunden!“
„Gefunden?“, fragte Hermine zweifelnd, „Du meinst, du bist ihm ganz zufällig und ohne es zu wollen begegnet?“
Harry seufzte: „Nein, ich hab auf der Karte gesehen, dass er allein war.“
„Dachte ich mir“, Hermine klappte das Buch zu, „Schieß los. Du willst uns bestimmt wieder irgendetwas über Malfoy erzählen.“
Harry war überrascht. Hermine hatte schon fast genervt geklungen. Aber sie und Ron hatten ihm am ersten September auch nicht geglaubt, dass Malfoy ein Todesser wäre. Doch nun hatte er Beweise!
„Ich hab Malfoy in der Toilette gesehen“, begann Harry, wurde aber sofort von Ron unterbrochen: „Wirklich?“
Der Rothaarige verzog angeekelt das Gesicht.
Harry rollte nur die Augen: „Er stand vor dem Waschbecken! Jetzt lass mich doch erzählen!“
„Schon gut! Schon gut!“
„Also, ich hab gesehen, wie er seine Hemdärmel hochgekrempelt hat. Ich hab es gesehen!“
„Was?“, fragte Ron verwirrt und diesmal verdrehte Hermine die Augen: „Das dunkle Mal, nehme ich an.“
Eifrig nickte Harry und sah seine Freunde erwartungsvoll an.
„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte Ron und erntete einen empörten Blick.
„Ich mein ja nur“, der Rothaarige zog den Kopf ein und versank tiefer im Sessel.
„Jetzt müsst ihr es zugeben“, Harrys Stimme klang überschwänglich, „ich hatte Recht.“
„Ja“, meinte Hermine, „aber ich verstehe nicht, warum Voldemort ausgerechnet ihn aufnimmt.“
„Vielleicht soll er irgendwas erledigen. Ich frag mich nur was“, grübelnd runzelte Harry die Stirn.
„Auf jeden Fall solltest du Dumbledore Bescheid sagen.“
Abwesend nickte Harry: „Ob Snape davon weiß? Von dem Dunklen Mal, meine ich.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Hermine und stand auf. Dabei vergaß sie das Buch in ihrem Schoß. Dieses landete mit einem lauten 'Wumms' auf dem Boden.
„Woah, erschlag mich nicht!“, rief Ron, dem das schwere Buch auf den Fuß gefallen war.
„Tut mir leid“, sagte Hermine ein wenig aggressiv und bückte sich. Als sie sich aufrichtete, stutzte sie.
„Was ist das denn?“, sie griff nach etwas Dunklem. Interessiert beugten sich die beiden Jungen vor.
„Was hast du denn da?“, fragte Ron und wollte nach dem Gegenstand greifen, doch Hermine entzog ihm ihre Hand. Intensiv betrachtete sie das kleine Ding.
„Seltsam“, murmelte sie.
„Was denn?“, fragten die Jungen ungeduldig.
„Seht es euch genau an.“
Harry runzelte die Stirn. Der Gegenstand kam ihm bekannt vor. Es war eine kleine Sanduhr mit schwarzem Sand, umgeben von silbernen Ringen. Die feingliedrige Kette war von demselben Metall und fast zwei Meter lang. Alles war von dickem Staub bedeckt. Aufgeregt durchforstete Harry sein Gehirn. Irgendwo hatte er so etwas schon einmal gesehen.
Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
„Das ist ein Zeitumkehrer!“, keuchte er. Hermine nickte: „Ja, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Der Sand ist so dunkel.“
„Gibt es denn da Unterschiede?“, fragte Ron.
„Vermutlich schon. Ich weiß es nicht genau. McGonagall hat mir meinen damals gegeben und als wir im Ministerium waren, habe ich nicht darauf geachtet, ob es verschiedene gab.“
Harry nickte und überlegte laut: „Ich frage mich, ob er noch funktioniert.“
„Nun ja“, meinte Hermine zögernd, „um das herauszufinden, müssten wir ihn ausprobieren, aber ich denke nicht, dass das so eine gute Idee wäre.“
„Schade“, sagte Ron, „ist bestimmte cool, so eine Zeitreise.“
„Ich denke, wir sollten ihn Professor McGonagall geben“, Hermine setzte sich wieder in den Sessel, „dann kann sie ihn untersuchen.“
Harry und Ron wirkten beide nicht begeistert von dieser Idee, konnten aber auch keine Gegenargumente vorbringen. Besonders Harry hatte mittlerweile gelernt, dass es nicht ratsam war, mit Magie herum zu spielen.
„Wenn du meinst“, sagte er und gähnte, „ich leg mich dann jedenfalls hin.“
Ron und Hermine folgten seinem Beispiel und fünf Minuten später lagen alle in tiefen Schlummer.
Am nächsten Morgen hasteten Harry, Ron und Hermine hinauf in den dritten Stock. Sie waren auf dem Weg zu Verteidigung gegen die dunklen Künste und schon ziemlich spät dran.
„Beeilt euch!“, rief Hermine, die den Treppenabsatz fast erreicht hatte.
„Ist doch eh egal“, murrte Ron, „Snape wird uns sowieso Punkte abziehen.“
Harry gab ihm im Stillen Recht, beschleunigte sein Tempo aber trotzdem. Gryffindor musste nicht unnötig Punkte verlieren.
Als Hermine gerade den Fuß auf die letzte Treppenstufe setzte, stieß sie gegen eine Gestalt, die von rechts angerannt kam. Hermine schrie kurz auf und fiel nach hinten. Instinktiv griff sie nach dem Ärmel der fremden Person. Dabei fiel ihre Tasche zu Boden. Von unten prallten Harry und Ron gegen die Beiden und alle vier stürzten zu Boden. Harry obenauf.
Dabei bemerkte niemand wie ein kleiner Gegenstand aus Hermines Tasche rollte, sich an ihrem Fuß verfing und zerbrach.
„Mist“, keuchte Ron und nahm dankbar Harrys Hilfe an, der aufgestanden war und ihm die Hand anbot. Schnell erhob sich auch Hermine und sah den Fremden entschuldigend an: „Tut mir leid, ich hab dich nicht gesehen.“
„Dann sperr beim nächsten Mal deine Augen auf, Granger!“, knurrte eine nur allzu bekannte Stimme.
„Malfoy?“, bemerkte Harry überrascht.
„Glückwunsch, Potter“, Malfoy erhob sich elegant und putzte sich den Staub von der Kleidung, „die Brille scheint zu wirken.“
„Was tust du hier, Malfoy?“, Ron sah den Blonden angriffslustig an. Der hob nur eine Augenbraue, aber Harry bemerkte, dass Malfoy nicht so arrogant wirkte wie sonst, sondern mehr erschöpft. Dieser Effekt wurde durch die Ringe unter den Augen noch verstärkt.
„Ich bin auf dem Weg zum Unterricht, Wiesel. Ich weiß ja nicht, wo ihr hin wolltet.“
Rons Ohren wurden rot und er murmelte etwas, das Harry nicht ganz verstand. Er wollte gerade selbst etwas sagen, als er von einer anderen Stimme unterbrochen wurde: „Was tun Sie denn hier?“
Erschrocken drehten sich die vier Schüler um und Harry stutzte.
„Professor Dumbledore?“, fragte er überrascht und verwirrt zugleich. Vor ihnen in der Eingangshalle stand Dumbledore. Doch sein Haar war kastanienbraun und der Bart noch nicht so lang. Er wirkte insgesamt jünger.
„Der bin ich. Dürfte ich erfahren, wer Sie sind?“, misstrauisch und neugierig zugleich musterte er sie. Langsam stieg er die Treppen hinauf. Dabei fiel sein Blick auf ihre Schulumhänge.
„Sie sind Schüler?“
Ron runzelte die Stirn: „Das waren wir doch schon immer. Erinnern Sie sich nicht?“
Dumbledore wirkte verwirrt: „Ich habe sie noch nie in Hogwarts gesehen.“
Die Drei warfen sich ungläubige Blicke zu und Malfoy schnaubte.
„Aber“, begann Hermine, unterbrach sich jedoch selbst. Ihr Blick war auf ihre Füße gefallen.
„Oh nein“, hauchte sie entsetzt. Sie bückte sich und entwirrte die schmale Silberkette. Dann hielt sie alles in die Höhe. An der Kette baumelte ein zerbrochenes Stundenglas, der Sand rieselte zu Boden. Die Ringe waren eingedellt. Mit Schrecken stellte Harry fest: „Der Zeitumkehrer ist kaputt!“