Zum Inhalt der Seite

Rattenprinzessin

Von der Suche nach schwarzen Beeren
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Fernsehen

Der Bildschirm flimmerte. Das Bild darauf war warm, schwarz und weiß, jedoch leicht ins vergilbte Sepia übergehend. Wolkenkratzer, dunkle Gassen, Schatten umgaben den Mann, der im Trenchcoat über den Asphalt hetzte. Ein Schuss löste sich. Blut spritzte.
 

Marc hätte sich erschreckt, hätte wirklich Angst bekommen – hätte er nicht in diesem Moment gespürt, wie ihre Hand um die seine zusammen gezuckt war. Er warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinauf, erspähte die Spinnweben auf ihren Schultern und den Staub auf ihrem blonden, zerzausten Haar, und ihre Angst machte ihn stärker, weil er sie beschützen musste. Seine kleine Hand wand sich behutsam aus der ihren, um diese zu umschließen und sanft zu drücken. Ihre großen, dunklen Augen wandten sich ihm zu, ihre Blicke trafen sich, und er spürte, wie sie ruhiger wurde, als sie lächelte. Sie schien zu verstehen, dass er schon jetzt stark genug für zwei war. Schon jetzt – mit sieben.

Sommernacht atmen

Marc wachte auf. Es war nicht das grausame Aufschrecken, das dem Schlafenden so gern während eines Alptraumes auflauerte und ihn so heftig und plötzlich packte, dass es noch lange in den Gliedern verblieb. Sein Erwachen war langsam gewesen, so, wie wenn man eine alte Narbe wieder spürt, die zurückhaltend aber nachdrücklich schmerzt, bis sie einen geweckt hat. Seinen Blick hielt Marc unverwandt auf die Schlafzimmerdecke gerichtet, um diese Narbe zu ignorieren, die keine Narbe war, sondern ein Gefühl, das ihn aus den Schatten anzustarren schien. Zurückhaltend, aber nachdrücklich. Um seinem vorwurfsvollen Blick auszuweichen hob Marc eine seiner Hände und schaute sie prüfend an – ein Teil von ihm fürchtete noch immer, er sei plötzlich wieder sieben Jahre alt. Doch die Finger vor seinen Augen waren die kräftigen Greifwerkzeuge eines jungen Erwachsenen, nicht eines Kindes.

Ein Seufzen erklang neben ihm und er zuckte zusammen, den Kopf danach umwendend. Doch als er in Regines Gesicht schaute, die neben ihm schlief und sich wohl gerade umgedreht hatte, spürte er kühle Enttäuschung in sich aufsteigen. Obwohl er sie noch vor einigen Stunden gebeten hatte, über Nacht bei ihm zu bleiben, wurde ihm jetzt fast schon schlecht, weil sie neben ihm lag, und er stand auf und ging zum Fenster, um ihrer Nähe zu entkommen.
 

Das Fenster von Marcs Schlafzimmer war türgroß und gab eine Brüstung an der Außenseite des Hauses frei, die es ihm erlaubte wie bei einem Balkon richtig draußen zu stehen und die sommerwarme Nachtluft am ganzen Körper zu spüren. Der Platz reichte gerade für ihn allein, hinter ihm verbargen die Vorhänge, dass es ein Drinnen gab, und vor und unter ihm streckte sich ganz Lyon funkelnd aus, mit seinen Straßenlaternlichtern und den tanzenden Autoscheinwerfern prahlend. Es fühlte sich für Marc gut an, hier zu stehen, auch wenn sofort einige Mücken beschlossen, auf ihm zu dinieren.

Das Gefühl allerdings stand wohl immer noch hinter dem Vorhang, und starrte ihn durch den halbtransparenten Stoff zurückhaltend, aber nachdrücklich an. Er wagte nicht, den Blick zu erwidern, aber in Gedanken ließ er sich endlich auf ein Zwiegespräch damit ein.
 

„Ich hatte doch damit abgeschlossen.“, sagte er innerlich. „Selbst wenn sie existiert... selbst wenn es sie wirklich gibt... dann ist sie jetzt viel älter als damals. Ich will das nicht sehen. Ich will abschließen.“

Du weißt, dass du lügst. Du willst sie wieder sehen. Nichts mehr als das.

„Was sie getan hat war falsch.“

Es hat sich richtig angefühlt.

„Es war falsch!“

Das wäre es gewesen, wenn du es nicht gewollt hättest. Du hast es gewollt und ihr nie übel genommen. Du willst sie wieder sehen.

Marc musste Tränen unterdrücken, er wusste nicht ganz, ob vor Wut oder Trauer.

„Das wäre Betrug an Regine.“

Du betrügst Regine seit dem ersten Augenblick. Mit dem Herzen.

Diese Wahrheit fühlte sich an wie ein entsetzlich tiefes, schwarzes Loch.

Du hast jede andere betrogen, die du zu lieben behauptetest., bohrte das Gefühl weiter seine Krallen in Marcs Herz.

„Ja.“

Was hält dich noch zurück?

Marc musste die Augen schließen, um zu antworten. Seinen ganzen Verstand aufbieten. Sich ins Gedächtnis zurückrufen, was ihm so viele Psychologen, was ihm seine Eltern und Freundinnen immer wieder gesagt hatten.

„Weil sie nicht existiert.“, dachte er. Und sprach es dann noch einmal halblaut aus. „Sie existiert nicht.“

Der Nachtwind frischte auf, als er das sagte, und zerrte die Vorhänge für eine oder zwei Sekunden unsanft ins Zimmer. Marc hörte etwas zu Boden fallen, und er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was es war.

Heb es auf.

Er ballte die Hände zu Fäusten und blieb stehen.

Heb es auf.

Auf seinen Wangen schien die Nachtluft mit eisigen Fingern die Spuren der Tränen nachzuziehen.

HEB ES AUF!

Er gehorchte. Langsamen Schrittes trat er ins Schlafzimmer zurück und kniete sich zu seiner Brieftasche hinab, ehe er sie ergriff und zu sich nahm. Obwohl niemand es ihm in Worten befahl, öffnete er sie und griff in ein Seitenfach, dessen Größe gerade für eine Visitenkarte reichte.

Das Gefühl hatte gewonnen, als er zitternd eine schmale, elegante Karte aus dem Fach zog und sie ansah. Sie war eng mit einer eleganten, schwarzen Schrift in kleinen Buchstaben beschrieben. Marc versank sofort in den Text, obwohl er ihn inzwischen so gut auswendig kannte.
 

„Mein liebster Marc,“, stand dort in feinstem Französisch.

„Es tut mir leid. Sanssoucis Untergang hat mich geschwächt, regelrecht getötet, und noch warst du zu schwach, um mich zu beschützen. Aber was wäre ich für eine Rattenprinzessin, wenn ein sinkendes Schiff mich in den Tod risse? Ich kehre zurück, Marc, wenn du bereit bist, mich zu bewahren. Such mich dann im dem Land, in dem mein Name geboren wurde. Halte Ausschau nach schwarzen Beeren. Du wirst wissen, wenn es so weit ist.

Deine Mad Hatter“

Er drehte die Karte um, um einen Blick auf die in schwarzer Tinte gezeichnete Beerenstaude und einige weitere Sätze auf der Rückseite der Karte zu erhaschen.

„P.S.: Zeige diese Karte niemandem, und erzähle keinem von unserem Treffen. Sie werden es nicht verstehen und ihr Geist ist zu klein, um es sich zu merken. Es reicht doch, wenn wir beide wissen, dass ich existiere – nicht wahr?“
 

„Ja, das reicht.“, antwortete er ihr, und wischte sich die Tränenspuren ab, die ihm plötzlich entsetzlich kindisch erschienen. Dann legte er die Karte kurz beiseite, zog sich an und setzte sich auf das Bett, neben Regine. Sie wachte von der doch etwas heftigen Bewegung sofort auf und blinzelte ihn unwillig und verschlafen an. „Marc? Was-“ „Es tut mir leid, aber es ist vorbei. Ich liebe eine andere.“, fuhr er ihr etwas schroff ins Wort, nach so vielen Trennungen noch immer unbeholfen. Das brachte sie für einen Moment zum Schweigen. Ein ihm wohl vertrauter Gesichtsausdruck zerfurchte ihre Stirn, er hatte ihn von allen Frauen und Mädchen geerntet, denen er von ihr erzählt und von denen er sich dann getrennt hatte. „Sie ist nicht real.“, erinnerte Regine ihn sanft. „Du hast sie dir eingebildet, als du klein warst. Jetzt bist du erwachsen – mit zwanzig jagt man keine Phantome mehr.“, in ihrer Stimme lag weder Vorwurf noch Spott. Nur Liebe und der Wunsch, ihm zu helfen. Es tat ihm leid, aber gerade weil sie so gut zu ihm war, verdiente sie diese Farce nicht.

„Ist schon gut.“, sagte er und klang dabei etwas sanfter. „Ich mag dich sehr, Regine, aber selbst wenn sie ein Trugbild, eine imaginäre Freundin ist – ich kann einfach nicht so tun, als würde ich mich mit etwas anderem zufrieden geben.“ Er stand auf und sammelte einige Dinge ein, die er nachlässig in einem Rucksack verstaute. Regine hatte sich nun aufgerichtet, durch sein Packen vollends alarmiert.

„Und was hast du jetzt vor?“, fragte sie ängstlich. „Wo willst du hin? Das hier ist deine Wohnung – wenn du so unbedingt von mir weg willst, kann ich doch einfach gehen?“

„Ich gehe nach England, schwarze Beeren suchen.“, antwortete Marc und lächelte sie an, während er seine Zahnbürste in den Rucksack gleiten ließ. Ihr Blick offenbarte die typische Verwirrung eines Gesunden, der einem Irren gegenüber steht.

„Und dein Studium?“

„In England gibt es auch Universitäten. Wer weiß, vielleicht nimmt mich Oxford.“ Sie schüttelte den Kopf, ihr Mund stand offen. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass sie durchaus auch wieder redete, auf ihn einredete, aber es interessierte ihn nicht länger, und so perlten die Worte irgendwie ungehört an ihm ab, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
 

Das Gefühl hatte jegliche Zurückhaltung verloren. Es hatte sich von Vorwurf in Zufriedenheit verwandelt, als er, von seiner eigenen Sehnsucht wie von einem Marionettenfaden gezogen, hinaus in die Sommernacht Lyons trat. Seine Finger strichen gedankenverloren über die schmale Karte, und sein Tastsinn genoss die halbglatte Struktur des Kartons. Irgendwie fühlte er sich freier.

„Du hast Recht.“, sagte er sanft zum Nachtwind. „Es reicht, wenn wir beide wissen, dass es dich gibt.“

Reisen

Einmal in England angekommen, fiel es Marc leicht, sich zwischen den Ortschaften umherzubewegen. Eine neue Generation war herangewachsen, die Nachkriegsgeneration, die ihre Schulabschlüsse in Ruhe feiern und genießen konnte ohne fürchten zu müssen, dass man sie wie ihre Väter bald an Kriegsfronten beordern würde. Und in England war es, wie Marc schnell feststellte, absolut üblich, dass die Schulabsolventen und künftigen Studenten, meist in seinem Alter, in der freien Zeit zwischen Abschluss und Studiengang per Anhalter quer durch das Land reisten. Genauso üblich schien es zu sein, dass man diese jungen Leute, obgleich fremd, in fast jedem Haus freundlich aufnahm, dass fast jedes Auto für sie anhielt, und dass jedes Motel und Hostel mit ihnen um die Zimmerpreise verhandelte. Ein in Manchester am Flughafen gekaufter Reiseführer bewahrte den Franzosen zusätzlich davor, ausgenommen zu werden oder zu teure Jugendherbergen anzusteuern. Zwar hatte er keine eigene Wohnung mehr und musste sich allnächtlich seine Schlafzimmer mit mindestens zwei bis sieben Altersgenossen teilen – aber er fühlte sich wohl, frei und irgendwie zuversichtlich, so als ob ihn der Wind schon in die richtige Richtung wehen würde. Eine Weile reiste er von Manchester aus wild herum, wobei ihn seine Fahrer mal wieder näher an die Stadt brachten, mal aber auch in kleine Örtchen mit verschlafenen Namen wie Oldham und Rochdale mitnahmen, die man ausschließlich aus roten Backsteinen und guter Laune gebaut zu haben schien. Er lernte Fish and Chips kennen, gewöhnte sich an getrennte Wasserhähne für heißes und kaltes Wasser und kaufte sich sogar ein Souvenir – ein kleiner roter Füllfederhalter mit dem Wappen Oldhams und dem Motto der Stadt: „Sapere Aude“. Habe den Mut, klug zu sein. Gemeinsam mit einer kleinen, verniedlichten Eule am Ende des Stiftes, die aus großen Murmelaugen in die Welt blickte, erwählte er diesen Spruch zu seinem künftigen Reisebegleiter. Etwas zu wagen, etwas Neues, fühlte sich gut für ihn an.
 

Dann beschloss er, aus einem Impuls heraus, nach London zu reisen. Er wusste nicht genau warum, vielleicht hatten die Lobpreisungen im Reiseführer bei ihm angeschlagen, vielleicht reizte die Großstadt schlicht den Touristen in ihm – aber dieser plötzliche Entschluss gab seinem mittlerweile wochenlangen ziellosen Treiben endlich eine Richtung, und so gab er ihm sofort nach.
 

Normalerweise bevorzugte Marc, Autos an den Straßenrand zu winken und einzusteigen. Das bescherte ihm regelmäßig angenehme Unterhaltungen, und besonders Fernfahrer schienen sich darüber zu freuen, gegen ihre Müdigkeit jemanden zu haben, mit dem sie reden konnten. Aber oft waren die Wagen nur in der Region um Manchester herum in Bewegung, und nachdem Marc einen Morgen und Vormittag damit verbracht hatte, erfolglos einen Fahrer nach London oder Umgebung zu suchen, ließ er sich von seiner Ungeduld dazu bewegen, sich für den Zug zu entscheiden.

Er hatte schon öfter beobachtet, wie sich Obdachlose und Reisende mit leeren Taschen in die unbeobachteten Güterwagons einiger Warenzüge einschlichen, um dann später, nahe ihren geplanten Ankunftsorten, mit waghalsigen Sprüngen die Strecken zu verlassen ehe sie entdeckt werden konnten.

Auch Marc versteckte sich zwischen frisch ausgeladenen Kisten und Containern, sobald er einen passenden Zug in ungefähre Richtung Londons ausgespäht hatte, und schlüpfte in einem unbeobachteten Moment in den halbvollen Wagon, wo er sich zwischen einigen gut gesicherten Containern versteckte. Erleichtert stellte er fest, dass er bisher allein im Wagon zu sein schien. Oft genug hatte er von hässlichen Auseinandersetzungen in Güterzügen gehört, die verschiedene unangenehme Ausgänge nehmen konnten – von einfachem Raub bis hin zum Tod durch Genickbruch oder Messerstiche. Insgeheim lobte er sich für seine feinsinnige Intuition, die ihn scheinbar genau davor bewahrt hatte, als er ein leises Schlurfen hörte.

Der Franzose versank noch tiefer zwischen den Containern, einen möglichst dunklen Winkel dafür auswählend, vorsichtig an ihnen vorbei zu spähen. Zwei zerlumpte Gestalten ließen sich gerade leise in eine Ecke plumpsen, von der sie wohl erwarteten, dass sie dort niemand entdecken würde. Sie sahen auf unangenehme Weise grobschlächtig aus und ihr Gestank schien siffig über den Boden zu schwappen, um Marcs Nase mit einem olfaktorischen Hammer aus Alkoholfahne, menschlichen Ausscheidungen und allen übelriechenden Körperausdünstungen eines lebenden Wesens zugleich zu betäuben. Unwillkürlich hielt er sich die Hand vor Mund und Nase, eine Bewegung, die nur ein leises Rascheln seiner Kleidung verursachte und trotzdem einen der beiden Güterzugzombies aufhorchen ließ wie ein alarmiertes Raubtier.

Na wunderbar., drängte sich dem Franzosen in Gedanken auf, und sämtlicher Stolz auf seine Intuition war verflogen. Wieso zur Hölle bin ich überhaupt hier reingegangen?!

Eine Erinnerung – oder besser gesagt: Das Gefühl einer vergessenen Erinnerung – klopfte an seinen Verstand. Aber Marc beschloss, gedanklich keine Zeit zum Grübeln zu haben. Stattdessen nutzte er den Lärm des startenden Zuges aus, um sich bequemer zu positionieren, ohne dass die beiden Zugestiegenen es merkten, zog sich einen Schal fest um Mund und Nase und genoss dann zurückgelehnt das rythmische Rattern der Räder auf den Gleisen. Eines schien er den beiden immerhin voraus zu haben: Er wusste von ihnen, aber nicht umgekehrt. Unter diesen Umständen würde er sicher rechtzeitig vor London aus der Tür stürzen können, ohne in Konflikt mit ihnen zu geraten.

Beruhigt von seinem Plan, der Müdigkeit eines Reisenden und dem Wiegenlied des Zuges glitt er überraschend schnell in einen seltsam heißen Schlaf.
 

Er war dreizehn, und er wachte alleine auf. Alleine und... unbekleidet. Der Gedanke traf ihn schlagartig, noch vor jedem anderen, der sonst einen Weg in seinen Verstand fand, wenn er erwachte. Und Scham stieg hitzig in ihm auf. Er sprang aus dem Bett und knickte sofort ein, denn Schwindel traf ihn wie der Schlag und ihm wurde so schrecklich übel, dass er Mühe hatte, sich nicht direkt auf den Teppich zu übergeben. Seine dünnen Arme zitterten, und er stellte erschrocken fest, wie blass sie waren, als er an ihnen herabsah. Trotzdem hob er eine Hand, um wenigstens seine Unterhose zu sich zu ziehen und sich, den Rücken stützend ans Bett gelehnt, damit zu bedecken. Als nächstes wagte er sich an die Hose. So dreckig es ihm ging, er konnte nicht zulassen, dass seine Eltern ihn so sahen! Wo war seine Hose? Er erinnerte sich und zog sich mühsam am Bett hinauf. Da lag sie. Er ließ sich neben sie auf die Decke fallen und zog sie im Liegen an. Eine Karte fiel heraus. Fast blendend weiß und schlank. Er ergriff sie, hielt sie sich vor die Augen – und die Schrift darauf schien das Einzige zu sein, das nicht verschwamm:

„16 Uhr. Bahnhof London Road, Manchester. London North and Eastern Railway. Güterwagon No. 67.“

„Nummer 67. Hast du verstanden?“, fragte eine sanfte, junge Stimme. Marc ließ die Karte sinken. Es ging ihm besser. Er war auch nicht mehr dreizehn, sondern zwanzig... zwanzig... und in England! Er setzte sich leicht auf. Das Bett, in dem er lag, was das seiner Jugendherberge, und vor ihm stand ein junger Mann, der auf keinen Fall mehr Lenze als er selbst zählte. Der Junge schaute ihn weltvergessen aus dunklen Augen an, sich ein paar Strähnen zerzausten, braunen Haares aus dem schmalen, erfahrungsgegerbten Gesicht streichend. Ein wenig erinnerte er Marc an Mad Hatter – er wirkte fehl am Platz in dieser Welt, in seiner Kleidung, in dieser Zeit. Obwohl sein Körper nicht älter als 20 war, wirkte er, als habe er seinen Geist irgendwo auf dem Weg hierher verloren. Sein Gesicht erschien vollkommen blank, aber gerade deshalb imstande, jede menschenmögliche Emotion widerzuspiegeln, und der Rücken des Fremden wurde durch einen markanten Buckel verunstaltet, der ihn um fast zwei Köpfe kleiner machte als den Franzosen.

„Hast du verstanden?“, hakte er sanft nach. Apropos Franzose – er sprach eindeutig Französisch. „Es ist wichtig, dass du Nummer 67 nimmst. Egal was geschieht.“

“Nummer 67.“, wiederholte Marc, sich irgendwie willenlos fühlend. Sein Gegenüber nickte und strahlte für einen Moment Zufriedenheit aus.

„Du wirst vergessen, dass ich da war. Du wirst vergessen, dass wir miteinander gesprochen haben. Mich gibt es nicht und das ist nie passiert. Dies ist nur ein Traum, wenn überhaupt etwas – du wirst nur dem Befehl folgen, den du empfangen hast, als wäre er deine eigene Idee.“

Der junge Mann zerplatzte zu einer Wolke aus Rauch, durch die sich das hässliche Gesicht eines fast zahnlosen alten Mannes schob, begleitet von einem Gestank, der Marcs Traumwelt brutal zerriss.

Der hässliche Kerl grinste, vergilbte Zahnstummel und eine noch schlimmere Atemwolke enthüllend.

„Na, gut geschlafen, Missy?“

Überfallen werden

Marcs Augen tränten. Sie tränten vom Gestank des Stofffetzens, den ihm einer der beiden Obdachlosen in den Munde gestopft hatte. Der Gestank wurde von einem unerträglich widerlichen Geschmack begleitet, der Marc inständig hoffen ließ, dass sich der Fetzen vorher an einem Körperteil des Bettlers befunden hatte, der wenigstens etwas weniger verdreckt als der Rest von ihm war, und nur aus Solidarität mit Allem Anderem am Körper so stank.

„Oh, sieh mal, Bobby!“, meinte der ursprüngliche Besitzer des Stoffstücks gerade und hielt Marcs Personalausweis hoch. „Un Franzos'“, versuchte er den französischen Akzent seines Opfers nachzuäffen. „Bobby“ stimmte in sein Lachen ein. „Kein Wunder, dass er so geleckt aussieht!“, antwortete er. Marc enthielt sich jedes Kommentars. Er hatte sich von Anfang an nicht viel gewehrt, in der Hoffnung, dass sie ihn dann vielleicht sowohl am Leben lassen als auch nicht zu sehr misshandeln würden. Vor allem die Sache mit dem Leben war ihm delikat erschienen – schließlich hatten ihn Bobby und dessen Freund mit rostigen Küchenmesserklingen am Hals geweckt.

Ihm war schlecht, so furchtbar übel, dass er Mühe hatte, seinen Mageninhalt nicht in das Tuch zu speien. Es war mit seinem eigenen Schal an seinem Mund fixiert worden, und so hätte ihm der Versuch wohl wenig Freude bereitet. Zusätzlich fiel es ihm schwer, sich auch nicht dem mit der Übelkeit einhergehendem Schwindel hinzugeben, sondern seine beiden Peiniger im Auge zu behalten.
 

„Ich hab's, Karl!“, freute sich Bobby. „Hier – jede Menge lieblich raschelnder Scheinchen! Und 'ne Kreditkarte!“ Marcs Blick verfinsterte sich etwas. Er hatte ziemlich viel Geld auf einmal in Lyon abgehoben, um später nicht so leicht über seine Kreditkarte verfolgbar zu sein. Die Scheine – noch französische Francs – hielt er überall an seinem Körper versteckt, aber ausgerechnet gestern hatte er eine Portion davon in Pfund umgetauscht. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Alten nicht das restliche Geld an ihm wittern würden.

„Na also!“, meinte Karl und grinste ein zahnstummelreiches, übelriechendes Grinsen, von dem Marc sich sofort abwenden musste, um sich nicht doch noch in seinen Knebel zu übergeben. „Wow, das ist ja ein hübsches Sümmchen!“ Die beiden beugten sich über die Scheine, die sich in einer recht gut versteckten Innentasche von Marcs Rucksack befunden hatten. Irgendwie erschien Marc das rote Abendsonnenlicht, dass die Zugräuber mit einer gewissen Weltuntergangsatmosphäre umhüllte, als äußerst passend für den Moment. Und es erinnerte ihn an etwas. Ach ja – er erinnerte sich daran, an die Ankunftszeit des Zuges in London gedacht zu haben. Daran, dass er diesen Zug ausgesucht hatte, weil er nachts eintreffen würde, geschätzte ein bis anderthalb Stunden nach Sonnenuntergang. Er schickte einen leicht verzweifelten Blick an Bobby und Karl vorbei aus der Öffnung im Wagon, und beugte sich leicht vor, um die Sonne erspähen zu können. Die gleißende Scheibe war auf einen schmalen Streifen über dem Horizont zusammengeschmolzen und würde sich vermutlich gleich in den Schatten des Globus verziehen – auch wenn der Himmel bestimmt noch relativ blau und hell sein würde, sobald der Zug eintraf.
 

„Na, was interessiert dich denn da so, Missy?“, sprach eine grobe Stimme ihn an, und zu ihrem Ursprung aufsehend lehnte er sich wieder vorsichtig zurück, als wäre sein Magen eine bis zum Rand gefüllte Schale, die er besser nicht auskippen ließ. Karl stand vor ihm, und er hielt sein Küchenmesser in der Hand wie ein Junge sein Taschenmesser. Der graubraune Bart des Obdachlosen starrte vor Dreck und Essensresten, und einen Moment lang war sich Marc sicher, einen schwarzen Punkt von dort woandershin hüpfen gesehen zu haben. Das Gesicht des Mannes wirkte wettergegerbt und von der Straße zerschlagen, in Karls Augen befand sich etwas, das genauso gnadenlos wirkte wie das Leben vielleicht zu ihm gewesen war. Marc mochte ihn einfach nicht, und das voll und ganz – er hatte noch nie jemandem gegenüber so tiefe Abneigung empfunden.

„Überlegst wohl schon, wie du am klügsten hüpfst, was, Missy?“, fuhr er fort und lachte hämisch. Marc gab ihm einen verwirrten Blick zur Antwort. „Verstehst du nich, wovon wir reden?“, meinte Karl, sich zu dem Franzosen herabknieend. Sein Halo aus widerwärtigen Gerüchen ließ Marc unwillkürlich würgen. „Wir sind keine Mörder, aber wir können auch nich' riskier'n, dass du bei der Londoner Polizei über uns plauderst.“ Der Brite klopfte lachend mit der rostigen Messerklinge gegen Marcs Brust. „Keine Sorge – wir töten dich nich'. Wir werfen dich nur bei voller Fahrt aus dem Wagon... wenn du überlebst, tun wir dir nichts.“
 

Das Sonnenlicht verebbte. Ein Schaben erklang aus einem der Container.
 

Das abgerissene Duo wandte sich synchron dem Container zu. Von Marc, den sie durch ein paar gezielte Hiebe und Stofffetzen als Fesseln ruhig gestellt hatten, hatten sie ja nicht viel zu befürchten.

„Scheiße!“, fluchte eine Männerstimme aus dem Container, auch wenn es weniger wie ein aufgeregter Fluch klang als wie eine schon recht häufig getroffene Feststellung. Die Obdachlosen warfen sich gegenseitig alarmierte Blicke zu, legten leise Marcs Sachen nieder und begannen, sich recht lautlos um den Container herumzubewegen, der von Marc abgewandt war. Beide hielten ihre Küchenmesser nun griffbereit, und bewegten sich stark genug im Rhythmus des Zugratterns, um ihre Geräusche dadurch zu tarnen.
 

Aus dem verdächtigen Container erklang nun ein lautes, wiederholtes, metallisches Krachen. Vermutlich versuchte, wer auch immer da geflucht hatte, nun, sein ungewöhnliches Gefängnis zu verlassen. Und es klang auch ganz danach, als würde es ihm gelingen.

Bobby und Karl warfen sich weitere vielsagende Blicke zu, und Marc erschreckten die Gedanken, die er bei ihnen vermutete. Natürlich – wenn jemand stark genug war, um sich aus einem solchen Container zu befreien, dann würde er für die beiden eine Bedrohung darstellen können. Sie fassten ihre Messer fester, und wirkten aufmerksamer und konzentrierter – wahrscheinlich würden sie alles daran setzen, den Ausbrechenden sofort auszuschalten. Marc runzelte die Stirn und begann, sich zu winden. Er musste den Typen im Container unbedingt davon abhalten, weiter herauskommen zu wollen, also gab er erstickte Rufe von sich und versuchte, mit den Füßen auf den Boden zu schlagen. Doch gerade, als der junge Franzose es geschafft hatte, seinen Knebel etwas herunterzustreifen, und etwas rufen wollte, hörte er das Ächzen der Containerluke, die unter der ständigen Krafteinwirkung nachgab. Noch nicht einmal die erste Silbe seiner Warnung hatte Marc vollendet, als sich ihm gegenüber ein dunkelhaariger Mann aufrichtete, der wohl gerade aus dem Container trat. Die Zeit fühlte sich abscheulich zähflüssig an, wie in Zeitlupe und doch viel zu schnell bewegten sich die beiden Obdachlosen auf den Mann zu, vollführten je eine halbe Drehung und schienen ihm die Messer in den Bauch zu rammen – da ihre Körper vom Brustbereich abwärts vor Marc verborgen waren, konnte er das nur vermuten.
 

Der Moment dauerte viel zu lange. Marcs Ruf endete in einem kläglichen Laut, als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens einsah, und schockiert schaute er dabei zu, wie der Kopf des Mannes vor ihm nach vorn wegsackte und er aus Marcs Sichtbereich sank. Die Räuber – die Mörder – grinsten triumphierend.
 

Mit einem Mal kippte alles. Die Zeit schien ihren zähen Fluss zu bemerken und entschloss sich scheinbar, ihn mit einem doppelt so schnellen Lauf wieder aufzuholen.

Der Mann erschien erneut in Marcs Blickfeld, dem erstaunten Bobby einen kräftigen Tritt oder Stoß versetzend, der diesen wiederum nach unten beförderte. Karl wirkte einen Moment lang paralysiert vor Angst und Überraschung, dann schlug er panisch mit dem Messer nach dem Fremden, welcher mit einer fast ruhigen Bewegung sein Handgelenk ergriff und es kurz, aber heftig drehte, wobei sein Gegner ebenfalls unfreiwillig nach unten abtauchte. Marc, der nicht anders konnte, als wie ein Reh in den Autoscheinwerfer auf den Kopf des von ihm abgewandten Mannes zu starren, bekam nicht mehr zu sehen. Nur dumpfe, nach Kampf klingende Geräusche ertönten von dem Platz, an dem der Fremde sich schnell hin und her bewegte, bis auch diese verstummten und er stehen blieb, direkt neben der Einladeöffnung des Wagons.
 

Marc konnte sich noch immer nicht bewegen. Schmerz, Schwindel und Übelkeit hatte er geradezu vergessen angesichts der überraschenden Wendung, die die Situation gerade genommen hatte. Hatten die beiden Obdachlosen nicht auf den Mann eingestochen? Hatten sie es versucht, aber nicht geschafft? Was auch immer der Grund dafür war – der Fremde hatte überlebt, und sah sich nun suchend im Güterwagon um.

Es war ein relativ junger, vermutlich etwa 30 Jahre alter Mann des südländischen Typs. Sein langes, schwarzes Haar trug er etwas unter Schulterhöhe zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden – vermutlich damit es ihn nicht behinderte. In seinem durchaus hübschen Gesicht fiel vor allem die markante schmale, feine Nase auf, unter der ein gerader, breiter Mund den Eindruck machte, sich nur für wichtige Worte zu öffnen. Auch die dichten Augenbrauen und die dunklen Augen trugen dazu bei, dass der Fremde Entschlossenheit und Kompetenz ausstrahlte. Momentan trug er ein schlichtes Hemd (was sich darunter befand war für Marc nicht sichtbar), aber er angelte dann einen an alte Fuhrmannskleidung erinnernden Mantel aus dem Container, den er sich überwarf.

Der Franzose konnte nicht anders, als kurz zusammen zu zucken, kaum dass ihn der durchdringende Blick des Fremden traf. Zielsicher kam dieser auf ihn zu und riss den stinkenden Stofffetzen von seinem Gesicht. Durch den Mantel war sein Bauch nicht zu sehen.

„Marc Chevallier?“, fragte der geheimnisvolle Retter. Marc öffnete und schloss benommen den Mund, nickte dann aber leicht.

„'Kostja' Peppino Saccharja Giovanni. Sehr erfreut.“

Karten spielen

„'Kostja' Peppino Saccharja Giovanni, Sehr erfreut.“, meinte der Mann ohne die Spur eines Lächelns und knotete dann Marcs Fesseln auf. „Yuk... Disgustoso...!“, murmelte er in Anbetracht der schmierigen Stoffstücke. Marcs Gehirn bemühte sich, seine faszinierte Paralyse abzuschütteln. Aber erst einige Sekunden später hörte es auf, sich gegen die Erkenntnis zu weigern, dass der Südländer ihn gerade mit seinem Namen angesprochen und dann auf Französisch begrüßt hatte.
 

„W-wo-... Wa-a-?“, stotterte er mühsam.

„Ich schlage vor, Sie nehmen direkt eine ordentliche Dusche, sobald wir in London sind.“, fuhr der Fremde bestimmt, aber freundlich fort und warf die Fetzen weg, ehe er ein Taschentuch aus seinem Mantel zog und sich damit die Finger etwas abwischte. Marc blinzelte ihn noch immer starr an, was Kostja dazu bewog, die Augenbrauen fragend zu heben.

„Was?“, fragte er. Noch immer sprach er Französisch, und das so gut wie akzentfrei.

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, wanden sich die Worte endlich aus Marcs Kehle frei. „Und was ist mit den Obdachlosen passiert? Haben Sie sie getötet? Warum sind Sie eigentlich nicht tot? Was ist mit Ihrem-“ „Ehi!“, unterbrach ihn Kostja. „Genug Fragen auf einmal! Und ich hatte schon gehofft, Sie wären jemand der schweigsamen Sorte.“ Den letzten Teil in sich hinein grummelnd, ließ er sich in den Schneidersitz sinken und angelte mit spitzen Fingern (offenbar fühlte er immer noch den Schmutz der Stofffetzen daran kleben) eine leicht zerknüllte Packung Zigaretten aus seiner Brusttasche. „Ich beantworte Ihnen was ich kann. Der Rest geht Sie nichts an.“ Marcs Blick senkte sich fast schuldbewusst auf den Bauch des Südländers, der noch immer vom Stoff des Mantels verdeckt wurde. „Gut.“, er streckte seine Hände abwechselnd aus und ballte sie zu Fäusten, um sie von ihrer Fesselverkrampfung zu erlösen, und kurz setzte er dazu an, sich die lädierten Handgelenke zu reiben – ließ es dann aber bleiben, denn auch er meinte den schmierigen Dreck auf den Gelenken regelrecht zu spüren. Als er Kostja wieder ins Gesicht sah, zündete dieser sich gerade eine Zigarette an. „Kann ich wenigstens auch eine bekommen?“, meinte Marc. Der Südländer bohrte ihm seinen dunklen Blick in die Augen. „Solange man seine Lunge noch zum Atmen benutzt, hat Rauch darin nichts verloren.“, brummte er und stand auf, Marc keine Zeit für eine Antwort lassend.
 

„Also, Ihre Fragen... Ich werde dafür entlohnt, Sie gesund in London abzuliefern. Natürlich wurde mir dafür auch Ihr Name genannt. Und die Obdachlosen habe ich durch die Luke geworfen. Keine Sorge, so wie ich die Sache angepackt habe dürften sie mit ein paar gebrochenen Knochen davon kommen.Und da“, er war zur Einladeöffnung spaziert und hatte sich dagegengelehnt, nun lächelte er den Franzosen düster an. „beginnt auch schon der Teil, der Sie nichts angeht.“ Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in den sich verdunkelnden Himmel hinaus.

Marcs Gedanken tanzten in schnellen Wirbeln durch seinen Kopf.

„Aber... woher wussten Sie, dass ich diesen Wagon nehmen würde?“, fragte er, von etlichen Erkenntnissen wie vom Schlag getroffen. „Sie können nicht nach mir eingestiegen sein, ich weiß, dass kein Container mehr danach hierher verladen wurde! Nur die beiden Obdachlosen kamen noch nach, sonst betrat niemand mehr den Wagon vor der Fahrt, es wäre mir aufgefallen! Und wer hat Sie engagiert?“ Wie von selbst waren seine Hände an seinen Kopf gewandert, und seine Finger gruben sich durch sein dunkelblondes Haar, als suchten sie darin die Antworten auf diese Fragen.

Kostja seufzte, was eine Rauchwolke zwischen seinen Lippen hervorströmen ließ. „Von meinem Auftraggeber habe ich nur die Anzahlung und die Initialen. 'M.H.'“, antwortete er. „Und M.H. hat auch die Anweisung hinterlegt, in diesen Container zu steigen und mich in diesen Wagon verladen zu lassen. Vermutlich wurde dafür, dass wir beide in den selben Wagon geraten... Sorge getragen.“ Er hatte den dunkeläugigen Blick nach draußen gewandt und schaute dabei zu, wie sein Zigarettenrauch vom Fahrtwind brutal aus der Luke gerissen wurde. „Bewusst werden Sie sich sicher nicht erinnern können, aber irgendjemand wird Ihnen wohl einen Tipp gegeben haben.“
 

Das Gesicht des jungen Mannes tauchte wieder vor Marcs innerem Auge auf, und er runzelte die Stirn. „Mein Traum...“ Der Südländer schaute zu ihm hinüber.

„Da haben wir es wohl?“, fragte er nach. „Eine unbewusste Erinnerung vielleicht?“

„Nein.“, widersprach Marc und schüttelte den Kopf. „Vielleicht gute Intuition oder was weiß ich. Aber auf jeden Fall ein Traum. Die Szene spielte sich in einem Hostel ab, aber da war ich zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht.“ Seine Stimme klang fest vor Überzeugung. Obwohl dieser Traum so realistisch gewirkt hatte – nun, im Nachhinein, kam er ihm unsinniger als jeder vorherige vor.

Kostja runzelte leicht die Stirn, hob dann aber eine Augenbraue wie ein Detektiv, dem gerade eine Reserve-Theorie über den Hergang der Tat in den Sinn kam. „Wo waren Sie denn dann?“, fragte er fast sanft.

„Auf einem Flughafen.“, erwiderte Marc sicher. Ihm wurde Kostjas Blick unangenehm – er fühlte sich ein wenig wie ein Kind, das gerade wegen seines Glaubens an den Weihnachtsmann belächelt wurde.

„So. Warum?“

„Ich musste eine Freundin verabschieden.“ Der Franzose kehrte mühsam die Erinnerungsfetzen zusammen und sprach dann erst weiter. Die Ereignisse im Zug hatten mit ihrem Schrecken das Gestern vollkommen in den Hintergrund rücken lassen. „Sie wollte nicht richtig gehen... ich musste sie überreden.“

Kostja zog so tief an der Zigarette, dass sie die letzten paar Millimeter bis zum Filter auf einmal zu verglühen schien.

„Da bin ich aber mal neugierig, wie Sie sie überredet haben.“, meinte er in einem Tonfall, der eher dezent gleichgültig klang. Wieder wallte leichte Abneigung in Marc auf – er fühlte sich wütend und unangemessen klein in der Nähe des merkwürdigen Südländers. Aber gerade das hetzte ihn genügend auf, um diesem zu antworten.

„Vielleicht klang es ein wenig pathetisch...“, brummte er, „aber ich meinte zu ihr, sie werde es irgendwann bereuen, wenn sie nicht ginge.Vielleicht nicht gestern, vielleicht nicht heute, aber bald und dann für den Rest ihr-“ Er wurde abrupt davon unterbrochen, dass Kostja den Kopf in den Nacken geworfen und begonnen hatte, laut und herzlich zu lachen. Derart laut und herzlich, dass es Marc schon an und für sich tiefe Angst einflößte, stand es doch in heftigem Kontrast zu der bisherigen Kühle des Südländers.

„Was?“, fragte er, erschrocken und wütend. „Was ist denn so lustig daran?!“ Doch der Fremde schüttelte nur lachend den Kopf und schnippte den glühenden Zigarettenstummel aus der Luke.

„Nichts.“, meinte er. „Es passt vermutlich gut zu Ihnen, so etwas zu sagen, sonst hätten Sie es nicht getan.“ Er stellte das laute Lachen zugunsten eines leiseren Schmunzelns ein, bevor er etwas aus dem Container angelte und wieder zu Marc trat.

„Was halten Sie von einer Runde Scopa, bis wir ankommen?“, meinte er, seinem Schützling einen Stapel leicht vergilbter Karten hinhaltend, deren Bilder sich sehr deutlich von denen der französischen unterschieden. „Das Spiel kenne ich nicht.“, erwiderte Marc missmutig. „Dann bringe ich es Ihnen eben bei. Zuerst sollte man die Zahlenwerte der verschiedenen Karten wissen...“, begann Kostja zu erklären und setzte sich zu ihm.
 

So wenig Marc seinen neuen Begleiter auch leiden mochte – dem Fremden haftete einfach eine unerträgliche, kühle Aura der Erfahrung und Kompetenz an, die dem Franzosen selbst das stete Gefühl gab, unzulänglich zu sein – Kostja schaffte es, das Raubopfer mithilfe von Scopa und dem vorhergehenden Gespräch von seinem Schrecken über den Raub zu befreien. Genauso wie von vielen kleineren Fragen, die Marc noch kurz zuvor auf der Zunge gebrannt hatten. Dafür lag eine tiefer in ihm, die freudig im heimlichen Wissen um ihre Antwort glühte. M.H. Natürlich – der Auftraggeber musste Mad Hatter sein! Offensichtlich führte der Weg zu ihr tatsächlich in die Großstadt hinein... Die Erwartung, sie bald wiederzusehen, ließ Marcs Gedanken immer wieder in die Ferne driften. Gern hätte er die Herzdame des Kartenspiels angeschaut, um sich das spinnwebbehangene Mädchen an ihre Stelle zu denken, aber das neapolitanische Blatt des mutmaßlichen Italieners besaß nur männliche Figurenkarten, und die vier „Farben“ - Schwerter, Keulen, Krüge und Münzen – ließen auch nicht gerade Romantik aufkommen.
 

Wie veranschlagt dauerte es nicht mehr allzu lange, bis der Zug in London am Bahnhof eintraf. Erst verursachte das leise Panik bei Marc, welcher nun entdeckt zu werden fürchtete und eigentlich erwartet hatte, vorher abzuspringen. Doch Kostja beruhigte ihn mit einigen beiläufigen Gesten und machte noch schnell einen Zug, der ihn über die zum Siegen benötigte Elf-Punkte-Grenze katapultierte und somit gewinnen ließ, bevor er Marc bat, still zu sein, und die Karten seelenruhig einsammelte und sortierte.

Die für das Ent- und Beladen zuständigen Arbeiter betraten den Wagon nach und nach, aber sie schienen die beiden Männer überhaupt nicht zu bemerken. Stattdessen tatschten sie in der Luft herum wie Pantomimen, die weitere Container darzustellen hofften, und beschwerten sich brummelnd über zuviel Arbeit, während Marc und Kostja hinter ihnen völlig unbemerkt den Wagon verließen. Erst als Kostja sich ein Stück von der Luke entfernte, hörte Marc überraschte Laute aus dem Wagon, und einige Satzfetzen der Kategorie: „Ja bin ich denn...? Ich war mir vollkommen sicher-“ in plattestem Englisch. Langsam war ihm sein Begleiter nicht mehr nur unangenehm, sondern geradezu unheimlich, und er hoffte inständig, Kostjas Auftrag würde bald abgeschlossen sein. Ja, der Italiener hatte ihn beschützt, und nicht einmal etwas von dem fast geraubten Geld eingestrichen – sogar die Kreditkarte lag wieder wohlbehalten in Marcs Portemonnaie – aber der Gedanke, dass dieser scheinbar unantastbare Mensch sich plötzlich gegen ihn wenden könnte, war für Marc ein Quell unerträglich tief reichenden Misstrauens, und nur leichte Wut als Oberfläche konnte es verbergen.

Fliehen

Einmal vom Bahnhof entfernt, lenkte Kostja seine Schritte zielstrebig in eine neue Richtung. Marc folgte ihm eine Weile, aber nach drei Querstraßen wurde es ihm über, sich keuchend um das Schritttempo seines unheimlichen Stadtführers zu bemühen, und er blieb stehen.

„Eh. Eh, Monsieur Giovanni!“, rief er seinem Begleiter nach, welcher erst dadurch ebenfalls inne hielt und sich nichtssagend nach ihm umsah. „Wo gehen wir überhaupt hin?“ Unter dem Blick seines Retters bemühte sich der Franzose unwillkürlich, seinen Atem zu kontrollieren, damit er nicht ganz so jämmerlich aussah, wie er sich fühlte.

„Hier um die Ecke gibt es eine Straße, die meistens ziemlich leer ist. Dort machen Taxifahrer gern inoffizielle Pausen, weil selten Fahrgäste vorbeikommen. Wollen Sie nach London rein, oder möchten Sie noch einige Stunden warten bis der nächste freie Wagen sich hierher verirrt?“ Kostjas Blick wirkte desinteressiert an der Antwort. Marc schoss ein unangenehmes, eiskaltes Gefühl durch alle Blutgefäße, und er hob alarmiert den Kopf um sich umzusehen. Hatten sie in den letzten paar Minuten überhaupt andere Menschen getroffen? Inzwischen hatte sich der blaue Abend in eine dunkle Nacht verwandelt, und die Sinne des Franzosen signalisierten ihm ängstlich bebend, dass außer ihnen beiden niemand zu sehen, zu hören oder sonstwie in der Nähe war. Die Wohnungen in dieser Gegend waren dunkel und die Häuser in denen sie lagen wirkten leicht verwahrlost, und die Straße, in die Kostja gerade hatte einbiegen wollen, schien ausschließlich von halbzerfallenen Ruinen gesäumt zu sein.
 

Wieviel bot sie ihm?
 

Marc wich einen Schritt zurück, Schweiß auf der Stirn und die Gedanken rasend.
 

War das, was er bei sich trug, mehr? Hatte dieser unheimliche Bastard das mitbekommen?!
 

Kostja runzelte mit gelinder Verwunderung die Stirn. „Was ist? Haben Sie was gegen Bequemlichkeit?“ Die Winkel seines geraden Mundes wanderten leicht nach oben. „Soll ich Ihnen einen neuen Güterzug suchen, hm?“, spöttelte er, doch dieses Mal peitschte Angst Marcs Gemüt zu sehr auf, als dass ihn das provozieren konnte. Dreh dich um und lauf!, dachte er, den Blick noch immer starr auf Kostja gerichtet, während ein Motorengeräusch in einiger Entfernung erklang.

Der Spott auf Kostjas Gesicht verwandelte sich in leichte Besorgnis. „Monsieur Chevallier? Was ist denn?“ Er begann, in einem leichten Bogen auf Marc zuzugehen, der wiederum bemüht war, auszuweichen. Vielleicht hatte er den Namen des Mädchens im Schlaf gemurmelt. Vielleicht hatte dieser italienische Hund das gehört und es ausgenutzt. Was nun?

Woher kommt dieses Motorengeräusch?

Ist das überall?

Das muss der Hall sein-

Lauf doch!

Marc brach aus dem Kreis aus, den er und Kostja zogen, und schnellte an der Straße vorbei, in die der Italiener zuvor hatte einbiegen wollen.
 

Zumindest war das der Plan.
 

Ein Hupen erklang und als Marc reflexhaft in dessen Richtung schaute, leckten Scheinwerferlichter ihm die Augen blind. Mit einem wütenden Laut stolperte er von dem Licht weg und fiel hin, nur um kurz vor sich Bremsen quietschen zu hören. Die Lichter blendeten etwas ab, und er hörte eine Fahrertür klappen.

„Signor! Alles in-e Ordnung-e?!“

Noch ein Italiener?!

Mit einem Fluch ballte Marc eine Hand zur Faust, um den vermutlichen Komplizen Kostjas mit einem kräftigen Schlag zu begrüßen. Allerdings fiel sein Blick auf das Auto, bevor er das tun konnte. Es stand genau im Licht der nächsten Straßenlaterne – und war eindeutig ein typisch britisches Taxi, noch dazu mit einem auf unschuldige Weise sehr normalen Kennzeichen.

„Signor? Sprecken-e Sie Englisch?“, bemühte sich der Fahrer vorsichtig, während er dazu ansetzte, sich zu Marc zu knien – wich dann aber, sich die Hand vor dem Mund schlagend, vor dem zarten Odeur der Obdachlosen zurück, das deren Fesseln an Marc hinterlassen hatten. „Mmpf...“, gab er von sich, als sich auch schon eine Hand schwer auf seine Schulter legte, deren Griff ihn erstarren ließ – eine Zweite schob sich über seinen sowieso schon zugehaltenen Mund. Marc konnte dem armen Mann, einem wohl Mittdreißiger mit ähnlich südländischem Aussehen wie Kostja, im abgeschwächten Licht der Scheinwerfer ansehen, wie jegliche Farbe aus seinen Zügen wich. Dabei hatte er so ein freundliches, ehrliches, ängstliches Gesicht... wie jemand, den das Schicksal gern nach Lust und Laune zwischen den kreativsten Formen von Scheiße umherflipperte, nur um ihm danach einige wirklich schlimme Dinge anzutun. Wie jemand, der im Film Noir ermordet wurde, damit man den Mörder wirklich nicht leiden konnte.

Marc schnellte in die Höhe und hob die Fäuste, bereit den Mann im Schatten hinter dem Taxifahrer anzugreifen – und hielt dann bei der Frage inne, womit er ihn angreifen konnte.
 

„Hallo Sanchez.“, raunte Kostjas Stimme aus den Schatten, ehe Marc eine Antwort darauf gefunden hatte. Die Augen des Fahrers weiteten sich ungläubig. „Mpeppinm?“, fragte er hinter seinem Knebel. „Ganz genau.“, bestätigte Kostja. „Mein französischer Freund und ich hier, wir benötigen ein Taxi. Du kannst uns da doch sicher weiterhelfen, hm?“
 

~~~
 

Jonathan wusste, dass ihm die Nacht nicht gefallen würde, als er das Zimmer betrat. Das lag daran, dass die junge Frau, die zu wecken seine Aufgabe war, gleichzeitig leise sprach und die Augen geschlossen hatte. In solchen Fällen träumte sie meist, und zwar heftig und schön, wie schon zuvor des Öfteren – und das Erwachen in eine Welt hinein, in der der Hauptgegenstand ihrer Träume zerbrochen war, hatte niemals sehr positive Auswirkungen auf sie.

Mit einem Räuspern machte sich der Butler irgendeinem Unsichtbaren bemerkbar, denn die Frau wachte davon nicht auf. Der Unsichtbare blieb allerdings stumm.

„Manuk...“, äußerte Jonathan in den Raum hinein. „Im Namen der hier wohnenden Lady möchte ich Sie ersuchen, dieses Zimmer zu verlassen.“

Der Unsichtbare gab ein leises „Tsk!“ von sich, das zugleich überall im Raum und dicht an Jonathans Ohr zu hängen schien. „Ich habe die Aufgabe, diese Lady zu beaufsichtigen. Schon vergessen?“, raunte es dem Butler ins Ohr, der keine Miene dabei verzog, sondern weiter in den Raum hinein trat, näher an das Bett heran. „Das mag durchaus sein, Sir. Allerdings gilt diese Aufgabe streng genommen nur für den Fall, dass sie den Raum verlässt. Ich bin aber gern bereit, diese Angelegenheit Lady de Lune persönlich vorzutragen, falls Sie-“ „Schon gut. Ich verschwinde schon.“, murrte der Unsichtbare, und Jonathan spürte plötzlich eine Art Schlag in den Rücken, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. „Viel Spaß dann beim Wecken!“, höhnte Manuk von irgendwoher, und die Tür schlug zu.

Auf eine nur ihm eigene, höfliche Weise verärgert, klaubte Jonathan zuerst das Tablett samt Inhalt wieder auf, das neben ihm aufs Bett gefallen war, weil er es in der Hand gehalten hatte. Dann erst hielt er inne, als er der Stille um ihn her gewahr wurde. Er wandte sein Gesicht in Richtung des Blickes, der plötzlich auf seiner Haut zu prickeln schien.
 

Ihre Augen waren groß und dunkel. Meist blickten sie wie die eines kleinen Tieres: Aufmerksam und wach, aber auch etwas einfältig und naiv. Nun aber wichen Schlieren der Verwirrung in ihrem Blick vor einem Ausdruck zur Seite, den er beinahe fürchtete.

„Lady Madeleine, ich-“ „Jonathan?“, unterbrach sie ihn sanft, ehe sie sie blinzelte und sich umsah. „Wo ist Nan-?“ Beim Anblick des Zimmers zerriss die Verwirrung abrupt und sie wachte endgültig auf. Einen Moment schien sie einzufrieren, den Kopf zur Seite gewandt, durchfahren von einer Erkenntnis, die ihr jedes Mal aufs Neue für einen Moment die Fassung völlig raubte. Jonathan setzte dazu an, den Moment zur Flucht zu nutzen, indem er sich schnappte, was auf dem Tablett gelegen hatte, und versuchte, sich zurückzuziehen, doch da hatten sich schon schmale Arme um seinen Nacken gelegt, und vor seinem Gesicht schwebte das mit den großen, dunklen Tieraugen.

„Wo willst du denn hin, Jonathan?“, fuhr es zwischen ihren Lippen hervor wie Wind durch Vorhänge wehte. Wo eben noch Entsetzen geprangt hatte, breitete sich nun ein süßes Lächeln auf schmalen Lippen aus, und der dunkle Blick tat alles, um sich tief in Jonathans Psyche zu bohren.

„Willst du mir nicht... beim Aufwachen behilflich sein?“ „Ich könnte Ihnen Kaffee bringen, Mylady.“, bot der Butler mit ruhiger Stimme an, obwohl er sehr gut verstand, was sie meinte. Sie absichtlich falsch zu interpretieren und ihr auszuweichen, bis diese Phase vorbei war, hatte sich bisher immer als recht effektiv bewiesen. Sie lachte leicht und lehnte ihre Stirn gegen die seine. „Du weißt, was ich meine, Jonathan. Komm... ich bin durstig, tränke mich.“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser, und mit sich schließenden Augen brachte sie ihre Lippen näher an die seinen heran, um ihn zu küssen.
 

Er schob den Hals der Weinflasche gerade vor seine untere Gesichtshälfte, als ihre Lippen die Zwei-Zentimeter-Distanz unterschreiten wollten. Überrascht öffnete sie die Augen und starrte auf das grüne Glas, das sie gerade geküsst hatte. Wieder reagierte Jonathan schnell und gelassen.

„Dies kam mir bereits in den Sinn, Mylady. Darum habe ich Ihnen direkt eine Kleinigkeit mitgebracht. Da Lady de Lune heute mit Jeffrey als Chauffeur außhäusig einigen Verpflichtungen nachgeht, stehe ich Ihnen nach dem Umkleiden auch gerne zur Verfügung, um Sie zu einem Dinner auswärts zu chauffieren.“ Sie hob den Blick wieder zu ihm an, das Gesicht völlig blank, aber den Mund öffnend. Zwar fuhr er ihr nicht über den Mund, aber er kam ihrem nächsten Argument zuvor. „Bei jener Gelegenheit wird sich auch sicher eine geeignete Begleitung für den restlichen Abend finden, der Ihre sonstigen Bedürfnisse hinreichend deckt – besser als meine Wenigkeit es vermutlich vermögen würde.“, fügte er eifrig hinzu, ihr sichtlich den Wind aus den Segeln nehmend. Ihr Blick, nun stärker von Hilflosigkeit geprägt, als ihr auf diese Weise die Kontrolle entglitt, suchte Halt im Zimmer, während sie wieder Luft zum Sprechen holte. Doch Madeleines Butler war wieder schneller als sie. „Mylady, mir ist bewusst, dass ich eine mir von meinem bisherigen Herren hinterlassen Fürsorgepflicht für Sie zu erfüllen habe, und ich bitte Sie mir zu glauben, dass ich diese sehr ernst nehme. Aber ich könnte, mit Verlaub, Ihr Vater sein – während Sie in gewissen Etablissements mit Sicherheit jemanden finden, der Ihre Altersklasse sowie Ihre Interessen stärker teilt - , die Etikette verbietet uns jegliche Interaktion dieser Art und fürderhin übersteigt es in Anbetracht Ihrer Beziehung zu einander meine Vorstellung, dass Duke Côques Selbige bereitwillig mit veranlasste, als er mir den Auftrag überreichte, mich um Sie zu kümmern.“
 

Kleinlaut sank Madeleine etwas von ihm zurück, während er sprach. In ihren Augen konnte er sehr deutlich sehen, wie verletzt sie sich von seiner Abweisung fühlte. Aber zum Einen wusste er, dass dies nicht an ihm, sondern an der Abweisung lag, und zum Anderen empfand er, obwohl sie sich nach Kräften darum bemühte – sie hatte sogar ihre kunstvollste Art angewandt, die Bettdecke Appetit anregend weit und doch geheimnisvoll subtil herunter gleiten zu lassen – in etwa das für sie, was ein gestandener Mann für ein kleines Mädchen fühlte. Nicht gerade passend für einen Liebhaber. Da brach er lieber seine Gewohnheit, nur aufgefordert und wenig zu sprechen, und diente den Rest des Abends als Auffangbecken für ihre schlechte Laune, bis sie etwas Anderes zum Abreagieren gefunden hatte.

Innerlich atmete er erleichtert auf, als sie endgültig von ihm abließ. Ihre schmalen Hände schwebten trotzdem noch ein wenig in der Luft, aufgehalten als hoffte sie, darin Wasser aufzufangen. Er legte ihr die Flasche hinein, richtete sich wieder gerade auf und rückte seine Kleidung wieder zurecht, ehe er einen mitgebrachten Korkenzieher auf die Flasche anwandte und einen Teil deren Inhalts in ein Glas füllte, das er dafür ebenfalls vom Bett aufsammeln musste..

Sie ließ es still geschehen und starrte eine Weile in die rote Flüssigkeit, ehe sie zu ihm aufblickte.

„Nimmst du mich aber wenigstens in den Arm?“, flüsterte sie leise. Der Butler unterdrückte jede Regung, die ihm spontan ins Gesicht zu treten drohte, und setzte sich schräg hinter sie, wohlwissend, dass eine Verweigerung dieser Bitte gewöhnlich nur Konsequenzen hervorrief, die Madeleine gefährdeten. An dem Glas nippend wie ein kleines Mädchen kuschelte sie sich mit geschlossenen Augen an ihn und legte seinen rechten Arm um sich. Während er stoisch auf ihren blassblonden Schopf herab schaute fragte er sich unwillkürlich, ob diese Geste ihm ebenso sehr galt wie der Verführungsversuch zuvor – oder, mit anderen Worten: Ebenso wenig.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück