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Der Geheimniswahrer

von

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Der junge Dieb

Erster Oktobertag, Zahltag für viele der Bürger Frankfurts.

Das Gedränge auf den Straßen war unglaublich. Dicht drängten sich die Menschenmengen aneinander vorbei. Weder nahmen sie Rücksicht auf ihre Mitmenschen, noch machten sie sich darum Sorgen, dass ihre Portemoinees und Taschen für andere leichter als leicht zu erreichen waren.

Das war für mich mehr als günstig. In der Tasche meines schwarzen Pullovers, die mehr Volumen hatte, als man dachte, sammelten sich inzwischen zwei Portemoinees, eine aus Versehen fallen gelassene Banknote und ein Silberkettchen.

Zwar belehrte mich Raoul immer wieder, ich solle meine Hände von diesen kleinkriminellen Sachen wie Taschendiebstahl lassen, doch bei Langeweile vertrieb ich mir gerne die Zeit damit. Die armen Schweine, die sich ihr täglich Brot damit verdienen mussten…

Jetzt hatten Raoul und ich Frankfurt schon seit zwei Monaten nicht mehr verlassen. Das war wirklich eine Ausnahme, denn sonst verließen wir jede Stadt nach höchstens einem wieder.

Vielleicht lag das daran, dass wir in der Stadt eine hervorragende Hehlerin gefunden hatten, die uns selbst die Mona Lisa abgekauft hätte, hätten wir sie gestohlen.

Ja, eine HehlerIN. Es war tatsächlich eine Frau, sogar mit einer Tochter, die ich allerdings nicht näher kannte. Von ihrem Mann lebte sie meines Wissens nach getrennt.

In Gedanken versunken trugen mich meine Füße einfach irgendwohin. Ich hatte massenhaft Zeit, denn Raoul war sowieso nicht zuhause, sondern bei unserer Hehlerin.

Und alleine in der kahlen 2-Zimmer-Wohnung zu sitzen, reizte mich nicht besonders. Dort konnte man nur die Heizkörper klirren hören, wenn die Mieterin unter uns ihre Teppiche daran ausklopfte. Einen Fernseher gab es nicht, nur ein Radio, damit wir auf dem neuesten Stand blieben.

Seufzend ließ ich mich auf einer Mauer nieder, die gerade im Weg stand.

Die warmen Sonnenstrahlen des Oktobers wärmten meine Füße, der Rest meines Körpers befand sich im Schatten. Wo war ich eigentlich? Ich schaute mich um. Dies war eine ruhige Straße inmitten eines Wohngebietes, umringt von grünen Sträuchern, deren Blätter sich aber so langsam gelb und braun färbten.

Gelangweilt legte ich den Kopf auf meinen Handrücken. Wie gerne hätte ich jetzt Sommer gehabt. Aber nein, ich musste zusehen, wie sich der Sommer langsam verabschiedete.
 

Da näherten sich plötzlich Stimmen. Erstaunt sah ich mich zu ihnen um.

Eine Gruppe Jugendlicher in ungefähr meinem Alter näherte sich dem Wohnhaus mir gegenüber. Lachend, diskutierend und debattierend. Sie schienen mich gar nicht zu bemerken.

Ich konnte eine von ihnen erkennen. Überraschender Weise war es Vanja Koch, die Tochter unserer Hehlerin.

Vor dem Wohnhaus trennte sie sich aus der Traube Jugendlicher, ging darauf zu und betrat es.

Stirnrunzelnd überlegte ich: Wieso ist sie in dieses Haus gegangen? Was will sie denn da?

Plötzlich begriff ich. Nach einem weiteren Blick die Straße hinunter stellte ich fest, dass dies hier tatsächlich die Straße war, in der Rebecca Koch, unsere Hehlerin, wohnte.

Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn. Raoul hätte mir die Ohren lang gezogen. Irgendwo sein und nicht mal im Entferntesten merken, wo man sich wirklich befindet. Das nennt man ein einmaliges Orientierungsvermögen.

Ich stand auf und bewegte mich auf das Wohnhaus der Kochs zu. Wenn ich schon mal hier war, konnte ich auch gleich mit rein. Raoul hatte mit Sicherheit nichts dagegen.

Ich drückte die Schelle mit dem Namen >Koch< und schon nach wenigen Sekunden wurde mir geöffnet.

Mit schnellen Schritten erklomm ich die Treppe, die sich endlos bis ins 8. Stockwerk zog.

Als ich oben an der Wohnungstür ankam, stand Vanja im Türrahmen und stellte augenbrauenhochziehend fest: „Ach, du bist es… Daniel, stimmt’s?“

„David“, verbesserte ich sie.

„Na, ist doch das Gleiche! Jetzt komm schon rein, mein Gott!“

Ich betrat die Wohnung, Vanja schloss die Tür wieder. Das Weib konnte sich ja nicht mal meinen Namen merken.

„Inzwischen müsstest du ja wissen, wo’s lang geht“, sagte sie.

Ich erwiderte: „Stell dir vor, weiß ich auch!“

Mit gemilderter Laune ging ich durch den Flur und das Wohnzimmer ins Esszimmer, in dem Raoul und Rebecca fast immer ihre Verträge abschlossen.

Auch dieses Mal saßen sie dort am Tisch und waren in ein Gespräch vertieft.

Raoul, ungefähr 40 Jahre alt, mit schwarzen zeigefingerlangen Haaren und seinen pechschwarzen Augen, die eine etwas asiatische Form hatten, saß mit dem Rücken zu mir. Seine Gesprächspartnerin Rebecca sah mich schon im Türrahmen stehen.

Sie verdrehte die hellblauen Augen, als sie mich sah. „Hallo, David.“ Eine gewisse Gutmütigkeit lag in ihrer Stimme.

Auch Raoul drehte sich nun überrascht zu mir um. „Was machst du denn hier?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Bin nur aus Zufall in die Gegend gekommen.“

Raoul blickte Rebecca fragend an. Diese schlug schnell vor: „Nimm dir ein Glas und setz dich hin, wenn du schon mal hier bist.“

Ich nickte und angelte mir ein Glas aus dem Küchenschrank. Hier kannte ich mich schon ziemlich gut aus. Am Tisch setzte ich mich neben Raoul und goss mir etwas von dem Zeug ein, das in einer blutroten Flasche auf dem Tisch stand. Keine Ahnung, was das war, es schmeckte auf jeden Fall eigenartig.

Rebecca stand auf, um die Esszimmertür zu schließen, und setzte sich dann wieder. „Wo waren wir gerade?“

Raoul erinnerte sie: „Wir waren bei der Ming-Vase.“

„Ach ja.“ Rebecca spielte mit ihrem Armband aus purem Gold. Manchmal fragte ich mich, warum sie mit Vanja noch in so einer durchschnittlichen Wohnung in einem Reihenhochhaus wohnte. Sie musste doch Geld wie Heu haben. „Eine halbe Million würde schon herausspringen.“

Raoul weitete irritiert die Augen. „Nur eine halbe Million? Ich habe an das doppelte gedacht.“

„Bringt mir die Vase, dann überlege ich es mir. Ich muss sie selbst sehen“, forderte Rebecca in ihrer Weise hart.

Ich kannte meine Mutter zwar nicht, doch ungefähr so wie Rebecca hatte ich sie mir immer als kleines Kind vorgestellt. Da hatte ich noch im Waisenhaus gelebt, aus dem Raoul mich mit 5 Jahren geholt hatte. Seitdem war er wie ein bester Freund für mich.

Raoul ist ein Dieb von unfassbarem Talent, noch nie wurde er erwischt. Außer ein Freund ist er für mich also auch noch mein Vorbild und Lehrer. Natürlich lehrte er mir das Handwerk des Diebes, sodass ich irgendwann einmal sein Erbe antreten und sein Nachfolger werden konnte.

„Ein Dieb ist kein Mensch“, pflegte Raoul immer zu sagen. Nie habe ich verstanden, was er damit eigentlich sagen wollte.

„David?“, fragte plötzlich jemand.

Ich schrak auf. Raoul wedelte ungeduldig mit der Hand vor meinem Gesicht herum. War ich so in Gedanken versunken gewesen?

„Hast du gehört?“

„Wie? Nein…“, antwortete ich.

Raoul seufzte. „Ich hab dich gefragt, ob du die Vase morgen herbringen kannst. Ich bin nämlich wegen einem Termin nicht in der Stadt.“

Ich nickte schnell. „Jaja, klar. Kann ich machen.“

Rebecca nickte zufrieden.

Gerade wollte Raoul etwas sagen, da schnellte ihre Hand in die Höhe, was wohl bedeuten sollte, dass wir ruhig sein sollten.

Auf leisen Sohlen schlich Rebecca zur Esszimmertür. Mit einem plötzlichen Ruck zog sie die Tür auf und – ihre Tochter fiel ihr fast in den Arm.

Sie schien gerade noch an der Tür gelauscht zu haben und schaute jetzt beschämt von einem zum andern. „Ähm… Häppchen?“

Verärgert runzelte Rebecca die Stirn. „Nein, ich möchte viel lieber wissen, warum du uns belauschst!“ Den letzten Teil schrie sie ihrer Tochter fast ins Gesicht.

„Äh…“, machte Vanja ertappt. „Ich habe ja gar nicht…“

„Natürlich hast du, und jetzt rede dich nicht raus“, schrie Rebecca stocksauer. Sie mochte es wohl überhaupt nicht, bei ihren >Geschäften< gestört zu werden.

Soviel ich gehört hatte, wusste Vanja nichts vom nicht sehr ehrenhaften Job ihrer Mutter.

Vanja schluckte und schrie dann zurück: „Du erzählst mir ja nie was! Und ich will auch wissen, wieso die dauernd hier sind!“

Es war nicht schwer zu verstehen, dass sie Raoul und mich meinte.

Tränen füllten ihre Augen. „Aber du verstehst das einfach nicht!“ Tief gekränkt und heulend rannte Vanja aus dem Raum. Wir hörten nur noch das heftige Zuschlagen einer Tür, bei dem ich leicht zusammenzuckte.

Als sich Rebecca wieder an den Tisch setzte, bekam sie von Raoul einen eisigen Blick ab.

„Was soll dieser Blick?“, fragte sie deshalb. „Soll ich ihr etwa die Wahrheit sagen?“

Raoul legte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Das kann natürlich nicht ich bestimmen, aber ich würde sie nicht im Ungewissen lassen. Ich kann sie schon verstehen, wenn sie etwas erfahren möchte.“

„Ich bitte dich!“, erwiderte Rebecca zweifelnd. „Was soll ich ihr denn bitteschön erzählen?“

„Solange wir aus dem Schneider bleiben, kannst du alles erzählen“, meinte Raoul mit einem Seitenblick auf mich.

Rebecca seufzte tief. „Nein, das kann ich nicht. Unmöglich…“

Daraufhin zuckte Raoul nur mit einer Schulter und schaute mich bedeutungsvoll an.

„Wir werden dann wohl mal gehen“, erklärte er und stand auf. Ich tat es ihm nach.

Rebecca nickte schweren Herzens. Sie dachte wohl immer noch daran, was sie ihrer Tochter sagen sollte.

Mit nachdenklicher Miene führte sie uns zur Wohnungstür und wir verabschiedeten uns. Für einen Moment glaubte ich, den blonden Haarschopf von Vanja aus einer Tür hervorgucken zu sehen.
 

Eine halbe Stunde später waren Raoul und ich wieder in der kleinen Wohnung in einem entfernt liegenden Stadtteil, die wir nur sehr spärlich eingerichtet hatten.

Es war eine wirklich durchschnittliche Wohnung, mit der kleinen Ausnahme, dass unter den Laminatdielen in der Küche einige Wertgegenstände, Diebesgut natürlich, die wir noch nicht los geworden waren, gelagert waren.

Dazu gehörte auch die unheimliche kostbare Ming-Vase, von der Raoul und Rebecca gesprochen hatten.

Während Raoul sich einen Kaffee machte, leerte ich meine Taschen auf dem Tisch aus.

Kritisch beäugte Raoul die Gegenstände, als ich das Geld in einem der Portemoinees zählte. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass…“

„Jaja, schon gut“, unterbrach ich ihn augenverdrehend. „Ich weiß schon. Ich soll aufhören mit diesem lächerlichen Kleinkram.“

Raoul nickte. „Ganz genau. Und warum machst du es dann nicht? Gib schon zu, das machst du nur, um mich zu ärgern!“

Ich schüttelte gelkränkt den Kopf. „Nein, wieso denkst du das?“

„Mit deinen 17 Jahren müsstest du wenigstens ein bisschen vernünftiger sein“, erwiderte Raoul seufzend und ließ sich mit seiner Kaffeetasse am Tisch nieder. „Und trotzdem erinnerst du mich noch an den kleinen Jungen, der mir früher gesagt hat, dass er mich cool findet.“

Als ich nichts erwiderte, setzte er hinzu: „Mit so einer Vorstellung von einem Dieb kannst du auf keinen Fall mein Nachfolger werden.“

Ich schwieg. Seine Worte wollte ich gar nicht gerne hören, sie taten weh. Es war doch gar nicht so. Oder? Ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch als ein genau so guter Dieb zu werden wie Raoul, deshalb wollte ich seine Worte nicht hören.

Mit Sicherheit hatte er Recht, dass ich noch eine Menge zu lernen hatte, doch schlecht war ich wirklich nicht. Durch die 12 Jahre mit Raoul hatte ich viel Erfahrung und Praxis gesammelt, ich kannte Raoul und seine Arbeit so gut wie ein Kind seine Mutter.

„Hast du überhaupt zugehört?“, brummte Raoul.

Ich nickte kaum sichtbar und zählte das Geld nun zum vierten Mal. Es waren 220 € und 43 Cent, das änderte sich auch dieses Mal nicht.

Ja, man merkt schon, ich war normalerweise nicht besonders gesprächig.

„Wieso bist du morgen eigentlich nicht in der Stadt?“, fragte ich da.

„Ich bin sehr wohl in der Stadt“, antwortete Raoul lächelnd. „Das habe ich nur gesagt, weil Rebecca ja auch nicht alles wissen muss.“

„Warum? Was machst du denn?“, fragte ich neugierig weiter.

Raoul nahm noch einen Schluck Kaffee. „Morgen Nacht werde ich dem Haus der Stella Baretta mal einen Besuch abstatten. Und du hast ja bestimmt nicht vor, die Ming-Vase am Tag durch Frankfurt zu schleppen.“

Erstaunt erwiderte ich: „Stella Baretta? Wer ist denn das?“

„Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, was gestern im Radio kam?“, fragte Raoul. „Stella Baretta ist die unheimlich reiche italienische Opernsängerin, die gestern in ihren zweiten Wohnsitz hier in Frankfurt gezogen ist. Das ist also eine einmalige Chance.“

Verärgert verzog ich das Gesicht. „Warum kann ich nicht mit?“

„Du hast doch gehört, Rebecca will die Vase so schnell wie möglich sehen“, erklärte Raoul ungeduldig. „Und die Million wollen wir uns doch wohl nicht einfach so durch die Finger gehen lassen! Also muss ja einer ihr die Vase bringen.“

Trotzig wandte ich meinen Blick von Raoul ab. Na toll, wie immer musste ich die Drecksarbeit machen, das war ja mal wieder typisch.

„Ja, klar. Und das muss ich natürlich machen!“, empörte ich mich deshalb. „Das ist doch unfair! Aber es ist ja niemand anderes da, der genau so blöd ist wie ich und sich dauernd herumkommandieren lässt!“

Meine Stimme war beim letzten Satz ziemlich laut geworden.

„Trotzkopf“, murmelte Raoul nur und schob mir seinen Kaffee über den Tisch zu, dann verließ er den Raum.

Frustriert griff ich nach der noch halb vollen Kaffeetasse und trank sie in einem Zug aus. Das Leben war doch einfach unfair.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Schon 18 Uhr. Seufzend stellte ich die Tasse wieder auf den Tisch, stand auf und schaute nach Raoul.

Dieser saß im Wohnzimmer und studierte die gestrige Zeitung. Aus der Augenhöhle konnte ich die Schlagzeile erkennen. >Unbekannter Seriendieb bringt Polizei weiterhin zum Verzweifeln – Hilfe aus Chicago im Anflug<.

Langsam betrat ich das Wohnzimmer ebenfalls und setzte mich ihm gegenüber auf einen Holzhocker. Eine Couch besaßen wir nicht für die kurze Zeit, die wir hier waren.

Es war still, man hörte nur das Umschlagen der Seiten. Ich holte tief Luft. „Tut mir Leid, Raoul.“

Er schaute auf, legte seine Zeitung beiseite und blickte mir direkt ins Gesicht. In seinen tiefschwarzen Augen spiegelte ich mich. „Wie? Ich hab dich nicht richtig verstanden.“

„Tut mir Leid“, wiederholte ich leise, obwohl ich genau wusste, dass er es auch beim ersten Mal verstanden hatte.

„Ich hab’s immer noch nicht richtig verstanden“, sagte Raoul und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Sag’s noch mal!“

Nun musste auch ich grinsen, sprang auf und drückte ihn auf den weichen Teppichboden. „Klar hast du’s verstanden!“

Lachend stemmte Raoul mich von ihm herunter, richtete sich wieder auf und erwiderte: „Ich will’s aber noch mal hören!“

„Tut mir Leid, tut mir Leid, tut mir Leid“, rief ich, als er anfing, mich auf den Boden zu drücken. Obwohl ich genau so groß wie Raoul war, war er um einiges stärker.

Es gab kaum etwas schöneres, als sich zu versöhnen.
 

Schon um Mitternacht lag Raoul in seinem Bett im Schlafzimmer, während ich noch wach und in Straßenkleidung auf der Bettkante meines Bettes saß, dass im Wohnzimmer Platz gefunden hatte. Es war eigentlich kein richtiges Bett, eher eine Art Feldbett.

Ich konnte einfach nicht schlafen. Die Autos draußen auf der Straße warfen weiße und rote Lichtstreifen an die Wand gegenüber.

Mit einem tiefen Seufzer machte ich ein paar Schritte zum Fenster, schaute hinaus, seufzte wieder, ging wieder zurück zum Bett und setzte mich wieder.

Die Heizung klirrte, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass die alte Frau von unten um diese Zeit ihre Teppiche ausklopfte.

Als ich schon dachte, gleich vor Langweile einzudösen, kam mir ein Gedanke. Er war vielleicht ein bisschen verrückt und ein wenig riskant, doch ich fand ihn gar nicht so übel.

Leise schlich ich am Schlafzimmer vorbei, in die Küche, wo ich nachdenklich die Stelle betrachtete, an der unter den Dielen die Ming-Vase lag.

Ich wusste ganz genau, dass ich etwas Verbotenes vorhatte, doch was war schon nicht verboten? Alles war verboten!

Also bückte ich mich und räumte vorsichtig und ohne einen Mucks zu machen, die Dielen zur Seite. Darunter konnte ich nun trotz der Dunkelheit um mich herum den Hohlraum sehen, in dem das Paket mit der Ming-Vase schlummerte.

Ohne zu überlegen fischte ich das Paket heraus, klemmte es mir unter den Arm und schloss den Hohlraum wieder.

Das Paket hatte ungefähr die Maße eines durchschnittlichen Rucksacks, deshalb war es nicht schwer, es zu transportieren.

Streng darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu machen, verließ ich die Wohnung und das Wohnhaus.

Draußen atmete ich erstmal erleichtert aus. Die Nachtluft war kühl, klar und erfrischend, was mich erst richtig anspornte. Weißer Nebel bildete sich vor Mund und Nase.

Ich rannte zum nächsten Taxistand, der nicht weit entfernt war, und stieg in eine der Taxen.

Der grauhaarige, miesgelaunte Taxifahrer fragte mürrisch: „Wohin soll’s gehen, junger Mann?“

„Zur Heinrich-Frenske-Straße“, antwortete ich atemlos. Das war die Hauptstraße, von der die Straße der Kochs abzweigte.

Der Taxifahrer nickte kurz angebunden und startete den Wagen.

Das Taxi raste quer durch Frankfurt, die beleuchteten Straßen waren trotz der späten Stunde immer noch befahren.

Wenn es nicht stockdunkel gewesen wäre, hätte man auch denken können, es sei Tag.

Ein wenig beklommen hockte ich hinten auf dem Rücksitz und starrte aus dem Fenster. Die bunten Farben draußen zogen verschleierte Linien auf der Scheibe und machten mich auf die Dauer ganz verrückt. Deshalb wandte ich den Blick schnell ab.

Meine Hände umklammerten immer noch das Paket. War es richtig gewesen, einfach ohne Raouls Wissen loszuziehen? Was brachte mir das? Vielleicht wollte ich ihm auch einfach nur beweisen, dass ich auch sehr gut ohne seine Befehle konnte. Aber musste ich ihm das wirklich beweisen? Ich wusste es nicht, ich wusste gar nichts…

Wenn ich das Paket nun schon ablieferte, hatte Raoul wenigstens keine Ausrede mehr, weshalb ich nicht mit zum Haus der Stella Baretta durfte.

Puuh… War es im Wagen so heiß oder kam es mir nur so vor? Schwitzend fuhr ich mir mit der Hand am Haaransatz entlang. Meine Stirn war voll mit kaltem Schweiß.
 

Das Taxi hielt nur wenige Minuten später in der Heinrich-Frenske-Straße am Straßenrand. Ich stieg aus und bezahlte den mürrischen Fahrer mit dem Geld aus einem der gestohlenen Portemoinees. Als ich den Preis auf dem kleinen Bildschirm über dem Autoradio sah, fiel ich fast aus allen Wolken. Da hatte der Typ doch bestimmt dran rumgedreht…

Sauer und abgezockt ließ ich das Taxi abbrausen, dann machte ich mich auf den Weg in die Nebenstraße, in der die Kochs wohnten.

Meine Armbanduhr zeigte 1 Uhr 45, als ich vor der Tür des Reihenhochhauses stand. Konnte ich um diese Zeit einfach schellen oder sollte ich mir anders Zutritt zu der Wohnung verschaffen?

Ich entschied mich dann doch lieber für die erste Variante und drückte zaghaft auf den Klingelknopf.

Beim Warten auf das Summen der Tür merkte ich, wie sich meine Füße langsam in ein Paar Eisklötze verwandelte. Obwohl der Herbst erst angefangen hatte, begann schon der Winter.

Ungeduldig trippelte ich von einem Fuß auf den anderen. Wollte Rebecca mich zur Eisfigur mutieren lassen?

Ich wiederholte mein Klingeln.

Nun bereute ich es, keine Winterjacke zu besitzen, denn mein schwarzer Kapuzenpullover schützte mich nicht mal annähernd vor der eisigen Kälte, die nun immer deutlicher wurde.

Noch einmal drückte ich den Klingelknopf.

Vorhin war es mir noch gar nicht so kalt vorgekommen…

Ich hörte, dass jemand irgendwo ein Fenster öffnete, und sah nach oben. Das war doch das Fenster der Koch-Wohung… Laute Musik schallte hinunter. Nun war sie aus.

Das sah schwer danach aus, als ob nur Vanja zu Hause war. Ich stellte mich so auf den Rasen, dass man mich aus dem achten Stock sehen musste, und rief hoch: „Vanja? Ich bin’s!“

Aus dem offenen Fenster acht Stockwerke über mir reckte sich der Kopf eines 16-jährigen Mädchens, meine Theorie war so gut wie bestätigt.

„Wer? Daniel?“

„Nein! David!“, schrie ich zurück. Was hatte die nur für ein schlechtes Gedächtnis? „Ich muss zu deiner Mutter!“

„Die ist mit Freunden weg“, antwortete Vanja. Ein Gespräch mit diesem Höhenunterschied war wirklich anstrengend…

„Egal, ich will nur was bringen“, erwiderte ich laut. Mit Sicherheit war schon die halbe Nachbarschaft aufgeweckt.

Daraufhin erwiderte Vanja nichts mehr, ihr Kopf verschwand aber vom Fenster.

Schnell rannte ich zurück zur Tür, an der auch schon nach einigen Sekunden der Summer ertönte.

Erleichtert drückte ich sie auf, betrat den Hausflur und stieg die Treppen bis zur Wohnung hinauf.

Oben wurde ich nicht gerade herzlich empfangen. Vanja öffnete die Tür und zog mich gleich am Arm hinein.

Als die Wohnungstür geschlossen war, zischte sie: „Die halbe Nachbarschaft wird hier antanzen, wenn die noch ein Wort hören.“

„Kein Grund zum Aufregen“, tat ich das ab. Dann deutete ich auf das Paket. „Wo soll ich das abstellen?“

„Kein Plan“, entgegnete Vanja achselzuckend. „Vielleicht im Wohnzimmer… Was ist denn das?“

„Unwichtig“, antwortete ich schnell.

Einen kurzen Moment herrschte Stille.

„Sag schon, was ist da drin?“, fragte Vanja neugierig in Anbetracht des Pakets.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Geht dich nichts an.“

Das war der falsche Satz gewesen. Sofort wurde Vanja ungehalten. „NIE geht mich etwas was an! Inzwischen weiß ich ja, dass meiner Mutter egal ist, ob ich überhaupt noch was erfahre, aber ich dachte, wenigstens du wärst anders…“

>Trotzkopf<, wollte ich eigentlich sagen, aber verkniff es mir. Das hätte jetzt wohl nicht weitergeholfen. Stattdessen schwieg ich.

Mir war gar nicht bewusst, dass wir die ganze Zeit schon im Dunkeln standen, doch Vanja bemerkte es endlich und schaltete das Licht an.

Erst jetzt konnte ich sie richtig erkennen. Sie trug Schlafkleidung – ein ausgewaschenes T-Shirt und eine graue Schlafanzughose – und ihr Gesicht sah müde aus. Sie hatte wohl ebenfalls noch nicht schlafen können.

„Wo soll ich das hinstellen?“, fragte ich hastig, bevor sie mich noch weiter mit ihren Sorgen konfrontieren konnte.

„Gib her“, raunzte sie mich an, nahm es mir aus den Händen und platzierte es auf einer Kommode.

„Kannst du’s deiner Mum geben, wenn sie zurück ist?“

Vanja nickte zur Antwort und schaute mich an.

Es war nicht schwer, zu erraten, was sie gerade dachte.

„Und nicht reingucken, das sieht man später an der Verpackung“, warnte ich sie deshalb.

„Hab ich gar nicht vor“, nuschelte Vanja verlegen.

Seufzend drehte ich mich auf dem Absatz um. „Na, dann geh ich mal wieder. Sag deiner Mutter, es ist von Raoul, dann weiß sie schon, was drin ist.“

Ob Raoul noch schlief? Mit Sicherheit schon, doch ich wollte es nicht drauf ankommen lassen, und ihn entdecken lassen, dass ich verschwunden war.

Erst morgen wollte ich die Bombe platzen lassen und ihm erzählen, dass ich das Paket bereits ausgeliefert hatte.

Als ich schon an der Tür stand und die Hand auf der Klinke liegen hatte, packte mich auf einmal eine zierliche Hand von hinten an der Schulter.

Erstaunt drehte ich mich um.

„Bitte bleib noch ein bisschen“, sagte Vanja und schaute mir bittend in die Augen.

„W-warum?“, fragte ich irritiert.

Sie blickte beschämt zum Boden. „Es ist so … einsam hier alleine.“ Dann bemerkte sie, wie schwach sich das anhörte. „Ich meine natürlich, es ist so langweilig“, verbesserte sie sich deshalb schnell. Ihr Gesicht wurde krebsrot. „Aaalso… ich meine…“

„Schon gut“, unterbrach ich ihr herumgestammel, sonst hätte sie sich wahrscheinlich vor Scham noch aufgehangen. „Ich kann ja noch ein bisschen hier bleiben… Aber lange kann ich wirklich nicht mehr.“

Raoul würde auch nicht in den paar Minuten aufwachen, die ich noch hier verbrachte, wenn er bis jetzt friedlich geschlummert hatte.

Strahlend blickte Vanja mich an. „Oh! Danke!“ Das Rot verschwand langsam wieder aus ihrem Gesicht. „Das ist … nett!“

Ich lächelte leicht, obwohl es meinerseits keinen Grund gab, sich zu freuen.



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