Zum Inhalt der Seite

Lebensschuld

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

10. Kapitel

Lynn verstaute ihr Portemonnaie in ihrer Handtasche, während sie den Antiquitätenladen verließ. Eigentlich war sie nur in die Innenstadt gefahren, um bei der Postzentrale vorbeizuschauen, aber als sie die Fensterscheibe des Ladens passiert und die dort ausgestellten Stücke bemerkt hatte, war sie sofort stehengeblieben. Der Geburtstag ihrer Mutter stand bevor und als diese hübsche Keramikfigur Lynn ins Auge gefallen war, die wunderbar in die Sammlung ihrer Mutter passte, war die Entscheidung sofort gefallen. Lynn würde sowieso in den nächsten Tagen und möglicherweise sogar Wochen wenig Zeit haben, um intensiv nach einem Geschenk zu suchen, sodass sie diese Fügung des Schicksals nicht ungenutzt hatte lassen wollen.

Als sie am Zeitungsstand vorbeikam, registrierte sie sofort die Titelseite auf dem Lokalblatt. Der plötzliche Feueralarm und das mysteriöse Desaster im Saal hatten viele auf den Plan gerufen und einige Reporter zu recht wagemutigen Theorien verleitet. Man rätselte fieberhaft, was wirklich in den Räumlichkeiten geschehen war. Die Vermutung, dass es sich um einen Dämonenangriff gehandelt hatte, hatte jedoch bisher noch niemand geäußert.

Lynn war auch überaus froh darüber. Das Ganze hatte schon mehr als genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Hohe Rat hatte sich sofort eingeschaltet und dem Fall große Dringlichkeit zugesprochen. Es wurde sogar bereits diskutiert, ob noch weitere Reyshar zur Untersuchung und Lösung abgerufen werden sollten. Normalerweise war der Rat eigentlich nicht dafür zuständig, den Reyshar Aufträge zu geben, aber diesen speziellen Fall sahen sie wohl als Ausnahme an. Im Grunde auch nicht weiter verwunderlich. Übergriffe durch Dämonen waren zwar keine ausgesprochene Seltenheit, aber zumindest passierte es nicht gerade häufig, dass sich ein ganzes Rudel in ihrer Welt einfand und für Ärger sorgte.

Und wenn Lynn ehrlich zu sich war, hätte sie auf diese Erfahrung auch ruhig verzichten können.
 

Gedankenverloren kramte sie in ihrer Handtasche herum, auf der Suche nach ihrem Handy. Sie hatte Morris noch anrufen und ihm Bescheid geben wollen, dass sie am nächsten Tag vorbeikommen und in McCallans Privatangelegenheiten herumwühlen würde. Innerlich freute sie sich schon irgendwie darauf, auch wenn es wahrscheinlich die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein würde.

Die Verfolgung der Trehrim hatte zumindest nichts gebracht, Quinn hatte ihre Spur nicht mehr aufnehmen können. Gerade bis zur nächsten Straßenecke war er gekommen, aber dann hatten sich die Hinweise förmlich in Luft aufgelöst. Quinn hatte zwar noch über eine Stunde intensiv gesucht, aber keinen Anhaltspunkt mehr gefunden.

So blieb ihnen eigentlich kaum eine andere Wahl, als McCallans Kontakte durchzugehen und zu hoffen, dass sie vielleicht Glück hatten. Sie hätten zwar noch die gefangenen Trehrim befragen können, doch nach Quinns Aussage wäre das völlig sinnlos gewesen. Es handelte sich bei ihnen im Grunde um Tiere, die mithilfe bestimmter Laute miteinander kommunizierten. Sie waren nicht dafür geschaffen, direkte Fragen zu beantworten.

Als Lynn mit ihrem Schuh einen Abfalleimer streifte, sog sie scharf die Luft ein. Sie hatte ihre zerkratzten Füße zwar mit einer speziellen Salbe eingerieben und ordentlich verbunden, dennoch schmerzten sie immer noch ein wenig. Das nächste Mal, so hatte sie sich geschworen, würde sie auf jeden Fall kampfgeeignete Schuhe anziehen, selbst wenn diese nicht so recht zu einem Cocktailkleid passten.
 

„Lynn Bennett?“

Überrascht hielt sie inne und drehte sich herum. Direkt hinter ihr stand ein Mann im langen Mantel, der sie mit ernster Miene musterte. Sein dunkles Haar war lang und ungekämmt, während sein Gesicht einen stoppeligen Drei-Tage-Bart trug. Allgemein machte er einen überaus heruntergekommenen Eindruck. Sein Mantel wirkte ein paar Nummern zu groß und auch seine Sonnenbrille schien nicht richtig zu sitzen und ihm wieder von der Nase zu rutschen.

Im ersten Moment glaubte Lynn, sich einem Obdachlosen gegenüberzusehen, doch irgendetwas an dem Mann machte sie stutzig. Er erweckte einfach nicht den Anschein, als würde er auf Parkbänken schlafen und um Geld betteln. Vielmehr schien er zumindest ansatzweise stolz und autoritär. Als hätte es irgendwann mal eine Zeit gegeben, an dem sein Wort bei anderen sehr viel Gewicht gehabt hatte.

„Sie kennen meinen Namen?“, fragte Lynn interessiert. Sie fühlte Spuren von Magie an ihm, konnte sie aber nicht recht zuordnen. Ein Mensch schien er wenigstens nicht zu sein, dafür war seine Aura viel zu intensiv. Doch was er genau war, vermochte Lynn nicht auf Anhieb zu sagen.

„Du bist größer, als ich gedacht hätte“, sagte er leicht lächelnd, während er sie ausgiebig musterte. Sein Lächeln wirkte ehrlich und frei von jedweden Hintergedanken, aber trotzdem erschauerte Lynn unwillkürlich. Irgendwie war dieser Kerl seltsam.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie in einem etwas kühlen Ton. Sie sah darüber hinweg, ihn weiterhin zu siezen, da er offensichtlich keinerlei Wert darauf legte.

„Ich bin Sen-Ghun“, stellte er sich vor. Er deutete sogar eine leichte Verbeugung an, die durch sein schiefes Grinsen aber irgendwie an Ernsthaftigkeit verlor. Vielmehr hatte Lynn das Gefühl, er mache sich über die lustig. „In den Tiefen meines Herzens wünsche ich mir sehr, dass du schon einmal von mir gehört hast, auch wenn mein Verstand mir sagt, dass diese Hoffnung dumm und vergebens ist.“

Lynn runzelte ihre Stirn. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Ihre Gedanken wanderten automatisch zu ihrem Dolch. Sen-Ghun erschien zwar auf den ersten Blick harmlos, aber vom Äußeren hatte sich Lynn noch niemals trügen lassen. Dieser Mann hatte etwas an sich, dass sie unruhig machte. Aber gleichzeitig schien es auf seltsame Art und Weise auch irgendwie vertraut. Als wäre sie ihm schon mal begegnet.

Fieberhaft überlegte sie, ob sie ihn vielleicht tatsächlich einst getroffen hatte, aber durch die wilden langen Haare, den Bart und die übergroße Sonnenbrille war sein Gesicht nur schwer auszumachen.
 

„Du weißt also nicht, wer ich bin“, stellte er sachlich fest. Er seufzte auf, wirkte aber weniger frustriert als vielmehr enttäuscht. „Ich hatte wirklich gehofft, er hätte dir von mir erzählt. Aber andererseits kann ich es ihm nicht verübeln.“

„Von wem sprichst du?“, fragte Lynn verwirrt.

„Quinn“, meinte Sen-Ghun leichthin. „Von wem denn sonst?“

Lynn wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie war noch niemanden begegnet, der Quinn nicht über sie selbst kannte. Außerhalb ihres Wirkungskreises war dieser Dämon wie ein Geist für sie.

„Du kennst ihn?“, hakte sie ungläubig nach.

Sen-Ghun betrachtete sie eine Weile argwöhnisch, dann aber lachte er auf. „Er hat dir wohl nicht sonderlich viel erzählt, nicht wahr? Tja, Dämonen sind von Natur aus ziemlich geheimniskrämerisch. Wir behalten unseren Kram lieber für uns.“

„Ja, das ist mir auch schon auf-“ Sie hielt mitten im Satz inne und starrte ihr Gegenüber schockiert an. „Wie meinst du das: Wir?“

Sen-Ghun schmunzelte und zog kurz seine Sonnenbrille hinunter, sodass Lynn einen Blick auf seine rotschimmernden Augen werfen konnte. Entsetzt schnappte sie nach Luft, während ihr Körper geradezu zu Eis gefror.

Ein Dämon!

Lynn fühlte sich wie gelähmt. Abgesehen von Quinn und natürlich den Trehrim war sie noch nie mit einem anderen Dämon zusammengetroffen. Begegnungen mit diesen Wesen verliefen des Öfteren nicht besonders erfreulich. Manchmal waren sie sogar richtiggehend gefährlich, wie man schon allein bei dem Übergriff durch die Trehrim bestens sehen konnte.

Lynn gab sich keinen Illusionen hin. Dämonen waren Geschöpfe, für die nichts wichtiger war als ihr eigener Vorteil. Auch Quinn machte da keine Ausnahme. Hätte Lynn ihm damals nicht das Leben gerettet, wäre ihr erstes Zusammentreffen wahrscheinlich auch nicht allzu rosig ausgefallen.

Man konnte Dämonen zwar nicht als gewissenlose und kaltherzige Monster bezeichnen, wie die Menschen es gerne taten, aber dennoch war es weise, ihnen zu misstrauen und ihnen nicht auf offener Straße freudestrahlend die Hand zu reichen. Es gab zwar Hexen und andere magische Kreaturen, die engere Beziehungen mit Dämonen unterhielten – sogar Liebesbeziehungen –, aber dies waren eher Einzelfälle und konnten nicht auf die breite Masse projiziert werden.
 

Bevor Lynns Hand zu ihrem Dolch schnellen konnte, hatte Sen-Ghun sie bereits am Arm gepackt. Die Bewegung war kaum zu erkennen gewesen, der Dämon hatte wie ein geölter Blitz gehandelt. Sein Griff erwies sich als stark und bestimmend, aber keinesfalls schmerzhaft. Offenbar war er sehr bemüht, ihr nicht wehzutun.

„Sieh bitte keinen Feind in mir“, sagte er. In seiner Stimme klang sogar tatsächlich ein Flehen mit, von dem Lynn sich nicht sicher war, ob es ernst gemeint oder bloß geheuchelt war. „Ich will dir nichts Böses. Ist Quinns Abwesenheit nicht Beweis genug dafür?“

„Wie bitte?“ Lynn versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, merkte aber schnell, dass dies relativ sinnlos war. Sen-Ghun verfügte über eine enorme Kraft, die man ihm äußerlich gar nicht ansah.

„Seine Schuld bindet ihn.“ Der Dämon zog sie ein Stücker näher zu sich. Der Geruch von Schlamm und Gras stieg Lynn daraufhin in die Nase. „Er hat eine Verpflichtung, die er nicht einfach brechen kann. Und du bist seine süße Prinzessin, sein kleiner Schatz.“

Lynn runzelte die Stirn. War aus seiner Stimme etwa Eifersucht herauszuhören?

„Er folgt dir zwar nicht vierundzwanzig Stunden am Tag, aber er hat Vorkehrungen getroffen“, fuhr Sen-Ghun fort. „Ein alter Schutzzauber. Eine Art Sicherheitssystem, das ihm sofort mitteilt, wenn du in Gefahr bist, selbst wenn er sich selbst Tausende Kilometer entfernt befinden sollte. Binnen weniger Sekunden wäre er hier – ein weiterer netter Vorteil dieses Zaubers.“ Er schwieg einen Moment. „Aber er ist nicht hier, wie du siehst. Demnach kann ich zweifelsohne nicht die Bedrohung sein, für die du mich hältst.“

Lynn gab ihm zwar ungern Recht, doch ihr fielen keine Gegenargumente ein. Quinn wäre sicherlich sofort zur Stelle gewesen, hätte sie in Gefahr geschwebt. So war es bisher immer gewesen.
 

Sie wollte etwas sagen, verstummte jedoch, als ihr Blick auf Sen-Ghuns Hand fiel. Im ersten Moment glaubte sie, diese wäre einfach nur dreckig, dann aber erkannte sie, dass es sich um schwarze Linien handelte, die seine Haut verzierten. Eine Tätowierung, die Quinns auf erschreckende Weise sehr ähnlich sah.

Hörbar schnappte sie nach Luft. „Deine … Hand.“

Sen-Ghun musterte die Tätowierung mit einem undefinierbaren Blick. „Frag lieber nicht“, sagte er kopfschüttelnd. „Wir reden alle nicht gerne darüber. Quinn sicher auch, nicht wahr?“

Lynn konnte sich nicht dazu durchringen, bestätigend zu nicken. Stattdessen starrte sie auf das Mal an seiner Hand und wusste nicht, was sie denken sollte. In welcher Beziehung stand er zu Quinn? Wie kam es, dass sie beide die gleiche Tätowierung hatten? War es vielleicht irgendein Erkennungszeichen oder gar eine Art Clansymbol? Oder steckte womöglich viel mehr hinter dem Ganzen?

Schließlich blickte Lynn wieder auf und bemerkte, dass Sen-Ghun seine Sonnenbrille abgesetzt hatte. Seine Augen funkelten im hellen Licht der Sonne wie Diamanten.

Lynn fuhr der Schock durch sämtliche Glieder, als ihr bewusst wurde, wieso ihr dieser Anblick dermaßen bekannt war. Woran sie seine Augen erinnerten. Weswegen ihr Sen-Ghun allgemein so vertraut erschien, als würde sie ihn schon lange kennen.

„Bist du etwa … mit Quinn verwandt?“, fragte sie nach. Nicht nur seine Augen ließen es vermuten, sondern auch seine Gesichtskonturen. Selbst sein Lächeln ähnelte dem von Quinn sehr.

Sen-Ghun schmunzelte. „Schön, dass dir die Familienähnlichkeit auffällt. Aber wenn es nach Quinn geht, ist sein großer Bruder schon vor langer Zeit gestorben. Er würde wahrscheinlich ausrasten, wenn er wüsste, dass ich gerade mit dir rede.“
 

Lynn zuckte zusammen. Quinns … Bruder?

Im ersten Moment wollte sie dies nicht glauben, es als Lüge abstempeln und Sen-Ghun für seine Dreistigkeit anschreien. Aber jeglicher Protest blieb ihr im Halse stecken. Fakt war immerhin, dass sie im Grunde rein gar nichts von Quinn wusste. Jegliche Fragen nach Familie hatte er stets abgeblockt. Lynn hatte damals angenommen, er wäre völlig allein auf der Welt und wollte nicht gern über seine Verluste reden, sodass sie ihn nie großartig gedrängt hatte. Sie hat sogar Mitleid für ihn empfunden, obwohl sie gar nicht gewusst hatte, ob dieses Gefühl überhaupt angebracht gewesen war.

Nun aber merkte sie, dass ihr Mitgefühl offenbar fehl am Platz gewesen war. Stattdessen wirbelten ihre Emotionen wild durcheinander und ließen sie erzittern. Sie spürte Wut auf Quinn, dass er ihr niemals von seinem Bruder erzählt hatte. Aber gleichzeitig machte es sie traurig, dass er ihr anscheinend nicht genug Vertrauen entgegenbrachte, dass er selbst seine Familie vor ihr verheimlichte.

„Quinn redet nicht gern über die Vergangenheit.“ Sen-Ghun klang beinahe so, als würde er sich für das Verhalten seines Bruders entschuldigen. „Dinge sind geschehen, Leben wurden zerstört und am Ende hat er mich gehasst. Er hasst mich bis zum heutigen Tage und hat mich wahrscheinlich nur noch nicht umgebracht, weil es ihm sein Gewissen verbietet.“

Lynn starrte den Dämon einfach nur an. Er wirkte gefasst, fast schon neutral, aber dennoch strahlte er eine Traurigkeit aus, die Lynn erschütterte. Sie spürte, wie sich unweigerlich Tränen ihren Weg nach draußen bahnten. Als hätte sich Sen-Ghuns Kummer mit ihrem eigenen vermischt, sodass Lynn diese Gefühlslast einfach nicht mehr hatte ertragen können.

„Du bist ein gutes Mädchen“, sagte er, als er eine einzelne Träne ihre Wange herunterrinnen sah. „Kein Wunder, dass er alles gibt, um dich zu beschützen.“ Er schwieg einen Moment, schien ebenfalls mit seinen Empfindungen zu ringen. „Und ich will ihn beschützen, auch wenn er selbst keinen großen Wert darauf legt. Meinetwegen kann er mich auch gerne töten, inzwischen ist es mir eh einerlei. Aber vorher muss er unbedingt etwas wissen. Würdest du ihm eine Nachricht von mir übermitteln?“

Erwartungsvoll sah er sie an. Lynn zögerte einen Augenblick, nickte aber schließlich.

„Sag ihm, dass Hunter eine heiße Spur hat“, meinte Sen-Ghun. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis er Quinn gefunden hat.“

Lynn runzelte die Stirn. Hunter? Irgendwie kam ihr dieser Name bekannt vor.

Sen-Ghun derweil lächelte traurig und löste seinen Griff um Lynns Arm. „Es war wirklich sehr nett, dich kennen zu lernen, auch wenn wir uns wahrscheinlich niemals wiedersehen werden. Leb wohl, Quinns Prinzessin.“

Mit diesen Worten drehte er einfach um und ging davon. Lynn wollte ihm hinterher stürmen und ihn mit tausend Fragen bedrängen, doch ihr Körper rührte sich nicht. Stattdessen stand sie wie zur Statue erstarrt und schaute ihm hinterher, wie er langsam aus ihrem Blickfeld verschwand.
 

* * *
 

„Ich habe Hunger“, begrüßte Nathan seine Schwester wenig herzlich, als sie gerade die Wohnungstür hinter sich schloss und die Einkaufstasche gedankenverloren unter der Garderobe zu Boden gleiten ließ.

Wie betäubt hatte sie ihren Weg zurück nach Hause gefunden. Hundert Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen, sie hatte sich verwirrt und auch ein wenig verraten gefühlt. Ständig hatte sie Sen-Ghun und sein trauriges Lächeln vor ihrem inneren Auge gesehen und sich dutzende Male gefragt, wieso Quinn ihr nie etwas von seinem Bruder erzählt hatte. Was war wohl zwischen den beiden vorgefallen?

„Hörst du mir überhaupt zu?“ Nathan zupfte ungeduldig an ihren Jeans herum. „Ich. Habe. Hunger. Und zwar ganz gewaltigen.“

„Was erwartest du von mir?“, zischte Lynn. Ihr Tonfall war bissiger als beabsichtigt, aber einen nervigen Bruder konnte sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen. „Soll ich etwa was für dich kochen? Du bist ein Affe, Nate. Schnapp dir ein Stück Obst und verzieh dich.“

Nathan verzog seine Lippen. „Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein kleiner Affenmagen kein Fünf-Gänge-Menü vertragen kann. Und darum geht es mir auch bestimmt nicht. Es ist nur …“

Er verstummte und sah zu Boden. Lynn wurde plötzlich bewusst, worin das eigentliche Problem lag. Es befand sich noch genug Obst und Gemüse im Haus, um eine ganze Armee von Affen für mindestens eine Woche zu ernähren. Aber vor gut zwei Wochen hatte Lynn sich genötigt gesehen, einen neuen Kühlschrank zu kaufen, den Nathan jedoch zu seiner Schande ohne fremde Hilfe nicht allein aufmachen konnte. Lynn hatte ihm zwar versprochen, irgendeine Art Vorrichtung für ihn zu entwerfen, damit er nicht immer auf jemand anderen angewiesen war, doch bisher war sie noch nicht dazu gekommen.

„Du bist ein Hexer, Nathan“, erinnerte ihn Lynn. „Benutz Magie, um den Kühlschrank zu öffnen. Ist das denn so schwer?“

Der kleine Affe setzte eine Unschuldsmiene auf, die sich gewaschen hatte und selbst den härtesten Felsbrocken zum Schmelzen gebracht hätte. „Ich bin so ausgezehrt …“

Seufzend trat sie in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ihr Bruder streckte augenblicklich seine kleinen Ärmchen hinein und schnappte sich zwei Birnen, die er dankbar an seine Brust drückte.

„Ist Quinn etwa nicht da?“, fragte Lynn, während Nathan zum Sofa sprang und es sich auf seinem Lieblingsplatz gemütlich machte.

„Doch“, erwiderte er. „Er ist draußen auf der Terrasse. Aber bis eben war er noch am schlafen und ich wollte ihn nicht wecken. Es ist bestimmt nicht gut, einen Dämon aus dem Schlaf zu reißen. Du kannst dir das erlauben, immerhin darf er dich nicht umbringen, aber ich persönlich besitze dieses Privileg leider nicht.“

Nathan grinste schief und erwartete wohl, dass sie lachte, doch Lynn war gar nicht danach zumute. Stattdessen sah sie ihm zu, wie er gierig seine Birnen verspeiste, und fragte sich, was wohl geschehen musste, dass man seinen eigenen Bruder hasste. Lynn zumindest konnte es sich nicht mal im Entferntesten vorstellen. Nathan mochte sie zwar oft genug nerven und ihre Geduld überstrapazieren, aber dennoch liebte sie ihn. Vielleicht sogar mehr als irgendjemand sonst auf der Welt.
 

Einen Augenblick betrachtete sie noch ihren Bruder, dann wandte sie sich um und betrat die Terrasse. Kühle Luft schlug ihr entgegen, sodass sie automatisch die Arme um ihren Oberkörper schlang. Ende September war nicht gerade die beste Zeit, um sich länger draußen aufzuhalten.

Quinn lag mitten auf dem Rasen, sein Gesicht zum Himmel gerichtet. Schon immer hatte er es sich in dieser Art und Weise in Lynns Garten gemütlich gemacht. Selbst im Winter ließ er es sich nicht nehmen, selbst wenn er dabei fast völlig im Schnee versank. Es war eine merkwürdige Angewohnheit von ihm, die Lynn nie so recht verstanden hatte.

„Hi, Prinzessin“, sagte er zur Begrüßung. Er bewegte sich keinen Zentimeter, war aber allem Anschein nach nicht mehr am schlafen. „Heute haben die Wolken interessante Formen. Eben habe ich sogar einen Atompilz gesehen.“

„Quinn …“

„Na gut, vielleicht war es auch nur ein vollkommen normaler Pilz“, lenkte er ein. „Ist ja im Grunde auch egal. Wolkenformen liegen eh im Auge des Betrachters.“

Lynn öffnete ihren Mund, schloss ihn aber kurz darauf wieder. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, wutentbrannt auf ihn einzustürmen und ihn in eine Ecke zu drängen, damit ihm bewusst wurde, wie sehr seine Geheimniskrämerei sie eigentlich belastete. Schon immer war es ihr schwergefallen, Quinns Wortkargheit zu akzeptieren, aber sie hatte es vermieden, es ihm gegenüber zu erwähnen. Stets hatte sie sich aufs Neue eingeredet, dass sie seine Privatangelegenheiten im Grunde nichts angingen. Dass sie es einfach dabei belassen und es vergessen sollte.

All die Jahre hatte diese Einstellung auch einigermaßen gut funktioniert, aber mit dem plötzlichen Auftauchen von Sen-Ghun war alles irgendwie in sich zusammengebrochen. Mit einem Mal war ihr vor Augen geführt worden, wie wenig sie eigentlich von Quinn wusste. Wie wenig er sie an seinem Leben teilhaben ließ. Lynn kannte ihn zwar inzwischen seit zwanzig Jahren, aber im Grunde war er immer noch ein Fremder für sie.

Eine bittere Erkenntnis, die mehr schmerzte, als es Lynn je für möglich gehalten hätte.
 

„Ich habe jemanden in der Stadt getroffen“, meinte sie schließlich, sehr um Fassung bemüht.

Quinn schien ihre Anspannung sofort zu registrieren. Er rappelte sich auf und musterte sie besorgt. „Wen?“

Sein durchdringender Blick bohrte sich wie Nadeln in ihre Haut. Einen Moment zögerte sie, wollte einfach umdrehen und wieder ins Haus zurückgehen. Dann aber riss sie sich zusammen und sagte: „Sen-Ghun.“

Quinn zuckte bei dem Namen zusammen, als wäre er geschlagen worden. Eine ganze Weile starrte er Lynn geschockt an, ehe er aufsprang und vor sie trat. „Sen?“, fragte er nach, seine Stimme zittrig. Offenbar war er kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Er hat … mit dir geredet? Dich angesprochen? Dich …?“

Lynn wich einen Schritt zurück und zwang sich selbst zu einem harten Gesichtsausdruck. „Er taucht einfach aus heiterem Himmel auf und erzählt mir, dass er dein Bruder ist.“ Einen Augenblick wartete sie gespannt auf Quinns Reaktion, aber er war anscheinend viel zu sehr damit beschäftigt, seine aufschäumenden Gefühle unter Kontrolle zu halten, um ihr überhaupt richtig zuzuhören. „Dein Bruder, Quinn! Kannst du dir vorstellen, wie entsetzt ich war? Kannst du dir auch nur im Entferntesten vorstellen, wie …“

Aber er ließ sie nicht ausreden. Wortlos wandte er sich von ihr ab und marschierte ins Haus zurück. Lynn verharrte einen Moment ungläubig, bevor sie ihm hinterherlief.

„Lass mich doch nicht einfach da stehen!“, rief sie ihm verärgert nach. Er durchquerte gerade das Wohnzimmer und ging direkt auf die Vordertür zu. Lynn selbst schien er überhaupt nicht wahrzunehmen.

Diese stieß einen Fluch aus und stürzte ihm hinterher. Gerade als er nach der Türklinke greifen wollte, packte Lynn seinen Arm und zwang ihn, sich umzudrehen. Seine Miene war wutverzerrt, seine Augen leuchteten rot, wie das für Dämonen typisch war, die sich in Aufregung befanden.
 

„Rede mit mir!“, verlangte Lynn. „Du kannst doch nicht einfach abhauen. Was hat das alles zu bedeuten? Und warum, zur Hölle, hast du mir nie von ihm erzählt?“

Quinn wich ihrem Blick aus. Offenbar befürchtete er, dass der Zorn auf seinen Bruder verrauchte, wenn er in ihre Augen sah. „Manche Geschichten bleiben besser unerwähnt“, meinte er, während er mit den Zähnen knirschte.

„Aber …“ Lynn wollte ihm sagen, wie sehr sie seine Heimlichtuerei verletzte, aber sie schaffte es nicht, die richtigen Worte über die Lippen zu bekommen. Quinn war momentan sowieso in keinem geeigneten Zustand, um eine vernünftige Diskussion zu führen.

„Du willst zu ihm, nicht wahr?“, meinte sie stattdessen. „Was hast du vor? Willst du ihn etwa umbringen, weil er gewagt hat, sich mir zu nähern?“

Quinn schnaubte, während er sich aus ihrem Griff losriss. „Es gibt genügend andere Gründe, weswegen er den Tod verdient hätte“, sagte er unerbittlich. „Hab kein Mitleid mit ihm, das wäre pure Verschwendung. Wenn du wüsstest …“

Er brach mitten im Satz ab und senkte seinen Blick. Für einen Moment glaubte Lynn, dass er seine überstürzte Flucht noch einmal überdenken würde, aber schließlich öffnete er die Tür und trat hinaus. Er rannte los, woraufhin sein Körper erst zu verschwimmen und letztlich zu verschwinden schien. Dämonen bewegten sich in Geschwindigkeiten, von denen Hexen wie Lynn nur träumen konnten.
 

„Was war denn los?“ Nathan kam vorsichtig in den Flur, in seinem Maul noch ein Stück Birne, auf dem er gemächlich herumkaute. „Habt ihr euch gefetzt?“

Lynn schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sie spürte einen dicken Knoten im Hals, während sie die Straße hinabblickte. Was mochte Quinn nur vorhaben? Wollte er bloß seine Aggressionen abbauen und ein wenig durch die Gegend laufen oder war er tatsächlich auf den Weg zu seinem Bruder? Und wenn ja, was würde er dann tun? Würde er wirklich soweit gehen, wie es Sen-Ghun mit seinem traurigen Lächeln vermutet hatte?

Plötzlich spürte sie ein Gewicht auf ihrer Schulter. Flink, wie es Affen nun einmal waren, hatte Nathan den Garderobenständer erklommen und war hinüber zu seiner Schwester gehüpft. Lynn fühlte, wie er ihr mit seiner kleinen Hand sanft über die Wange strich.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Danke, Nate“, flüsterte sie.

Dieser schnaubte bloß. „Nimm es nicht zu persönlich. Ich kann es nur nicht leiden, wenn Frauen traurig sind.“ Er fuhr ihr zärtlich übers Haar. „Und was auch immer dieser Mistkerl von Dämon zu dir gesagt hat, vergiss es einfach! Männer sind allesamt Idioten.“

Lynn lachte kurz auf. „Auch du?“

Nathan wiegte sein Köpfchen hin und her. „Na ja, ich bin vielleicht die glorreiche Ausnahme. Und selbstverständlich auch Clint Eastwood. Der Kerl ist ein Gott.“

Lynn erinnerte sich, wie sich Nathan schon damals als Kind auf diese Weise verhalten hatte. Er hatte sie zwar unentwegt geärgert und schier zur Weißglut gebracht, aber war sie traurig und deprimiert gewesen, hatte er sie sofort in den Arm genommen und sie getröstet. Ihr immer wieder deutlich gemacht, dass sie nicht allein auf der Welt war.

Lynn hob ihre Hand und streichelte ihm liebevoll über das Fell. Es war selten, dass er sich wie ein Haustier kraulen ließ, sodass sie die Chance auch gleich nutzte.

Dennoch wanderten ihre Gedanken sofort wieder Quinn zurück. Sie sah seine düstere Miene vor sich, sah den unterdrückten Zorn in seinen Augen. Alter Hass und Schmerz waren zum Vorschein gekommen.

Was auch immer in Vergangenheit geschehen sein mochte, es hatte Quinn tief verletzt.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  SamAzo
2009-09-12T23:33:36+00:00 13.09.2009 01:33
Yay, ich hatte recht damit das es sich um jemanden handelt den Quinn kennt. Wuuza! Und sogar mit der Vermutung das es ein näherer Verwandter is.. Mei und das trotz der Uhrzeit und Kopfschmerzen.
Mehr über Quinn is eh mal sehr interessant!
Auch wenn du einem immer nur Bröckchen hinwirfst und dann leiden lässt..
Mal sehen ob Lynn ihm das mit Hunter sagen kann, bevor der ihn findet.

Und Nathan is ja mal knuffig.. Sie hat einen tollen Bruder!


Zurück