Primavera erwacht
Die Tür ist nur angelehnt. Kein Geräusch dringt zu mir heraus. Nur ein schmaler Lichtschein fällt durch den Spalt auf meine schmutzigen Fellstiefel. Das Innenfutter ist noch feucht und verklebt. Ich schäme mich ein wenig, doch der Zeitpunkt ist unpassend um über die Kleiderordnung zu grübeln. Auf Zehenspitzen betrete ich das Zimmer meiner schlafenden Schwester.
Die rosa Vorhänge ihres Himmelbettes sind ganz zugezogen, doch können sie das Licht in ihrem Innern nicht zurück halten. Es ist noch zu schwach um mich zu blenden, aber stark genug um den fensterlosen Raum in zarte Farben zu tauchen. Das gestickte Blumenmuster auf dem Stoff wirft seine Schatten auf den weichen Teppich, die beim kleinsten Windhauch tanzen. Hier kann ich deutlich entferntes Vogelgezwitscher und das Plätschern eines Baches hören. Wäre meine Nase nicht von einem hartnäckigen Schnupfen verschlossen, wäre sie mit Sicherheit erfüllt von Blumendüften. Doch ich bin zu müde um darüber nachzudenken, welche Frühblüher ihre Knospen bereits geöffnet haben mögen. Heute ist der 26. März und die Sonne geht gerade auf. Es wird Zeit, dass ihre Strahlen die Erde und die Herzen der Menschen erwärmen.
Hinter dem Vorhang bemerke ich plötzlich eine Bewegung, erst langsam und zaghaft, dann entschlossen und voller Tatendrang. Meine Schwester erwacht. Sie schiebt den Stoff auseinander und lächelt über das ganze Gesicht als sie mich sieht. Ich muss wohl sehr erschöpft aussehen. Meine zerrissenen Kleider haben eine graue Färbung bekommen und an einigen Stellen unansehnliche Flecken. Mein Haar ist vom Wind zerzaust und stumpf. Es war eine lange Schicht diesmal.
Leichtfüßig schwebt Primavera zu mir herüber. Ihre Augen sind blau wie der wolkenlose Himmel und strahlen einem Sommertag gleich. Die Berührung ihrer Finger an meiner kalten Wange gleicht einem warmen Windhauch.
„Du hast mich wieder einmal länger schlafen lassen als mir zusteht, mein lieber Bruder.“
„Wie ich sehe, war es jede Minute Wert. Du siehst zauberhaft aus.“
„Verno, du ahnst auch, dass ich die Anfangszeit nicht ganz durchstehen werde...“
Ich liebe ihren fragenden Blick und den entschuldigenden Ton in diesem Satz, den ich bei jedem Schichtwechsel höre.
„Mit dem größten Vergnügen werde ich dich zwischendurch ein oder zwei Mal ablösen. Wir wollen sie nur nicht in Sicherheit wiegen.“
Meine Schwester reflektiert das verschmitzte Grinsen auf meinen Lippen. Dann begleitet sie mich zu meiner Ruhestätte.
„Ich freue mich schon so sehr auf die bevor stehenden Arbeiten.“
„Nimm dir nur nicht wieder zu viel auf einmal vor.“
„Keine Sorge, lieber Bruder, ich werde dich rechtzeitig um Hilfe bitten.“
Ihre Umarmung zum Abschied ist herzlich, aber kurz.
Die Aufgaben, die sie erwarten sind vielseitig und anstrengend. Aber Primavera wird sie mit all ihrer Liebe und Hingabe erfüllen, wenn sie auch kleine Atempausen braucht.
Ich sehe ihr nach. Ihr farbenprächtiges Gewand leuchtet in der Sonne, die mit jeder Minute stärker zu werden scheint.
Als ich mich in mein eisblaues Gemach zurückziehe, stelle ich erleichtert fest, dass es genau ihre Zeit ist.
Frühling ist erwacht.