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Scar Tissue

von

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Prolog

Scar Tissue
 

Prolog
 

Jahre vergehen.

Das Kind, das in uns fortlebt

kann nicht vergessen.
 

Erin hatte sich wieder einmal auf der Toilette versteckt, die Knie fest an die Brust gezogen und starrte mit ängstlicher Besessenheit auf den Türschlitz in der atemlosen Erwartung, die verräterischen Schatten ihrer Peiniger darüber huschen zu sehen. Sie atmete ganz flach und war mucksmäuschenstill. Still sein konnte sie besser als jeder andere. Vielleicht war still sein das Einzige, das sie beherrschte. Erin konnte sogar still weinen. Lautlos kullerten die heißen Tränen über ihre Wangen und hinterließen salzige Spuren auf ihren weichen, geröteten Wangen. Kein Schluchzen entwich ihrer Kehle, kein Wimmern, kein Klagen. Erin war es gewöhnt, von ihren Mitschülern gedemütigt zu werden, hatte gelernt, damit umzugehen, ausgestoßen zu werden, weil sie anders war. Dabei war sie nicht einmal ein Sonderling, weil sie es wollte. Sie selbst hatte sich nicht ihrer Stimmbänder entledigt und auch nicht aus Trotz oder Rebellion beschlossen, kein Wort mehr zu sprechen. Sie war unvollkommen auf die Welt gekommen und nun musste sie dafür büßen.
 

Deshalb war der Grund für ihre Tränen heute nicht, dass zwei ihrer Klassenkameradinnen ihr Kleid zerrissen und es mit gemeinen Sprüchen beschmiert hatten, während ein größerer Junge sie festgehalten und an eine Wand gedrückt hatte. An den blonden Haaren hatte er sie so kraftvoll gezogen, dass ihr aus Reflex Tränen in die Augenwinkel geschossen waren. Und doch nahm sie es hin und ließ es über sich ergehen. Ganz einfach weil es viel Schlimmeres gab. Schlimmeres, das sie weinen ließ. Sie würde gehen, gemeinsam mit Mommy dieser Stadt den Rücken kehren. Schon übermorgen. Daddy würde ihr nichts mehr tun können, wenn sie mit Mommy erst einmal von hier verschwand. Eigentlich hatte Erin immer geglaubt, dass sie an jenem Tag, an dem die täglichen Demütigungen ein Ende finden würden, lachen würde, dass sie strahlen und lächeln würde wie nie zuvor. Aber sie weinte so heftig, dass ihr kleiner Körper bebte und zitterte. Die Arme, die sich krampfhaft an ihre Knie klammerten, waren übersät von Striemen und blauen Flecken, nach denen niemand mehr fragte. Jeder, ihre Lehrer und ihre Mitschüler, wussten, dass ihrem Daddy ab und an einmal die Hand ausrutschte. Es gehörte nicht zum guten Ton, unangenehme Fragen zu stellen oder sich selbst möglicherweise in eine brenzlige Situation zu bringen, indem man Hilfe anbot. Zumindest nicht hier in Grahamsville. Obwohl es einer Erlösung gleichkommen musste, dass sie mit Mommy ihre Sachen packen und weit, weit wegfahren würde, ganz weit weg von Daddy und seinen Launen, fürchtete sich Erin sehr davor. Sie hatte keine Freunde, die sie hier hielten, keine Familie – zumindest nicht im gleichen Sinne wie ihre Mitschüler –, nichts an diesem Ort hätte sie zum Bleiben bewegen können. Bis auf Danny.
 

Genau deshalb durfte sie ihn heute nicht sehen, musste ihm um jeden Preis aus dem Weg gehen, musste ohne Abschied zu nehmen gehen. Der bloße Gedanke zerriss Erin das Herz, war Danny doch der Einzige gewesen, der so etwas wie ihr Freund geworden war, der sich die Mühe gemacht hatte, ein bisschen Gebärdensprache zu lernen, um sie verstehen zu können. Der Einzige neben Mommy, der sie überhaupt verstehen und hören wollte, obwohl sie kein Wort sprechen konnte. Der Einzige, der wusste wie es war, wenn Daddy durchdrehte und all seinen Ärger am eigenen Kind ausließ. Die Tränen rannen in schnellerer Abfolge über ihre Wangen als wären sie angetrieben von ihrer Verzweiflung. Danny war auch ein Sonderling an der Junior High, der fast noch schlimmer gehänselt wurde als Erin selbst. Er war zwei Klassen über ihr, aber schon einmal sitzen geblieben und wurde nicht nur deswegen von den anderen schikaniert, wann immer sich nur die Gelegenheit bot. Dabei hatte er die Klasse nicht wiederholen müssen, weil er dumm war. Nein, dumm war er nicht, ihr einziger Freund. Viel eher zu klug, um sich um die Schulpflicht zu scheren. Wenn Erin nun einfach gehen würde, würde es niemanden mehr geben, der Danny zur Seite stehen würde, der nachfühlen konnte wie es war, allein und ungeliebt zu sein.
 

Erin hatte Angst davor, Danny zurückzulassen, hatte Angst, dass ihm etwas zustieß, wenn sie nicht mehr da war. Wie gern hätte sie ihm wenigstens erklärt, warum sie gehen musste, aber selbst wenn sie des Sprechens fähig gewesen wäre, hätte es nicht die richtigen Abschiedsworte gegeben. Kein Schatten regte sich unter der Türschwelle, der Raum war genauso still wie Erin selbst. Langsam und zögerlich wagte sie es, ihre angeschlagenen Knie durchzudrücken und ihre Füße auf den gefliesten Boden der Mädchentoilette zu setzen. Was für einen Sinn hatte es noch, dass sie heute in die Schule gegangen war, wenn Mommy sie doch in zwei Stunden abholen würde? Erin befand, dass sie sich nicht mehr die Blöße geben musste, am Unterricht teilzunehmen, und hielt es für besser, sich vom Schulgelände zu schleichen und sich so lange zu verstecken, bis Mommy mit dem weinroten Auto vorfuhr. So riskierte sie auch nicht, Danny über den Weg zu laufen. Lautlos entriegelte sie die Tür der Toilette und schob sich hindurch, nur um von ihrem eigenen Spiegelbild bespöttelt zu werden. Ihr Kleid, das von fröhlichem Sonnengelb gewesen war, war zerfetzt und verdreckt. Mit schwarzen und roten Stiften hatten sie Sprüche wie ‚So dumm wie stumm’ darauf gekritzelt, auch vor ihrem Gesicht hatten sie nicht Halt gemacht, wenngleich ihre Tränen dafür gesorgt hatten, dass die Worte nicht länger lesbar waren, mit denen sie sie hatten brandmarken wollen. In schwarzen Schlieren lief die dunkle Tinte über ihre Haut und sammelte sich an ihrem runden Kinn, um von dort hinabzutropfen. Sie sah ein bisschen so aus als hätte sie sich zu stark geschminkt und im Anschluss daran versucht, das Make-up mit bloßem Wasser abzuwaschen. Erin sah aus wie ein schlechter Zirkusclown und wie ein tragischer noch dazu, weil ihr das Lachen längst vergangen war. Sie drehte den Wasserhahn auf, der daraufhin ratternd das Wasser aus der Leitung saugte, mit dem sich das Mädchen Hände und Gesicht wusch. Um alle Farbrückstände loszuwerden, hätte es einer Bürste und stärkerer Seife bedurft. So rieb Erin vergeblich über ihre Wangen und ihre Stirn, bis die Haut ganz gerötet war. Die Farbe jedoch blieb hartnäckig haften. Erins Hände zitterten wegen des eiskalten Wassers und glichen in ihrer Röte ihrem Gesicht. Ihre Beine schmerzten. Die Wadenmuskeln flatterten mit jedem Schritt, drohten einen Krampf an, der letztlich doch nicht erfolgte. Zu lange hatte sie in dieser unnatürlichen Haltung auf dem Toilettendeckel gehockt, als dass sich ihre Beinmuskulatur wieder schnell genug an normale Bewegungsabläufe gewöhnen konnte.
 

Die abgerissene Schnalle ihres linken Schuhs schlug mit jedem Schritt, den sie tat, rhythmisch auf die Fliesen. Erin wischte sich die Nase am Ärmel ihres Kleides ab. Obgleich sie sich gewaschen hatte, liefen Tränen noch immer unermüdlich über ihr Gesicht, die in ihren graublauen Augen mit den wunden, roten Rändern brannten. Das kleine Mädchen schlich sich hinaus auf den Flur, der durch die hohen, runden Fenster vom Sonnenlicht durchflutet wurde. Aus den Klassenzimmern drangen gedämpft Stimmen und obwohl Erin wusste, dass die Stunde längst noch nicht vorüber war, klopfte ihr Herz heftig in der Erwartung, dass in jedem Moment die Türen aufgerissen werden würden und sie dabei ertappt wurde, wie sie den Unterricht schwänzte. Auf leisen Sohlen schritt sie den Flur hinab, setzte einen Fuß vor den anderen und bog letztlich in den Gang ein, der nach links und zum Haupteingang führte. Ihr Schatten fiel schräg hinter ihr auf die Fliesen und folgte ihren hastiger werdenden Schritten. „Erin?“, hallte plötzlich ein Ruf hinter ihr an den nackten hohen Wänden entlang, der sie kurz stehen bleiben, aber gleich darauf noch schneller laufen ließ.
 

Es war Dannys Stimme gewesen, die sie gehört hatte, und die ihr Herz noch schneller pochen ließ. Sie hatte nicht gewollt, dass er sie so sah, denn das machte ihn immer furchtbar wütend und stiftete ihn dazu an, sich mit den Jungs aus ihrer Klasse zu prügeln. Sie wollte nicht, dass er Ärger bekam, aber noch weniger wollte sie, dass er sie hier sah. Erin, die sich daran gewöhnt hatte, unscheinbar und leicht zu übersehen zu sein, schien er nie aus den Augen zu verlieren. Vielleicht war es ihr beider Schicksal als Ausgestoßene, das sie so aneinander band und ein fast intuitives Gespür füreinander entwickeln ließ. Vielleicht war es aber auch nur Zufall gewesen, dass er sie auf dem Gang erspäht hatte. Daran konnte Erin jedoch nicht wirklich glauben.
 

„Erin!“, rief er erneut, und diesmal lauter. Sie hörte seine eiligen Schritte auf den bloßen Steinfliesen, die ein gleichmäßiges Karo aus roten und gelben Platten bildeten, und verfiel fast in einen Laufschritt. Sie widerstand dem heftigen Drang, sich ihm zuzuwenden, ihn anzusehen. Sie wusste, dass, wenn sie es tat, schwach werden und nicht mehr mit Mommy gehen können würde. Dass Danny sie irgendwie überreden würde, zu bleiben, dass er ihr versprechen würde, auf sie aufzupassen. Mommy würde böse auf sie sein, wenn sie sich dazu hinreißen ließ, Mommy würde weinen und dann würde Erin weinen und dann...dann wäre Erin wieder daran schuld, dass alles schief ging. Die Tränen liefen schneller, das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, die Beine wurden ihr schwer wie Blei. „Erin, warte doch mal!“, rief er, „Erin...Erin!“, er holte auf. Das hörte sie nicht nur an seinen schnellen, kraftvollen Tritten, die aus immer näherer Entfernung an sie heran drangen, sondern auch an seiner Stimme, die immer deutlicher und lauter zu hören war mit jedem Meter, den er zu ihr aufschloss. Danny klang verärgert. Er hatte nicht sonderlich viel Geduld und pflegte recht schnell wütend zu werden und die Kontrolle über sich zu verlieren. Er hatte Erin niemals wehgetan, wenngleich sie sich manchmal nicht sicher gewesen war, ob er es vielleicht nicht anders beabsichtigt hatte. Umso heftiger zuckte sie zusammen, als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte, die sie kraftvoll zurückhielt. Hätte sie schreien können, hätte sie es getan. Nicht aus Angst, vielmehr aus tiefem Kummer, den sie nun nicht länger verbergen konnte. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und ging strauchelnd zu Boden, schlug sich die Knie auf den rauen Steinplatten auf. Dannys Hand ließ hastig von ihr ab und aus den Augenwinkeln sah sie, wie er neben ihr in die Hocke ging. „Entschuldige, ich...E...Erin...“, überschlugen sich beinahe seine Worte, während er mit zitternden Händen über ihre blutenden Knie strich, „Warum bist du auch nicht stehen geblieben, als ich dich gerufen hab?“, überspielte er seine eigene Unsicherheit mit einem Vorwurf. Das Mädchen wagte es immer noch nicht, ihn anzuschauen, sondern verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen.
 

„Erin...Erin!“, wann immer er ihren Namen mit Nachdruck aussprach, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Seine Stimme hatte dann immer etwas Kaltes, etwas Dunkles an sich. „Jetzt sieh mich doch mal an!“, forderte er und umfasste mit seinen Händen, an denen ihr Blut klebte, die ihren, um sie von ihrem Gesicht wegzuziehen. Aus tränenverschleierten Augen sah sie zu ihm auf, schaute in sein Gesicht, die mit Sommersprossen übersäte Nase und Wangen, in die dunklen Augen, die fast beunruhigend schwarz waren, wenn kein Sonnenlicht sie berührte. Manchmal waren diese Augen beängstigend leer, manchmal sprach aus ihnen nichts anderes als seine Einsamkeit und seine Angst, die sich unglaublich schnell in Wut wandelte. Jetzt aber suchten sie fragend in Erins Augen nach dem Beweggrund ihrer Tränen, sein Blick glitt über ihr Gesicht und suchte in der verwischten Tinte nach weiteren Hinweisen. „Wer hat dir das angetan?“, fragte er und seine Stimme, die noch sehr hell und kindlich war, hatte einen so kühlen Unterton angenommen, dass Erin innerlich fröstelte. Sie schüttelte den Kopf und blinzelte mühsam ihre Tränen weg. „Wer hat dir das angetan?“, wiederholte er, „Eric Barlow, der Hurensohn? Oder war es Jimmy Mitchell und seine Bande aus Schlappschwänzen, die sich so überlegen fühlen, wenn sie ein Mädchen schikanieren, das drei Jahre jünger ist als sie?!“, sein Gesicht hatte sich verhärmt, regelrecht zur Faust geballt waren seine Züge, ebenso seine Hände, die vor wachsender Rage zu zittern begonnen hatten. Erin schniefte, schüttelte nachdrücklich den Kopf und legte die Hände auf seine Fäuste. Die sanfte Berührung genügte schon, um die heftige Anspannung in seinen Händen ein wenig zu lösen. Sie deutete auf sich und formte dann mit der rechten Hand erst ein o, gefolgt von einem k. „Du siehst aber nicht so aus als ob du wirklich ok wärst“, stellte Danny leise und mit hörbarer Anspannung in der Stimme fest, ehe er willkürlich zwei lose Stofffetzen ergriff, die einst zu Erins Kleid gehört hatten, nun aber nur noch durch einen dünnen Faden am Kleid gehalten wurden. Als er einige der Sprüche las, die die anderen auf ihr Kleid geschmiert hatten, kochte die Wut sichtlich in ihm hoch. Seine relativ blassen Züge gewannen an Farbe, bis sie glühend rot waren. „Wenn ich...wenn ich die erwische...“, Erin spürte, wie seine Fäuste unter ihren Händen wieder zu beben begannen, und schlang ihre Finger enger um seine Hände, um ihn zu beruhigen. Sie legte den linken Zeigefinger an ihren Mund und schüttelte den Kopf, und nur sehr langsam ließ sich der Junge neben ihr beruhigen. Sie schob Zeige- und Mittelfinger beider Hände übereinander, hielt daraufhin die linke Hand flach vor ihre Brust und schob die rechte Hand in Wellenform darüber. Bald war es vorbei, sagte diese Geste.
 

Danny runzelte die Stirn: „Wie meinst du das?“ Doch Erin schluckte nur schwer und schüttelte den Kopf, wollte seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema lenken. Die Fingerspitzen der rechten Hand ruhten auf ihrer Stirn, ehe sie die Hand nach unten fallen ließ und nur den Daumen und den kleinen Finger abspreizte, dann deutete sie mit der Hand auf Danny und hielt beide Hände mit den Handflächen nach oben in Brusthöhe. „Warum ich hier bin? Na, du weißt schon...das Übliche.“
 

Erin legte den Kopf schief und einzelne feuchte Strähnen ihres blonden Haares fielen ihr in die Stirn. Danny war wohl einmal mehr von seinem gehässigen Klassenlehrer vor die Tür gesetzt worden, weil er nicht aufgepasst hatte oder nicht korrekt auf eine Frage geantwortet hatte. Das genügte dem alten Hawshore schon, um Daniel Stuart Finch einen Eintrag zu verpassen, für den dieser wiederum von seinem Vater im besten Fall nur Prügel beziehen würde. Dannys Blick wich dem ihren aus, bis er sich wieder etwas gefangen hatte. Dann wandte er sich ihr wieder zu: „Hör mal, wer auch immer dir das angetan hat, hat eine Abreibung verdient! Ich könnte...“, doch er verstummte, als Erin ihre Hand auf seine Wange legte und ihn bittend aus ihren kühlen Augen hinaus ansah. Mit Nachdruck schüttelte sie den Kopf und entrang sich ein gequältes Lächeln. Danny fand, dass es das traurigste Lächeln war, das er je gesehen hatte. Und es machte ihm Angst. „Erin...?“, begann er ratlos, und schaute stumm dabei zu, wie sie mit der rechten Hand auf sich deutete, ehe sie diese mehr zur Seite bewegte und zunächst wie um einen Fächer zu imitieren die Finger spreizte, nur um sie dann wieder aneinander zu legen. Er erstarrte, sodass Erin zunächst glaubte, er hätte sie nicht verstanden, weswegen sie die Geste wiederholte. Ungeduldig fing er ihre Hand ab und drückte sie leicht. „Ich hab dich verstanden...“, erklärte er leise, schaute sie aber immer noch mit diesen unergründlichen dunklen Augen an wie ein wildes Tier, dessen Empfindungen man nur erahnen, aber nicht ablesen konnte. „Aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll“, gestand er. Erin atmete schwer aus. Sie hatte sich so sehr vor diesem Moment gefürchtet, dass sie gehofft hatte, ihn umgehen zu können. Aber das wäre weder fair gegenüber Danny noch ihrer Freundschaft zu ihm gewesen. Sie legte den Daumen der rechten Hand an ihr Kinn und spreizte die übrigen Finger, schob die Hand dann in Brusthöhe und zog die gespreizten Finger zusammen, deutete anschließend auf sich selbst, wiederholte das Spreizen und Zusammenziehen der Finger zu ihrer Rechten, ehe sie mit beiden Händen ein Dach bildete. Danny starrte sie an, zunächst entsetzt, dann langsam resignierend und enttäuscht.
 

„Wann?“, fragte er leise und Erin streckte beide Hände aus, schloss sie zu Fäusten und spreizte nur Daumen und kleinen Finger ab, ehe sie die Handgelenke zweimal drehte. „Du wolltest es mir nicht sagen, oder?“, er versuchte nicht, seine bittere Enttäuschung vor ihr zu verbergen. Überhaupt fiel es ihm schwer, seine Gefühle und Emotionen unter Kontrolle zu halten. Wenn er sie denn einmal zuließ. Erin ballte die rechte Hand zur Faust und ließ sie im Uhrzeigersinn in Herzhöhe kreisen. Es tat ihr aufrichtig leid und sie wollte, dass er ihr glaubte. Danny wandte den Blick ab, um sich zu sammeln. Sein dunkelblondes, leicht krauses Haar, das ihm zu so einem wilden Schopf gewachsen war, dass er es sich hinter die Ohren schieben konnte, fiel ihm ins Gesicht und hinderte Erin daran, aus seinen Zügen zu lesen. Sie unternahm einen Versuch, sich zu erklären, aber Danny schaute sie immer noch nicht an. Sie fasste sich ein Herz und berührte sein Kinn mit ihrer linken Hand, drehte es zu sich und begann, ihm ihre Gedanken zu verdeutlichen. Erin presste den Daumen an die Stirn und spreizte die übrigen Finger ab, ballte dann die Hand bis auf den ausgestreckten Zeigefinger, dessen Spitze leicht eingeknickt war, zur Faust und bewegte die Hand nach unten, legte dann hastig die Faust unter ihr Kinn und schob dann die Hand fast wie bei einem Militärgruß von ihrer Schläfe nach vorn. Daddy durfte es nicht wissen. Dannys Züge arbeiteten intensiv, sodass es fast den Anschein hatte als kaute er einen unsichtbaren Kaugummi. „Wohin wollt ihr denn? Meinst du wirklich, dein Alter bleibt hier sitzen und nimmt hin, dass sich seine Frau und seine Tochter einfach aus dem Staub machen?“, er war wütend und leckte sich in wachsender Aufregung die Lippen.
 

„Ich meine...dein Vater hat fast soviel auf dem Kerbholz wie meiner, wenn es darum geht, anderen das Leben zur Hölle zu machen...“, er schüttelte den Kopf, sodass die lockigen Strähnen wild um sein Gesicht flogen, „...das muss ich dir doch nicht erzählen, oder?“ Erin spürte frische Tränen hinter ihren Lidern aufwallen und drängte sie mit aller Macht zurück. Dann schüttelte sie den Kopf, sah hilflos in seine Augen, die unruhig hin- und herwanderten, auf der verzweifelten Suche nach einem Fixpunkt, den er nicht fand. Erin wiederholte das Zeichen, das zum Ausdruck brachte, dass es ihr leid tat, und konnte nun nichts mehr gegen die Tränen ausrichten, die sich abermals ihren Weg über ihre Wangen bahnten. „Heul jetzt nicht!“, forderte er im barschen Ton, den er gleich zu bereuen schien. Seine Lippen bebten und mit der rechten Hand strich er sich fahrig durch den Haarschopf. Erin wollte nicht weinen, hasste sich dafür, schon wieder zu weinen und wischte beschämt die Tränen fort. Sie wiederholte zum dritten Mal die Geste, die Entschuldigung bedeutete und tastete mit ihren Händen nach den seinen, doch er entzog sich ihrer Berührung. „Ist schon gut...jetzt hör endlich auf zu heulen! Du bist die, die geht, nicht ich!“
 

Erin presste die Lippen aufeinander. Ihre Mommy hatte es doch entschieden und mit ihren knappen zehn Jahren konnte sie doch nichts gegen eine solche Entscheidung ausrichten, oder? Wäre es nur nach ihr gegangen, wäre sie hier geblieben, selbst wenn es nur wegen Danny gewesen wäre. „Hör zu...“, begann er und fischte in seiner Hosentasche nach einem Gegenstand. Erin hielt unwillkürlich die Luft an, als sie erkannte, dass es ein Klappmesser war, das er hervorholte. „Wir bleiben Freunde, auch wenn du weg bist!?“, Erin wusste nicht, ob er eine Frage stellte oder ob es nur eine Feststellung gewesen war. Sie nickte nur, was Danny langsam erwiderte. Als er daraufhin ihr Handgelenk packte, konnte Erin ein heftiges Zusammenzucken nicht verkneifen. „Schon gut, hab keine Angst“, murmelte Danny ohne sie anzusehen. Seine dunkelbraunen Augen ruhten auf der Klinge des Messers, die im sengenden Licht der Mittagssonne schimmerte und blitzte. „Wer weiß, wie lange wir uns nicht mehr sehen werden...oder ob wir uns überhaupt wiedersehen. Ich will aber, dass du immer etwas mit dir trägst, das dich an mich erinnern wird“, er drehte das Messer und kurzzeitig wurde Erin von dem reflektierten Licht geblendet. „Etwas...das du unter normalen Umständen nicht mehr verlieren wirst“, fuhr er leise fort und seine Augen hatten einen entrückten Ausdruck angenommen, der Erin beunruhigte. Sie versuchte, ihre Hand aus seinem festen Griff zu befreien, aber seine Finger schlossen sich wie Schraubzwingen um ihr Gelenk.
 

„Sssshhhh, ganz ruhig...“, murmelte er und unterband ihre Zappelei, indem er die Klinge in ihre Handfläche legte. „Es wird nicht lange wehtun“, flüsterte er ohne sie anzusehen und obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, schenkte Erin ihm immer noch genug Vertrauen, dass er Wort halten würde. „Damit du in Erinnerung behältst, dass sich unsere Wege gekreuzt haben und vielleicht wieder kreuzen...“, begann er und drückte die Klinge in ihr Fleisch, schnitt quer über ihren Handballen. Der anfängliche, brennende Schmerz, den Erin spürte, wich schnell einem Gefühl der Taubheit. Benommen sah sie dabei zu, wie Danny mit einem unglaublich geraden Schnitt ihre Lebenslinie, die vom Handgelenk bis zwischen Daumen und Zeigefinger reichte, kreuzte. Frisches Blut quoll aus der klaffenden Wunde und sickerte über die Klinge, die Danny ohne länger zu zögern in seine linke Hand nahm und das Messer zu seiner rechten Hand führte.
 

Erin war auf eine furchtsame Art und Weise beeindruckt, mit welch einer Präzision er selbst mit seiner linken Hand mit dem Messer umgehen konnte. Er zitterte nicht einmal und zögerte keine Sekunde, während er sich selbst die Hand aufschnitt. Danny war Rechtshänder, aber er schien sein blutiges Handwerk mit beiden Händen gut zu verstehen. Als er das Messer endlich absetzte und der Schnitt, den er gesetzt hatte, wie verrückt blutete, drückte er seine rechte Hand an ihre, die ob des kurzen und feurigen Schmerzes, den diese Berührung auslöste, zusammenzuckte. Danny hingegen verzog keine Miene. Erin ahnte, dass er Schlimmeres von Zuhause gewöhnt war. Langsam ließ er von ihr ab. Stumme Tränen rollten in Erwiderung zu dem brennenden Schmerz über ihre Wangen, während das Mädchen mit der blutenden Hand auf sich deutete, dann ihren Zeigefinger abspreizte, diesen auf ihr Kinn legte und ihn drehte und abschließend auf Danny deutete. „Ja, ich dich auch...“, flüsterte dieser nach kurzem Zögern und erstarrte überrascht, als ihm Erin um den Hals fiel und an seiner Brust in bittere Tränen ausbrach. Unbeholfen legte er den linken Arm um ihren Rücken und strich langsam mit der Hand an ihrer Wirbelsäule entlang. „Schon gut, Erin...das wird schon...aber versprich mir was, ja?“, er sprach sehr leise, aber dennoch verständlich genug, sodass der kleine Blondschopf zu ihm aufschaute.
 

„Pass auf dich auf...und...wenn deine Mum auf die Idee kommen sollte, sich wieder einen neuen...“, er wollte weitersprechen, hielt aber kurzzeitig inne, wahrscheinlich, um seine Wortwahl ihr gegenüber zu überdenken, „...Mann zu suchen...und er so drauf ist wie dein Daddy, dann...versprich mir, dass du wegläufst. Auch wenn du deine Mum im Stich lassen musst. Lauf weg, hörst du?“ Sie schaute zu ihm auf, verängstigt, besorgt und unsicher, aber letztlich nickte sie. „Die Stunde ist fast vorüber...du solltest jetzt gehen, bevor dich noch jemand sieht...“, sagte er ohne Umschweife und erhob sich, sah aus den Augenwinkeln dabei zu, wie Erin es ihm gleichtat und sich die Tränen vom Gesicht wischte. Auf zittrigen Beinen setzte sie sich langsam in Bewegung, mit noch schwererem Herzen als zuvor. Sie hatte schon fast die zweiflüglige Eingangstür erreicht, als Danny ihren Namen rief und sie dazu bewegte, sich zu ihm umzudrehen. „Wer hat dir das nun angetan?“, fragte er. Erin schüttelte nur den Kopf. Niemand. Dann kehrte sie Danny den Rücken zu, wissend, dass sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde.
 

Doch sie würde ihm wieder begegnen, wenngleich nicht weniger als zwanzig Jahre vergehen und beide nie wieder so sein sollten wie an jenem Tag, an dem sie Abschied voneinander genommen hatten...



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