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Oh Shit.

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen liebe Leute! ♥
Es tut mir wahnsinnig leid, dass es sooo lange gedauert hat mit dem nächsten Upload, aber dieses Kapitel war wirklich verdammt schwer zu schreiben. Ich hoffe aber, es gefällt euch. :)
Ich möchte an dieser Stelle meine BF und Beta Gmork danken, weil ich es ohne ihre Hilfe nie geschafft hätte. So oft, wie ich dieses Projekt wegen diesem Kapitel habe hinschmeißen wollen ... Ohne deinen Zuspruch und deine Hilfe - und insbesondere deine GEDULD MIT MIR - wäre es vermutlich nie fertig geworden. Es hat uns beide ziemlich fertig gemacht und sich kaum schreiben lassen. Deswegen ein dickes Dankeschön und einen fetten Knutscha an dich, meine Liebe. ♥
Aber jetzt erstmal euch viel Spaß beim Lesen!
Eure m0nstellar Komplett anzeigen

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Gefühlsausbrüche

Tick, tack.

Tick, tack.

Tick, tack.

 

Gelangweilt sah Stellar dabei zu, wie der Sekundenzeiger über dem Ziffernblatt seine Runden drehte. Gab es da unten etwa – neben Lager, Toiletten und Sozialraum – noch mehr Räume zu durchforsten oder warum brauchte Moira so lange? Johnny konnte doch nicht so schwer zu finden sein …

 

Tick, tack.

Tick, tack.

Tick, tack …

 

Genug. Bevor sie sich vor lauter Warten noch den Hintern wund saß, tat sie lieber etwas Sinnvolles; ihren späteren Sitzplatz aussuchen zum Beispiel. Sie stieg vom Barhocker herunter, vergrub ihre Hände in den Hosentaschen und schlenderte mit prüfendem Blick zwischen den Tischen umher. Bei fünfzehn Tischen und freier Platzwahl fiel es ihr schwer, sich zu entscheiden, denn ohne die Anwesenheit anderer Gäste hätte sie von überall einen guten Blick auf die Bühne. Am besten wäre natürlich ein Platz, von dem sie den neuen Pianisten bestens beobachten, aber von ihm nicht gesehen werden konnte. Schließlich sollte er ja nicht merken, dass er von ihr genauestens unter die Lupe genommen würde. Ihre Wahl fiel daher auf einen der Tische links außen, direkt neben der Bar. Von dort aus konnte sie zwar sein Gesicht nicht sehen, aber ihm dafür genau auf die Finger gucken.

Wie er wohl sein würde? Stellar hoffte ja auf einen eher ruhigen, ausgeglichenen Typ. Jemand mit Humor, der auch ein wenig kultiviert war. Vor allem aber sollte er ein Teamplayer sein und flexibel – in etwa wie Chris, sozusagen. Ja, genau. Dieser Jemand wäre die perfekte Ergänzung zu Moira. In der Vergangenheit hatte es nämlich schon genug narzisstische, divenhafte Egomanen in ihrem Leben gegeben, sowohl privat, als auch beruflich. Noch einen würden sie beide vermutlich nicht verkraften.
 

BRRR – BRRR.
 

Der Vibrationsalarm ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Nachdem sie sich auf ihren Zuschauerplatz gesetzt hatte, fischte sie es aus ihrer Hosentasche, löste die Tastensperre und öffnete die Nachricht.

 

Hey Sternchen! ;)

Na, wie geht’s?

Noch ein schönes Restwochenende gehabt?

Was treibst du gerade?

Chris

 

Unglaublich. Nur einen klitzekleinen Moment hatte sie an ihn gedacht und schon trudelte eine SMS von ihm herein. Und zu ihrem Glück wollte er gar nicht über ihren gemeinsamen Abend reden, als wäre er nie passiert. Schnell tippte sie eine Antwort ein und ließ dabei bewusst das Wochenende außen vor:

 

Hey Chris ;)

Alles super und selbst?

Sitz gerade im Swingy’s.

Moiras neuen Arbeitskollegen für sie abchecken ;)

Sie ist ganz schön nervös ;D

Sternchen

 

 

Moira und nervös?

Kann ich mir gar nicht vorstellen.

Sie ist doch sonst so selbstbewusst …

Wo ist das Problem?

 

Stellar grinste auf ihren Bildschirm und ließ ihre Daumen die Arbeit machen:

 

Keine Ahnung.

Ich glaube, das weiß sie selbst nicht mal :D

Heute Morgen hab ich gedacht, sie sticht sich gleich mit der Wimperntusche das Auge aus, so gezittert hat sie :D

 

 

Au weia, gleich so schlimm?

Dann muss sie wirklich nervös sein.

Ich drück ihr die Daumen, dass alles gut geht!

 

Ihr Grinsen wurde breiter. Das schätzte sie wirklich sehr an Chris. Trotz so viel Antipathie zwischen ihm und Moira brachte er für sie immer wieder Anteilnahme und Mitgefühl auf.

 

Ich erzähl dir dann, wie’s war ;)

 

 

Mach das, bin gespannt! ;)

Übrigens: Ich habe Mittwoch und Donnerstag wieder meine freien Schichttage.

Zeit und Lust, den DVD-Abend nachzuholen?

Diesmal entscheidest du über die Filme ;)

Oder hast du mit Dylan schon andere Pläne?

 

Und sofort knallten ihr die Mundwinkel wieder nach unten. Dieser Name. Dieser Kerl! Seinetwegen war sie irgendwann reif für die Klapse, da war sie sich sicher. Und das, wo sie eigentlich dabei gewesen war, ihn ein bisschen zu mögen.

 

Nö nö, ich hab Zeit :)

Dylan und ich können uns öfter sehen als du und

 

Mitten unterm Schreiben hielt Stellar plötzlich inne. Schwere Schritte hallten von der steinernen Wendeltreppe hinauf und wurden lauter, je näher sie kamen.

Na endlich. Sie wandte sich um, um gleich mit ihrer Beschwerde über die lange Wartezeit anzusetzen – doch als sie den Urheber erkannte, blieb sie ihr im Hals stecken und ihr Magen schrumpelte sich von jetzt auf gleich zu einer Rosine zusammen.

Was zur Hölle hatte denn Dylan hier zu suchen? Chris war doch gar nicht da, nicht mal mit ihr im Swingy’s verabredet, was ihr sein Auftauchen erklären würde. Spionierte er ihr etwa heimlich nach …? In ihrem Nacken rollte sich die Gänsehaut nach unten aus.

 

Nein. Nein, nein, nein. Das war Unsinn. Offenbar ging schon die Fantasie mit ihr durch. Rein hypothetisch wäre es ihm ja zuzutrauen, aber … Nein. Aber … Wenn er nicht wegen ihr hier war, dann bedeutete das doch …

Völlig perplex gaffte sie ihn an – wogegen er sie mit nicht mehr als einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel würdigte –, während er wortlos an ihr vorbei auf die Bühne ging und sich an den schwarzen Flügel setzte, so als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Er war der neue Pianist? Ernsthaft? Das sollte doch wohl ein Scherz sein! Ein Fake, eine gemeiner Streich! Dieser Typ schaffte es nicht mal sich selbst die Schuhe zuzubinden und ausgerechnet er sollte die pianistische Begleitung für Moira sein? Ich glaube das einfach nicht …

»Da«, blaffte Moira und erschreckte Stellar fast zu Tode, als sie plötzlich neben ihr stand und eine große Schampusflasche auf den Tisch knallte. »Trink das. Wenn ich nicht noch singen müsste, würde ich sie mir ganz allein hinter die Birne kippen.«

Stellar steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche und sah Moira vorwurfsvoll an. »Du hast gesagt, er heißt irgendwas mit „A“.«

»Ja, habe ich auch gedacht«, murmelte sie reumütig. »Und wenn man es genau betrachtet, dann … na ja … streng genommen ist in „Dylan“ auch ein „A“ drin.«

Stellar seufzte. »Super.«

»Hey, ich bin auch nicht sonderlich begeistert davon, mit ihm zusammenzuarbeiten.«

»Er ist also wirklich der neue Pianist, ja?« Noch hatte sie ein bisschen Hoffnung auf eine überraschende Kehrtwende.

»Ja, leider. Er hat den Vertrag schon unterschrieben gehabt, bevor ich überhaupt etwas verhindern konnte.«

Puff - und die Hoffnung war zu Staub zerfallen. »Verdammt …«

»Eigentlich brauchst du dich gar nicht beschweren. Dir geht er wenigstens nur einmal die Woche auf den Sack, wenn’s hochkommt. Ich habe ihn fast rund um die Uhr am Arsch kleben und muss nett zu ihm sein, also hast du es eh noch gut.« Moira bemühte sich nicht, ihren Unmut und den Neid darüber zu verbergen. Schwerfällig ließ sie sich auf den gegenüberliegenden Stuhl fallen und stützte ihren Kopf mit der Hand ab. »Ich weiß gar nicht, wie ich das anstellen soll. Unten musste ich mit ihm und Johnny sogar schon anstoßen und meine Freude über sein Dasein heucheln, obwohl er mich innerhalb von zwei Minuten schon beleidigt hat.«

Stellar verzog mitleidig das Gesicht. Dylans Verhalten war ihr nur allzu vertraut. »Deswegen der Schampus?«

»Japp.«

»Oh, Mann … Aber dann verstehst du jetzt vielleicht meine Situation mit ihm?«

»Nein, ehrlich gesagt nicht. Für mich sind das zwei Paar Stiefel. Ich muss nett zu ihm sein, weil ich mit ihm zusammenarbeiten muss und weil das mein Job von mir verlangt. Du bist nett zu ihm, weil du Chris einen Gefallen tun willst und das ist in meinen Augen nach wie vor Blödsinn.«

Stellar seufzte und entschied sich, das Thema genauso schnell zu beenden, wie sie es angefangen hatte.

»Was hat Johnny eigentlich dazu gesagt?«

»Johnny?« Moira schnaubte auf. »Vergiss es. Der ist so in seinen neuen Schützling verliebt … Er hat ihm sogar noch meine Hilfe angeboten, falls er doch noch ein paar Fragen haben sollte.«

Spätestens jetzt gestand sich Stellar ein, dass ihre Freundin es wirklich schlimmer getroffen hatte, als sie.

»Und was willst du jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Es hinnehmen und das Beste draus machen, schätze ich. Was anderes bleibt mir eh nicht übrig.«

Da hatte sie wohl Recht, leider. »Ich würde dir gern sagen, dass es gar nicht so schlimm werden wird, aber … du weißt ja, ich habe auch meine Kämpfe mit ihm.«

Moira erwiderte ihr bitteres Lächeln und strich ihr dankbar über den Arm. »Ich weiß, Schätzchen. Ich weiß … Ich muss aber versuchen, mit ihm auszukommen. Wir sind jetzt Kollegen, ob ich will oder nicht, und ein Krieg mit ihm wird daran auch nichts ändern.«

Stellar verstand, was sie meinte. Streitereien mit Dylan waren nicht ohne. Ihr selbst schlugen sie oft auf den Magen, brachten sie sogar zum Weinen und dass Moira darauf verzichten wollte, war nur verständlich.

»Warten wir erstmal ab, vielleicht wird es ja wirklich nicht so schlimm.«

»Hoffen wir’s …«, sagte Moira und seufzte schwer. Dann plötzlich wurde ihre Miene hart und Entschlossenheit blitzte in ihren Augen auf. »Aber das eine sage ich dir: Wenn er sich wieder über dich lustig macht, mach ich ihn persönlich zur Schnecke, das schwör ich dir!«

Stellar schmunzelte. Es war ungemein beruhigend, dass Moira trotz der neuen Umstände sich nicht entmutigen ließ und ihr auch weiterhin den Rücken stärkte.

»Aber weißt du«, murmelte sie und schwenkte ihren Kopf zu Dylan. »Gespannt bin ich ja schon, ob er wirklich so gut ist, wie Johnny sagt. Er hat ganz schön mit ihm angegeben.«

Stellar tat es ihr gleich. Er saß immer noch reglos vor dem Flügel, die Hände auf den Tasten liegend.

»Musst du nicht zu ihm rauf?«

Moira zuckte mit den Schultern. »Er hat gesagt, er will sich erst Warmspielen.«

Stellar hob skeptisch eine Augenbraue. »Muss man dafür nicht auch … na ja … eben spielen?«

Wie auf Kommando erklang der Flügel. Helle, zarte Töne stiegen aus ihm empor, harmonierten ineinander und fügten sich zu einer ruhigen, melodischen Einheit zusammen. Diese Melodie … Keine zehn Töne hatte sie gebraucht, um sie wiederzuerkennen: Die Filmmusik aus „Amélie“. Ein Kälteschauer überrannte sie, bis in die Haarspitzen.

Seine Version war dicht an Yann Tiersens Originalkomposition dran. Lediglich die winzigen, improvisatorischen Elemente, die er hier und da einstreute, machten den feinen, aber entscheidenden Unterschied.

Stellar schloss die Augen und atmete tief durch. Dylan dabei zuzusehen, wie er am Flügel dieses Stück spielte … Es war faszinierend und gruselig zugleich.

„Amélie“ gehörte zu ihren Lieblingsfilmen und auch Moira zählte ihn zu ihren persönlichen Favoriten. Ein wirklich … fieser Zufall, wie sie fand. Auf der ganzen Welt waren inzwischen Milliarden Lieder geschrieben und abertausende von Klavierstücken komponiert worden, die er in diesem Moment an dessen Stelle hätte spielen können. Und er suchte sich ausgerechnet dieses Stück aus.

In ihrem Hals schwoll ein abnorm großer Kloß an, der unangenehm gegen ihren Kehlkopf drückte. Obwohl die Musik sie so berührte, dass sie Gänsehaut davon bekam, war ihr diese Situation und das ganze Drumherum unheimlich, mischte einen giftigen Beigeschmack unter jede gespielte Note. Und es machte sie nervös …

Der Höhepunkt des Stücks war erreicht und Stellar öffnete instinktiv die Augen. Sein Oberkörper wog mit der Musik mit, wie sie es schon mal bei Pianisten im Fernsehen gesehen hatte. Ein wirklich befremdliches Bild. Es kam ihr beinahe so vor, als spielte er die Musik nicht, sondern fühlte sie …

Schließlich wurde sein Spiel langsamer, leiser, bis der letzte Akkord verstummte.

»… warm genug gespielt?«

Stellar schreckte innerlich auf und sah irritiert zu Moira. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sie aufgestanden und vor zur Bühne gegangen war.

»Eigentlich nicht«, entgegnete er, nahm die Hände von den Tasten. »Nach meiner Uhr sind die zehn Minuten noch nicht rum.«

»Ja, mag sein. Ich möchte trotzdem jetzt mit dem Proben anfangen.«

Stellar kicherte leise, aber boshaft. Gut so, Moira. Zeig’s ihm nur.

»Na schön … Also, was soll’s sein?«

Moira ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, stieg gemächlich auf die Bühne und stützte sich am anderen Ende des Flügels mit den Unterarmen darauf ab. »Was kannst du denn?«

»Bestimmt mehr, als du mir zutraust.«

»Aha …« Wahrscheinlich hätte Stellar auch nicht mehr dazu gesagt.

»Na ja, wenn das so ist … dann spiel mal los.«

»… und was?«

»Keine Ahnung, such dir was aus. Du bist doch der Meister-Improvisierer.«

»Improvisateur.«

»Wie auch immer …«

Seine Schultern hoben und senkten sich – ein Seufzen. »… völlig egal was?«

»Na, es sollte zumindest etwas sein, worauf ich singen kann.«

Dylan schwieg nun und kratzte sich am Kinnbart, schien nachzudenken.

Moiras und Stellars Blicke trafen sich. Ein kurzes, beiderseitiges Nicken und alles war gesagt: Wollen wir doch mal sehen, ob er wirklich so gut ist, wie Johnny behauptet.

»Wie wär’s damit?«, fragte er, zog damit die Aufmerksamkeit zurück auf sich und klimperte auch schon drauflos, diesmal einhändig im tieftönigen Bereich. Zuerst klang es ein wenig zusammenhangslos, vor allem sein arrhythmisches Schnipsen dazu war irritierend – bis Stellar an den Wiederholungen schließlich erkannte, was er spielte. Ist das etwa …? Ihr Herz blieb stehen und fiel aus ihrem Brustkorb wie verdorbenes Fallobst aus der Baumkrone.

Das konnte kein Zufall sein, das konnte es einfach nicht. Eartha Kitt war eine begnadete Jazzmusikerin, aber sie war in der heutigen Zeit weder so bekannt wie beispielsweise Frank Sinatra oder Louis Armstrong, noch war das ihr bekanntester Song.

»Ist das „My Discarded Men“?«, fragte Moira und war ebenfalls sichtlich überrascht, als sie den Song erkannte.

Dylan grinste nur. »Wusste ich doch, dass du ihn kennst. Dann kannst du ja auch dazu singen.«

Stellar spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Der Geschmack von Galle überzog filmartig ihre Zunge. Woher? Woher kannte er dieses Lied? Hilfesuchend sah sie zu Moira – nur um festzustellen, dass diese ihr nicht helfen konnte. In ihrem Gesicht tanzte ein riesengroßes, bleiches Fragenzeichen. Dann verstummte abrupt der Flügel.

»Hallo? Ich dachte, du wolltest dazu singen. Ich spiele hier nicht für mich alleine.«

Moiras Kopf schnellte zu ihm zurück. »Was?«

»Wenn du nicht singst, bringt das ganze Proben nichts, da kann ich auch alleine auftreten.«

Moira zog die Augenbrauen zusammen und machte ein finsteres Gesicht. »Entschuldige mal bitte, aber zufälligerweise war ich noch nicht soweit! Außerdem ist Eartha Kitt nicht gerade einfach. Die schüttelt man sich gesanglich nicht mal eben aus dem Ärmel, nur weil jemandem gerade danach ist.«

»Heißt das, du kannst es nicht oder willst du nur nicht?«

»Natürlich kann ich?!«

»Na dann los! Du wolltest proben, also sing auch, wenn dein Einsatz kommt.«

Stellar rutschte tiefer in ihren Stuhl und versuchte sich so unauffällig wie möglich die Ohren zuzuhalten. Panik fraß sich quer durch ihre Eingeweide und eine kalte Schweißperle rann ihre Schläfe hinunter. Sie wollte gar nicht hören, wie sie zusammen klängen. Bei seiner Variation von Amélies Soundtrack hatte sie schon nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte und die Tatsache, dass es sich gleich um einen Song von Eartha Kitt, ihrer persönlichen Queen des Jazz handelte, jagte ihr eine Heidenangst ein. Er jagte ihr eine Heidenangst ein und er tat es mit einer Gelassenheit, als wäre es so harmlos wie Zähneputzen.

Am liebsten würde sie dort hochsteigen, ihm die Klaviaturklappe auf die Finger knallen und einfach abhauen, dann wäre Dylan außer Gefecht gesetzt und der Spuk vorbei. Nur wirklich nützen würde es nichts. Zum einen stünde ihre beste Freundin wieder ohne Pianisten da und zum anderen hätte sie bestimmt noch eine Schmerzensgeld- und Schadensersatzklage von Dylan am Hals. Folglich war beides Grund genug, es nicht zu tun.

Gott, wenn sie gewusst hätte, was sie heute erwarten würde … Sie wäre im Bett geblieben, hätte sich die Decke über den Kopf gezogen und auf den nächsten Tag gewartet.

Die Zeigefinger in den Ohren halfen überhaupt nicht. Sein Spiel und seine Schnipserei waren trotzdem zu hören, nicht mal ihr rasender, lautstarker Puls übertönte es. Wenn Moira gleich noch anfangen würde zu singen, dann –

 

I'd like to tell a little story

that's been told time and time again

About the foolish men who chased me

My discarded men …

 

 Stellars Magen krampfte. Es hatte keinen Sinn. Resigniert nahm sie die Finger aus den Ohren und ließ ihre Hände auf den Schoß sinken.

»Ha! Ich wusste es, die beiden sind großartig zusammen!«

Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. War sie heute wirklich so schreckhaft oder schlichen sich die Leute an sie ran? Erst Moira, jetzt Johnny … Wenn das so weiterging, kam sie heute noch unter die Erde.

»Unten im Lager hat es ja schon gut geklungen, aber hier oben ist es fantastisch, ein Traum! Genau so jemanden hat meine kleine Moira gebraucht.«

 

They used to tell me they loved me

But I knew better than them

I'd find them looking around the corner

My discarded men …

 

Gleich wurde ihr speiübel. Als sie zu Johnny rüber sah, entdeckte sie im Augenwinkel die Sektflasche. Sie hätte Moiras Ratschlag beherzigen sollen, als sie noch eine bessere Gelegenheit dazu gehabt hatte, aber die Situation war, wie sie war.

»Johnny, bringst du mir ein Glas?«

Doch Johnny rührte sich nicht, musterte sie stattdessen besorgt. »Ist alles okay mit dir?«

»Alles prima. Bring mir einfach nur ein Glas.«

Er zögerte, doch er kam ihrer „Bitte“ nach, brachte es sogar mit Inhalt. »Hier, ein Wasser. So blass, wie du aussiehst, kannst du das eher vertragen.«

Wenn er doch nur wüsste … Was soll’s. Beherzt griff sie nach dem Glas und trank das Wasser in einem Zug leer. Dann schnappte sie sich die Flasche am Hals und füllte mit Schampus nach.

»… und du bist dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Stellar war Johnnys lieb gemeinte Ermahnung egal. Sie war eine erwachsene Frau und brauchte jetzt etwas, das ihr ordentlich die Sinne matschig machte, anders ertrug sie das hier sonst nicht. Und dieser Sekt hatte die Eigenschaft, genau das zu tun. An den Lippen angedockt schüttete sie sich so viel davon in den Mund, dass sie Pausbacken machen musste, um alles drin zu behalten. Ein wenig hoffte sie ja darauf, dass sie Schluck für Schluck durch das beißende Prickeln den lästigen Kloß im Rachen loswurde, der inzwischen schmerzhaft ihren Kehlkopf massierte; was nicht geschah. Natürlich nicht. Warum sollte sie heute auch nur in einer einzigen Sache Glück haben? Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr werden.

»Ich glaube, die zwei werden ein gutes Team.«

»Ach ja? Und was macht dich da so sicher?«

»Schau dir die Zwei doch mal an. Besser könnte es nicht laufen.«

Stellar kam seiner Aufforderung nach und sah zur Bühne auf. Sie verstand erst nicht, was er ihr sagen wollte, doch als Moira ihren Kopf zu Dylan nach hinten drehte, sah sie es auch: Sie lächelten einander an. Was zum …?

»Sieht so aus, als ob sie sich mögen.«

Von wegen. Mit Mögen hatte das ganz und gar nichts zu tun. Stellar kannte Moiras Lächeln und wusste sie auch in ihren Bedeutungen zu unterscheiden. Dieses Lächeln, das sie ihm gerade zuwarf, hatte nichts von mögen. Seine Bedeutung war viel erschreckender: Sie … flirtete mit ihm. Und er erwiderte es. Sofort wandte sich Stellar wieder ihrem Glas zu und schüttete nach.

»Hey, hey, hey! Mach mal langsam, Mädchen!«

»Johnny, lass mich einfach, okay?«

»Ehrlich, ich glaube nicht, dass das so gut ist.«

Anstatt ihm zu antworten kippte sie sich auch von diesem Glas wie zuvor so viel wie möglich auf einmal in den Mund.

 

You think you can win me

And be my special friend

Just take a tip from the others

Hrrr ...

 

Der letzte Schluck war teuflisch. Während sie sich die Flüssigkeit die Kehle hinabzwang, stieg gleichzeitig die Kohlensäure wieder auf – und forderte, wovor Johnny sie wahrscheinlich warnen wollte.

Mit der Hand auf dem Mund gepresst hechtete sie aus dem Sitz, stürmte die Wendeltreppe hinunter direkt in die Damentoilette, beugte sich über das Waschbecken und erbrach, was eben erst in den Magen gefunden hatte. In eine der Kabinen hätte sie es beim besten Willen nicht mehr geschafft. Sie konnte von Glück reden, dass sie ihre Haare samt dem Pony noch rechtzeitig aus dem Gesicht halten konnte.

Der säuerliche Gestank, der ihr in die Nase stieg, war absolut ekelhaft. Galle gemischt mit Kohlensäure, die im Porzellan nachprickelte … Bevor es noch einen weiteren Brechreiz auslöste, drehte sie den Wasserhahn auf und spülte den Rest im Becken davon. Um gleich noch den Geschmack loszuwerden, nahm sie aus dem Wasserstrahl einen Mund voll Leitungswasser, gurgelte es ausgiebig und spuckte es wieder aus. Dann drehte sie den Hahn wieder zu.

Schlecht war ihr immer noch und das nicht nur wegen dem Sekt. Die beiden Musikgenies da oben trugen auch ihren Teil dazu bei. War vorhin nicht von „miteinander auskommen“ die Rede gewesen? Ihrer Meinung nach zählte „miteinander flirten“ nicht dazu.

Und dann war er da. Der Gedanke, der sie mehr ängstigte, als alles andere. In ihren Ohren begann es zu dröhnen, rechts kündigte sich ein Tinnitus an. Was, wenn es nicht beim Flirten blieb? Was, wenn sie …

Jetzt war ihr richtig schlecht. Egal, ob Freundschaft, Freundschaft Plus oder Beziehung. In welche Richtung es auch ging, alle drei Varianten hatten zur Folge, dass sie Dylan rund um die Uhr ertragen musste, auch bei sich zuhause. Ihrem letzten Rückzugsort. Und noch schlimmer: Sie müsste sich dann nicht nur mit ihm um Chris, sondern auch um Moira streiten.

Ihr Magen rumorte wie ein zum Leben erweckter Vulkan, drohte auch als ein solcher wieder auszubrechen. Der Kerl reißt sich systematisch meine ganzen Freunde unter den Nagel …

Mit lautem Quietschen öffnete sich langsam die Tür zur Damentoilette.

»Hey. Ist … alles in Ordnung bei dir?«

Na toll. Dieser Tag entpuppte sich wirklich zum schlimmsten in ihrem ganzen Leben. Hing ihr ein Zettel am Arsch, auf dem „quäl mich“ stand, oder warum war Dylan hier? Er war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte.

»Lasciami in pace.«

»Äh, okay … Klingt wohl nicht so danach.«

»Fuori!«

Langsam kam er ihr näher. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Schlagartig verwandelte sich ihre Angst in Zorn und die Lunte brannte bereits.

»Stai zitto e vattene!«, fauchte sie und sah ihn so böse an, wie sie nur konnte.

Dylan blieb stehen, zog unsicher den Kopf etwas zurück – aber mehr auch nicht.

Stellars Synapsen knallten durch. Vor Wut schnaubend kam sie auf ihn zu, stellte sich vor ihm auf die Zehenspitzen und ließ einen derartigen Schrei in sein Gesicht los, dass selbst seine Haare zurückwichen.

»STRONZO! STAI ZITTO E VATTENE!«

Ihre Worte waberten einige Sekunden als Echo durch den Raum, dann war es mit einem Mal mucksmäuschenstill.

»Puh, okay … Weißt du … nur weil du lauter wirst, bedeutet das noch lange nicht, dass ich dich besser verstehe.«

»OOOH DIO!« Stellar raufte sich wie wild geworden die Haare. »NON PUOI NEMMENO IMMAGINARE QUANTO TI ODIO!«

»Hör doch mal mit deinem italienischen Gequatsche auf und sag mir, was du willst, Mann! Und zwar so, dass ich es auch verstehe!«

»Was ich von dir will?« Stellar holte aus und schubste ihn Richtung Ausgang.

»Hey!«

»Verschwinde endlich, verstanden?« Tränen rannen ihr Gesicht herunter, von denen sie nicht einmal gemerkt hatte, dass sie da waren; es war ihr egal. »Du! Du bist an allem schuld, okay? Du mit deinen vollkommen verblödeten Ideen machst einfach alles kaputt! Alles, was mir wichtig ist, nimmst du mir weg! Du zerstörst mein Leben und checkst es nicht mal! Nee, dir macht es auch noch Spaß!«

Fahrig wischte sie sich mit dem Unterarm die Wangen trocken. »Gott, du hast echt keine Ahnung, wie sehr ich dich hasse, ehrlich …«

Dylan stand da, schwieg und sah auf sie herunter. Verwirrung lag in seinem Gesicht, doch in seinen Augen spiegelte sich Mitleid wider. Kein Entsetzen, keine Reue. Nur Mitleid; das, was sie von ihm am wenigsten haben wollte.

»VERDAMMT NOCHMAL, JETZT HAU ENDLICH AB!«, brüllte sie und schubste ihn erneut. Doch während er einen Schritt nach hinten taumelte, packte er sie blitzschnell an den Handgelenken und hielt sie fest.

»Okay, stopp. Auszeit.«

»LASS MICH LOS!« Sie riss an ihren Armen, zog und zerrte daran, doch an dem Griff lockerte sich nichts, im Gegenteil. Er packte nur noch fester zu. »Du tust mir weh, verdammt!«

»Dann hör auf dich zu wehren und es tut nicht mehr weh.«

Sie dachte gar nicht daran. »Lass los!«

»Nein, jetzt hörst du mir mal zu!«

Er riss ihre Arme nach oben, kam ihr mit seinem Gesicht ganz nah und sah ihr tief in die Augen.

»Was ist bitte los mit dir? Ich habe dir nichts getan und du führst dich hier gerade auf wie ein tollwütiges Rumpelstilzchen! Wegen nichts!«

Stellar drehte den Kopf weg, hörte auf sich zu wehren. Der leichte Alkoholgeruch, der ihr aus seinem Mund entgegenwehte, verstärkte ihre Übelkeit und ihre Gegenwehr machte es noch schlimmer. Es hatte keinen Sinn ihm zu erklären, warum sie weinte, warum sie wütend war und Angst hatte. Er würde es eh nicht verstehen.

»Was machst du hier überhaupt?«

»Es gibt hier Leute, die sich Sorgen um dich machen, mich eingeschlossen.«

Pff, na klar. Er machte sich Sorgen? Den Mist konnte er jemand anderem erzählen.

»So, wie du auf einmal abgehauen bist … Ich dachte, es ist besser, wenn ich nachschaue, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

Stellar schnaubte verächtlich auf. »Ausgerechnet du.«

»… Hä?«

»Du bist doch erst schuld daran!«

»Häh? Wovon redest du bitte?«

»Es gibt in Clayton was weiß ich wie viele Bars, wo du arbeiten kannst! Warum musst du das ausgerechnet hier –«

Sie stockte, sog scharf die Luft ein und hielt sie an. Die Magensäure hatte überraschend die Barriere zur Speiseröhre überwunden und kroch nun unaufhaltsam höher und höher.

»Was …? Oh, shit!«

Dylan bemerkte es zu Stellars Erleichterung gerade noch rechtzeitig und schaffte sie zu den Waschbecken, bevor sie sich selbst vollspie. Es war zwar nicht viel, was sie hervorwürgte, aber das Bisschen war genug, um diesen Streit fürs Erste auszusetzen.

»Das war knapp …«, sagte er und atmete erleichtert auf.

Stellar antwortete ihm nicht. Ihr war zu schlecht, um sich einen geistreichen Konter zu überlegen.

Hektische Schritte hallten vom Flur zu ihnen vor, Moiras Schritte. Als einzige unter ihnen mit High-Heels erkannte sie sie gleich. Nicht auch noch du … Bestimmt war sie von der Schreierei beunruhigt und dachte, sie bräuchte Hilfe.

Als Moira die Damentoilette erreicht hatte und im Türrahmen stand, musste Stellar nicht hinsehen um zu wissen, dass sich auch in ihrem Gesicht Mitleid widerspiegelte. Das anzutreffende Szenario war ja auch überhaupt nicht demütigend: Sie selbst, wie sie reiernd über dem Waschbecken hing und Dylan, der neben ihr stand und ihre Haare zusammengefasst nach oben hielt.

Mit zittriger Hand drehte sie den Wasserhahn auf und spülte Mund und Waschbecken mit Wasser aus, den Blick dabei fest auf den Abfluss fixiert. Auch, als Moira zu ihr kam und ihr tröstend über den Rücken strich, traute sie sich nicht, sie anzusehen. Die ganze Sache war ihr nur noch peinlich. In dieser Form im Mittelpunkt aller Anwesenden zu stehen war nicht der Plan gewesen.

»Moira? Was hältst du davon, wenn wir die Probe verschieben? Ich würde sie gern nach Hause bringen.«

Nach Hause bringen? Er? Nein, auf gar keinen Fall!

»Ich habe gerade dasselbe gedacht. Ich sag nur schnell Johnny Bescheid.«

Wie bitte? Seit wann entschieden andere Leute über ihren Kopf hinweg, was mit ihr passieren sollte?

»Nein!«, warf Stellar ein und drehte sich hastig um. »Nein. Ehrlich, das muss wirklich nicht sein. Mir geht’s gut.«

»Du hast mir fast vor die Füße gekotzt«, entgegnete Dylan, hob eine Augenbraue und sah sie ungläubig an.

»Ja, schon. Aber … jetzt geht’s wieder.«

»Red doch keinen Quatsch. Pack deine Sachen, ich bringe dich nach Hause«, befahl Moira und zog an ihrem Arm Richtung Ausgang. Stellar aber schaffte es sich herauszuwinden.

»Ernsthaft, niemand muss mich nach Hause bringen. Außerdem habe ich versprochen, dass ich mitkomme und dich heute unterstütze, und–«

»Du bist mir aber keine Hilfe, wenn du hier unten nur über der Schüssel hängst! Also hör jetzt mit dem Kindergarten auf und pack zusammen! Wir gehen nach Hause.«

Das hatte gesessen. Ihr jetzt noch zu widersprechen würde Moira nur wütend machen, aber nichts helfen.

»Kannst du laufen?«

Dylan erntete für diese Frage einen düsteren Seitenblick. »Mir fehlt kein Bein?!«

»Nee, das vielleicht nicht, aber dein Frühstück auf jeden Fall.«

Hätte sie es ihm doch nur über seine weißen Sneakers verteilt …

 

Stellar hatte geahnt, dass Johnny alles andere als begeistert sein würde, wenn er erfuhr, dass die Probe wegen ihr und ihrem schlechten Zustand verschoben werden sollte. So vorwurfsvoll, wie er sie dabei ansah, führte er ihn vermutlich auf ihren fragwürdigen Umgang mit dem Alkohol zurück und dass er dafür kein Verständnis aufbringen wollte, war für sie vollkommen nachvollziehbar.

Trotzdem musste er zugeben, dass es keinen Sinn machte von einer Probe zu sprechen, wenn Stellar währenddessen von der Hälfte der Beteiligten nach Hause begleitet wurde. Deshalb vertagte er zähneknirschend die Probe auf morgen und wünschte ihr eine gute Besserung.

Stellar fühlte sich furchtbar. Die Probe war versaut, Johnny sauer und Dylan konnte sie dafür noch nicht mal die Schuld geben. Dieses Resultat war ganz allein ihr Verdienst und so fest, wie Moira sie am Arm packte und aus dem Jazz‑Club führte – mit Dylan im Gefolge -, musste sie wohl ähnlich denken. Ansehen ließ sie sich das jedoch nicht; ihr Gesicht war das perfekte Pokerface.

»Danke nochmal, dass du dich um sie gekümmert hast«, sagte sie und schüttelte Dylan die Hand. »… hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Ja, das hör ich öfter.«

Irgs. Sein lasziver Unterton und sein dämliches Grinsen waren genauso widerlich wie Moiras pubertäres Kichern.

»Schafft ihr das denn allein, zu zweit?«

»Ja, ich denke schon. Wir wohnen ja nicht weit weg. Maximal eine Viertelstunde die Straße runter«, erklärte sie und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Ach so? Ist ja witzig, meine Bushaltestelle liegt auch auf dem Weg.«

Auch das noch … Stellar schloss die Augen und bettelte im Stillen um einen Gnadenschuss. Konnte ihr bitte jemand diesen Wunsch erfüllen? Sie hielt diesen Typen einfach nicht mehr aus, von dem Gesäusel zwischen den beiden ganz zu schweigen.

Ihr Magen gurgelte, diesmal aber so heftig, dass es direkt schmerzte. Sie wollte weg von Dylan, weg von der Quelle, die ihren Zustand erst verursacht hatte und hin zu ihrer Wohnung, ihrem Zimmer. Zu ihrem Ort der Sicherheit, solange es das noch war. „Nach Hause“ klang auf einmal so schön … Sie wand sich erneut aus Moiras Griff und setzte sich einfach in Bewegung.

»Hey, warte mal–«

»Ist schon okay, Moira. Ich schaff das schon«, keuchte sie und schleppte sich nach vorn gekrümmt und mit einer Hand auf dem Bauch den Heimweg entlang.

Moira musste sie vorher wirklich gut abgestützt haben, so wie sie dabei rumeierte. Nach nicht mal fünfzehn Schritten musste sie stehenbleiben und sich an einer Laterne abstützen, weil ihre puddingweichen Knie sie nicht mehr sicher tragen konnten.

»Ich habe doch gesagt, du sollst warten«, mahnte Moira ernsthaft besorgt und kam schon zu ihr geeilt. »Ich stütz dich doch.«

»Ich krieg das aber auch alleine hin.«

»Ja, das sieht man, ganz eindeutig«, bemerkte Dylan abfällig und schloss zu ihnen auf. Während er verständnislos den Kopf schüttelte, stellte er sich vor sie, wandte ihr den Rücken zu und ging in die Hocke.

»Na komm, spring auf.«

Stellar sah ihm nur ratlos auf den Rücken. Was sollte das werden?

»Na los, spring auf. Ich trag dich.«

Was?! »N-nee nee, schon gut. Das muss wirklich nicht–«

»Jetzt mach schon, sei nicht so stur! Du kommst doch alleine keinen Meter weit.«

Auch Dylan sah sie über die Schulter hinweg auffordernd an.

Stellar gab es wirklich ungern zu, doch Moira hatte recht. Ohne Hilfe schaffte sie es nicht mal mehr bis zur nächsten Straßenseite und Dylan war der einzige von ihnen, der die nötige Kraft und Ausdauer hatte, sie bis nach Hause zu tragen.

Es kostete sie enorme Überwindung, auf Dylans Rücken zu klettern, doch sie tat es. Jetzt auf ihren Stolz zu hören, wäre vielleicht eine Entscheidung gewesen, die sie später bereut hätte. Das hoffte sie zumindest.

»Gut festhalten.«

Zögerlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und Dylan stand vorsichtig, mit ihr als Mensch gewordenen Rucksack wieder auf. »Eins muss man dir wirklich lassen: Mit dir wird es nie langweilig.«

Stellar fand es besser, nichts darauf zu sagen. Ihr war nicht nach Scherzen zumute und davon abgesehen hatte sie gerade ganz andere Probleme.

Während des gesamten Nachhausewegs sprachen weder Moira noch Dylan je ein Wort mit ihr. Vielmehr unterhielten sie sich untereinander, tauschten ihre musikalischen Erfahrungen aus und überlegten, welche Stücke sie gemeinsam am besten performen könnten. Frieden lag in der Luft. Frieden und für Stellar noch etwas anderes. So dicht an seinem Hals drängte sich ihr unweigerlich Dylans Aftershave auf. Oder war es sein Parfum? Es roch jedenfalls angenehm nach Kernseife, nach Milch und einer Spur Orange. Ein wahrer Segen für ihre Nase. Sie hatte schon befürchtet, dass sich der Geruch von Erbrochenem in ihre Nasenschleimhaut eingebrannt hatte und sie nie wieder losließ. Noch besser aber war, dass sich selbst ihr Magen davon zu erholen schien, auch die Übelkeit hatte nachgelassen. Vielleicht lag es auch einfach an der frischen Luft. Was es auch immer war, sie war froh, dass es ihr besser ging.

»So, wir sind da.«

Huch? Waren sie etwa gesprintet? Sie blickte an Dylans Kopf vorbei und tatsächlich: Sie standen vor ihrer Haustür. Getragen zu werden musste irgendwie das Zeitgefühl täuschen. Dylan ging langsam in die Hocke, setzte Stellar vorsichtig ab. »Bei dir alles okay?«

Stellar nickte nur, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und huschte zu Moira, die gerade die Tür aufsperrte. Eigentlich verlangte es der Anstand, dass sie sich jetzt bei ihm bedankte. Das wusste sie auch, aber sie bekam die Zähne nicht auseinander. Nicht mal Moiras rügender Blick brachte sie dazu, den Mund aufzumachen.

»… na gut, dann werd’ ich mal. Wir sehen uns ja dann morgen, oder?«

Von Moira war nur ein enttäuschter Seufzer zu vernehmen, ehe sie sich zu ihm umdrehte: »Können wir dir vielleicht einen Kaffee anbieten oder einen Tee? So als kleines Dankeschön.«

Stellar riss die Augen auf und sah Moira entsetzt an.

Doch entgegen ihrer Erwartung verzog Dylan zweifelnd das Gesicht. »Hmm, ich weiß nicht. Mein Bus kommt bestimmt gleich und Stellar sieht auch nicht gerade begeistert aus.«

»Ach, jetzt komm schon. Gib uns ’ne Chance, uns bei dir zu revanchieren. Außerdem geht Stellar bestimmt eh gleich ins Bett. Stimmt’s?«

Oh ja, diesen aggressiven Unterton kannte sie nur zu gut. Moira war definitiv sauer – und sie hatte recht: Besser, sie stünde nicht länger als nötig in seiner Schuld.

»Also«, krächzte sie heiser und räusperte sich, bevor sie weitersprach. »I-ist schon okay. Ich wollte eh gleich ins Bett und … wie gesagt, ist kein Problem.«

Dylan musterte sie skeptisch, hob seine vernarbte Augenbraue. »Okay …«

»Sehr schön. So gefällt mir das«, sagte Moira und stieß die Haustür auf. »Dann mal rein in die gute Stube.«

Stellar kam als Erste ihrer Aufforderung nach und folgte ihr ins Treppenhaus, Dylan als Letzter. Gemeinsam ließen sie sie die Briefkästen hinter sich, stiegen die wenigen Stufen ins Hochparterre hinauf und kaum stand die Tür zu ihrem Zuhause offen, verschenkte Stellar nicht eine Sekunde. Sie drängte sich an Moira vorbei, murmelte noch ein schwer verständliches »Gute Nacht« vor sich hin und steuerte direkt auf ihr Zimmer zu. Sie wollte weg. Weg von ihm, von ihr und dieser abstrusen Situation.

»Soll ich dir auch einen Tee machen oder–«

»Nee, danke. Gute Nacht.«

 

Klack.

 

Dieses vertraute Geräusch einer sich schließenden Tür … Stellar lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen. Endlich. Endlich war sie sicher. Sicher vor dem Narbengesicht und seinen irritierenden, zwei unterschiedlich farbigen Augen. Sicher vor dem Rotschopf und seiner passiven Aggressivität in jedem Satz. Sie war hier drin, alles andere draußen.

Je öfter ihr diese Tatsache durch den Kopf ging, desto tiefer bohrte es sich in ihr Bewusstsein und mit jedem Mal fiel eine tonnenschwere Last von ihr ab. Endlich hatte ihr Brustkorb wieder Platz und weitete sich, Luft strömte in ihre sauerstoffdurstigen Lungen und sie atmete. Sie atmete tief ein und aus, bis auch ihr Herz verstand, dass es keinen Grund mehr gab, so schnell zu schlagen.

Was war das bloß für ein grausamer Tag …



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