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Warten auf Godot

Warten auf Godot

 

Erhellt vom weißen Monitorlicht entnahmen die feingliedrigen Finger aus der grünen Pappschachtel zwischen Mikrofon und Tastatur ein paar weitere mit Matcha gefüllte Getreidekissen. Die linke Hand verwendend baute L auf dem aufgeschlagenen Death Note eine Art Brunnen, während er mit dem Zeigefinger der rechten auf den Tasten des Computers herumtippte. Eine Legion von Würfeln reihte sich am oberen Rand des Desktops auf, jeder einzelne mit sechs Punkten, wobei einige der Augenzahlen blind waren.

Unkonzentriert versuchte Light seine Aufmerksamkeit den eigenen Datenpaketen zu widmen, deren Auswertung, wie er wusste, völlig sinnlos war. Häufiger stahl sich sein Blick zu dem Anderen hinüber, der gerade an einer der drei Ecken eines Matchakissens knabberte, die Würfelkette auf dem Bildschirm begutachtend, bis er sich die Süßigkeit aus Getreide in den Mund schob und darauf herumlutschte. Konnte dieser Kerl nicht ganz normal essen wie jeder andere Mensch auch?

Nervös spähte Light über die Schulter zu den polizeilichen Mitgliedern der Sonderkommission hinter sich, die allesamt in ihre Aufgaben vertieft waren. Eben noch hatte Matsuda, der schon seit einiger Zeit müde und gelangweilt wirkte, unter den Anwesenden Kaffee verteilt. Auch neben den beiden jüngsten Ermittlern stand nun ein kleines Tablett mit zwei Tassen, einer Zuckerdose und mehreren Kondensmilchbechern. Gewohnheitsmäßig beförderte Light mit einer zierlichen Zange fünf Stück Zucker in eine der Tassen, rührte gedankenversunken in der schwarzen Flüssigkeit herum und füllte anschließend den Rest des Kaffees mit Milch auf. Danach schob er die Tasse zur Seite über den Tisch.

„Danke, Light-kun.“

Als handelte es sich um winziges Puppengeschirr, hielt L wie üblich die Kaffeetasse beim Trinken lediglich mit Daumen und Zeigefinger am Henkel fest. Bevor er sie wieder absetzte, leckte er vom Außenrand der Tasse den letzten Tropfen des Getränks. Blinzelnd wandte Light seine Augen wieder ab und starrte auf den Rahmen seines Monitors.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Den Kopf leicht schieflegend schaute L ihn fragend an. Seine Worte hatte er so verhalten gesprochen, dass keiner der anderen sie hätte hören können.

„Ja, meine Konzentration lässt wohl einfach nach.“ Light lächelte beschwichtigend. „Wir sitzen schon den ganzen Nachmittag an diesen Listen und konnten leider noch keine Auffälligkeiten oder Abweichungen ausmachen. Ohne Erfolg nach etwas zu suchen, von dem man nicht weiß, was es ist, lässt einen gedanklich schnell abschweifen.“

„Und woran hast du gedacht?“

„An deine Aussage von vorhin“, antwortete Light nach einer Sekunde des Zögerns, „bezüglich der Langeweile.“

L verschränkte die Arme über seinen angewinkelten Knien, bettete den Kopf darauf und betrachtete seinen Ermittlungspartner eingehend. Schließlich meinte er gleichmütig:

„Aus Langeweile bestand früher mein Angstkuchen.“ Light öffnete den Mund, um nachzuhaken, verharrte dann jedoch irritiert mitten im Atemzug, woraufhin L mit desinteressierter Stimme fortfuhr. „In meiner Kindheit wurde ich einmal dazu aufgefordert, in einem Kreisdiagramm meine Ängste und Sorgen aufzumalen, jeweils in der prozentualen Verteilung ihres Ausmaßes. Die Größe des Kuchenstücks bestimmte über die Wichtigkeit des Inhalts.“ Beim Reden begann L aus den dreieckigen Matchakeksen kleine Pyramiden zu bauen. „Zu Anfang fiel mir rein gar nichts ein. Doch dann schrieb ich nur ein einziges Wort in den Kreis, ohne die Torte dabei anzuschneiden. Langeweile.“

„Kann man davor Angst haben?“

„Ich war zwar schon immer ein intelligentes Wunderkind, aber trotzdem bei weitem nicht so schlau wie jetzt. Damals wusste ich nicht, wie ich es anders benennen sollte.“

Eine Papiertüte in den Händen tragend kam Watari durch den Raum auf seinen Schützling zu. Er stellte sich zwischen die beiden jungen Männer, holte mit geruhsamen Bewegungen einen Becher hervor und setzte ihn neben der Tastatur ab. Ohne aufzusehen sagte L lediglich:

„Deusne adest?“ Watari nickte, faltete geflissentlich die Tüte zusammen und verließ die Runde genauso schweigend, wie er sie betreten hatte. „Vielleicht würde ich heute meinen Kuchen teilen“, knüpfte L an die vorige Unterhaltung an, während er den Plastikdeckel von dem Becher entfernte. In den darin befindlichen grünen Milchshake stach er, vertieft in seine Überlegungen, einen Strohhalm und saugte daran. Geistesabwesend heftete Light den Blick auf dessen Lippen. „Mittlerweile würde auf einem Stück davon vermutlich, mit Zuckerguss geschrieben, Niederlage stehen. Oder Verlieren. Oder Verlust.“

„Und wenn Kira aus Langeweile mit dem Morden angefangen hätte?“

„Auf einem stünde bestimmt auch Atemnot.“ Verwundert hielt L inne und schaute zu seinem Freund hinüber, musterte dessen dem Anschein nach unberührbaren Ausdruck. Schließlich lächelte der Detektiv offen und unpassend. „Selbst wenn ein derartiges Empfinden der Auslöser für Kiras Handeln sein sollte, so wird es doch niemals der einzige Grund gewesen sein. Man kann aus Langeweile anfangen, Menschen umzubringen. Aber niemand würde aus Langeweile versuchen, die Welt zu verbessern.“

 

Ein kalter Lufthauch wehte in das Treppenhaus. Zwar fuhr der Fahrstuhl bis in das oberste Stockwerk des Gebäudes, doch auf das Dach mit den zwei Helikopterlandeplätzen gelangte man nur über die letzten Stufen im ansonsten weitestgehend unbenutzten Treppenaufgang. Light hielt seinem Freund die Sicherheitstür auf, während er unbestimmt, als wollte er seine Worte an niemanden richten, hinein in die rauschende Stille der abendlichen Stadt sagte:

„Hier kann man wenigstens noch atmen.“

Nach draußen gelangend hob L den Kopf, um mit seinen geweiteten Augen das Firmament einzufangen. Sobald die Sonne hinter den Hochhäusern verschwand, zeigte sich der Himmel über Tokyo sogar ohne Wolken fast immer sternenlos. Künstlich grelles Licht von Neonröhren und Straßenlaternen verschluckte das Leuchten der Sterne, manchmal sogar das des Mondes. Light schaute nicht hinauf in die Unendlichkeit des bedeutungslosen Weltalls oder hinab auf die verrottenden Fundamente der Stadt oder in die Ferne zum vermeintlich hoffnungsvollen Horizont, der nichts weiter war als ein Strich in der Landschaft. Stattdessen hielt er mit den Augen seinen Freund fest, der direkt neben ihm stand und den er nun leise sagen hörte:

„Ich hatte auch das Gefühl, dort drin zu ersticken.“

„Und jetzt sind wir schon wieder hier gelandet, Ryuzaki.“

„Es gibt nicht viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Wenn du mich einmal suchen solltest, Light-kun, weißt du wahrscheinlich immer, wo du mich findest.“

Der Wind frischte auf. Irgendwo hinter dem dunkelgrauen Schleier über den Wolkenkratzern zuckten Blitze durch die statisch aufgeladene Atmosphäre. Ein Donnergrollen hallte in die anbrechende Nacht.

„Ob es regnen wird?“, mutmaßte Light flüsternd.

„Heute sicher nicht mehr. Das ist nur ein Gewitter. Der eigentliche Sturm kommt erst noch.“

L senkte den Kopf und sah seinen Freund unergründlich an. Der Wind zerzauste sein schwarzes Haar. Er harrte völlig stumm aus, wartete lediglich ab, als kümmerte er sich nicht darum, wie viel Zeit ihm noch blieb. Als wartete er geduldig auf das Ende.

„Ryuzaki, diese merkwürdige Sache, von der du vorhin gesprochen hast“, begann Light vorsichtig, den Schmerz in seiner Kehle ignorierend, „das Kreisdiagramm über die Angst...“

„Merkwürdig?“ L kratzte sich verwundert am Hinterkopf. „Stimmt, das klang wohl ein bisschen merkwürdig.“

„Was denkst du, was...“ Im selben Moment, als ihm die Stimme versagte, verachtete sich Light bereits dafür, für seine Schwachheit und das Fehlen seiner unberührbaren emotionalen Kälte. Er festigte seinen Stand, um die haltlose Unsicherheit seiner Beine nicht mehr fühlen zu müssen. „Was würde wohl auf den Bruchstücken von Kiras Diagramm stehen?“

„Meinst du, dass dort wirklich noch etwas steht, Light-kun?“

„Kira ist ein Mensch. Hat nicht jeder Mensch vor irgendetwas Angst?“

„Vielleicht...“ Ein ferner Blitz zerteilte die Wolkenwand. Dumpf begleitete das wenig später einsetzende Donnern die ruhige Stimme des Meisterdetektivs. „Vielleicht steht dort dasselbe wie bei mir.“

„Verlust?“

L starrte seinen Partner aus großen Augen an, hielt ihn gefangen, als wollte er ihn an seinem eigenen Erstaunen teilhaben lassen.

„Interessant, dass du gerade das auswählst, Light-kun. Auf einem Bruchstück von Kira... steht möglicherweise auch eine Vier.“ Zuerst runzelte Light verständnislos die Stirn, doch im nächsten Moment begriff er und nickte. Ohne etwas zu erwidern, vernahm er die folgenden Worte von L. „Du meinst, Kira sei menschlich und sollte deshalb auch noch Angst verspüren können. Erinnerst du dich, als wir hinterfragten, ob Kira ein wildes Tier sei? Ein Tier empfindet instinktiv Todesangst. Aber das ist nicht vergleichbar mit der Gewissheit des eigenen Ablebens, mit Reue oder Mitleid. Ich habe nie ein wildes Tier gesehen, das Selbstmitleid empfand. Ein Vogel, der erfroren ist, wird tot von seinem Ast fallen, ohne jemals Selbstmitleid empfunden zu haben.“

Die Luft wurde dünner. Man konnte sie kaum mehr atmen. Selbst hier, auf dem Dach der Welt, glaubte Light mittlerweile zu ersticken. Nie zuvor hatte er gleichzeitig so viel Macht und Hilflosigkeit verspürt wie in den letzten Tagen. Mit rauer Stimme fragte er:

„Soll L denn so rücksichtslos und unbeteiligt mit seinem eigenen Leben umgehen?“

„Ich frage mich, ob Kira das tun sollte.“

Ein jugendliches Lachen entkam Lights Kehle. Es erschien ihm normal, auf diese Weise zu reagieren, doch schon im selben Atemzug machte ihn sein eigenes Verhalten ratlos. Warum lachte er jetzt darüber? Weil er keine Antwort wusste, verstummte er sogleich. Unbeirrt sprach L weiter.

„Ein Geschöpf ist im Normalzustand zielgerichtet auf das Leben an sich. Aber alles muss einst vergehen. Deshalb strebt jedes gesunde Wesen danach, sich auch darüber hinaus zu erhalten, etwas Besonderes zu bewahren, sozusagen ein Denkmal seiner selbst zu errichten, das den Exitus überdauert, und sei es auch nur durch das eigene Erbgut. Die Ironie will es, dass wir erst unsterblich werden können, wenn wir tot sind. Dafür zählt nicht das, was wir sind, sondern das, was wir hinterlassen.“

„Und was ist das, Ryuzaki?“ L schenkte seinem Hauptverdächtigen einen rätselhaften Blick. Dann wandte er sich von ihm ab.

„Unter den Zaza, einem anatolischen Volksstamm, gibt es eine Redensart“, antwortete er nach einer gedankenversunkenen Pause. „Das Tier stirbt, der Sattel bleibt übrig. Der Mensch stirbt, übrig bleibt ein Name.“ Die Hände in den Hosentaschen vergraben gab sich L schutzlos dem stürmischen Wind preis, der an seiner Kleidung zerrte. Mit leeren Augen verfolgte er das Unwetter hinter den Balustraden. „Was meinst du, Light-kun, was geschieht, wenn wir durch Kiras Macht sterben?“

Kälte durchflutete Lights gesamten Körper, floss in seinen Adern wie Eiswasser. Bereits jetzt gewährte er dem winterlichen Frost Zutritt und hoffte, er möge alles, was er berührte, jede einzelne Zelle abtöten und bloß angenehme Taubheit und Unempfindlichkeit zurücklassen, bis jedes Leid, selbst sein eigenes, ihn mit Glückseligkeit belohnte und mit dem Gefühl, am Leben zu sein. Unter den Füßen der beiden Männer breitete sich die gläserne Festung ihres Refugiums aus. Entrückt senkte Light den Kopf und erkannte auf dem Boden des Daches einen haarfeinen Riss.

Desinteressiert blendete er jeden fremden Eindruck aus, fixierte allein die Gestalt seines Freundes und widmete ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Lights Beine bewegten sich, ohne dass er seine Handlungen bewusst steuerte. Er trat an L heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, sodass dieser ihm tiefgründig in die Augen sah. Schmerzlich lächelnd erwiderte Light diesen Blick, bevor er L kurzentschlossen an sich zog und ihn fest umarmte. L schien das Verhalten seines Mitstreiters zu verwirren. Er hob reflexartig die Arme, dann jedoch ließ er sie kraftlos wieder fallen, während er den Körperkontakt erduldete, die qualvolle Innigkeit von Lights Nähe ertrug und sich zugleich darin verlor.

„Wenn solche übernatürlichen Dinge wie Todesgötter existieren“, gab Light derweil leise zur Antwort, „gibt es sicher auch den Himmel oder zumindest irgendein Jenseits, in dem wir uns wiedertreffen.“ Es erfüllte ihn mit Genugtuung, wie leicht die Lüge über seine Lippen kam. Er genoss das Gefühl von Ls Körper in seinen Armen. Innerlich richtete er an ihn, nachsichtig und behutsam, seine unausgesprochenen Gedanken. Der Himmel ist ein irrationales Traumgespinst, L. Ein Ort, an den weder du noch ich gehen können. Uns bleibt nur das, was wir jetzt haben. Mir bleibt nur, dich festzuhalten, bis ich dich aufgeben muss.

„Willst du mich aufmuntern“, fragte L tonlos, „oder dich über mich lustig machen?“ Light öffnete seine bislang geschlossenen Augen und erfasste die dunkelgraue Finsternis über der erleuchteten Stadt. „Was zählt, ist nicht die Zukunft, sondern immer nur der kurze Ausschnitt unserer Gegenwart, Light-kun.“ Als Light seine Umarmung lösen wollte, hinderte L ihn daran, indem er ihn seinerseits festhielt und an sich drückte. „Die meisten Menschen leben nicht, sie existieren bloß, lassen sich von einem Moment zum nächsten treiben und akzeptieren, was um sie herum geschieht, anstatt selbst etwas in die Hand zu nehmen und dabei vielleicht alles zu riskieren. Um wirklich zu leben, muss man streben und kämpfen und Schmerz ertragen. Leben und Schmerz sind untrennbar miteinander verbunden.“ Seinen Kopf seitlich gegen den seines Freundes lehnend strich L mit einer Hand über dessen Nacken und bemerkte dabei Lights Angespanntheit. Seufzend fügte er seinen Worten hinzu: „Darum will ich gegen Kira gewinnen. Unsere Welten stehen im Krieg miteinander. Ein Krieg, den sonst niemand verstehen kann. Ob Freund oder Feind, man braucht jemanden, der einen versteht, um glücklich zu sein.“

 

Kalkweiß, lang und ein wenig knochig, so erinnerten die Finger des Meisterdetektivs stets an die Gelenke eines Skeletts. Light verfolgte mit emotionsloser Miene, wie Ls Fingerspitzen, die unter dem Saum des ausgeleierten Ärmels hervorlugten, verspielt an der Wand entlangstrichen, während die beiden Männer gemeinsam die Treppen hinabstiegen. Die nackten Füße des Älteren erzeugten kaum ein Geräusch auf den Stufen. Erst jetzt fiel Light auf, dass L nicht einmal draußen Schuhe getragen hatte. Draußen... als Light diese Lüge über das Jenseits erzählte.

Warum hatte er das getan? Er nahm an, dass er für diesen Moment seine eigene Überlegenheit auskosten wollte, durch das Wissen darüber, wie es wirklich war. Wollte er L tatsächlich verhöhnen oder ihm, ganz im Gegenteil, sogar Mut zusprechen? Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass dieser ihm nicht glauben würde? L musste schließlich davon ausgehen, dass Light nur Spekulationen anstellte, doch dessen eigenes Verhalten war ihm oft genug selbst unverständlich. Light schwankte unentwegt zwischen infantiler Überheblichkeit und erwachsener Empathie. Von einem Moment auf den anderen verlachte er L oder fühlte auf unerträgliche Weise mit ihm.

„Ryuzaki“, begann er nachdenklich, „ich hätte wissen müssen, dass du an so etwas nicht glaubst, auch wenn die Existenz der Todesgötter und ihrer Notizbücher schon irreal genug ist, um jede Menge Zweifel an der rationalen Erkenntnisfähigkeit zu hegen, an der man sich vorher orientierte.“

„Hm.“

„Um an ein Jenseits zu glauben, müsste man überhaupt erst annehmen, dass wir eine Seele besitzen oder irgendeine vom Körper unabhängige Identität, die über unseren physischen Zerfall hinaus fortbesteht.“

„Hm.“

„Aber gerade das entbehrt jeglicher Logik.“

Als sie den Treppenabsatz erreichten und in einen breiten Korridor gelangten, rechts eine langgestreckte Fensterfront, links etliche vom Gang abzweigende Flure und Türen, gab L schließlich ein tiefes Seufzen von sich. Bis zum Schluss also sollten sie mit Analytik jede Menschlichkeit töten. Bis zum Schluss Komplizen sein. Nach kurzem Überlegen reagierte L mit ruhiger Stimme auf die Worte seines Ermittlungspartners.

„Ich kann an die Existenz der Seele glauben, wenn ich ihre Eigenschaften anders definiere und sie nicht als vom Körper unabhängig agierend beschreibe. Das Denken und Fühlen, die ganze Bildung der Identität und der Glaube an die Eigenverantwortlichkeit der Handlungen, all das ist ein Resultat körperlicher Prozesse. Die Seele ist die Gesamtheit dieser Identität, aus dem Körper entspringend, ohne diesen in die Festlegung einzubeziehen.“

„Das scheint mir eine sehr buddhistische Betrachtungsweise zu sein, Ryuzaki“, stellte Light fest. „Darin wird ein empfindungsfähiges Wesen negiert. Man würde bei dieser Annahme von einer falschen Vorstellung irregeleitet werden, denn die Ansammlung von Elementen sei bar eines Ich. In gleicher Weise, wie eine Anzahl von Holzteilen die Bezeichnung Wagen erhält, so geben wir Elementen den Namen eingebildeter Wesenheit. Trotzdem findet auch hier das Thema überhaupt erst Eingang in die Debatte, sodass es sich dabei kaum um ein allein monotheistisches Problem handeln kann. Menschen denken sich eine Seele und ein Jenseits aus, sobald sie Angst haben, nichts weiter zu sein als ein Resultat biochemischer Prozesse.“

„Darum hat besonders das Christentum, in Vertretung durch die katholische Kirche, sich so vehement gegen die Auslöschung des Dualismus gewehrt. Wer immer aber hartnäckig darauf bestehen sollte, zu behaupten, zu definieren oder zu meinen, dass die rationale oder intellektive Seele nicht die Form des menschlichen Körpers an sich und wesentlich sei, der müsse als Häretiker betrachtet werden.“

Gleichauf schritten die beiden Ermittler den Korridor entlang, in gewohnter Einstimmigkeit und Vertrautheit, ohne die störende Gegenwart Fremder. Nachgiebig half L seinem Partner bei ihrem gemeinsamen Schauspiel, als brauchte er es ebenso, um sein Gleichgewicht zu erhalten und den bevorstehenden Fall in weite Ferne zu rücken. So konnte sich auch Light vormachen, sie wären wieder zusammen in der Universität, blendeten alles um sich herum aus und spielten Freunde.

„Darin steckt aber nicht nur ein Dualismus, sondern eher eine Dreieinigkeit des Menschen.“

„Aus Körper, Geist und Seele, das stimmt, Light-kun. Ginge man tatsächlich von der Geschichte der Bibel aus, dann wären wir alle die Nachfahren Kains, da Abel starb, bevor er sich fortpflanzen konnte. Kain war der erste Sohn, in ihm lebte die Erbsünde fort. Es heißt, dass vor dem Geistlichen immer erst das Seelische geboren wird, und da der Mensch aus dem verdammten Geschlecht abstammt, müssen wir als Adams Nachfahren zunächst böse und fleischlich sein. Nicht jeder böse Mensch indes wird gut. Niemand jedoch wird gut, der nicht zuvor böse war.“

„Wenn du das so formulierst, müsste ich eigentlich entschieden widersprechen, Ryuzaki. Manch einer wird erst böse, weil er in seiner Güte enttäuscht worden ist. Aber ich glaube, ich verstehe, was du damit sagen willst. Ohne das Böse wüssten wir nicht, was es bedeutet, gut zu sein. Obwohl oft behauptet wird, Kinder würden die gleichen Fehler machen wie ihre Eltern, weil sie es nie anders gelernt haben, halte ich das bloß für eine aus der Sozialisation geschlossene Pauschalisierung. Oft versuchen nämlich gerade diejenigen, die Leid erfahren haben, andere vor dem Leid zu beschützen, das sie selbst verursachen.“

L bedachte Light mit einem traurigen Blick. Sie hatten den Hauptüberwachungsraum fast erreicht, wo sie sich für die letzten Stunden des Tages, zusammen mit den anderen Mitgliedern der Sonderkommission, mit dem sinnlosen Bearbeiten von Akten beschäftigen würden, auf der Suche nach nicht existenten Hinweisen. Bevor sich ihre Zweisamkeit wieder auflöste, sagte L zum Schluss, scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen:

„Glückliche Menschen können so grausam sein.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Titel verweist auf das gleichnamige Bühnenstück von Samuel Beckett.
2. In der Mitte des zweiten Absatzes zitiert L ein Gedicht von D. H. Lawrence: I never saw a wild thing sorry for itself. A small bird will drop frozen dead from a bough without ever having felt sorry for itself.
3. Im letzten Absatz spricht L auf eine Festlegung der katholischen Kirche beim Konzil von Vienne im Jahr 1312 an, wonach Körper und Seele eine zwangsläufige Einheit darstellen.
4. Aurelius Augustinus formulierte in seinen religiösen Anschauungen, dass vor dem Geistlichen das Seelische käme und der Mensch durch seine Abstammung von Kain zuerst böse und fleischlich sei.
5. Die Schlussaussage von L ist eine Übersetzung der Worte von Claudia Wolf aus dem dritten Teil der Videospielreihe „Silent Hill“.
6. In den letzten Kapiteln war ich oft von Musik inspiriert, in diesem hier unter anderem von Jennifer Rostock, vor allem „Horizont“, aber auch „Ich kann nicht mehr“ und „Insekten im Eis“. Von Linkin Park habe ich viel das Album „Living Things“ gehört, besonders „Castle of Glass“ und „In My Remains“. Komplett anzeigen

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