Prolog
Jedes verdammte Mal, wenn er mir über den Weg lief, bekam ich einen Beinahe–Herzinfarkt größter Klasse. Und wenn mein Herz mal zur Abwechslung nicht Totenstill war, dann war ich mir sicher, meine Rippen müssten brechen, bei all der Kraft, mit der es von jetzt auf gleich gegen meinen Brustkorb schlug. Und dass es nicht gerade sehr produktiv war, dass ich mich daraufhin nur beschämt und puterrot zurück in mein Zimmer verzog, das musste ich ja nicht erwähnen, oder? So hatte selbst der größte Nachteil seinen Vorteil gefunden: Seit er hier war, hatte ich doch tatsächlich 5kg abgenommen, weil ich mich wortwörtlich 24/7 in meinem Zimmer verbarrikadiert hatte. Die ganzen Diäten hätte man sich sparen können.
Dieser „Er“ war im Übrigen mein Stiefbruder, der mir vor knapp 3 Wochen dreister Weise vor die Nase gesetzt wurde. Nichts ahnend hatte ich meinen Vater nach 4 Monatiger Abstinenz aus Amerika wieder empfangen, da wurde mir praktisch ein 16jähriger, hochpubertierender Junge in die Hände gedrückt. Fehlte noch ein Schild mit einem Kärtchen auf dem „Waldi ist entlaufen“ und einer Telefonnummer drauf, das Bündel, das hauptsächlich aus Haaren und schwarzer Schminke bestand, hätte einen prima Schoßhund abgegeben…
Wäre da nicht diese unglaubliche Sturköpfig– und Zickigkeit. Dazu durfte man noch erwähnen, dass sein Wortschatz gerade mal aus den Wörtern „Hallo“ und „Danke“ bestand, die er meist nur sehr selten und flüsternd über seine gepiercten Lippen brachte und ansonsten entweder schwieg oder wie ein tollwütiger Yorkshireterrier Hassparolen auf Englisch startete.
Ja, der arme Junge wurde wahrhaftig im Schlaf geknebelt, gefesselt und unter Drogen gestellt, so dass man ihn problem– und vor allem nahtlos hier ins wunderschöne Deutschland verschiffen konnte. So oder so ähnlich kam es mir nämlich manchmal vor, jedes Mal, wenn er wieder Türeklatschend in seinem Zimmer verschwand und man seine Sätze in seinem Heimatland vor lauter Pieptönen nicht mehr hätte verstehen können.
Ja, Nigel war schon eine Sache für sich, und zwar eine so extravagante, penetrante und nervtötende Sache, die ich in meinen schlimmsten Albträumen noch nicht mal mehr würde geschenkt haben wollen.
Und ja, ich gebe es zu… trotzdem hatte ich mich in ihn verliebt… ein klitzekleines bisschen jedenfalls.
…Womit meine plötzlichen Herzattacken in jungen Jahren wohl auch geklärt sein dürften.